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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***
+
+Die Familie Pfäffling
+
+Eine deutsche Wintergeschichte
+
+von Agnes Sapper
+
+
+1909
+
+
+
+
+Meiner lieben Mutter
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+
+Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was
+ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene
+Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die
+Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in
+einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von
+Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
+verstanden, was ihnen versagt war.
+
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die
+Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du
+die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger,
+anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen
+Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer
+entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.
+
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte
+möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.
+
+Herbst 1906.
+
+
+Die Verfasserin.
+
+
+Inhalt
+
+ 1 Wir schließen Bekanntschaft
+ 2 Herr Direktor
+ 3 Der Leonidenschwarm
+ 4 Adventszeit
+ 5 Schnee am unrechten Platz
+ 6 Am kürzesten Tag
+ 7 Immer noch nicht Weihnachten
+ 8 Endlich Weihnachten
+ 9 Bei grimmiger Kälte
+ 10 Ein Künstlerkonzert
+ 11 Geld- und Geigennot
+ 12 Ein Haus ohne Mutter
+ 13 Ein fremdes Element
+ 14 Wir nehmen Abschied
+
+
+
+
+1. Kapitel
+Wir schließen Bekanntschaft.
+
+
+Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
+hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in
+die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die
+Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz.
+Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes
+Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem
+der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.
+
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein
+Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen
+fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge
+Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre
+Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten
+Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist
+sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.
+
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof
+verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach
+den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer
+Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht,
+war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der
+Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen
+sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte
+zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten
+sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das
+alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas
+näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule
+ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine
+runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr
+Zeit zu lassen als die andern.
+
+Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben
+Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur
+noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen,
+sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling
+atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen,
+bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine
+Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend
+von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie
+war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken
+versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen
+Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte,
+plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun
+die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr
+fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter
+in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den
+letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken
+kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie
+ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme
+allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie
+ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort
+oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders
+Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar
+zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig
+geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte
+Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die
+Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an
+ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!
+
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief:
+"Elschen, flink, Essig holen!"
+
+Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße
+hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem
+Essigkrug zum nächsten Kaufmann.
+
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner
+Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben.
+Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf
+gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge
+nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem
+Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit
+dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so
+abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen
+Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen
+herunterpoltern," sagte der Hausherr.
+
+"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja
+rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es
+pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie
+müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen
+auf die abgetretenen Stellen."
+
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt
+doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt,
+was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen
+voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer
+Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch
+nicht übers Herz."
+
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue
+Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand
+bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die
+Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.
+
+Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine
+vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und
+erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das
+Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren
+die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der
+Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief
+auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und
+Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen
+gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei
+Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."
+
+Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle
+zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor
+Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder,
+der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden
+Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern
+Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre
+Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen
+Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in
+dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet
+ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe
+an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr
+war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan,"
+fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln
+hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann
+richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie
+standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So
+schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja
+wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter
+Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten!
+"Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das
+erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an,
+langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der
+zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und
+Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und
+deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der
+verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er
+zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum
+denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig,
+"kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am
+öftesten."
+
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite,"
+und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich
+herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's
+recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie,
+was kann man mehr verlangen?
+
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog
+ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+
+Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft
+hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der
+Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so
+öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und
+klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch
+zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen
+Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach.
+Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal
+den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete
+sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die
+Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+
+Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen,
+aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie
+kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des
+Wintersemesters.
+
+"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."
+
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf
+ich nimmer mitbringen."
+
+"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."
+
+"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."
+
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+
+"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."
+
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war,
+umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der
+kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine
+Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den
+Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die
+sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.
+
+Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen,
+indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und
+Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die
+er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei
+Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor
+und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte
+der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt
+eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so
+viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder
+Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen,
+aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine
+kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war,
+"Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war
+nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und
+miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß
+auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr
+gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen
+sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab
+und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte.
+Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.
+
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen
+sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu
+ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen
+beisammen saßen.
+
+"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist
+höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue
+Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind
+jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir
+nicht leben."
+
+"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr
+zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es
+sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.
+
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der
+wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene
+Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern
+sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder
+heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen
+Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten
+nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den
+Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu,
+sagte genug.
+
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling,
+"daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als
+Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene
+Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die
+geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und
+vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"
+
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle
+andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins
+Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und
+strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte,
+rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm
+seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe
+blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was
+soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid,"
+rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief
+in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die
+Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu
+erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb
+drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog.
+
+Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in
+seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie
+wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in
+Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten
+zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner
+Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und
+von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich
+ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur
+_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine
+Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist
+doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und
+nun wurde die Harmonika eingeschlossen.
+
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als
+letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen
+Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule
+ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern
+gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es
+glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den
+kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich
+der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren,
+sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das
+Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah
+so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen.
+Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn
+der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein
+zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für
+Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch
+auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte
+Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte
+immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So
+erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte,
+sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder
+vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die
+Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein,
+die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie.
+"Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf
+an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei
+uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer
+gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles
+durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an
+den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war
+ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle
+du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann
+brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"
+
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb,
+denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und
+sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im
+Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht
+darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus
+und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend:
+"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist
+da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun
+fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+
+"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und
+Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut,
+die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz
+zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling,
+"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen,
+sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist
+traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich
+mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten
+geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen
+hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an
+als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große
+Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche
+hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und
+ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein
+paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer
+zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als
+niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der
+Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das
+Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast
+abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand
+wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem
+Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen
+Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu
+sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern
+bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg
+sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit
+ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an
+Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete
+Karl.
+
+Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter
+Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als
+Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das
+Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als
+sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer,
+wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama
+nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie
+zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den
+Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so
+bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie
+sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde
+sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling
+seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder
+drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame,
+die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte,
+begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu
+sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte
+Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie
+schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig
+herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_.
+
+
+
+
+2. Kapitel
+Herr Direktor?
+
+
+November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich
+leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde.
+Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden
+noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen
+Arbeit.
+
+Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen
+Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier
+Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte
+französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und
+suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte
+im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte
+kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal
+geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem
+Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still
+beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang.
+
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten
+ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten
+sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn
+der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern
+wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei
+rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten
+Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung
+hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet,
+es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch
+zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe.
+Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang
+hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine
+Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich
+die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf
+eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im
+Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den
+Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern
+kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde
+vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken
+sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten,
+entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt
+hatte.
+
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding
+hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen
+das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe.
+Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater
+noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"
+
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen
+wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch
+zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie
+sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein
+Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere
+hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht
+zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an
+und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir
+graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?"
+
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
+Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die
+Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in
+Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das
+Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre
+verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher
+Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.
+
+So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der
+eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker
+in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht
+eben schlechte Zeugnisse nach Hause.
+
+An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer
+trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu
+mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe
+zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie
+folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie
+beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag
+auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies,
+lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für
+seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste
+Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt
+schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle
+mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
+Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer
+größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach
+meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor
+zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen;
+Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit
+fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man
+nur so fragen!"
+
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee
+und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet
+eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und
+rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die
+Kartoffeln kalt!"
+
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend,
+folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll
+Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her,
+und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller
+Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem
+unsicheren Zukunftsplan erwähnten.
+
+Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige
+Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren
+gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei
+diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit
+auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen
+und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger
+Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte
+er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder
+hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den
+Hintergrund treten."
+
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder
+nicht," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder
+können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen
+gemütlichen Teetisch."
+
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
+Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des
+erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der
+Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es
+euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"
+
+Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung
+herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme.
+Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.
+
+Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der
+Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn
+auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und
+verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit
+dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den
+Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und
+weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich,
+mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein
+Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht
+das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber
+hinauf!"
+
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.
+
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch
+ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße
+gut ab."
+
+Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht
+recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den
+Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch
+lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die
+Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die
+Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für
+seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste
+Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben
+auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die
+wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich
+nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von
+seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem
+Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz
+trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich
+ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war
+ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der
+zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte.
+Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren
+zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun
+und plauderte freundschaftlich mit Karl.
+
+Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber.
+Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über
+ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt
+dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder
+einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal
+mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß
+redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen
+Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge
+Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde,
+mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing
+es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter,
+und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über
+die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen.
+Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte
+da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an
+Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter
+fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die
+Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter.
+Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz
+bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie
+wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er
+sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht:
+drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten!
+
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben
+die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen,
+die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß
+sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf,
+erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise
+nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte
+sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.
+
+"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer,
+da hört man uns nicht."
+
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das
+Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was
+sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier
+nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen
+an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und
+durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird,"
+schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich
+nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen
+meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt
+die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den
+großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber
+auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+
+In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos
+seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie
+miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre
+dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner
+Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_!
+
+Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des
+gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen
+Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe
+besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige,
+Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier
+gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete
+dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch
+nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.
+
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur
+Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im
+Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben,
+doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen
+habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die
+Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.
+
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer,
+als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und
+betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie
+nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige
+Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei
+diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten,
+sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit
+weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?"
+
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme
+oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er
+sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr,
+unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches
+Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch
+plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer."
+
+Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern
+Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im
+sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein
+mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er
+dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte
+Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem
+"Guten Morgen" und "Gute Nacht".
+
+Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und
+bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.
+
+Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit
+meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts
+davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging
+er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+
+Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein
+sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein,
+diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut
+und nicht ahnt, daß er stört.
+
+Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater
+schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden
+sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es
+eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf
+Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht
+fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich
+freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute
+Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+
+"Gute Nacht, Karl."
+
+Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte
+Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die
+Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und
+er hat gelesen."
+
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling
+lächelnd.
+
+"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief
+seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett
+gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch:
+"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."
+
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß
+du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier
+bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir
+besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun
+bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns."
+
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein
+Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde
+erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
+
+Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette
+legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen
+könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine
+Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu
+entreißen.
+
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach
+Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung
+des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden
+hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die
+Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling
+wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten
+habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling
+immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen,
+statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er
+sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine
+seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
+
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein
+Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so
+wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_
+Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu
+jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes
+über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber
+war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch
+eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten!
+
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten.
+Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner
+hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz
+unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn
+groß an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?"
+
+"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich,
+und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst
+hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in
+unseren knappen Verhältnissen."
+
+Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag
+gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der
+Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner
+Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine
+glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein
+schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört
+verschwenderischen Gabe einer Rose im November!
+
+Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit
+seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die
+geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch
+die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg
+wurde es ins Ohr gerufen.
+
+Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den
+Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen
+Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.
+
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als
+Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu
+Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer
+aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter
+hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der
+Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und
+von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm
+dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein
+bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde
+der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen,
+umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein
+paar Jahre warten wolle!
+
+Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
+weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er
+dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.
+
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus,
+wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den
+Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von
+einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
+
+Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es
+wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon
+vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher."
+
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die
+sind so—ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar
+nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!"
+
+Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre
+wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es
+ja nicht so sehr ferne gerückt!"
+
+"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr
+Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins
+richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts
+mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_."
+
+Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den
+Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern
+fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser
+Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn
+entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur
+gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß
+wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in
+der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."
+
+"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den
+schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht
+anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich
+kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen,
+aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört
+auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was
+Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit
+es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann
+deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt
+auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab."
+
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine
+Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten
+schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese
+Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.
+
+Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand
+und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend
+war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied
+komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die
+Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder
+Vers ausgeht:
+
+"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+Es lebe die Direktorin!'
+
+
+"Nun muß es heißen:
+
+"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
+Du wirst niemals Direktorin.'"
+
+
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es
+muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+
+"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er
+trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer
+machen."
+
+Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie
+auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel
+Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So
+erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.
+
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe
+eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"
+
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter
+der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit
+strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen,
+Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch.
+Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die
+Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?"
+fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil
+ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von
+unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus
+und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann
+kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut
+aufgenommen worden.
+
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling,
+die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich
+vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er
+war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch
+schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen,
+gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem
+festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung
+unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu
+seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:
+
+"'Direktor her, Direktor hin,
+Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+
+
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es.
+Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein
+Vernagelding sein?"
+
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde,
+die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich
+die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst
+nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das
+Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit
+verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter
+und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen
+zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als
+diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte
+und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit
+mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie,
+ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in
+Rosa."
+
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits
+etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht
+mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht
+immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon
+wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an
+den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn
+strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu,
+daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht
+süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte
+er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen,
+das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
+für heute."
+
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin
+empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
+
+Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß
+Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal
+entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+
+Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube
+aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.
+
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein,"
+sagte Frau Pfäffling besorgt.
+
+Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten
+Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller
+Herr. Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir
+müssen ihm gelegentlich ein Präsent machen, Agathe."
+
+
+
+
+3. Kapitel
+Der Leonidenschwarm.
+
+
+Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau
+Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die
+Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob
+sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den
+Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden
+die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten
+geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden
+konnte.
+
+Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten
+sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war.
+Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher
+Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als
+Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen
+Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil
+zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er
+ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er
+herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten.
+Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in
+verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem
+Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte.
+Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein
+kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es
+zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte,
+und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil,
+anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen
+früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht
+übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika
+genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes
+herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann
+mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört,
+da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'."
+"Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."
+
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder
+ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da
+wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine
+Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer
+nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er
+sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie
+hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin.
+Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen
+Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden
+vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während
+seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern
+von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute
+hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte
+er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren
+und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft.
+Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man
+meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht,
+kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im
+Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite,
+leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz
+unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind
+gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue,
+wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen
+über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer
+und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn
+mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn,
+dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz
+feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das
+nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine
+Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es
+auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr
+Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15.
+November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der
+Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in
+diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön
+wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb
+seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die
+Wache ziehen um den Preis."
+
+Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle
+mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie
+sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und
+von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die
+Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt
+unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die
+Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied
+Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht,
+weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts
+geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater
+wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die
+Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich
+erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei
+Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften
+nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der
+Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon
+von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen
+Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie
+lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine
+Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl
+durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft
+ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur
+so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf
+das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja
+es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die
+Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte
+er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch
+möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor
+Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und
+die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer
+mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor
+und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu
+sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel
+entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer
+fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei
+das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben
+dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht
+einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich
+wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei
+in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die
+Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles:
+"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große
+warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem
+Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel
+in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die
+Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches
+Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht
+ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den
+Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem
+Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem
+Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.
+
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas
+gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber
+sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte
+sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten
+Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb
+derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat
+nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr
+unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
+Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch
+entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre
+vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus
+herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon
+herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem
+Gewissen, der mochte klingeln.
+
+Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der
+Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In
+wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern
+und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so
+schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl,
+"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich
+reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß
+einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da
+droben alle so fest!"
+
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten.
+Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen
+dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die
+riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine
+Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend
+sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als
+die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder
+eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in
+gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
+vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich
+sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich
+aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die
+Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend,
+von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den
+staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein
+sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.
+
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden
+sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein
+einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto,
+"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die
+Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und
+schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also
+kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.
+
+"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+
+"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da
+draußen bleiben in der Kälte!"
+
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an
+die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von
+innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte
+Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte
+und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.
+
+"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+
+"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch,
+es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in
+Ordnung, was hält die Türe zu?"
+
+In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand
+hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder
+den Riegel vorgeschoben."
+
+"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat
+das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen:
+"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+
+"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+
+"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."
+
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein,
+wer hätte es sonst tun sollen?"
+
+Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln
+dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in
+den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon
+schlafen."
+
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und
+suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so
+stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so
+unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre!
+Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal
+reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber
+hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß
+ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte
+stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben.
+Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war
+denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte
+und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun
+aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich
+wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da
+fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett,"
+sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir
+nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da
+waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite
+des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so
+laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß
+Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne,
+Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber
+umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und
+die Hausleute wachten auf.
+
+Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun
+möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten
+Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder
+erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich,
+keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus,
+lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute
+Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir
+wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie
+tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in
+der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es
+unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen.
+
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte
+die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern
+draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie
+besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid
+Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen
+sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur
+Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So
+hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht,
+denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht
+an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur
+hinaus?"
+
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie
+vorwurfsvoll und schloß das Fenster.
+
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr,
+"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da
+schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen
+Morgen?"
+
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu
+seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist.
+Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts
+geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute
+bedanke ich mich!"
+
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob
+den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen
+Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit
+so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung
+entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von
+der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er
+ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten
+Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."
+
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es
+den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen
+Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der
+Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr
+Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn
+er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie
+sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum
+andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen
+der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung
+herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück!
+
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich
+ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen
+war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht
+vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte.
+Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf.
+
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine
+Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem
+Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr,
+als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön
+heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei,
+bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon
+hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser
+zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim
+Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der
+Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen.
+Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
+werden, kommt!"
+
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte.
+"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr
+hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war
+aber der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun
+schön?"
+
+Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß
+sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte
+gleich Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch
+nicht gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?"
+
+"Das nicht."
+
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und
+sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir
+hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken
+gewesen—wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa
+wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt."
+
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie
+aus einem Mund.
+
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf
+den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter
+Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das
+hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir
+sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte
+Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne.
+
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling.
+"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich
+würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So
+aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb
+geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?"
+
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
+Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht
+alles gesagt."
+
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die
+schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1.
+Januar sei gekündigt."
+
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch
+aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu
+glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist,
+glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man
+einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal
+wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn,
+was hat er denn sonst noch gesagt?"
+
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's
+schon vorher ausgedacht hätte."
+
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber
+geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die
+Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+
+Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes:
+"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht
+verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie
+in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen."
+
+"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch,
+frühstückt!"
+
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig
+waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor
+Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch
+nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute
+fühlte er, daß es so sein müsse.
+
+Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger
+Erregung, so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er
+tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um
+sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch
+als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den
+Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der
+Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der
+Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ.
+
+So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei
+Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem
+Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt
+bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch
+die Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der
+leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so
+viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht
+deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz
+anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau
+Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.
+
+Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie
+hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des
+echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie
+stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht
+hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen
+einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau
+Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die
+beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.
+
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien
+benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum
+Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des
+Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche
+hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.
+
+Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch
+sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
+
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes
+miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr
+und sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer
+miteinander verständigen würden.
+
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht
+gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der
+Wache gesehen hat?"
+
+"Ja, du warst ja dabei."
+
+"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum
+erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte
+Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem
+Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des
+Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte.
+Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn
+treiben, zu tun, was recht war.
+
+Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er
+ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel
+gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der
+Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die
+da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen
+ausgingen.
+
+Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der
+Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht,
+und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er
+nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar
+nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen
+Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt.
+Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch
+nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun
+wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"
+
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
+
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen
+sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller
+einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht,"
+sagte sie und gab jedem einen Apfel.
+
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht,
+damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen
+jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an
+der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh,
+so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu
+gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und
+kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der
+erschrockenen Hausfrau.
+
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je
+besser sie's meinen, um so ärger poltert's."
+
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+4. Kapitel
+Adventszeit.
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+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne
+Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen
+Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender
+hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den
+Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf.
+"Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom
+Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht
+erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen
+es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum
+Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher
+Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung
+stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling
+stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen
+und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!"
+Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung,
+auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen
+Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal
+gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.
+
+Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit
+sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige
+nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute
+mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und
+Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an
+der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden
+wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle
+sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer
+soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling
+bedenklich.
+
+"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der
+Kinderchor.
+
+"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.
+
+"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.
+
+"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist,
+hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die
+ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von
+ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche
+gesegnete Andacht".
+
+Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe
+herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche
+einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben
+ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der
+Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach
+einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er
+nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.
+
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs
+Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest
+sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das
+dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden
+die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber
+heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war
+über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling
+Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön
+der Christbaum war?"
+
+Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten
+stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit
+leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine
+Hauptperson, die allen die Freude erhöhte.
+
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten
+flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es
+durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken,
+die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst,
+in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht
+Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!"
+Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die
+Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer
+der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn
+ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche,
+wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und
+da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr
+drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr
+niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche.
+
+Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder
+wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte
+er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen
+und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte
+sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner
+Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es
+ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen,
+bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der
+Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
+
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden
+machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen
+bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer
+verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber
+es ging nicht so.
+
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch
+schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine
+Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob
+Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die
+Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht?
+Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral,
+vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er
+fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+
+Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten
+und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast
+du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte
+Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst."
+
+"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen
+nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand,
+"könntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und
+zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete
+der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze."
+
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
+spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und
+die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die
+Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer
+riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte:
+"Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie
+Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog,
+gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen
+betroffen auf den kleinen Musikanten.
+
+"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und
+wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte
+keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er
+drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber
+er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer
+zum Leben zu erwecken.
+
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von
+ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange
+Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich
+weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!"
+
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein
+Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände,
+bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz
+enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue.
+Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte
+er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten
+wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein
+Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht
+eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
+
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+
+Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die
+Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für
+die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen
+getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts
+ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder
+verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf
+den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht."
+
+"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen
+Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren
+großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern
+mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er
+wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig
+erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie
+lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen,
+was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.
+
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister
+um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte,
+streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da
+nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht
+erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne
+Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim
+Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das
+schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei
+können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum
+müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal
+Walburg sagt, Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte
+Zündhölzer, einen rechten Sack voll."
+
+Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte,
+und fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm,
+"dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da
+gestanden bist."
+
+"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der
+Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle
+vergnügt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du
+deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die
+andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht,
+das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er
+sich glücklich auch ohne Harmonika.
+
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es,
+viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis
+abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.
+
+Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt
+viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier,
+der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb
+hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und
+machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten
+es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und
+wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß
+sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen
+Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als
+alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen
+schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben
+herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die
+gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."
+
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes
+Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
+entgegengesetzt lag.
+
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in
+kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier
+ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und
+Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf
+Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in
+Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen
+abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all
+dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du
+mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen
+vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder
+einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen.
+"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?"
+sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles
+abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst."
+
+"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei
+euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als
+ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie
+angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören
+zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn
+heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben
+riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld
+glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland
+ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man
+artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater,
+sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem
+Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr
+sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit.
+Nun heißt es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die
+Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit
+liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren
+aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.'
+
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner
+militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem
+Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die
+zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das
+ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?
+
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es
+hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen
+Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug
+zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich
+wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft,
+eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht
+handeln."
+
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling
+hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den
+Musikunterricht geben?" fragte er.
+
+"Weiß ich nicht."
+
+"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."
+
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche
+Herrschaften muß man immer das feinste wählen."
+
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+
+"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hören sie gern."
+
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als
+Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen
+ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren
+für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."
+
+"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier
+herablassend, "vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer
+erkundigen und nicht bei den Professoren."
+
+"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt
+du mit den Russen sprechen."
+
+"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du
+hast keinen Begriff von Umgangsformen."
+
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht,
+aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen,
+was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar
+nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal
+in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein
+Schwindel."
+
+"Ich vermag viel im Hotel."
+
+"So beweise es!"
+
+"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen
+hast."
+
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich
+für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum
+Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel
+zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen
+wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben.
+
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag,
+in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen
+Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+
+"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit
+kommt."
+
+Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und
+erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause
+vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du
+solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater
+nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf
+Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei
+unser Vater viel zu vornehm."
+
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern
+der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter
+Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß
+sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran,
+als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom
+Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort
+warten."
+
+Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses,
+die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der
+höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und
+Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor
+Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten,
+flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der
+Rudolf Meier!
+
+Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so
+erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem
+schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier
+senior ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag
+erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr."
+
+Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier
+von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm
+zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der
+Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell
+ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr
+Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in
+Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung
+gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer
+weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen
+dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht:
+"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen
+gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere
+Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding."
+
+"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr
+Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für
+meine Marterstunde."
+
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die
+andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war
+schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch
+die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr
+Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit.
+Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute
+schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte,
+Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.
+
+Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich
+eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig
+herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen
+der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des
+Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel
+jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß
+Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber,
+lachte und spaßte mit den Schwestern.
+
+"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen
+heißt so?"
+
+"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es
+eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie
+und Anne, aber so ist's eben bei uns."
+
+Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes
+Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+
+"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu
+spielen," richtete Marie aus.
+
+"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es
+lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen
+Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint
+Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer,
+ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer.
+Die Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch
+nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den
+Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch
+zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt
+bloß die, die recht musikalisch sind."
+
+Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so
+plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner
+Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen.
+Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie
+mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so
+elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit
+mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ."
+
+"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch
+sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen
+Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer
+ein sicheres Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.
+
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen
+ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts
+zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am
+schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde,
+und im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe
+das Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein
+und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling
+lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es
+euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie,
+Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche
+herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn
+ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel
+gut ausgefallen sein!"
+
+"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch
+musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube
+kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und
+ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß
+sein wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich
+euch erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges
+Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als
+Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon,
+spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel,
+kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so
+einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte
+mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor
+einzuführen, und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach
+richten, die Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden
+glauben, solchen Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann
+geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe
+hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich
+an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling
+vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz
+nahm, empfahl er sich.
+
+"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht
+mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen
+durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei
+jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle
+ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in
+die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt
+davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen
+sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die
+Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig
+Deutsch, versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch
+hörten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+
+"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen
+Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich
+kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber
+allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter
+und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei
+lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für
+welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas
+überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich
+ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher
+Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr
+Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach
+ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich
+wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht
+einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann
+spielte ich.
+
+"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer
+näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß
+wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann
+Violine, und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel
+ihre größte Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag
+ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach
+dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung
+mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine
+Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging,
+begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit
+war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich
+vergessen hatte.
+
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er
+hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in
+der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt.
+Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien
+sich wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und
+flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet
+worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich
+habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter
+sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger
+Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen,
+als du bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das
+Auftreten eines Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst
+durchschaut."
+
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man
+sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."
+
+"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden
+bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges
+Jubellied gesungen werden!"
+
+Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der
+General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher
+Deutscher."
+
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen
+meinen Aufsatz machen."
+
+Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die
+Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau
+Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer
+Glacéhandschuhe."
+
+
+
+
+5. Kapitel
+Schnee am unrechten Platz.
+
+
+Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der
+erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten
+Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen
+Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der
+alles verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und
+glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die
+Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen
+des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+
+Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier
+nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch
+eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich
+verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.
+
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden
+Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie
+wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen
+Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde,
+klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke
+herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter
+ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er
+sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu
+dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum
+im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.
+
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge
+Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei
+doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.
+
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem
+Christbaum nicht den Platz?
+
+
+Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch
+den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit
+dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die
+Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren
+die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee
+bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt
+werden.
+
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da
+und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die
+wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und
+von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine
+hohe Mütze auf.
+
+Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas
+sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und
+öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus
+vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle
+beladen mit Christbäumen.
+
+"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der
+Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als
+er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch
+einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann
+nach.
+
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem
+richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand
+voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und
+richtete dadurch Unheil an.
+
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo
+einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein
+hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer
+der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen,
+indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat,
+seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die
+anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn
+nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit
+warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde
+eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht
+der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig
+auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz
+für den Schnee!
+
+Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und
+so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige
+Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus
+Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und
+dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.
+
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht.
+Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und
+erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees
+abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und
+Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr
+Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem
+Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle
+die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun
+freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann
+kommen sahen, liefen auf und davon.
+
+Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach
+seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der
+Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören.
+
+"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete
+die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+
+"Die Wohnung?"
+
+"Frühlingsstraße."
+
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir
+auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein
+"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein
+Name.
+
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling
+schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist
+das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's:
+fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich
+aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie
+ich."
+
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser
+Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig
+zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder,
+mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders
+Gesicht so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er
+unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen
+Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte
+beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am
+Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und
+Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor
+Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen
+Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, daß Herr
+Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam.
+
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah
+überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick.
+"Was ist's, Vater?" fragte er.
+
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da
+und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du
+angestellt?"
+
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann
+doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn
+getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr
+Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt
+an des Vaters Hand, daß es klatschte.
+
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft
+beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf
+diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein
+Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze
+Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der
+trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe
+wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und
+woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm
+nicht erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um
+welche Zeit?"
+
+"Um 11 Uhr."
+
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es
+dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt
+die Sache noch ins Zeugnis!"
+
+"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen
+sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+
+Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du
+nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu
+ihrem Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?"
+
+Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der
+Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein
+ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um
+einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar
+nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!"
+
+"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen
+haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert.
+Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich:
+"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr
+niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude
+aus dem Hause gewichen.
+
+Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen,
+berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde,
+und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und
+sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der
+Polizei hört, dann kündigt er uns!"
+
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das
+Schreckgespenst, die Kündigung!
+
+So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie
+auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein
+Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine
+Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr
+doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte
+zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von
+vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen."
+
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
+erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die
+übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu
+Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+
+"Es ist nicht wahr."
+
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es
+deutlich gesehen."
+
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als
+der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung
+seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn
+Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte,
+erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er
+hörte, daß Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir
+auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon
+störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute,
+wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich
+sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+
+So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht
+zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer
+Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen
+vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde.
+
+Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors
+das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten
+Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes
+Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden.
+Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er
+ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz
+fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster
+Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um
+ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun
+war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr.
+l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling.
+
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze
+Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte
+ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,"
+sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"
+
+Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
+
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache:
+Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit
+Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das
+Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.
+
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber
+weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast
+mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort
+heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte
+wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber,
+nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders,
+und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem
+Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär
+Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines
+Vergehens entschuldigt hat."
+
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit
+als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht
+mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht
+möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"
+
+"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und
+der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen
+Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu
+kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein."
+
+"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um
+solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie
+es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf
+der Sache war."
+
+Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach
+der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen
+der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte
+noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort,
+indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn
+gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort
+aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat,
+der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf
+Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in
+aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich
+nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den
+Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich
+gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling,
+den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein
+rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+
+"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."
+
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe
+hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir
+den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht
+lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer
+Klasse."
+
+"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich
+kann ihn doch nicht angeben?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und
+deine Menschenkenntnis ist nicht groß."
+
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,"
+sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus
+ist."
+
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das
+Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst
+nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem
+Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr
+euren Schulhof!"
+
+Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater,"
+rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du
+gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal
+erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel
+besser vorgebracht."
+
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht
+glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft
+möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke
+ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann
+schweige ich lieber."
+
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen
+genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine
+strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern
+lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür
+fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du
+ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber
+freilich mußt du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt."
+
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?"
+fragte Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich
+mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den
+Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer
+weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen
+vertreten haben, so gut er es eben versteht."
+
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz
+gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des
+Vaters Hand, küßte sie und lief davon.
+
+Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
+freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt
+nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine
+Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist
+gut vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei
+der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen
+Schriftsteller.
+
+"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der
+Professor nach der Stunde zu Wilhelm.
+
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht
+aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem
+angegeben."
+
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete
+Wilhelm.
+
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden
+sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war
+unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann
+aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den
+falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern
+fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts
+geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht
+übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts
+macht."
+
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief
+Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem
+Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann
+nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich
+durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe
+hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es
+so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere
+um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und
+bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten
+Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand
+lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und
+schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht
+_ein_ Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte
+er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt
+sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht
+entgehen.
+
+Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so
+peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts
+getan, was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich
+wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher
+Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es
+am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte
+sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei:
+'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu
+Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit
+taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und
+Geld für sie verwenden?
+
+In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr
+nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter
+das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft
+hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten
+die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn
+sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die
+doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob
+nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer
+daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen
+gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder
+fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war
+schuld.
+
+Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen.
+Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief
+die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte
+heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah
+sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.
+
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter
+Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände
+waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf
+die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte
+sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie
+aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem
+vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit
+hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die
+Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung
+vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in
+ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf
+dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr
+Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter,
+sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles
+gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!"
+
+Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch
+Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz
+andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen
+Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben
+geschrieben stand:
+
+Man bittet die Türe zu schließen!
+
+
+Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts
+helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.
+
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel
+ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig
+flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind
+manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß
+es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen."
+
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die
+Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als
+sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich,
+ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend,
+so weit sie nur aufging.
+
+Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den
+guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt,
+daß heute etwas besonderes los war.
+
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas
+kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+
+Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau
+Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die
+ganze Familie am Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die
+Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter
+geworfen?"
+
+"Vergessen!"
+
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+
+"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch
+nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht
+verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich
+nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem
+Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.
+
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie
+schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr
+fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte
+Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen
+waren.
+
+"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß,
+wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders
+für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn
+Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn
+ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter
+machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen."
+
+Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt
+werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der
+Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem
+Gymnasium ausgewiesen.
+
+Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine
+Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.
+
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling
+sagen.
+
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum
+nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder
+war etwas anderes gemeint?
+
+
+
+
+6. Kapitel
+Am kürzesten Tag.
+
+
+Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe
+Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel
+steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als
+diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den
+Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie
+gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen
+den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander
+wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der
+Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die
+wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse
+und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume!
+Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und
+Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt
+waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.
+
+Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und
+Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser
+kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung
+besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich
+nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er
+selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt
+sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und
+kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und
+wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+
+"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand
+legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus
+einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn
+angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die
+andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst
+der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte
+die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter.
+
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte
+die Dame.
+
+"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume
+geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm
+heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame.
+"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur
+nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch
+unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der
+Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der
+andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß
+er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es
+aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so
+mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen,
+freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen
+Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet
+wären oder gar der Vater!
+
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in
+die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der
+Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man
+mußte ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem
+Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu
+Boden, ohne daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden
+hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei
+mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem
+Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen
+aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende
+schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten
+eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem
+Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige
+Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich,
+die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das
+wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer
+Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte
+niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten
+Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach
+Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte
+einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum
+wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige
+Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen.
+
+"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist
+Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun
+lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei
+die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als
+sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43
+vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr.
+Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und
+größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als
+er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er
+jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die
+Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar
+nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+
+Und es war wirklich höchste Zeit.
+
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun
+aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen:
+"Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen
+Vormittag weggeblieben!"
+
+"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife.
+Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu
+ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem
+zugestoßen sein—, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die
+Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen
+sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und,
+als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur
+nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim,
+fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon
+fertig?"
+
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört
+hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch
+in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man
+nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl.
+
+"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg
+zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der
+Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht
+machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den
+Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter
+sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen
+dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging
+von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen
+ganz hart.
+
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können
+ja noch ein wenig mit dem Essen warten."
+
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die
+Kinder.
+
+So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er
+es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf,
+und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau
+Pfäffling merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch
+hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den
+Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?"
+
+Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie
+man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell
+ihn nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz.
+Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte
+dieser, "ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie
+heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau
+hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders
+Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du
+kleines Dummerle, du!"
+
+Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte,
+läßt sich denken.
+
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner
+rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit
+Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus
+zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen,"
+entgegnete Karl.
+
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde
+ich mich schämen."
+
+"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß
+wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der
+Ecke stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte
+spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle
+nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'"
+
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird
+so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein
+Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie
+schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte
+sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies
+oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht
+auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs
+Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf
+Meier ab."
+
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit
+Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der
+Baum in die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.
+
+Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir
+nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht
+gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."
+
+"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir
+ein Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+
+"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen
+Pfennig mehr."
+
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins
+Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum
+so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit,
+deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+
+Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto
+mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen,
+als Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und
+sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich
+aus, wenn sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück
+kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst
+entschuldigen, nicht?"
+
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach
+war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr.
+Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im
+zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der
+rechten Türe.
+
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein
+wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als
+Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu
+gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den
+Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße
+wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile
+vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war
+Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war
+nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten
+gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich
+erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum
+getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte
+man auch schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein,
+und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der
+kleine Unglücksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie
+trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht
+gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund,
+er würgte an den Tränen, die kommen wollten, und preßte hervor:
+"Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid,
+aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten
+bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben gar
+nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen
+größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so
+treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten."
+
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit
+dem Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr
+zurück," und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein
+wenig von seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig
+davon.
+
+In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und
+sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch
+noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo
+bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar
+nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht
+mir."
+
+Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen
+jungen Pfäfflingen gemacht hatte.
+
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er
+kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe
+nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt,
+ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da
+konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr
+wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken."
+
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+
+"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten
+kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen
+Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?"
+
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit
+seinem Baum heimwärts.
+
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter
+angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe
+geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm
+klingelte, und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie
+den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins
+Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum,
+der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht
+aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!"
+
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab
+ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der
+Baum, Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim
+kam, ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber
+er merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte
+sie eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte
+er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so
+gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann
+heiße ich dich einen Feigling!"
+
+Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das
+brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu
+vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten
+Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem
+Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der
+Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und
+ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich
+kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn
+um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für
+feig."
+
+"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar
+schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen
+über dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft
+nur ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer
+sein kannst."
+
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten,
+fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er
+zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen
+Musikalien auf. "Willst du etwas?"
+
+"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon
+welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt
+gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von
+meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld,
+die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem
+Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war
+auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!"
+
+
+
+
+7. Kapitel
+Immer noch nicht Weihnachten.
+
+
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der
+Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade
+das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das
+Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie
+zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die
+schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von
+Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß
+die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen
+redeten, die sie bekommen würden.
+
+Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß
+morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig
+und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es
+gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+
+"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel
+ist zurzeit noch keine eröffnet."
+
+"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch.
+Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag
+nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal
+nichts zu machen war.
+
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der
+letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie
+nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise
+geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer.
+Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es
+sich, daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die
+geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl
+4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen.
+"So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß
+ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht
+doch auf den ersten Blick den Vierer."
+
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+
+"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"
+
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater
+darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du
+es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"
+
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren
+inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die
+Brüder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie:
+"Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte,
+fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal,
+und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon
+zufrieden sein."
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen
+soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und
+zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und
+dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz
+des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt
+sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen
+anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in
+einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter
+nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben
+werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte
+man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das
+beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis
+gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte
+Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+
+"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur
+von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten
+bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft
+wieder, Karl?"
+
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."
+
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat
+sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.
+
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es
+übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht
+nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr
+Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das
+Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß
+er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse
+bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was
+wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen
+ist? Magst du raten, Vater?"
+
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte
+ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei
+bis drei vielleicht?"
+
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+
+"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und
+Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will
+ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal
+unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling
+noch von der Treppe herauf.
+
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber
+sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da
+niemand in die Hände fallen.
+
+Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel,
+denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten
+und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal
+stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer
+waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels
+stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt
+seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling,
+nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit
+herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des
+Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm,
+einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume
+in den Saal getragen wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche
+zusammen, denn hinter ihm ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst
+du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es
+war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling
+gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den
+Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt
+Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm
+vorbei, die Treppe hinauf.
+
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf
+seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den
+Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm,
+er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr
+Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die
+Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm,
+sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch
+empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter
+war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
+geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas
+erzählten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über
+ihn, das wußte er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+
+Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe
+hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel
+seiner Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig
+musiziert.
+
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte
+ihm die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen
+Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein
+Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut
+selbst keine! Der Sohn wird nichts."
+
+Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte
+und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen,
+über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war:
+"Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen
+Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht
+teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht
+zufällig da. Er wußte vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb.
+Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein
+anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur
+Sprache zu bringen.
+
+"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für
+andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest
+nur Arbeit."
+
+Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater
+sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch
+wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war
+und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß
+ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie
+begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß.
+Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her
+sein."
+
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen
+anleiten?"
+
+Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar
+nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein
+gewöhnlicher Schuljunge war?
+
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder
+freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."
+
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und
+ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind,
+Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte
+Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen
+können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession
+merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen
+uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das
+bringt ein Welthotel so mit sich."
+
+Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und
+der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er
+offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor
+der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen,
+die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand
+auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte
+Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen:
+
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft
+von den Gästen abgehalten wird."
+
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern
+kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem
+Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen
+Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der
+von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht
+merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in
+Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit
+gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit
+dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus
+eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du
+siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den
+schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von
+der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während
+sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins
+Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen
+Saal.
+
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die
+Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke,"
+sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber
+um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+
+Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach
+einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie
+Platz nehmen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er
+sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch
+begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+
+"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann
+sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr
+Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie
+ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der
+tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von
+beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den
+Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein
+Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er
+dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort
+von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus
+ihm werden, aber so nicht!"
+
+Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen
+nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und
+kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles
+sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur
+ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir,
+daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus
+vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern
+Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und
+werde für sein Wohl sorgen."
+
+Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie
+dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie
+gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich
+vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren
+habe, daß es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre
+Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht.
+Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich
+Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum
+sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen
+Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!"
+
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung
+ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser
+Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie
+nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
+
+"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe
+nichts erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun
+ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich
+seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was
+er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken
+Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng
+ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so
+ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz
+aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute
+einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+
+Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er
+sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen
+eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn:
+eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die
+Folge davon war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu
+Hause in den Weg lief, zurief:
+
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich
+will sie sehen!"
+
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse
+müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu.
+"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List
+mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck
+und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer.
+
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als
+sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."
+
+Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine
+List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend
+etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar
+fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er
+überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst
+Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus,
+jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines
+gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten.
+
+Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut
+brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte
+viele Sünden anderer gut machen.
+
+Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da
+war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie
+sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute
+Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn
+sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer,
+ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen,
+aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei
+diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die
+Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht
+und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer
+zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+
+Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes
+entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und
+staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal
+erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung
+des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders
+anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika
+zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in
+Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es
+kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die
+besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote
+herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines
+fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern,
+hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein
+und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das
+war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin
+und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie
+feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe
+sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier
+auch nicht heimbringen.
+
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis
+etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es
+wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis.
+
+Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand
+an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es
+war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm
+fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht
+daran, daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und
+folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr,
+Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich
+erinnerst."
+
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden
+immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+
+"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor
+Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal
+alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!"
+
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre
+Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf
+einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so
+eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die
+Durchschnittsnote hervorgegangen.
+
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur
+gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und
+Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet
+man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als
+mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns
+darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+
+Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen
+Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um
+den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen
+wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht
+verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen,
+nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!"
+
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch
+Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann
+kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was
+machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden
+kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit
+meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie
+wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast
+das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen.
+Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem
+Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den
+Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her.
+Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch
+nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß
+sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch.
+Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis
+gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her,
+suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr
+Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.
+
+"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort
+mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön
+wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf
+Weihnachten?" Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang,
+und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein
+Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich
+habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht
+'herein' gerufen."
+
+Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch
+immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als
+sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große,
+erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch
+ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon
+verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei
+Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"
+
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche.
+Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht
+ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf
+hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll
+aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt
+beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem
+Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige
+Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+
+"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur
+so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_
+Noten spielen, die da stehen."
+
+"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch
+nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch
+nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich
+weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich
+auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit
+zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling."
+
+"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie
+ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber
+nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton
+falsch wird."
+
+"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"
+
+"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer
+sein?"
+
+Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in
+rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte
+zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem
+8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude,
+und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu
+haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem
+Musiklehrer und seiner Schülerin.
+
+In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt
+hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens,
+das über einen Meter lang herunter hing.
+
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein?
+Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden,
+Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine
+Tastendecke für das Klavier erkannt.
+
+"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein
+Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich
+bitte dich, nimm mir das Ding da ab!"
+
+Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden,
+seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen.
+Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den
+Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge
+im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht,
+aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines
+Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig
+Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige,
+die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd
+hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glückliches Paar, nicht wahr?"
+
+Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der
+Vater zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu,
+Cäcilie?"
+
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"
+
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und
+dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die
+kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich
+vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es
+war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte
+den Regenschirm bei mir."
+
+"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein,
+"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man
+sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm
+trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes
+Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als
+mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu
+Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges,
+dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe
+hatte, mein Lachen zu unterdrücken."
+
+"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können,
+sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und
+um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine
+Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein
+gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich
+warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst
+dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich
+wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz
+Besuch machen wollte."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter
+hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie
+fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit
+dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird
+er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte
+mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und
+ungeschickt."
+
+"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling
+ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an,
+wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht
+lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich,
+was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt,
+meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du
+lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern
+wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen
+Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich
+sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der
+Lachlust."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel,
+Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht
+gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr
+Pfäffling.
+
+
+
+
+8. Kapitel
+Endlich Weihnachten.
+
+
+Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute
+ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an
+keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht
+und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so
+dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch
+der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um
+6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob
+gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn
+geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die
+Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes
+erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen
+Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche
+befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht
+hätte.
+
+Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der
+etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus
+dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die
+allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber
+damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie,
+"führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen,
+bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau
+Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie
+ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir
+einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach,"
+entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder
+nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken
+will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem
+keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist
+auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen
+hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns
+war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend."
+
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch
+noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen
+Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder
+bekommen auch nicht viel—das können Sie sich denken bei sieben—aber
+weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung
+doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder
+sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen
+Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt
+wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet
+ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich,
+und dann sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor
+Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen."
+
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen
+Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."
+
+"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.
+
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines
+heimgebracht und Lichter dazu."
+
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf
+den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen
+hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich
+denke mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen,
+etwas bekommen, oder nicht?"
+
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein
+kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder."
+
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr
+tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel
+gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon
+auch daran freuen."
+
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag
+gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der
+Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie
+haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen
+getan habe."
+
+"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will,
+als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine
+Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein
+Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir
+versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau
+Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine
+schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange
+Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem
+Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule?
+Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem
+Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann
+noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen
+Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am
+heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war."
+
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen
+Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben."
+
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen
+allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das
+können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die
+Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und
+die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht
+selbst wollen."
+
+Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück;
+als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen
+und der Schlüssel abgezogen.
+
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an,
+darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie
+gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt
+nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus
+hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn
+ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so."
+
+Da ergaben sich die Kinder.
+
+Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher
+Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau
+Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die
+Mädchen.
+
+"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche,"
+sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben
+besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien
+Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge
+Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und
+pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen
+Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren.
+"Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm
+fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer
+wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte
+es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln
+und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe
+von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben
+ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den
+plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben,
+ihr Kinder?"
+
+"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht,
+wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben
+darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und
+mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der
+Strumpf fiel herunter.
+
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+
+"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher
+grau und schwarz, denen schadet das nichts."
+
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre
+Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle
+Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten
+sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten
+Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen!
+Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen?
+
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid
+herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau
+meine, sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang
+der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz
+entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe
+heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr
+Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat
+auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das
+gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein
+kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den
+Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel
+nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam
+von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch
+nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen.
+Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling,
+"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch
+knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den
+Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste
+vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr
+Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf
+dabei an ein großes Stück Braten denken!"
+
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr
+wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar
+jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann
+wurde es Ernst!
+
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die
+kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte,
+wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck
+da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und
+oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in
+andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und
+Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit
+Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des
+Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem
+nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter
+Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil
+ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie
+nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt
+wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu
+gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns
+schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen
+unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach
+diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr
+wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem
+Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren,
+und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und
+Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet
+und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie
+nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen
+vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in
+der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz
+und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das
+Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer
+Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen
+und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+
+Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus
+aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war
+eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die
+Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist
+zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und
+dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich
+bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht
+leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das
+gleiche Strahlen hervor.
+
+Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten
+Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den
+Baum anzünden?"
+
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich
+bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen
+Jubel Kraft zu sammeln."
+
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich
+wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein
+wenig und schließe die Augen."
+
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur
+drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder
+frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache
+Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen
+anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in
+den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen
+Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die
+Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter
+ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung;
+solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein
+Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der
+Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und
+jubelnder wird das Kinderglück.
+
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht
+dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war
+sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen
+kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen
+Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe
+und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte
+dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des
+Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
+
+Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den
+Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war,
+stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit
+staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine!
+Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war,
+und las das Verschen:
+
+Fideln darfst du, kleiner Mann,
+Vater will dir's zeigen.
+Aber merk's und denk daran:
+Immerfort zu geigen
+Tut nicht gut und darf nicht sein.
+Halte fest die Ordnung ein:
+Eine Stund' am Tag, auch zwei,
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+
+
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er
+drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich
+sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die
+Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den
+Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen
+und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von
+dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte
+_reine_ Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit
+glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem
+Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen
+kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+
+"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding
+geschickt!"
+
+"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?"
+
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben
+welche."
+
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"
+
+Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre
+neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch
+gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe.
+"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz
+außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau.
+"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den
+Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es
+wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles
+gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+
+In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für
+sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht
+worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren
+großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute
+morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen
+hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen.
+Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen
+Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während
+Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern
+in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs
+Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das
+Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben?
+Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie
+nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der
+kalten Küche zu stehen?
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde
+zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und
+der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage:
+"Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er
+kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und
+Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur
+ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh
+sein."
+
+Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen
+Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im
+Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise:
+"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten
+sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht
+man so gut an, daß heute Weihnachten ist."
+
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie
+wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis
+endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch
+der Ruhe bedürftig sein," sagte er.
+
+"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut
+hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem
+Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem
+Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem
+kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und
+weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er
+wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel.
+Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal
+herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit
+festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg
+kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz
+entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das
+freut für Walburg!"
+
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem
+Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?"
+
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht
+kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde
+es rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten
+Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da
+draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden."
+
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person,
+wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz
+finden."
+
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten
+Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit
+den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg
+zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist."
+
+Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in
+ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen
+kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor
+der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam
+geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer
+getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie
+hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen
+gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die
+breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun
+wieder zu Ehren kommen!
+
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste
+sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
+
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es
+war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen.
+Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön
+aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht
+und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen
+und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe
+lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht
+bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon
+erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle
+sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht
+hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr
+Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich
+auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als
+eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine
+Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein
+seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die
+beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen
+hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die
+Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr
+zu spielen.
+
+So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war;
+ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus
+der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe!
+Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das
+man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was
+_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf
+und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile
+ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie
+tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme
+zu dir!"
+
+Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen
+Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80
+jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_
+nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig
+daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu
+besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den
+Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten
+Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie
+wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre.
+Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur
+Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das
+konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem
+Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel
+von des Tages Last und Hitze und davon, daß ihr Mann und sie noch immer
+treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern
+Last.
+
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen
+Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und
+zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und
+große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke
+des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und
+Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet
+er sich zu euch.
+
+Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und
+Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich
+Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen,
+fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll
+dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging,
+ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt
+hatten, Walburg stand vor der Türe.
+
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst
+mit dem letzten Zug erwartet."
+
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen.
+"Kartoffeln zusetzen?"
+
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst,
+wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich
+bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's
+nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser,
+die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die
+Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen.
+Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe
+und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte.
+Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die
+alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen
+Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so
+öde und leer in ihrem Herzen.
+
+Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet
+neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du
+tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer.
+Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen
+Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir
+geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die
+Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl
+recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat
+er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die
+Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie
+sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch
+auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?"
+
+"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir
+verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns
+ist's lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt."
+Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll
+Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der
+Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie
+freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie
+nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt
+und das Essen nicht gerichtet ist!"
+
+Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so
+traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch
+Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei
+uns recht heimisch fühlt."
+
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton
+hört sie."
+
+Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen
+noch geigen? Wie heißt dein Vers?
+
+"'Eine Stund am Tag, auch zwei,
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+
+
+Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden
+gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben
+Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem
+traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die
+Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die
+Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine
+Verbindung mit den Mitmenschen.
+
+
+
+
+9. Kapitel
+Bei grimmiger Kälte.
+
+
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man
+die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus
+den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war
+das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke
+einschlagen, ehe man es benützen konnte.
+
+Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch
+zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor
+dem Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen.
+"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie
+erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über
+Nacht eingefroren.'"
+
+Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb
+daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz
+besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern
+stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches
+teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse
+warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen
+Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war
+einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf
+Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme,
+dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der
+im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen
+Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der
+Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und
+Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings
+Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand
+geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling
+tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur
+möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort
+und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große
+Reise gar nicht lohnen."
+
+Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch
+äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie
+Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.
+
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+
+"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr
+Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder
+groß sind und Walburg so zuverlässig ist."
+
+Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor
+stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und
+versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich
+zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den
+Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte
+mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der
+Januar bringt!"
+
+Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen
+wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den
+Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei
+Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute
+hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem
+er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und
+Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg
+frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl
+er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon
+im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte:
+"Laß doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen,
+es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+
+"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine
+großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen
+könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger
+als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der
+Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so
+zimpferlich?"
+
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er
+ließ den Mantel fahren und rannte davon.
+
+Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den
+Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten
+bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von
+Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den
+Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.
+
+So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit
+wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch
+auf das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und
+Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt,
+zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne
+diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut
+mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die
+Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie
+noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch
+setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?"
+fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das
+Geständnis, daß man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp
+anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein
+Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen
+Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.
+
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
+Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast.
+Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist
+gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun
+kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir
+haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule
+erzählt. Kommt, wir wollen beten:
+
+"Herr wie schon vor tausend Jahren
+Unsre Väter eifrig waren,
+Dich als Gast zu Tisch zu bitten,
+So verlangt uns noch heute,
+Daß Du teilest unsre Freude.
+Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+
+
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei
+Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie
+vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man
+wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der
+Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert
+ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das
+vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen
+hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen
+Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise
+zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler
+Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen
+Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des
+wunderbar begabten Knaben mache.
+
+Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß
+unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares
+Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule
+gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer
+der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude
+auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb
+dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine
+Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum
+80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur
+Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem
+Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer
+war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu
+eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit
+halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr,
+der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier
+erzählt?" fragte er Otto.
+
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+
+"Hast du nichts näheres darüber gehört?"
+
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich
+weiß nicht mehr."
+
+Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand.
+Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald
+näheres erfahren.
+
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel,
+im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt,
+und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen
+Winter.
+
+"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?"
+meinte Herr Pfäffling.
+
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu
+schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen
+belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße.
+Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin,
+indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der
+Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles,
+vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe
+käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom
+Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen."
+
+Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel.
+"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn
+des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist
+übrigens jetzt nicht mehr hier."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich
+gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der
+Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein
+richtiges Familienleben hinein.'"
+
+Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat
+recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig
+sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land
+ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser,
+die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland
+haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort
+aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und
+Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von
+dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine
+Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen
+Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren,
+was wohl in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über
+diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt."
+
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne
+standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte,
+daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren
+schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer
+Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme
+Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland
+bessere Zustände bringen!"
+
+Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er
+unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen
+Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über
+das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die
+Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht.
+Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber,
+gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!"
+
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie
+auseinander.
+
+Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der
+kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein
+Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie
+war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater
+sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl
+seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche
+erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine
+Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich
+dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?"
+fragte er.
+
+"Nicht lange, Vater."
+
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast?
+Sage mir das genau?"
+
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu:
+"Aber das ist doch noch nicht lang her?"
+
+"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon
+heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei,
+Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht,
+sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche
+bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der
+Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen.
+Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem
+Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann
+reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab
+sich.
+
+Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht
+verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie
+sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken
+Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich
+und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?"
+
+"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.
+
+"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf
+die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach
+seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen!
+
+Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen
+Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie
+zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme
+fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im
+Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet
+und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das
+Familienzimmer zu seiner Frau.
+
+"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein
+fand, fragte er ungeduldig:
+
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+
+"Sie ist draußen und bügelt."
+
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+
+Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir."
+Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich
+komme gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben."
+
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und
+in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".
+
+Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau
+Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in
+der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen
+Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso
+glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete
+Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die
+Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"
+
+"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"
+
+"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von
+Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle
+Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die
+Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei
+still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel
+Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber
+sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh
+sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt
+wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+
+"Ja," schluchzte das Kind.
+
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja
+noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere
+Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es
+ist doch immer alles gleich bezahlt worden?"
+
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß
+diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet
+wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim
+Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen
+sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's
+schlimm!"
+
+Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr
+der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling
+schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich
+sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die
+Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist."
+
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen,
+als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und
+die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten
+bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung
+sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief
+hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater
+geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den
+Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie
+und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte
+Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das
+anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche
+Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch
+warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen
+herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter
+Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den
+Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte
+sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht
+gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen
+nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig
+Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn
+noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg
+entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte
+weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es
+freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!"
+
+Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen
+angestellt, und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs
+die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte
+gerne die alte Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor
+nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich
+schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer
+wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr
+hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch
+nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht
+anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater
+stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da
+machen können?"
+
+"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."
+
+"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.
+
+"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."
+
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+
+"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter;
+wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht
+so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf
+Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann
+man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich
+bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen.
+Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld
+geschickt bekommen?"
+
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+
+"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die
+Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder
+eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich
+darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt
+mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr,
+Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag
+dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war.
+Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler
+tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke,
+eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer
+Vater, auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn
+freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie
+nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!"
+
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte
+vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte.
+Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei
+zwanzig Grad Kälte!
+
+
+
+
+10. Kapitel
+Ein Künstlerkonzert.
+
+
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt
+hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende
+Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers
+die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine
+musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte.
+
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um
+seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal
+musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann
+nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen
+ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den
+Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden
+jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der
+jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten.
+Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den
+großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den
+beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und
+warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.
+
+"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General,
+"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu
+überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch
+anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!"
+
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz
+machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war
+für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe
+und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr
+Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte
+und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit
+mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers
+aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute
+wieder vollauf in Anspruch genommen?"
+
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken
+als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch
+und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach,
+was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es
+vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester
+ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den
+Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation."
+
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir
+sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen
+habe. Was schreibt Ihr Sohn?"
+
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben
+finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über
+seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er
+ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum,
+wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern
+schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner
+Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte
+ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl
+Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.
+
+"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre
+Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das
+Telephon."
+
+"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich
+alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie
+wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders
+auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen
+Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich
+im Konzertsaal abspielt."
+
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur
+Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt
+oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen.
+Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner
+Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar
+sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling."
+
+Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
+verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal
+einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie
+wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit
+zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte.
+Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte
+Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen.
+Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie
+sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer
+Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der
+Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war
+in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden
+Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten.
+Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen
+Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten
+ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben
+hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die
+Stunden beilegen wollten.
+
+Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen,
+wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in
+der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte
+Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr
+Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten
+fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht,
+daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der
+Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine
+einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der
+Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung
+unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch
+Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe
+ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch
+dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit schlechtem
+Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark
+beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt
+hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so
+gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man
+auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die
+Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken
+können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das
+Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch
+bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt,
+soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und
+warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei
+man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man
+nicht bitter werden!"
+
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+
+Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis
+Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu
+Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen
+Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling
+sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu
+lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie
+für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden."
+
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer
+waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt,
+alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das
+Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch
+langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den
+kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter
+Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.
+
+Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele
+Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der
+Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche
+Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen.
+"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht
+in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur,
+wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde
+in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so
+verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung,
+ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar
+muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen
+und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte,
+sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas
+Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!"
+
+"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und
+verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das
+stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also
+auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte
+er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte
+dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal
+war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang
+sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in
+Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und
+munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes
+sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine
+Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie
+ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn
+Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder,
+Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch
+Spielzeug dazu, aber rasch!"
+
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor,
+und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse
+bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal,
+sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so
+zuwider sei."
+
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie
+waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu?
+Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur
+Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto
+erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie
+kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll?
+Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er
+kreuzfidel würde!"
+
+"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du
+es auch zustande bringen. Und Frieder?"
+
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten.
+Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem
+niedlichen Gestältchen."
+
+"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu
+schüchtern? Wir wollen sie fragen."
+
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer,
+hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und
+Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte
+bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen.
+Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches,
+lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine
+Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er
+kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?"
+
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann
+ich schon fort."
+
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch
+die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.
+
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas
+bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der
+Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn.
+Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und
+sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden."
+Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen,
+hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen
+Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater,
+langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun
+kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der
+Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm
+spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht
+mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie
+andere Kinder auch."
+
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das
+"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber
+Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn
+sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da
+lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg
+Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein
+kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte,
+aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war
+erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein
+und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen,
+die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun
+laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?"
+
+Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in
+ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem
+nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte
+freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt
+entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte
+ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte,
+ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen
+Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu
+der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
+herein, bloß heute, weil er lustig sein will."
+
+"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist
+Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die
+Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das
+Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich
+mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen.
+
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas
+sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche,
+blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und
+wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen,
+die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese
+Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern
+spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war,
+lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die
+ihn viel älter erscheinen ließen.
+
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte
+sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit
+dir möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+
+"Was willst du tanzen?"
+
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres
+Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts
+gewußt hatte.
+
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen
+zum Tanz führen.
+
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."
+
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken,
+für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu
+machen.
+
+"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir
+einen Walzer vorpfeifen."
+
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und
+sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter
+ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte.
+Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin.
+Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt
+hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den
+Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein
+rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter
+die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in
+unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner
+Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
+das Fräulein. Sie wußte es nicht.
+
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist
+die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das
+Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und
+sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand
+alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen
+möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle.
+Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der
+Mutter hatten nur Tränen zur Folge.
+
+Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt
+doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen
+sich schon so lange auf das Konzert!"
+
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte,
+sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das
+Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so
+langweilig, während du singst und Papa spielt."
+
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht
+kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich
+habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele
+Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er
+drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht
+kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch
+tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief
+den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint
+und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so
+verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen
+durchmachen, heute abend."
+
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand
+und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden
+Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden
+nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt.
+Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte
+er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den
+Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal
+bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl
+tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten
+dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt
+noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet.
+Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke!
+"Ja," rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater
+geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht
+durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom
+Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei
+sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich
+freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen
+Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
+so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad
+laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen
+Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem
+Kinde redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt
+heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem
+Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der
+Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten,
+so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer
+fragen."
+
+"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt
+es."
+
+Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte
+er, "woher weißt du das Zimmer?"
+
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser
+Konzert?"
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich
+mehr darüber freuen, als mein Vater!"
+
+Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei
+schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden
+Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken.
+Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem
+Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer
+einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu
+belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen.
+
+Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell,
+schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist
+schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+
+So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr
+erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die
+Freitreppe vor dem Hotel.
+
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren."
+Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und
+kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber
+die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des
+Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine
+Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter
+Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so
+kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen
+holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im
+Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei
+riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.
+
+"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen
+bis nach Rußland."
+
+"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten
+Woche nach Berlin reist."
+
+"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."
+
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah
+erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das
+gesagt?"
+
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General
+selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen
+vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+
+Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung
+zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der
+Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und
+sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt
+nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen,
+dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die
+Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle
+auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und
+Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu
+rechter Zeit bekommen!"
+
+In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau
+Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte:
+"Sie kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin
+und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch
+den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend
+Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr
+Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder
+sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie,
+singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also:
+die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann:
+"Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die
+Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling
+stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte
+fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den
+eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater,
+wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt
+vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den
+Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte,
+enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf
+der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst
+schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der
+durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.
+
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es
+diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag
+herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht
+überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die
+Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so
+pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen
+hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß
+für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden
+verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie
+gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und
+sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie
+du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont
+wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im
+Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!"
+
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+
+Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet
+hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die
+Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die
+Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling
+und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau
+Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem
+kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu
+Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter
+Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu
+vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit
+dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der
+ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen
+verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und
+Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. "Wenn der
+Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau
+Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm
+allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem
+Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen
+bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht
+lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen
+Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er
+hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und
+unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm."
+
+So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem
+schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters
+Billet nachträglich zu verdienen.
+
+Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn
+begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin
+allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand
+in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter,
+die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da
+kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms
+bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine
+Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+
+"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im
+Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben
+hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt
+hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel
+für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?"
+"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das
+Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später
+kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr
+Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an
+ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am
+Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge
+die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu
+Wilhelm," die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des
+Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann
+öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem
+erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten
+sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht
+hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das
+junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe
+und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge
+entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer.
+
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms
+hat unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte
+Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?"
+Edmund antwortete nicht.
+
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat
+vorhin darnach gesehen."
+
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du
+stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch,
+nicht ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn
+dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu
+weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden,
+Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall
+klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die
+Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm
+ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte
+er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er
+vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein
+Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.
+
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß
+noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens
+hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch
+manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß."
+
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm,
+"so etwas habe ich noch gar nicht gehört."
+
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es
+nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem
+Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl
+geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer
+zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?"
+Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt
+ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.
+
+Im Saal erklang der Konzertflügel.
+
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an
+das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist,
+wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir
+bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich
+spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie
+anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So
+sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist
+von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre
+eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine
+Sache immer gut gemacht."
+
+"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht
+auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen
+Sie, Fräulein!"
+
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen
+lassen."
+
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen
+nicht müde sein vor dem Violinspiel."
+
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen.
+Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber
+ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem
+Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also
+_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und
+sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in
+der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er
+Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.
+
+"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,"
+sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr
+war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch
+den Türspalt, wie er seine Sache macht!"
+
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie
+der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in
+kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem
+Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen
+Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung
+nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben
+träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte
+Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser
+Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die
+Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich
+eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu
+wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände.
+Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte
+Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal,
+Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen
+Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter
+berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren
+unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe,
+die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein
+schlichtes, freundliches "Danke!" rufen.
+
+In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu
+gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte:
+die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg
+glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das
+Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein
+schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie
+war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten
+Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und
+von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß
+trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück
+bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.
+
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine
+weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm
+mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da
+dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing
+an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte
+gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie
+ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein
+Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds
+Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat
+es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr
+grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie
+das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind,
+boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien,
+wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu
+bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele.
+
+Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große
+Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der
+Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+
+"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner
+Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit
+Edmund reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng
+in die Augen.
+
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu
+Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe
+doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur
+ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht:
+Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen
+dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das
+deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber
+eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich
+tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen
+Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so
+gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht
+schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer
+Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann
+verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm
+das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm
+verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die
+Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater,"
+fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt
+der Vater.
+
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte
+sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des
+Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er
+möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von
+Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die
+Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die
+Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater
+noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die
+meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen
+von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.
+
+Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit
+erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter,
+die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing.
+
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,"
+sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum
+Droschkenplatz, nicht wahr?"
+
+Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer
+vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal
+zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom
+Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen.
+
+Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des
+Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine
+Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.
+
+Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank
+darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie
+manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich
+auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+
+Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+
+
+
+
+11. Kapitel
+Geld- und Geigennot.
+
+
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte
+täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß
+des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden
+beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische
+Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte
+sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder
+aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr
+Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit
+Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach
+Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.
+
+Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar
+zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich
+handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle
+geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig
+jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so
+werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+
+"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt,
+seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie
+das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne
+Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern
+würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es
+von Berlin aus geschehen werde?"
+
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab,
+ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas
+anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die
+Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das
+Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus
+allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die
+Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es
+scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas
+reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt
+übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die
+Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die
+Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie
+nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie
+noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will
+sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf,
+schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht
+gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang
+erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne,
+wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und
+alles ist gut."
+
+In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem
+offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er
+dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich
+schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und
+Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen."
+
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter
+Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie,"
+sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich
+ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich
+auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt
+doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner
+Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er
+hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren
+müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die
+ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können.
+Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser
+Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert
+Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?"
+
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über
+dich bringst," entgegnete Frau Pfäffling.
+
+"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz
+all dem Leid, was daraus entstehen muß?"
+
+"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es
+heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies
+ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben
+und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die
+unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären
+könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig."
+
+"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"
+
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich
+würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine
+Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm
+mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater
+begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber
+sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor
+der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich
+verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das
+kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem
+Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den
+russischen General ungeschrieben.
+
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto
+beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung
+über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck,
+den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die
+Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten,
+schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen
+mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß
+mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der
+Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner
+schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und
+dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an
+Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie
+gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur
+Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer
+Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin
+mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln,
+und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben!
+
+Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz
+anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am
+nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum
+lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?"
+Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung
+mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht
+äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der
+Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil
+dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
+wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken,
+nicht lange vorher fragen."
+
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf
+er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber
+die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht
+werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und
+ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten
+Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst
+sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch
+wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht
+herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche,"
+sagte er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen
+ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache
+schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es
+nicht erlauben sollen." Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto
+auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben
+ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen
+Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun
+Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den
+Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der
+Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre.
+Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen,
+hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau
+Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das
+Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun
+ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie
+gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und
+heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen
+Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und
+die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich
+angeführt.
+
+Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
+veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast
+entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über
+diese Wirkung und verstummten.
+
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr
+auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in
+die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel,
+sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General
+übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn
+zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das,
+was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch
+so einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins
+Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht
+begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht
+erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief:
+"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch
+nicht so!"
+
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er
+sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir
+schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch,
+denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten
+alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche
+Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe
+daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+
+"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau
+Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen
+Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie
+wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten
+Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht
+gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er
+unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein."
+
+Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber.
+"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau,
+"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die
+Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch
+unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in
+dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte
+an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der
+Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der
+General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung
+einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne
+schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung
+unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu
+bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen."
+
+Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen
+Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner
+Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages
+plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief
+vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder
+verschwunden.
+
+Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen
+Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein
+kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten
+Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er
+es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu
+fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie
+die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil
+entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht
+nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer
+Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß
+es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe
+zusammenzubringen.
+
+Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der
+Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball
+gegeben hat?"
+
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die
+sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja
+bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß
+er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand
+die große Familie aufnehmen wollte."
+
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich
+keine so gesalzene Rechnung geschickt!"
+
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+
+"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."
+
+"Gar nicht ähnlich."
+
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"
+
+"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."
+
+"Doch!"
+
+"Nein!"
+
+Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens
+gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld
+ein mit einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."
+
+Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer
+Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie
+sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister
+schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der
+geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich
+aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie
+wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du
+hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er
+endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo
+die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar
+nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und
+spielte. "Du Böser!" rief die kleine Schwester und Tränen der
+Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen
+die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder
+an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber
+ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe
+hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte
+und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe.
+"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich
+aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der
+leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an
+dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich
+kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin."
+
+In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen
+weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er
+tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur
+an!"
+
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch
+mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige
+sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.
+
+"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch
+weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir
+gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt,
+dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich
+will hören, was der Vater meint."
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was
+geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten,
+und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im
+Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht,
+denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid."
+
+"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du
+bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann
+könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß
+du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht
+tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit
+dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen
+wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn
+bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder
+spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen
+folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für
+immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!"
+
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie
+nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen
+Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so
+bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+
+Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines
+gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und
+dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch
+seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine
+hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt
+kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er
+hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir
+gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich
+nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern
+zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das
+Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich:
+"Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der
+Kleine beharrte in seiner Stellung.
+
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast
+du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser
+Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe
+zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du
+fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer.
+
+Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen
+schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr
+Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo
+er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief:
+"Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf
+hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm
+nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den
+Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen
+Vater und keine Mutter mehr hat."
+
+Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an
+sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind,"
+sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen
+ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die
+Violine bringen, dann ist alles wieder gut."
+
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für
+Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der
+zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als
+ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die
+ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch.
+"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr
+Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll
+es tun und das Gewissen."
+
+So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging,
+kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen
+und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen
+wollte er spielen, immerzu spielen.
+
+Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der
+Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle.
+Drei Striche—dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder
+wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie
+mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er
+auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz
+bewegen kann.
+
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er
+mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den
+Schwestern.
+
+"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr
+Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd,
+wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick
+ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile
+später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein
+sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden
+Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen
+Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch
+der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der
+fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling
+rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen,
+zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder,
+und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen
+seinen Schmerz aus.
+
+Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder
+seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst
+wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer
+mit so traurigen Augen angesehen!"
+
+Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie
+kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte
+Frau Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich."
+
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und
+fügte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen,
+das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich
+denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis
+jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben."
+
+"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln
+können, daß er einmal ein Musiker wird."
+
+Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."
+
+
+
+
+12. Kapitel
+Ein Haus ohne Mutter.
+
+
+So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau
+Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer
+ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag
+sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei.
+
+Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines
+Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man
+Frau Pfäffling sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als
+Reisekleid praktisch ist."
+
+"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu
+sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen,
+trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht
+reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten
+Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit
+gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten
+Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit
+herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
+Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr
+Elschen mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+
+Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große
+Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle
+und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den
+ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte.
+
+"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir
+entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in
+der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man
+Pfäffling heißt!"
+
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die
+Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf
+sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein,
+Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer
+so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst,
+wenn ihn die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich
+doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen,
+wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja
+nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt
+unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim
+wärest, könnte ich gar nicht reisen."
+
+Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben
+mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen,
+denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust
+und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und
+Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen
+Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester,
+die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter
+gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es
+schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren,
+sonst hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte,
+wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte
+jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und
+her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und
+Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte,
+überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein,
+nahe, so nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes,
+stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem
+Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+
+"Was denn, Kind?"
+
+Es wollte nicht über seine Lippen.
+
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+
+"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem
+Vater deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum
+tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein,
+daß ich zu meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine
+Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das
+Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich
+werden!"
+
+So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.
+
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein
+Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig
+wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders
+schwer."
+
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es
+schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte,
+neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten,
+wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht
+man ihm gut an. Da tut er mir oft leid."
+
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die
+erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und
+wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am
+Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm
+Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm
+werden nimmer regelmäßig eingehalten."
+
+"O doch, Mutter."
+
+"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"
+
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."
+
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist
+aber nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm
+wieder eine so schlechte Note bekäme!"
+
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf
+verlassen!"
+
+Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in
+die Holzkammer.
+
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie,
+"daran dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg
+muß in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz
+und Kohlen sorgen."
+
+Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie
+möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."
+
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die
+Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und
+anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am
+Vormittag vom Kochen fortspringen muß."
+
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und
+am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch
+einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden
+an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur
+Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen,
+bis endlich der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen
+Tatsache machte, daß Frau Pfäffling verreist war.
+
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine
+Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr
+selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts
+nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und
+Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder
+tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich
+bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein,
+daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine
+wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer
+Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.
+
+Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann
+mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war.
+Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen
+geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch
+die stillen Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei
+dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau
+Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren
+lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine
+so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben.
+Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das
+zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch
+ein, daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto
+und so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern
+dem jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht
+immer so friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg
+wunderte sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz
+leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger
+Verbrauch mehr wie bisher.
+
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten
+Abendstunden, wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe
+gerückt und wußten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das
+Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man
+bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen.
+Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein
+gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn.
+
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes
+Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht
+ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges
+Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne
+Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war
+Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die
+Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben!
+
+Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach
+einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden
+wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu
+trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu
+leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege
+der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die
+_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit
+solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift
+durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam,
+das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht.
+
+Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde,
+die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte
+die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte
+Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie,
+nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+
+"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts
+tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen
+und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das
+anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen."
+
+Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du
+das nicht in _drei_ Wochen erreichen?"
+
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich
+vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang
+an vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß
+du mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen
+Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen.
+Es kommt so oft etwas vor bei uns!"
+
+"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"
+
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber
+es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme
+Folgen haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er
+einmal anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das
+Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags
+immer allein die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich
+in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist,
+Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann
+einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"
+
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde,
+wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der
+nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so
+lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein
+Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich
+einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!"
+
+Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches
+Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz
+jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus.
+
+Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei
+Wochen geeinigt.
+
+Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war
+für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der
+Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles
+Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und
+doch stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten
+Weg hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel,
+überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches
+anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt
+man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der
+konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau
+Pfäffling war von denen, die hören wollten.
+
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag.
+Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau
+Pfäfflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer
+fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen.
+Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universität war,
+hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus
+der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets
+Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich
+einmal wieder ins Auge zu sehen.
+
+"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu
+seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte,
+eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in
+einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in
+diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht
+streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten
+zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend
+ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine
+Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor."
+
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als
+du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."
+
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird
+damit oft kaum fertig."
+
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel
+miteinander, wie ist das bei euch?"
+
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander.
+Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur
+sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können."
+
+"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel.
+Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist
+das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei
+Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht
+fertig."
+
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören
+über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er
+beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen,
+dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu
+besuchen.
+
+An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach
+dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein
+besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen
+wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der
+andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich
+versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der
+jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde
+überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit
+ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der
+Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der
+Kinder am besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte
+er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht
+auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie
+wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es
+still wie vorher.
+
+Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie
+erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die
+Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet,
+sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst
+mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene
+Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und
+Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der
+Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr
+Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an:
+"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen
+oder dergleichen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes
+gehört."
+
+"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die
+zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der
+Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der
+Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in
+Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren
+können."
+
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging
+hinauf. Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam
+die Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts
+verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings
+blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das
+war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und
+machte sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die
+Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau
+Mitteilung.
+
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die
+Schwestern zurück.
+
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.
+
+"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr
+Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte
+doch auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit
+Tränen in den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war.
+
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter
+nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun
+auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren
+bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt,
+das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das
+hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern
+eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem
+Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt
+geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die
+große Neujahrsrechnung.
+
+Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des
+Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern
+vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn
+etwas versäumt würde.
+
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei
+Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so
+ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und
+doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide
+trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse
+Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das
+macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure
+Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe
+noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die
+gehört dazu."
+
+Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
+gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch,
+daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar
+nichts mehr?" fragte er.
+
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr
+sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer."
+
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz
+gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte.
+
+"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der
+Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt
+daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung."
+
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten
+sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen
+sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um
+sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn
+euere Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein."
+
+Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.
+
+Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum
+gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie
+volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war.
+
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen
+vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen,
+diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte
+einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es
+denn so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte
+Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir
+zum Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da
+stellte es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den
+Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt
+dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und
+wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er
+Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen
+Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich
+so nahegerückt.
+
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg;
+ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die
+jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat
+gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen.
+Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um
+aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen
+Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien,
+bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an
+Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm,
+und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
+Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den
+Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte
+der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann,
+den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das
+Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus.
+
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam
+keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die
+Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben
+heraufkam.
+
+"Wer war da?" fragte diese.
+
+"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins
+Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen
+zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim
+Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem
+Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er.
+Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn—ja,
+wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein
+seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen
+sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum.
+Oft schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in
+dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was
+die Familie Pfäffling am Leben erhielt.
+
+Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich
+eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen,
+keinen Pfennig fürs tägliche Brot!
+
+Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man
+brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere
+Schublade, die bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich
+genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?"
+
+Und nun flogen Vorwürfe hin und her.
+
+"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den
+Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja
+gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie
+nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein
+Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!"
+
+"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.
+
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder
+wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir
+wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal
+niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit
+solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise
+miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen
+haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein
+Gehalt. Wir sparen recht."
+
+"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe
+auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die
+Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel
+abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt
+hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort:
+Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht
+werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort
+Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte
+mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell,
+schon waren viele Stunden verloren!
+
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie
+setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede
+knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die
+Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt,
+erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang
+ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit
+so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an
+seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.
+
+Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger
+Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel
+betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn
+aufzufinden.
+
+Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling
+abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand
+schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in
+großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus
+dem ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll
+Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte
+seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte
+Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen
+umgeschlagen war.
+
+Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich
+zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker
+gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso
+am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien,
+wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm
+Nachricht zukommen.
+
+Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter
+mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht
+die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war
+unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich
+mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme
+des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß
+der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise
+seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der
+Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+
+Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere
+mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen
+letzten Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung
+sein?"
+
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die
+Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das
+Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in
+Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein
+hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert."
+
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag
+irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du
+daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht
+mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht
+beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist,
+und nicht gleich erklären: ich reise nie mehr."
+
+Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr
+fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß
+sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der
+Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf
+Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die
+weite Heimreise antrat.
+
+Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei
+Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein
+Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch
+schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher
+gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch
+rührte sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude
+auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben
+zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer
+kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim
+reist?
+
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes
+doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben
+können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis
+Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran,
+aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her
+gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war.
+
+Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als
+er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof
+eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in
+ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen
+sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen
+langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto
+auftauchen sah.
+
+Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof
+begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er,
+"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an
+den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der
+Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen,
+denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein."
+
+So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem
+Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch
+sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges
+Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter,
+während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus
+dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie
+sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte,
+der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher
+Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.
+
+Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches
+Wiedersehen und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch
+die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte
+zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der
+Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und
+hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau
+Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die
+Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung
+erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise,
+da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob!
+
+"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von
+euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich
+nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort
+lautete ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa
+vorgekommen ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte
+glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder,"
+sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf
+der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo
+ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten
+und jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der
+Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte
+Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem
+Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in
+anderer Richtung.
+
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o
+Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn
+zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines
+Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!"
+
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber
+die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu
+ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis
+sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um
+darin die Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang
+und schon auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß
+soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein
+Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen
+gebacken habe.
+
+Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als
+sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht
+vergessen können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld
+war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau
+Pfäffling verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie
+nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein
+Unglück geschehen.
+
+Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf
+dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis
+erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein
+Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort
+fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte,
+das Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr
+und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der
+Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke:
+es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment
+sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie
+ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem
+Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den
+freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht
+ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß
+mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."
+
+Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe
+sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern
+angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ
+ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein
+Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah
+begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld,"
+rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder
+nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die
+Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb
+sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu
+viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber
+Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben,
+dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun
+kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön
+gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht."
+
+Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter
+wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet
+ist."
+
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau
+Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung:
+
+"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute
+Hier vor dir stehen!
+Du schenkest uns die schönste Freude,
+Das Wiedersehen.
+Nun gehn wir wieder eng verbunden
+Durch Lust und Leid,
+In guten und in bösen Stunden
+Gib uns Geleit!"
+
+
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee
+machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu
+gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja,"
+sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein
+und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er
+nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an
+den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch
+das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der
+Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe
+schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte
+sie, "aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für
+möglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das
+brächte ich ja gar nicht zustande!"
+
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich
+gespart; gestohlen ist es, gestohlen!"
+
+Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die
+Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien
+festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung
+mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf
+irgend eine Weise wieder hereingebracht werden.
+
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß
+derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es
+gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus:
+"Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+
+
+
+
+13. Kapitel
+Ein fremdes Element.
+
+
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten
+Tag auch den Kindern mitgeteilt werden.
+
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.
+
+"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur
+gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen.
+"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch
+das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch
+können uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet
+einmal!"
+
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne
+sein," schlug Karl vor.
+
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+
+"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen,"
+meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die
+Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in
+ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre
+blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden.
+
+"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
+Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn
+ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir
+wissen etwas anderes."
+
+"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch
+mehr einbringt."
+
+Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich
+will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen:
+"Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer
+Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür
+einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die
+Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten
+hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben
+einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den
+alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt."
+
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht,
+aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu
+und betätigten: "Ja, es wird sein!"
+
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in
+Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf
+in großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die
+Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein
+kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt
+ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer
+ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da
+hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das
+Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends
+kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen
+in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr
+Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und
+wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist?
+Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein!
+Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."
+
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der
+Kammer erfüllt.
+
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute
+Erlaubnis zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der
+Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf
+Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts.
+Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern
+Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie
+welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für
+die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr
+Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders
+als dieses Frau Pfäffling mitteilen.
+
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein
+Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann
+bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er
+nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte."
+
+Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr
+Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich
+sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs
+Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft
+den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher
+'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre
+jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte
+er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist:
+Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber
+_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt
+hat."
+
+Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den
+Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling
+zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur
+zusammen.
+
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn
+nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge
+geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht
+plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht
+heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt
+entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da
+fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer
+und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig
+behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären
+wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung
+setzen?"
+
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen."
+Sie besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu
+wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte
+Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen.
+
+Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und
+sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und
+nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten,
+wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu
+zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren,
+daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht
+jede von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das
+Zimmer vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen
+Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten
+Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die
+Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und
+sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt
+irgend jemand das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die
+Kost zu geben. Aber niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem
+Mittagstisch, wie wir ihn haben."
+
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine
+anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann
+stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat.
+
+Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften
+sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein
+gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen,
+meist im Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel
+zurückgelegt, daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren
+fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie
+war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich
+Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis
+jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der
+Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein
+Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt
+aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen.
+Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine
+Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit schwerem Herzen machte ihr
+Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am Mittagstisch der Familie
+teilnehmen dürfe.
+
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
+seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den
+ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da
+ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein
+wird."
+
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für
+Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen,
+wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch
+auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich
+war zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen
+angezogen fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn
+originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit.
+Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue
+Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen
+Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies
+flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der
+ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und
+wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das
+Wort "ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so
+gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie
+ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die
+Schwestern zu sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die
+Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand
+bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau
+Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte
+doch nicht zum Ganzen.
+
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume
+Zeit in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte.
+"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu
+machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann
+hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit
+geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die
+Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden."
+
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört
+auch nicht genug für manche Besorgungen."
+
+"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe,"
+sagte Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama,
+sie möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."
+
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.
+
+"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet,"
+sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"
+
+"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue
+voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen
+überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere
+Fortschritte."
+
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar
+keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum
+lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in
+die Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim,
+als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann
+die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?"
+
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie
+vollends ganz taub ist, muß sie doch fort."
+
+Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte
+Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie
+wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden,
+teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu
+ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag
+Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend:
+"Man muß froh sein, daß man sie hat."
+
+Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche
+Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung
+im Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher
+immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden.
+
+"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen,"
+bemerkte Fräulein Bergmann.
+
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen
+Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit
+vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."
+
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an
+unserem Tisch."
+
+Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum
+Nebenzimmer regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer
+mit _einem_ Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling.
+
+"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen,
+das würde sich sehr fein machen."
+
+"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann
+ich mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr
+bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind,
+wenn es nur immer zum täglichen Brot reicht."
+
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin,
+und ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf
+vieles verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß,
+daß Sie aus fein gebildeter Familie stammen."
+
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
+schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein
+Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben
+damit gar nichts zu tun."
+
+Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff
+zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die
+Türöffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus,
+die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht
+so recht zum Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das
+bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus,"
+sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese doch erneuert
+werden."
+
+Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die
+Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie
+mißliebig an.
+
+"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du
+solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen
+Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu
+unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in
+ihr Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön
+genug sein, so wie sie sind."
+
+Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und
+sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten
+hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller
+gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller.
+
+"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die
+Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich
+Fräulein Bergmann fragend an Frau Pfäffling.
+
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben
+Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein
+Geschäft."
+
+"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das
+Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit."
+
+Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen,
+was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind,
+müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen."
+
+"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu
+sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich
+werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr."
+
+"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr
+Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles
+ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich
+noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird
+man sie überall gern sehen."
+
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte
+gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit
+verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog
+sich Fräulein Bergmann zurück.
+
+"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern
+zu.
+
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt
+sie sich ein!"
+
+"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"
+
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt
+und haltet gar nicht zur Mutter!"
+
+Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr
+Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins,"
+sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird
+sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart,
+und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine
+Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu
+erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der
+Welt gesehen als ich."
+
+Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die
+beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein
+Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.
+
+"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man
+keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf
+diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht
+nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem
+ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+
+Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:
+
+"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger
+Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."
+
+"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar
+nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner
+veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle
+selbst, daß ich unausstehlich bin."
+
+Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß
+Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr
+Kritik und Einmischung gestattete.
+
+Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte
+sich kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles
+zurück und brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach
+Fräulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst
+verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch
+sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.
+
+"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März,
+"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen
+sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen.
+Aber dieses Jahr ist es so kalt."
+
+"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein,
+schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen
+Familienkreis.
+
+Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem
+Herr Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare
+streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+
+"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein
+feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus
+vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben
+Sie eigentlich?"
+
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man
+leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn
+es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein
+Gebet gedankenlos gesprochen wird."
+
+"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche
+Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war
+es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau
+liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft,
+"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den
+Inhalt nicht zu horchen."
+
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend
+ihre Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht
+schlimm gemeint!"
+
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling
+begütigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch
+einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in
+das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses
+Frauenzimmer ist die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie
+im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache
+der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin."
+
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch
+leid für sie, wie soll ich denn das machen?"
+
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu
+kränken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich
+hinüber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+
+"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April
+mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während
+sie ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung
+schonend begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die
+Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch
+vorgehen.
+
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein
+Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem
+Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen,"
+sagte das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten
+Stellen hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen
+sagen, daß ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich
+heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den
+vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß
+ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so,
+bitte, lesen Sie!"
+
+Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele
+Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit
+war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt
+hervorgehoben.
+
+Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die
+Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann
+wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre.
+
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und
+das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen.
+Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn
+er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch
+sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft,
+und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes
+Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem
+Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und
+das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen
+unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen
+einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und
+zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+
+Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt,
+"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie
+mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur
+schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen
+Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine
+verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+
+"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später
+erfolgen."
+
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich
+keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+
+"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."
+
+Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen,
+elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+
+"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam,
+"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt;
+warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?"
+
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in
+Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten.
+Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich
+unten, im Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau
+Pfäffling war mit der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt,
+diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am Eßtisch.
+
+"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein
+Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in
+Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern
+anvertrauen möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten
+Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor
+meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um
+den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist
+ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt.
+Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo
+wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr
+Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein
+bei uns—"
+
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies
+wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen
+war."
+
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie
+mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen,
+unseren Gewohnheiten?"
+
+Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht
+aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig
+spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur
+_eines_."
+
+"Und zwar?"
+
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie
+jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+
+Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+
+"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben
+Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter
+Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen
+Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck
+stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig
+dabei."
+
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich
+alle Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit.
+Ich werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur
+zu solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken
+darüber—und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf.
+
+Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.
+
+Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an
+Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage
+ihn _gern_ fort."
+
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein
+Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert
+und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie
+nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand
+unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die
+würde sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern
+finden.
+
+Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit
+zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus,
+als Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die
+Portiere abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die
+Türe kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen
+Stoff gut verwenden!"
+
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten
+lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch
+das offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die
+nach den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell
+wieder herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt
+selbst herauf!"
+
+"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den
+schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch
+schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben."
+Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell
+rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich
+schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts
+gesehen und eilte davon.
+
+"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr
+Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb
+unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten
+können bis morgen."
+
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald
+sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann
+kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling
+kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen,"
+berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch
+einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"
+
+Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er,
+"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu
+gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders
+frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!
+
+
+
+
+14. Kapitel
+Wir nehmen Abschied.
+
+
+Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet,
+und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der
+Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen
+lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts
+mit sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen,
+innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den
+seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten
+Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen
+waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+
+Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt
+worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch,
+auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem
+einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der
+eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder
+höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des
+Elternhauses entfremdet würde.
+
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während
+desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen
+zeigen.
+
+In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes.
+Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht
+besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm,
+schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht
+Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich
+gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als
+die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der
+andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis
+hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon
+manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater
+noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als
+er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen
+sah, wußte er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine
+Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und
+war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht,
+nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast
+du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind
+wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so
+vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig,
+aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte
+sonst gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal
+in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar
+keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten
+sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war,
+im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin.
+Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder
+vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die
+Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust
+sämtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten.
+
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie
+Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die
+geheimnisvollen Ziffern zu deuten.
+
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen
+Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a
+plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen
+Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es
+wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie
+sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag
+Mathematikstunden!"
+
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten
+sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug
+gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.
+
+Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder
+in Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm
+wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine
+mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein
+gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe,
+die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die
+brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht
+dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob
+sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater
+hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der
+kleine Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf
+an.
+
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir
+nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes
+Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete
+er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben."
+
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören
+kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht,
+Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst
+du nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte
+nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde
+geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie
+nach Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als
+schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und
+die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf
+den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter
+unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet
+hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und
+sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor
+den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich
+schämen!"
+
+"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim
+Geigen nicht."
+
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann
+mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir
+Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage
+es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige
+geben."
+
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank
+deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit
+zärtlichem Ton: "Da innen ist sie!"
+
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen
+Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind;
+Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange
+plaudern mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."
+
+Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei
+plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur
+Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte
+solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die
+Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß
+Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen,
+blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er
+leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der
+Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+
+"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner
+Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+
+"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht
+wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute
+Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das
+gibt zwei süße Brautfräulein!"
+
+"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die
+Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner
+Frau sprechen."—
+
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte.
+Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und
+zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren
+des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit
+Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die
+Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg
+brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine
+mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden,
+Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der
+Gast ankommen.
+
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung,"
+sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja,
+Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder
+in der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel
+beglückender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben.
+
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm
+alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber
+dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich
+verteilen und nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein
+Gedränge gäbe.
+
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und
+sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei
+Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel,
+fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur
+nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er
+eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen
+besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden
+sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar
+den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen
+doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist
+nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe
+verschwanden vom Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe
+hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief Marie, "geht an der
+Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!"
+
+Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die
+Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war,
+in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten
+sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die
+einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich.
+
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen
+den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den
+Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen
+Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der
+Mutter.
+
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück.
+"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"
+
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine
+stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die
+ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr
+habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen
+Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue,
+stumme Dienerin? Wie schade um das Mädchen!"
+
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie,
+"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig
+besser werden."
+
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal
+ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel
+gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du
+nicht, welches ich meine?"
+
+Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:
+
+In größerem Kreise stehen wir heute
+Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.
+Aber die richtige fröhliche Stimmung
+Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.
+Nahe dich freundlich jedem von uns.
+
+
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine
+Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich
+alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er,
+"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel,
+bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern."
+Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit
+Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der
+Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei
+Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig
+verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm,
+der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen,
+sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.
+
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch
+nicht immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger
+aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner
+Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch
+weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?"
+fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen,
+Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten
+sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling
+setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen.
+"Es ist rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so
+selbstverständlich zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne
+Widerspruch das Spiel aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen
+das beigebracht?"
+
+"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die
+Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig
+werden, so helfen sie mit."
+
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und
+ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger
+hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie
+ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und
+widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt
+entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in
+Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so
+leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister.
+Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in
+ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+
+Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was
+kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung
+des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer
+Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht
+hören sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich
+nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich
+behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am
+Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie
+vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand
+dicht zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die
+Möglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte.
+Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel
+wählen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die
+Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der
+Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er _mich_ mitnehmen." Das war die
+Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für ihn gab es da nichts
+Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die fremde Welt.
+Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten
+ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor
+die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein
+gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen
+sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die
+angsterfüllt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle
+bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der
+aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!"
+
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit
+Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah
+hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er,
+"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen
+schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!"
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."
+
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue
+Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im
+Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich
+nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest
+herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir
+doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann
+nirgends besser gedeihen als daheim!"
+
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind
+oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch
+nicht. Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus
+aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch
+Herzenssache ist."
+
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte
+Frau Pfäffling.
+
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von
+Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen
+Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er
+neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei
+meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch
+die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren
+einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen
+lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."
+
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+
+Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war
+von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten
+plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten
+herauf.
+
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr
+auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von
+euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für
+ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich
+tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut
+habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr
+lacht? Es ist mein Ernst."
+
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja
+wissen.
+
+Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du
+denn mitgenommen?" fragte sie.
+
+"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und
+deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!
+
+Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie
+stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es
+wieder für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald
+umsehen mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem
+Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder
+schließen, hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts
+besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang.
+
+Aber jetzt?
+
+Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie
+wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da
+stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+
+"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht
+fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las
+es selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem
+gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer
+Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine
+Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu
+warten!
+
+Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern
+herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie
+die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und
+immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!"
+
+Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern
+widerstrahlte.
+
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er
+mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.
+
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch
+sagen!"
+
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem
+Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.
+
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+
+Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst
+du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten
+darin aufhören, ich habe es probiert."
+
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den
+Pfannenkuchen. Die andern wissen es."
+
+"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine
+Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling
+schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich,
+"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies
+Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine
+Violine, kleiner Direktorssohn!"
+
+Ja, das war ein seliger Tag!
+
+Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon
+die Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute,
+so fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau
+selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr:
+"Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhöhen."
+
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder
+allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die
+fleißigen Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+
+Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch
+Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen
+zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang
+herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann
+übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim:
+
+"Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+Es lebe die Direktorin!"
+
+
+Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe
+im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte
+er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus
+und befestigte an der Haustüre die Aufschrift:
+
+_Wohnung zu vermieten_.
+
+
+Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf
+die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb
+mir die Familie Pfäffling war!"
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***
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+<title>The Project Gutenberg eBook of Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper</title>
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+<body>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***</div>
+
+<h1>Die Familie Pfäffling</h1>
+
+<h3>Eine deutsche Wintergeschichte</h3>
+
+<h2 class="no-break">von Agnes Sapper</h2>
+
+<p class="center">
+1909
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="center">
+Meiner lieben Mutter
+</p>
+
+<p class="center">
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+</p>
+
+<p>
+Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in
+diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns
+vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im
+großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter
+dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
+verstanden, was ihnen versagt war.
+</p>
+
+<p>
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an
+Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und
+Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist
+das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist
+aus einer entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.
+</p>
+
+<p>
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte möchte ich
+in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Herbst 1906.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Die Verfasserin.
+</p>
+
+<hr />
+
+<h2>Inhalt</h2>
+
+<table summary="" style="">
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap01">1 Wir schließen Bekanntschaft</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap02">2 Herr Direktor</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap03">3 Der Leonidenschwarm</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap04">4 Adventszeit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap05">5 Schnee am unrechten Platz</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap06">6 Am kürzesten Tag</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap07">7 Immer noch nicht Weihnachten</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap08">8 Endlich Weihnachten</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap09">9 Bei grimmiger Kälte</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap10">10 Ein Künstlerkonzert</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap11">11 Geld- und Geigennot</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap12">12 Ein Haus ohne Mutter</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap13">13 Ein fremdes Element</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap14">14 Wir nehmen Abschied</a></td>
+</tr>
+
+</table>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap01"></a>1. Kapitel<br/>
+Wir schließen Bekanntschaft.</h2>
+
+<p>
+Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
+hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die
+äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen
+den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von
+der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem
+Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie
+in Miete wohnt.
+</p>
+
+<p>
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für
+Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen
+und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben,
+manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf
+den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist
+sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und
+niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien,
+wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der
+noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten
+den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben.
+Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und
+Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die
+Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte
+Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die
+Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am
+schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in
+Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern.
+</p>
+
+<p>
+Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder
+eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und
+Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der
+Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was
+war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht
+hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie
+ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich
+zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken
+versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen
+Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde,
+fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der
+Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte
+sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen.
+Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den
+glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten
+und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme
+allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging
+weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein
+kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer
+mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete,
+war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die
+Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte
+sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und
+dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!
+</p>
+
+<p>
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen,
+flink, Essig holen!"
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar
+nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten
+Kaufmann.
+</p>
+
+<p>
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es
+waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine
+freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des
+Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter
+gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie
+die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die
+Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach
+einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen
+herunterpoltern," sagte der Hausherr.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll,
+aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein
+Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber
+gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen."
+</p>
+
+<p>
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der
+Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so
+eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere
+Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu
+kündigen brächtest du doch nicht übers Herz."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden
+bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und
+sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie
+blieben doch abgetreten.
+</p>
+
+<p>
+Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte
+Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von
+weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf
+tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die
+elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen
+Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist
+schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen
+und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei
+Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."
+</p>
+
+<p>
+Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich
+ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief:
+"Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die
+Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der
+Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam.
+Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war
+ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten
+Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+</p>
+
+<p>
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein
+wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht
+ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch
+keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+</p>
+
+<p>
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die
+Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab
+gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in <i>einem</i>
+Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf
+die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die
+Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen,
+der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung
+bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das
+erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam
+und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto,
+der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur
+Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der
+Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete
+nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der
+Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle,"
+sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl
+am öftesten."
+</p>
+
+<p>
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem
+er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so
+wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und
+indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den
+guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen?
+</p>
+
+<p>
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins
+Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+</p>
+
+<p>
+Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und
+hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten
+war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so
+gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das
+Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken
+und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet
+sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal
+den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich
+darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du
+gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+</p>
+
+<p>
+Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das
+Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon,
+es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters.
+</p>
+
+<p>
+"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."
+</p>
+
+<p>
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich
+nimmer mitbringen."
+</p>
+
+<p>
+"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."
+</p>
+
+<p>
+"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."
+</p>
+
+<p>
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+</p>
+
+<p>
+"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."
+</p>
+
+<p>
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten
+die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler,
+hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich;
+Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche
+Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen
+konnten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er
+hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort
+wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte
+nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte
+wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich
+glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht
+anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher
+sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun
+wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt
+reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade
+seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und
+rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade.
+Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das
+Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben,"
+bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen.
+Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+</p>
+
+<p>
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und
+waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb
+kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.
+</p>
+
+<p>
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder
+auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das
+Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen.
+</p>
+
+<p>
+"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste
+Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die
+besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier;
+von der Musikschule allein könnten wir nicht leben."
+</p>
+
+<p>
+"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich
+klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im
+Herzen bewegte.
+</p>
+
+<p>
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte
+Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden
+kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei,"
+sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief
+dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die
+Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der
+sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu,
+sagte genug.
+</p>
+
+<p>
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist
+wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe
+heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen—streckte der Vater ihm
+schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den
+Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber
+vergißt!"
+</p>
+
+<p>
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon
+fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine
+Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei,
+während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell,
+schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß
+davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief
+kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur
+gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße
+hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid."
+Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu erraten,
+was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er
+um die Ecke der Frühlingsstraße bog.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen
+Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den
+Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat
+wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht
+benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es
+nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine
+Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte,
+ich hätte auch nur <i>einen</i> Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber
+daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das
+ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun
+wurde die Harmonika eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter
+heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was
+vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte.
+Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die
+Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber
+Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren
+oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie
+alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch
+an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er
+sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen.
+Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater
+war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die
+weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging
+ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht
+auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt,
+denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter
+Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte,
+sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen
+müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich
+aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot
+und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der
+große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm,
+der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er
+zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles
+durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den
+Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner
+und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der
+Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen,
+du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"
+</p>
+
+<p>
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in
+diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig:
+"Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln
+gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die
+der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in
+freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame
+mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie
+nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else
+fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören
+sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir
+unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns
+bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und
+<i>wieviel</i> tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches
+Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde
+ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man
+gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an
+als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett
+voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg
+war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen
+guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem
+Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast
+Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei
+kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie
+nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen
+fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand
+wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem
+Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge
+wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie
+nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen,
+und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte
+Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling,
+"wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal
+reich," vollendete Karl.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang
+des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin
+angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17
+Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes
+Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und
+kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung,
+sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und
+zählte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die
+Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl
+sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein.
+Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und
+reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster,
+sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die
+Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als
+ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?"
+fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie
+schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren,
+er lautete: <i>Frau Privatiere Vernagelding</i>.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap02"></a>2. Kapitel<br/>
+Herr Direktor?</h2>
+
+<p>
+November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? Ich
+glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den
+Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu
+etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter
+der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der
+eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte
+deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für
+den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von
+Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde
+auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb
+oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber
+nicht immer gelang.
+</p>
+
+<p>
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein
+Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört
+ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin
+stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten sich zu helfen. Sie
+lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht
+zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich
+aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene
+Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen,
+einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand
+eine Ganglampe. Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den
+langen Gang hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling
+seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die
+Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde
+die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und
+manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und
+begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's,
+wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die Schüler im
+Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum
+Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es
+nicht bemerkt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte
+Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel.
+Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde
+war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: "das ist
+doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an
+ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner
+Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie
+diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand
+in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht,
+aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch
+einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr
+Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht
+machen?"
+</p>
+
+<p>
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
+Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern
+mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von
+Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das Lachen verging und sie so
+schnell wie möglich durch die Treppentüre verschwand. Das Arbeiten im eigenen
+Zimmer mußte also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch
+nicht davon lassen.
+</p>
+
+<p>
+So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine
+mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule,
+machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte
+Zeugnisse nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer trat
+und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber,
+aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr
+leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm über den Gang,
+dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer,
+wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er
+ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden
+Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er:
+"Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus
+Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er
+wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
+Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren
+aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen
+einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt
+mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau
+Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen
+Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!"
+</p>
+
+<p>
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und
+besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und
+sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: "Walburg hat das
+Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!"
+</p>
+
+<p>
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, folgte
+Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend
+oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte
+sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den
+Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung
+hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch
+hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlaß nun kündigte
+er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an.
+Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder
+abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein
+etwas verwöhnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht
+viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz
+in den Hintergrund treten."
+</p>
+
+<p>
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht,"
+sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder können ja
+irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen
+Teetisch."
+</p>
+
+<p>
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
+Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten
+Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen:
+"Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der
+Kinderfeind kommt!"
+</p>
+
+<p>
+Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis
+der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie
+wollten sich unten im Hof aufhalten.
+</p>
+
+<p>
+Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der
+Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die
+ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus.
+Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden
+Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim
+ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die
+Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern.
+Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder,
+ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.
+</p>
+
+<p>
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein
+Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab."
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht recht,
+ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die
+waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu
+der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen
+nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen.
+Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich
+wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den
+Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle
+eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er
+sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von
+seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der
+den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren
+neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune
+machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling
+des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei
+ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und
+Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den
+Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl.
+</p>
+
+<p>
+Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den
+Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes
+Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der
+eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die
+Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen war, so kam er doch das
+sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der
+Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische
+Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück
+kommandiert wurde, mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick.
+Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich
+darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über
+die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie
+wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da,
+zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder
+vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter fielen und
+kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er
+würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein
+Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, daß er
+immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er mußte
+mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig
+bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen <i>einen</i>
+ungeschickten Rekruten!
+</p>
+
+<p>
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die
+Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei
+der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie erkundigen sollten,
+wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe
+und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den
+Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser
+vor.
+</p>
+
+<p>
+"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hört
+man uns nicht."
+</p>
+
+<p>
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort
+fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten,
+von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle
+sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie
+waren naß und durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm
+wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich
+nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine
+rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus
+dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach.
+Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil
+Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen
+Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins
+Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich
+balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun
+erst für den Kinder_feind_!
+</p>
+
+<p>
+Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten
+Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle
+Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück,
+grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören,
+deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren
+Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich
+wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden
+gegenüber.
+</p>
+
+<p>
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn
+geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer
+und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen
+bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei
+seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte
+es nicht wissen.
+</p>
+
+<p>
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er
+über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das
+friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder
+ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu
+erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen
+allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen
+fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo
+er hin gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder
+wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine
+Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in
+stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein
+künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so
+größer."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht
+gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre
+Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem
+fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im
+Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort
+zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht".
+</p>
+
+<p>
+Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch
+ungefähr denselben Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit meiner
+Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen.
+Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah
+wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein sind,
+aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe!
+Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, daß er
+stört.
+</p>
+
+<p>
+Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt
+und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über
+Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis.
+Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich
+fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl
+angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und
+sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+</p>
+
+<p>
+"Gute Nacht, Karl."
+</p>
+
+<p>
+Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr
+Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die Mutter. "Woran
+sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen."
+</p>
+
+<p>
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd.
+</p>
+
+<p>
+"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen
+Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen
+Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf
+deine Uhr gesehen hast, Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß du Takt
+hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann
+wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich
+auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer,
+setze dich noch einmal zu uns."
+</p>
+
+<p>
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein Freund zu
+Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine
+Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
+</p>
+
+<p>
+Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da
+besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen
+der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine Lockung noch Drohung stark
+genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen.
+</p>
+
+<p>
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um
+sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die
+neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer,
+jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun mußte sich's
+zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die
+besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr
+Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling,
+wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er
+sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen
+Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
+</p>
+
+<p>
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund
+Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine
+Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus <i>einem</i> Munde lautete
+das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und
+einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er
+selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt;
+das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre
+warten!
+</p>
+
+<p>
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am
+Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen
+Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine
+Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: "Zu was brauchst <i>du</i> so
+etwas?"
+</p>
+
+<p>
+"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als
+sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weißt du, sie
+hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen."
+</p>
+
+<p>
+Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich
+nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu
+telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose
+reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse
+Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das
+alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im
+November!
+</p>
+
+<p>
+Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem
+Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante
+Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hörten
+nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen.
+</p>
+
+<p>
+Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid.
+Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr
+darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr
+Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie
+gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der
+Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer
+Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen
+Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren,
+brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war
+ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der
+letzten Stunde der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu
+gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch
+ein paar Jahre warten wolle!
+</p>
+
+<p>
+Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
+weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er dirigieren
+wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.
+</p>
+
+<p>
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie
+starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die
+Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil
+sie gar nichts von dem allen verstand!
+</p>
+
+<p>
+Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre viel
+freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht
+hätten, und das mit dem Vater erst nachher."
+</p>
+
+<p>
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so—ich
+will gar nicht sagen wie, das <i>kann</i> man überhaupt gar nicht sagen, dafür
+gibt es keinen Ausdruck!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen
+sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so
+sehr ferne gerückt!"
+</p>
+
+<p>
+"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling,
+"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und
+ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor
+bin ich <i>gewesen</i>."
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das
+Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war.
+"Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da
+stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter
+wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen
+Grund, froh zu sein, daß wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut
+wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den schönen
+Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten.
+"Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der
+ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen
+das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten
+dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß
+ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den
+Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit
+hinaus, die Blätter fallen ab."
+</p>
+
+<p>
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau,
+denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches
+Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese Enttäuschung gemeinsam
+durchgekämpft werden.
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und
+reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend war ich so
+zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte
+ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den
+Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/>
+Es lebe die Direktorin!'
+</p>
+
+<p>
+"Nun muß es heißen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn<br/>
+Du wirst niemals Direktorin.'"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß
+ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+</p>
+
+<p>
+"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, "ich
+brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen."
+</p>
+
+<p>
+Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den
+beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt
+waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft
+grau wie der heutige Novemberhimmel.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine
+Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"
+</p>
+
+<p>
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe
+erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann
+Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das
+alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht
+recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein,
+Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast
+nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du
+darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter
+der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht
+zanken," so war also die Überraschung gut aufgenommen worden.
+</p>
+
+<p>
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er
+sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich
+gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner
+festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch schon den Kindern zuliebe
+tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch
+die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue
+Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser
+Musiklehrer zu seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Direktor her, Direktor hin,<br/>
+Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau
+Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte
+ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt
+vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie
+unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch
+auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein
+Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre
+niedlichen Löckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig
+zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier
+setzte und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit
+mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war
+gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa."
+</p>
+
+<p>
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas
+nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den
+Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f
+nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber
+Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr
+Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den
+morgigen Ball, was sagen Sie dazu, daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal
+in Meergrün. Ist das nicht süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja
+süß!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu
+plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
+für heute."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl
+sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß Fräulein
+Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr
+Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber
+nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte Frau
+Pfäffling besorgt.
+</p>
+
+<p>
+Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten Stunde
+berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. Er gönnt doch
+auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm gelegentlich ein
+Präsent machen, Agathe."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap03"></a>3. Kapitel<br/>
+Der Leonidenschwarm.</h2>
+
+<p>
+Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling
+und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und
+Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in
+der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die
+Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten
+alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein
+fertig werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in
+der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber
+heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem
+Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch
+den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie
+sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit
+kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe,
+und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders
+vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in
+verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur
+daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er
+war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine
+leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden
+spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das
+Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen
+früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so
+weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst
+probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der
+Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele
+Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die
+Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."
+</p>
+
+<p>
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz
+erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen,
+wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder
+machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über
+sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich
+dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine
+alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander
+entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es
+unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon,
+während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern
+von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er
+Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem
+Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden
+steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen
+eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der
+Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen
+eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor
+mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze
+Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich
+der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so
+hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem
+Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer
+und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir
+zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es
+sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir
+aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst.
+Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim
+und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen
+hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15.
+November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm.
+In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach
+Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht,
+weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich
+wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."
+</p>
+
+<p>
+Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit
+<i>einem</i> Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen!
+Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken
+aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu
+bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts
+Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden
+eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen:
+"Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die
+Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen.
+Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die
+Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich
+erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht
+gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so
+zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten
+könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch
+gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder
+versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte
+die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte
+wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft
+ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine
+halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch
+zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch
+den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am
+Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne
+sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1
+Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen
+Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel
+immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und
+als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas
+zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar
+ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das
+ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem
+Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust
+zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie
+ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan
+schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte
+sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!"
+wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder
+zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen,
+die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel
+angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne
+Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im
+Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's
+lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter
+den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen
+gelungen.
+</p>
+
+<p>
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehört. Sie
+wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefühl:
+Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte,
+vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schließenden Haustüre
+und dann ein Flüstern außerhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen,"
+sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es
+war ihr unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
+Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch entschlossen ging
+sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre vor. Dann legte sie sich
+beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf
+diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es
+jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln.
+</p>
+
+<p>
+Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht
+und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit
+wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen
+Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. "Wenn auch weiter gar
+nichts zu sehen wäre," sagte Karl, "so würde mich's doch nicht reuen, daß ich
+aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar
+nicht glaube, daß einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die
+stehen da droben alle so fest!"
+</p>
+
+<p>
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein
+heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war
+dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen,
+wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das
+ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine
+Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach
+wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und
+flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
+vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es
+war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf
+immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam
+das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen
+ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne
+Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze
+Herrlichkeit.
+</p>
+
+<p>
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich
+wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern.
+"Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind
+davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal,
+daß es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu
+schlüpfen, mußte köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der
+Stockfinsternis dem Haus zu.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da draußen
+bleiben in der Kälte!"
+</p>
+
+<p>
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die
+Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen
+verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte Karl, drehte den
+Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte und drückte gegen die
+Türe, aber die gab nicht nach.
+</p>
+
+<p>
+"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+</p>
+
+<p>
+"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht
+nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in Ordnung, was hält
+die Türe zu?"
+</p>
+
+<p>
+In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas
+vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den Riegel
+vorgeschoben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan?
+Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der
+Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."
+</p>
+
+<p>
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, wer
+hätte es sonst tun sollen?"
+</p>
+
+<p>
+Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln dürfen
+wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen
+Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen."
+</p>
+
+<p>
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten
+sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster
+gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so unbequem und wenn es nur
+vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick
+liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt
+ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß,
+in drei Jahren muß ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das
+Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das
+Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was
+war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte und
+weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und
+klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner
+unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als
+Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden
+sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen
+können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder
+munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen
+lag, und nun galt es so laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so
+leise, daß Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne,
+Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt,
+als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute
+wachten auf.
+</p>
+
+<p>
+Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun möchte man
+wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte
+das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder erschraken, als sie des
+Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr
+starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß
+das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt
+stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und
+sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der
+Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich,
+daß die Schwestern so fest schliefen.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte die
+Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen sein in
+der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise
+öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen
+Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, näherten sich dem
+Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt."
+Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen
+hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden,
+aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll
+und schloß das Fenster.
+</p>
+
+<p>
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist
+denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die
+Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau,
+"ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr
+seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann
+hört ja alles auf. Für solche Mietsleute bedanke ich mich!"
+</p>
+
+<p>
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den
+Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen
+nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick,
+daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie
+das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt
+wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den <i>einen</i> Satz: "Sagt
+eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."
+</p>
+
+<p>
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es den drei
+Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie
+ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der Meinung, der eigene Vater
+habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr Fortgehen schon so schlimm
+aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn er erfuhr, was daraus entstanden
+war! Und wie deutlich erinnerten sie sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo
+der Vater von einem Haus zum andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen
+war, weswegen? Wegen der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung
+herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück!
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich ein
+wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen war. Um so
+schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er
+am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. Er fand nur einen kurzen,
+unruhigen Schlaf.
+</p>
+
+<p>
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine Ahnung.
+Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem Bett kamen,
+bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, als die Schwestern
+durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön heute nacht?" Als er aber
+gern erfahren hätte, von was die Rede sei, bekam er ungeduldige Antwort: "Sei
+nur still, du wirst noch genug davon hören." Sie waren sonst alle flinker als
+Frieder, heute aber kam dieser zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit
+den Schwestern beim Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die
+Brüder in der Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu
+kommen. Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
+werden, kommt!"
+</p>
+
+<p>
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. "Nun,"
+fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr hat sich der
+Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber der Meinung, ihr
+würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?"
+</p>
+
+<p>
+Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß sie
+zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich Böses.
+"Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht gut? Oder habt
+ihr den Hausschlüssel verloren?"
+</p>
+
+<p>
+"Das nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und sagte:
+"Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir hinunter gegangen,
+ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken gewesen—wie schön es da war, sage
+ich später. Um halb drei Uhr etwa wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe
+von innen zugeriegelt."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus einem
+Mund.
+</p>
+
+<p>
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf den
+Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannens
+Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hörte die Hausfrau
+und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkämen und daß
+wir nicht hereinkönnten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns
+herein." Karl hielt inne.
+</p>
+
+<p>
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. "Hättet ihr
+mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich würde euch vorher
+hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl
+ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch
+recht entschuldigt?"
+</p>
+
+<p>
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
+Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht alles
+gesagt."
+</p>
+
+<p>
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme
+Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. Januar sei
+gekündigt."
+</p>
+
+<p>
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch aufgewacht!"
+Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu glauben. "Es ist doch gar
+nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst du das, Cäcilie? Kann das
+wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir
+das? Mich dürfte man zehnmal wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas.
+War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon
+vorher ausgedacht hätte."
+</p>
+
+<p>
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist
+unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne rufen! Der
+Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: "Es ist
+gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben,
+sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen,
+sieh, wie sie aussehen."
+</p>
+
+<p>
+"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, frühstückt!"
+</p>
+
+<p>
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig waren,
+griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen
+noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den
+Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte er, daß es so sein
+müsse.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so daß
+es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: "O
+Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum täglichen Gang nach
+der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern
+Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar
+keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete
+ab, bis alle Glieder der Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er
+das Haus verließ.
+</p>
+
+<p>
+So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen,
+die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge,
+die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und
+nach der eben erlebten Enttäuschung durch die Direktorsstelle. Und es kränkte
+sie, daß ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben
+sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es
+erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden,
+ganz anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau
+Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte
+so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten
+christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie stimmte dazu die
+Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschließen und dann noch zu
+kündigen, und das alles bloß wegen einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich
+das erklären lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr <i>allein</i> wollte sie
+sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet
+sich bald ein Weg.
+</p>
+
+<p>
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benützten. Das
+war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Wäschetrocknen und die
+Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem
+kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch sie
+hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes miteinander
+herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und sie waren der
+guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer miteinander verständigen
+würden.
+</p>
+
+<p>
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht gestern
+Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen
+hat?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, du warst ja dabei."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum erstenmal
+gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte Frau Hartwig gar
+nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie
+wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen
+die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein
+eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu tun, was recht war.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er ließ
+sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und
+wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hießen. Das
+wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen,
+aus dem Sternbild des Löwen ausgingen.
+</p>
+
+<p>
+Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der Hausherr sie
+wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf
+seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner früheren
+Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe
+den Leonidenschwarm für einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr
+euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich
+werde euch doch nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind
+nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
+</p>
+
+<p>
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen sie an
+der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat
+Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," sagte sie und gab jedem
+einen Apfel.
+</p>
+
+<p>
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine
+Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz
+nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden
+deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter." Um
+recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor
+das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor
+die Füße der erschrockenen Hausfrau.
+</p>
+
+<p>
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's
+meinen, um so ärger poltert's."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap04"></a>4. Kapitel<br/>
+Adventszeit.</h2>
+
+<p>
+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne Blättchen, das
+allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen Pfäfflinge standen alle
+in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im
+Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am
+Frühstückstisch, sahen auf. "Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die
+vier Brüder vom Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht
+erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es
+miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und
+zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste
+Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur
+bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie
+soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner
+Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach
+Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen
+Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte
+etwas anderes als die Melodie.
+</p>
+
+<p>
+Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu
+richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den
+Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den
+Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum
+Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden
+verabschieden wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß
+alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll
+dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich.
+</p>
+
+<p>
+"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der Kinderchor.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.
+</p>
+
+<p>
+"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, hole sie
+schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die ganze Familie im
+Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in
+ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete Andacht".
+</p>
+
+<p>
+Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe herrschte in
+der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die
+Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben ließen aber, ihrem Versprechen
+gemäß, die ganze Breite der Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und
+Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte.
+Da konnte er nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester
+zu.
+</p>
+
+<p>
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn
+im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte
+die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das dauert noch lange, lange, davon
+reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig." So hätte sie
+auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte
+Advent, Weihnachten war über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog
+Frau Pfäffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch,
+wie schön der Christbaum war?"
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie
+nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen
+vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die
+Freude erhöhte.
+</p>
+
+<p>
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten flüsternd,
+was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte kein Geld kosten,
+denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie
+ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu
+kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu
+bescheren, das ist eine Kunst!" Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die
+Beratung sehr in die Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang
+heute immer der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte
+ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, wo
+Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da sie sich
+in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm
+den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam
+die Adventsstimmung bis in die Küche.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder wollte sie
+auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen,
+er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral
+vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie
+zeigen oder vordrängen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich
+hören zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an
+ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in
+der Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
+</p>
+
+<p>
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte,
+bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der großen
+Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und die Schüler
+sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so.
+</p>
+
+<p>
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein
+paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht."
+Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem großen
+Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die Kameraden von allen Seiten: "Spiel
+doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder
+seinen Adventschoral, vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und
+sagte, nachdem er fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+</p>
+
+<p>
+Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten und wie
+der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du das bei deinem
+Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte Frieder, "Harmonika muß man
+nicht lernen, das geht von selbst."
+</p>
+
+<p>
+"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen nicht.
+Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest du das auch?"
+"O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." "Du wirst dich wundern,
+wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze."
+</p>
+
+<p>
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
+spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die
+wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von
+Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riß sie dem andern mit
+Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie geht ja gar nicht, ich
+glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah,
+wurde er blaß und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden
+sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten.
+</p>
+
+<p>
+"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde
+zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick
+von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich
+an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wußte es ja schon vorher,
+daß ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken.
+</p>
+
+<p>
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er
+trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause,
+rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten
+Ausruf: "Sie ist tot!"
+</p>
+
+<p>
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser.
+Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum
+Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an
+seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen
+Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit
+ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half
+kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht eine
+neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+</p>
+
+<p>
+Es war wieder Sonntag, der <i>zweite</i> Advent, und wieder standen die Kinder
+beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern.
+Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er
+konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still
+zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun
+mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf den Balken, da kann man sich
+alles ausdenken, aber da oben nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen Seiten. Er
+war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit
+hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika
+aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große
+Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch
+gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten
+auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der
+Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn,
+und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun
+seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel
+mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf
+einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie
+es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und
+Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir
+zwei können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen
+wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt,
+Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten
+Sack voll."
+</p>
+
+<p>
+Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand
+ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich zeichne ich
+ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist."
+</p>
+
+<p>
+"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin
+vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt. "Frieder," sagte
+Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine Harmonika nimmer hast, aber
+mir bist du lieber ohne sie." Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer
+das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum
+erstenmal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele
+Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest-
+und Ferienzeit wollte verdient sein.
+</p>
+
+<p>
+Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in
+seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich
+sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn
+von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern
+ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es erfahren, wenn hohe
+Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten
+erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß sich's die andern zur Ehre
+rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen
+ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine
+Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte
+gelegentlich von oben herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich
+die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."
+</p>
+
+<p>
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück
+Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
+entgegengesetzt lag.
+</p>
+
+<p>
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem,
+schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines
+junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester
+Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem
+Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der
+griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine
+Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres
+zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich
+einige Stellen vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir
+wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. "Was tust
+du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" sagte Otto
+ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann
+dich gar nicht begreifen, daß du das magst."
+</p>
+
+<p>
+"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und
+das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum
+Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs,
+offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf
+Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange
+zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben
+ihr Geld glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in
+Deutschland ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist
+man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie
+möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen
+er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt
+natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: 'Rudolf, mach
+deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne
+feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn
+Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.'
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen
+Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir,
+du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an,
+als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu
+reden oder nicht?
+</p>
+
+<p>
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat
+ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren
+gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu laufen hatte, bis
+ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie
+haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's
+um Musikunterricht handeln."
+</p>
+
+<p>
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling hört, so
+klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den Musikunterricht geben?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß ich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche Herrschaften muß
+man immer das feinste wählen."
+</p>
+
+<p>
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+</p>
+
+<p>
+"Wohl, wohl, aber so ein <i>Titel</i> fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hören sie gern."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor
+nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon
+seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren für ihn. Nur ist es noch
+nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."
+</p>
+
+<p>
+"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend,
+"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht
+bei den Professoren."
+</p>
+
+<p>
+"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du mit
+den Russen sprechen."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen
+Begriff von Umgangsformen."
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, aber wenn
+<i>du das</i> nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, was du
+kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein
+Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel
+etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel."
+</p>
+
+<p>
+"Ich vermag viel im Hotel."
+</p>
+
+<p>
+"So beweise es!"
+</p>
+
+<p>
+"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast."
+</p>
+
+<p>
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich für den
+Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu
+bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen überein,
+daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder
+eine Enttäuschung geben.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in einer
+Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst
+du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+</p>
+
+<p>
+"<i>Zehn</i> Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es <i>bald</i> so weit
+kommt."
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzählte
+ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorüber war, faßte
+er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest das zurücknehmen, so eine
+Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So möchte er die Stunden gar nicht
+annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu
+solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm."
+</p>
+
+<p>
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Ärger
+eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." So ging die
+Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber geschwiegen hatten.
+Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete:
+"Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er
+soll auf Antwort warten."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, die die
+Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der höflich angefragt
+wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen
+möchte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfäffling adressiert, und als die
+Brüder diese Aufschrift bemerkten, flüsterten sie lachend einander zu: Ein
+Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier!
+</p>
+
+<p>
+Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so erwünschten
+Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer
+nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, daß Herr
+Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es
+ist ein sehr feiner Herr."
+</p>
+
+<p>
+Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier von dem
+Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm zu, er war stolz
+und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg
+nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand
+konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfäffling suchte hervor, was er sich
+neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht
+wieder eine Enttäuschung gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte
+knüpfte, "wer weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit
+denen dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht:
+"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für
+ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler bekommen
+als Fräulein Vernagelding."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr Pfäffling,
+"ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine Marterstunde."
+</p>
+
+<p>
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern,
+er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der
+Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war
+schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen geholt worden. Um fünf
+Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau Pfäffling wurde unruhig. So
+gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspäten. Nun
+schlug es fünf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe
+herbei.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich eine
+kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen
+mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe,
+dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies
+das Fräulein und es plauderte mit den viel jüngern Mädchen wie mit
+ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr Pfäffling noch nicht da sei,
+schien sie ganz vergnügt darüber, lachte und spaßte mit den Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen heißt so?"
+</p>
+
+<p>
+"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es eigentlich
+nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie und Anne, aber so
+ist's eben bei uns."
+</p>
+
+<p>
+Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes Lachen
+über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu spielen,"
+richtete Marie aus.
+</p>
+
+<p>
+"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es lautet
+nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen Klavier? und man
+muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint Mama. Mein voriger
+Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, ich sei unmusikalisch. Herr
+Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die Herrn wollen immer nur
+musikalische Schülerinnen, es kann aber doch nicht jedermann musikalisch sein,
+nicht wahr? Man muß es doch auch den Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch zuviel
+für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß die, die
+recht musikalisch sind."
+</p>
+
+<p>
+Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so plötzlich
+stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner Verspätung war er mit
+wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. Fräulein Vernagelding tat
+einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Pfäffling,
+aber wie fein sehen Sie heute aus, so elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie:
+"Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie
+warten ließ."
+</p>
+
+<p>
+"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen, ehe
+sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick nachher
+wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres Zeichen war,
+daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.
+</p>
+
+<p>
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen ist?"
+wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts zu sagen, man
+mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am schwersten, und er paßte
+und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und im selben Augenblick, wo
+Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das Zimmer verließ, schlüpfte er
+schon durch den andern Eingang hinein und fragte: "Vater, wird etwas aus den
+Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er,
+"komm, ich erzähle es euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er:
+"Cäcilie, Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche
+herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum
+meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen
+sein!"
+</p>
+
+<p>
+"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch musikalische
+Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube kaum, daß wir
+<i>einen</i> solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre Mutter spielt
+Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein wird, mit ihr zusammen
+vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch erzählen. Im Vorplatz des
+Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen empfangen, den ich nach deiner
+Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in
+einen kleinen Salon, spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich,
+der Schlingel, kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der
+von so einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte
+mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen,
+und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die Familie
+würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen Leuten gegenüber
+müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich die breite, mit dicken
+Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer,
+klopfte für mich an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor
+Pfäffling vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm
+Notiz nahm, empfahl er sich.
+</p>
+
+<p>
+"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht mehr im
+Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen durchdringenden Blick.
+Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei jungen Söhnen vor und bot mir einen
+Platz an. Aber sie waren alle ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie
+nicht viel Vertrauen in die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz
+unbestimmt davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen
+sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die
+Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch,
+versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da meinte
+die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+</p>
+
+<p>
+"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen Beinen,
+dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein Direktor bin.
+Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber allerdings die Dame ein
+wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter und sagte: 'Ich denke, es ist
+besser, wir machen ein wenig Musik, dabei lernt man sich viel schneller
+kennen,' und ich fragte die Dame, für welchen deutschen Komponisten sie sich
+interessiere? Sie schien etwas überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir
+recht war. Da ging ich ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und
+fragte, aus welcher Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den
+Nibelungen, Herr Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch
+einmal nach ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling;
+ich wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal,
+aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich.
+</p>
+
+<p>
+"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer näher
+heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir uns
+verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, und die
+Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte Passion sei
+und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei Stunden zu kommen.
+Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der war ihnen auch recht, eine
+unbescheidene Forderung mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier
+tun, wenn er seine Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich
+fortging, begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle
+Steifheit war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich
+vergessen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er hat
+offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in der Klasse
+wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er ist aber, wie mir
+scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich wirklich zu freuen, daß
+die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei
+Herren zur Türe begleitet worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil
+geworden.' Ich habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn
+öfter sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger
+Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du
+bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines
+Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man sich
+sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden bekommt.
+Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges Jubellied gesungen
+werden!"
+</p>
+
+<p>
+Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der General
+im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher Deutscher."
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen
+Aufsatz machen."
+</p>
+
+<p>
+Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die Marianne
+ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau Privatiere
+Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer Glacéhandschuhe."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap05"></a>5. Kapitel<br/>
+Schnee am unrechten Platz.</h2>
+
+<p>
+Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der erste
+Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen stundenlang
+gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das ganze Land überzieht
+mit seiner weichen, weißen Decke; der alles verhüllt, was vorher braun und
+häßlich war, der alles rundet und glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist
+sie schön, die Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose
+Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+</p>
+
+<p>
+Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen,
+und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch eine Sitte muß aus dem
+Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich verpflanzt, wird etwas ganz
+anderes daraus.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden Kinder zu
+ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele
+Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie
+versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie
+Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man für
+sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein
+Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er sogleich den Baum, der in einem
+Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu dem Gärtner, von dem er gemietet war.
+Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er
+verbreitet.
+</p>
+
+<p>
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge Deutsche und
+sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er
+nehme ja so viel Platz weg.
+</p>
+
+<p>
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem Christbaum
+nicht den Platz?
+</p>
+
+<hr />
+
+<p>
+Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch den
+frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten
+Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her,
+und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfüße
+schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die größten Schneeballenschlachten
+konnten ausgeführt werden.
+</p>
+
+<p>
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und sah
+vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein großer
+weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem Zaun hatte
+jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze auf.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas sehen," und
+schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und öffnete das Fenster.
+Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr
+eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbäumen.
+</p>
+
+<p>
+"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der Fuhrleute,
+der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glückselige
+Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch einer dabei!" Die Kleine
+erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann nach.
+</p>
+
+<p>
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem richtigen
+Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem
+schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil
+an.
+</p>
+
+<p>
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo einige
+Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein hitziges
+Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler
+hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter
+der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder
+hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber
+wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen
+zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe.
+Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war
+nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die
+rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee!
+</p>
+
+<p>
+Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so
+schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach
+den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen,
+daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen,
+das war Frechheit.
+</p>
+
+<p>
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. Nach
+Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklärte das
+Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien
+die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach
+Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser
+weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und
+verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das
+war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann
+kommen sahen, liefen auf und davon.
+</p>
+
+<p>
+Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach seinem
+Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war
+noch so nahe, um seine Antwort zu hören.
+</p>
+
+<p>
+"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete die
+Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+</p>
+
+<p>
+"Die Wohnung?"
+</p>
+
+<p>
+"Frühlingsstraße."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die
+Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein "Wilhelm" war er
+allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein Name.
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling schadet
+das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders,
+wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: fort mit dir. Ich
+sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der
+Pfäffling hat ebensogut geworfen wie ich."
+</p>
+
+<p>
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser Wilhelm an
+seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst,
+denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand,
+abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, daß allen davor
+graute. Nun mußte er unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über
+des kleinen Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische
+Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht
+am Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze
+zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde.
+So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er
+achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen
+Stuhl kam.
+</p>
+
+<p>
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah überrascht
+auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was ist's, Vater?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da und hat
+dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?"
+</p>
+
+<p>
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann doch nicht
+sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der
+gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr Pfäffling,
+und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand,
+daß es klatschte.
+</p>
+
+<p>
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft beiseite,
+"warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf diesen Vorwurf
+versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Möglichstes getan, daß man
+ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über
+den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie
+zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und
+woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht
+erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?"
+</p>
+
+<p>
+"Um 11 Uhr."
+</p>
+
+<p>
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem
+Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die Sache
+noch ins Zeugnis!"
+</p>
+
+<p>
+"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen sind
+jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+</p>
+
+<p>
+Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du nicht
+etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem Mann, "und
+ein gutes Wort für ihn einlegen?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da
+kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch
+nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter
+handelt; war auch gewiß sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum
+glauben!"
+</p>
+
+<p>
+"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben,
+dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. Besonders der
+Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+</p>
+
+<p>
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: "Jetzt
+wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr niemand, für diesen
+Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen.
+</p>
+
+<p>
+Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, berieten,
+ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, und als Anne eben
+im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: "Das ärgste ist
+mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hört, dann kündigt er
+uns!"
+</p>
+
+<p>
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das Schreckgespenst, die
+Kündigung!
+</p>
+
+<p>
+So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den
+Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen
+mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine Angst, ein Unrecht
+ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr doch angemerkt, wie
+unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufällig gehört, wie der Vater
+zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt
+machen."
+</p>
+
+<p>
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
+erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die übrigen
+Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+</p>
+
+<p>
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu Baumann,
+"dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist nicht wahr."
+</p>
+
+<p>
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich
+gesehen."
+</p>
+
+<p>
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der
+Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler
+und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief
+reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch
+mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß Pfäffling der einzige sei,
+sagte er: "Dann möchte ich mir auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum
+kümmern. Es ist schon störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß,
+gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird.
+Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+</p>
+
+<p>
+So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu
+bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, daß er
+allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, daß
+sein Betrug an den Tag kommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das
+Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und
+auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet
+war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner,
+den sauern Gang auf die Polizei mußte er ganz allein tun. Und nun betrat er das
+große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der
+Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner
+kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und
+warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein,
+Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze Qual,
+die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte ihn bei Hand.
+"Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," sagte er, "jetzt komm
+nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
+</p>
+
+<p>
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war
+angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen,
+darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer
+Nähe fortgesetzt habe.
+</p>
+
+<p>
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+</p>
+
+<p>
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber weiter
+nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast mir erzählt,
+daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest."
+Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte wohl der Vater besänftigt
+werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs
+und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr
+Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des
+Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen
+eines Vergehens entschuldigt hat."
+</p>
+
+<p>
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit als Lüge
+auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm
+gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn
+Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der
+Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen Polizeidiener. "Bitten
+Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den
+Schutzmann Schmidt herein."
+</p>
+
+<p>
+"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine
+Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie es wünschen, können
+Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der
+Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen der
+Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte noch weiter
+sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den
+Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn gerade <i>diesen</i> Jungen
+aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich
+in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt
+hat?" und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir
+zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte
+ich nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann:
+"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der
+rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich
+aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht.
+Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."
+</p>
+
+<p>
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus,
+das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich
+gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. "Jawohl," sagte
+er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse."
+</p>
+
+<p>
+"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich kann ihn
+doch nicht angeben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und deine
+Menschenkenntnis ist nicht groß."
+</p>
+
+<p>
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," sagte
+der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist."
+</p>
+
+<p>
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das Versehen,"
+sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst nun gehen, aber
+halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem Schneeballenwerfen, in den
+Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!"
+</p>
+
+<p>
+Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief
+Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen bist!
+Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt,
+wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser
+vorgebracht."
+</p>
+
+<p>
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht glauben
+wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich
+etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet
+das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber."
+</p>
+
+<p>
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit
+der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge
+Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht
+wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und
+wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich
+schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt du sicher sein, daß er darauf
+'nein' sagt."
+</p>
+
+<p>
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+</p>
+
+<p>
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte
+Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den Grund
+nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von
+Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der
+junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht."
+</p>
+
+<p>
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die
+Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küßte sie
+und lief davon.
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
+freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts
+verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe
+an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut vorübergegangen." Nach ein
+paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener
+Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller.
+</p>
+
+<p>
+"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der Professor nach
+der Stunde zu Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben
+worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben."
+</p>
+
+<p>
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+</p>
+
+<p>
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um
+Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen.
+Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann aufgeschrieben
+worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den falschen Namen angegeben."
+Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: "Dem
+Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer
+gewesen. Du mußt mir's nicht übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt,
+daß dir das nichts macht."
+</p>
+
+<p>
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief Wilhelm,
+"du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe
+ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann
+kann es ja wohl sein, daß du dich durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der
+Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe.
+Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige
+Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und
+bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen
+des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor.
+Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in
+solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht <i>ein</i> Gesicht erkannt hatte.
+Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht
+fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und
+er sollte ihm nicht entgehen.
+</p>
+
+<p>
+Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich!
+Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan, was strafwürdig
+ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: 'warum ist er dann
+vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das
+Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle
+Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im
+Haushalt und dachte dabei: 'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger
+Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht
+ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim
+Zeit und Geld für sie verwenden?
+</p>
+
+<p>
+In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht
+gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett
+geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das
+schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum
+Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs
+hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein
+wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter
+Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte
+leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter
+ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst
+war schuld.
+</p>
+
+<p>
+Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg
+hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief die Kleine, "die
+Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen
+Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren
+von Teig an der Schürze.
+</p>
+
+<p>
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter Strenge,
+"gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an
+die Schürze wischen," und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog
+leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind
+alle unfolgsam!' Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das
+angefangene mußte trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum
+Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo
+die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr
+langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den
+Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der
+Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur
+schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie
+gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich
+freuen!"
+</p>
+
+<p>
+Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau
+Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund.
+Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf
+dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand:
+</p>
+
+<p class="poem">
+Man bittet die Türe zu schließen!
+</p>
+
+<p>
+Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen,
+die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel ordentlicher, als
+du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer
+aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird
+zumachen, wenn er hört, daß es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre
+wird geschlossen."
+</p>
+
+<p>
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie
+Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als sonst, hörte sie die
+Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um
+nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging.
+</p>
+
+<p>
+Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten
+Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß heute etwas
+besonderes los war.
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas kleinlaut
+erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+</p>
+
+<p>
+Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war
+es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am
+Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die Mutter: "Marianne, warum
+habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?"
+</p>
+
+<p>
+"Vergessen!"
+</p>
+
+<p>
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+</p>
+
+<p>
+"Aber doch <i>nach</i> dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht
+helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte." Da
+widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem
+Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine
+Frau verwundert an.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr
+den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die
+Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das
+Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren.
+</p>
+
+<p>
+"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die
+Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter.
+Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann
+entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll
+eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei
+Tassen."
+</p>
+
+<p>
+Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden,
+denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf
+die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen.
+</p>
+
+<p>
+Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine
+Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.
+</p>
+
+<p>
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling sagen.
+</p>
+
+<p>
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch,
+wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes
+gemeint?
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap06"></a>6. Kapitel<br/>
+Am kürzesten Tag.</h2>
+
+<p>
+Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo
+im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel steht, saß man heute
+noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde,
+war es noch trüb und dämmerig in den Häusern. Allmählich aber hellte es sich
+auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch
+ihre schrägen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig
+durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich
+der Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen
+hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse und Hasen wurden
+da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! Auf den Plätzen der Stadt
+standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den
+großen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.
+</p>
+
+<p>
+Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und Anblick ganz
+hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte
+für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwärts über
+den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem
+Bäumchen, nicht größer als er selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten
+vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so
+rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet
+und wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+</p>
+
+<p>
+"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; <i>so</i> wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand legte sich
+von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte
+sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen hatte, war eine
+große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und
+Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weißt
+doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und legte ihm den Baum über die
+Schulter.
+</p>
+
+<p>
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte die Dame.
+</p>
+
+<p>
+"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume geschleppt,
+sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen."
+"Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. "Sieh, auf diesem Papier
+ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, daß dich's nicht in die
+Hände friert." Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin
+einen kleinen Anstoß in der Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern,
+trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß er mehr aus
+Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es aber nicht gewiß.
+Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so mußten eben die Buben
+helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, freilich meist größere. Er war
+eigentlich stolz, daß man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt
+nur die Brüder begegnet wären oder gar der Vater!
+</p>
+
+<p>
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase
+stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, obwohl er
+nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn oft von der einen
+auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen
+mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne daß die steife, von der Kälte
+erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er
+trug den Baum frei mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von
+einem Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen
+aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm
+den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du,
+Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum
+hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße
+glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder
+hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei
+einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte
+niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten
+Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47,
+die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum
+gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen
+wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig
+auf die Treppe setzen, um auszuruhen.
+</p>
+
+<p>
+"In der Luisenstraße wohnt nur <i>ein</i> Doktor," sagte sie, "und das ist Dr.
+Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun lieber in Nr.
+43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer,
+aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte
+er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hörte
+dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. Weber, sie hätten längst einen Baum und
+einen viel schöneren und größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen
+herunter, und als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz
+klar, wo er jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter
+Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts mehr
+vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+</p>
+
+<p>
+Und es war wirklich höchste Zeit.
+</p>
+
+<p>
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie
+und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder hat
+versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag
+weggeblieben!"
+</p>
+
+<p>
+"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. Sieh
+einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu ängstigen,
+nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem zugestoßen sein—, aber wenn
+er nicht zu Mittag käme, würden sich die Eltern sorgen und darüber ärgern, daß
+doch wieder etwas vorgekommen sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten
+sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von
+allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater
+heim, fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört hatte.
+"Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch in sein
+Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man nur das Essen ein
+wenig verzögern könnte," sagte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg zu sich
+und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so
+zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, daß man später
+ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Töpfe auf und
+sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch
+eine Weile kochen dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs
+Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die
+Linsen ganz hart.
+</p>
+
+<p>
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja noch
+ein wenig mit dem Essen warten."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die Kinder.
+</p>
+
+<p>
+So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur
+mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem
+Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling merkte jetzt, daß
+etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz außer
+Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte
+ängstlich: "Ißt man schon?"
+</p>
+
+<p>
+Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie man
+seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn nur ab, du
+glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der
+Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, "ich muß ihn einer Frau
+bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie
+ihn aus und wollten alles genau hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen
+und hörte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm
+nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!"
+</p>
+
+<p>
+Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt sich
+denken.
+</p>
+
+<p>
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner rechtmäßigen
+Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit Frieder gehen, ihm
+helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus zu Haus
+laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," entgegnete Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde ich mich
+schämen."
+</p>
+
+<p>
+"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl ich
+meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke stand, hob ihn
+frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte spassend: "So werde ich durch
+die Luisenstraße ziehen, eine Schelle nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum
+gehört, der soll sich melden.'"
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird so
+gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein Kamerad denken
+sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie schwiegen aber. Da setzte
+Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte sehr ernst: "Kinder, fangt nur das
+gar nicht an, daß ihr meint: dies oder jenes paßt sich nicht, das könnten die
+Kameraden schlecht auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer
+durchs Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf
+Meier ab."
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe dessen
+und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in die Luisenstraße
+Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.
+</p>
+
+<p>
+Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir nichts
+daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht gedacht, daß
+es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir ein
+Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen Pfennig
+mehr."
+</p>
+
+<p>
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins Zimmer
+kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so lang bleibt,
+tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem alten Mantel
+schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+</p>
+
+<p>
+Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto mußte
+sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+</p>
+
+<p>
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als Otto
+plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: "Da vornen
+kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn sie meinen, ich
+müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du doch den Baum selbst
+tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach war das
+nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", das stimmte
+alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock stand noch einmal
+der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe.
+</p>
+
+<p>
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein wenig mit
+ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als Frieder nach Hause
+kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen, war es ihm nicht
+behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen zuletzt noch im Stich
+gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er mit dem Bruder wieder
+zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich auf ihn, dann ging ihm die
+Geduld aus, vermutlich war Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu
+finden, aber es war nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von
+allen Seiten gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er
+freilich erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum
+getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch
+schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja
+die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch und
+hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. "Ja
+Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast alle
+zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die kommen
+wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren
+nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht
+oben oder unten bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben
+gar nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen
+größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos
+ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem Baum
+und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück," und flink
+faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von seiner Schönheit
+eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon.
+</p>
+
+<p>
+In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und sofort
+rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch noch!" Eine
+lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo bist du denn so lang
+geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar nicht, dir habe ich keinen Baum
+zu tragen gegeben, der gehört nicht mir."
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen jungen
+Pfäfflingen gemacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er kam,
+war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe nämlich nicht
+gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, ich brauche ihn schon
+heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da konnte ich nicht warten. Was
+mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr wohl schon einen zu Haus? Ich würde
+euch den gern schenken."
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten kleinen
+Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen Lebkuchen schicken,
+den bringst du ihm, nicht wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit seinem
+Baum heimwärts.
+</p>
+
+<p>
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter angezündet, als
+Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe geraubt hatten, kamen
+eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, und ließen sie vor Schreck
+fast aus der Hand fallen, als sie den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!"
+schrien die Mädchen ins Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte
+Karl, "der Baum, der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht
+aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!"
+</p>
+
+<p>
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab ihn
+Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, Mutter,
+der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam, ergötzte er sich an
+der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er merkte, daß es Otto nicht
+recht wohl war bei der Sache, und wollte sie eben deshalb genauer hören. "Also
+so hat sich's verhalten," sagte er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden
+hast du dich so gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen
+hast? Dann heiße ich dich einen Feigling!"
+</p>
+
+<p>
+Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte und
+schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu vergessen. Es war
+auch am nächsten Morgen, an dem vierten Adventssonntag, Ottos erster Gedanke.
+Es trieb ihn um, er konnte dem Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen.
+Da trachtete er, mit der Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er
+ihr nachging, und ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte
+er, "ich kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich
+ihn um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für feig."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar schon
+manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über dich
+urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur ankämpfen gegen
+die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein kannst."
+</p>
+
+<p>
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, fehlte
+Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er zuerst den Vater
+in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen Musikalien auf. "Willst du
+etwas?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon welches.
+Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt gestanden und
+habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von meiner Klasse haben es
+gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, die ich bekommen habe." Da sah
+Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es
+gibt allerlei Heldentum, das war auch eines; nein, Kind, du bist doch kein
+Feigling!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap07"></a>7. Kapitel<br/>
+Immer noch nicht Weihnachten.</h2>
+
+<p>
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der Familie
+Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade das einzige
+Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das Elschen. Ihr war die
+Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie zurückdenken konnte, alle
+Geschwister entzog, die unbarmherzig die schönsten Spiele unterbrach, die ihre
+dunkeln Schatten in Gestalt von Aufgaben über die ganzen Abende warf und die
+auch heute schuld war, daß die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den
+Schulzeugnissen redeten, die sie bekommen würden.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß morgen
+der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig und mißmutig.
+"Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es gar kein Land auf der
+ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+</p>
+
+<p>
+"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel ist
+zurzeit noch keine eröffnet."
+</p>
+
+<p>
+"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. Aber da
+alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag nichts taugte,
+und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal nichts zu machen war.
+</p>
+
+<p>
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der letzten
+Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie nur so beiseite
+geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise geführtem Gespräch und
+verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. Es waren nämlich die Zeugnisse
+ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, daß Wilhelm in der Mathematik die
+Note "4" bekommen hatte, die geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch
+nie dagewesen, die Zahl 4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen
+Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was
+hilft es mich, daß ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der
+Vater sieht doch auf den ersten Blick den Vierer."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+</p>
+
+<p>
+"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater darnach
+fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es nicht
+wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren inzwischen auch
+mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder auf. Marie warf nur
+einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, ihr seid schlecht
+weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse
+sind gut, besser als das letztemal, und der Frieder hat auch gute Noten. Dann
+wird der Vater schon zufrieden sein."
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+</p>
+
+<p>
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen soll,
+daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+</p>
+
+<p>
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und zuletzt
+wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und dann die
+Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz des fatalen
+Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt sein konnten. Die
+Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen anzusehen, und dem Vater wollte
+man die schöne Durchschnittsnote in einem geschickten Augenblick mitteilen,
+dann würde er nicht weiter nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse
+unterschrieben werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus
+sorgte man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das
+beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis gezeigt,
+nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte Wilhelm, "wie
+der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+</p>
+
+<p>
+"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur von der
+Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten bekomme, werden
+die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft wieder, Karl?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat sich so
+gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es übernehmen, sie
+dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht nach den Heften fragen
+würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr Pfäffling sich richtete, um zum
+letztenmal vor dem Fest in das Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen
+Bewegungen bemerkte sie, daß er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben
+alle unsere Zeugnisse bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl
+berechnet, was wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da
+herausgekommen ist? Magst du raten, Vater?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich es
+doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis drei
+vielleicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+</p>
+
+<p>
+"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und Marie
+bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will ich alle in der
+Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal unterschreiben kannst." "Ja,
+hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling noch von der Treppe herauf.
+</p>
+
+<p>
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber sehr
+weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da niemand in die
+Hände fallen.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, denn es
+war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten und so betrat er
+auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal stand die große Flügeltüre
+des untern Saales weit offen, Tapezierer waren beschäftigt, die Wände zu
+dekorieren, der Besitzer des Hotels stand mitten unter den Handwerksleuten und
+erteilte ruhig und bestimmt seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte
+Herr Pfäffling, nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit
+herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand
+ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der Hand
+und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen wurden. Aber
+plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm ertönte eine
+scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an
+dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er
+Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not
+mit den Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt
+Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei,
+die Treppe hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf seine
+verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den Leuten, die
+er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, er spreche so klug
+wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr Pfäffling noch größere Ansprüche
+machten? Rudolf stellte sich die Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie
+doch im Vergleich mit ihm, sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte
+ihr Vater doch empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel
+weiter war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
+geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten
+sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er
+wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+</p>
+
+<p>
+Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe hinaufgesprungen.
+Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner Schüler, und nun wurde
+noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert.
+</p>
+
+<p>
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm die
+Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen Gästen viel
+zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein Geschäft ausgezeichnet,
+aber sein Sohn <i>spricht</i> nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn
+wird nichts."
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und
+hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben <i>den</i> Sohn stehen, über
+den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er wird
+nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind
+gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm
+vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte vielleicht
+selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu
+verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als
+seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere
+Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur Arbeit."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater sehr viel
+zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre
+Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+</p>
+
+<p>
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war und
+meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß ich jetzt so
+etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, daß ich
+als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. Die Dienstboten sind so
+unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her sein."
+</p>
+
+<p>
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen anleiten?"
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht
+gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein gewöhnlicher
+Schuljunge war?
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien
+Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."
+</p>
+
+<p>
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich weiß
+auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben über
+Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, feierliche Messen und
+dergleichen. Man muß allen dienen können und darf keine Vorliebe für die eine
+oder andere Konfession merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht
+verletzen und müssen uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen
+lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der
+verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er offenbar
+Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor der Stunde für ihn
+gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+</p>
+
+<p>
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, die
+Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der
+Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte Herr Pfäffling ihn
+zu einem Tapezierer sagen:
+</p>
+
+<p>
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den
+Gästen abgehalten wird."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern kam, die
+schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken
+versunken. Er sah vor sich den tüchtigen Geschäftsmann, der in unermüdlicher
+Tätigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug
+abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst
+gehören sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine
+Straße weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich
+mit dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus eine
+Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, daß
+sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den schlimmen Einflüssen
+zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der großen Stadt, in
+einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während sich Herr Pfäffling dies
+überlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurück, und nun stand er
+vor Herrn Meier, in dem großen Saal.
+</p>
+
+<p>
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die Dekoration
+und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," sagte Herr
+Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr
+Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+</p>
+
+<p>
+Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem
+anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie Platz nehmen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er sagen
+sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch begonnen, so trieb
+ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann sehen Sie
+gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's
+denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch
+kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tüchtig arbeitet und dann
+fröhlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen
+sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das
+Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein
+Christ, denn er dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem
+Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas
+aus ihm werden, aber so nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen nicht zu
+Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kühl: "Ich muß
+mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht
+und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz flüchtig. Mir scheint, Sie
+urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, daß mein Sohn der geborene
+Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so
+wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes
+Kind wohl am besten und werde für sein Wohl sorgen."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser
+vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt habe. Das
+wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so
+oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es die Menschen nicht
+ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der
+reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es
+mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu
+fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr
+für seinen Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!"
+</p>
+
+<p>
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende,
+indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich
+sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten." Er ging,
+der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts
+erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch er
+sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in
+Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen
+ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit
+sich selbst ebenso streng ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen;
+immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und
+nachbedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst,
+auf die Leute einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+</p>
+
+<p>
+Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich
+über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern.
+Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte
+in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, daß er nach
+seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief:
+</p>
+
+<p>
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie
+sehen!"
+</p>
+
+<p>
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse müssen
+her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. "Warum denn,
+warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie mußte die
+Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinübertragen in des
+Vaters Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als sie
+wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine List mit
+der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend etwas ist sicher
+nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar fatale Dreier da, oder
+eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er überblickte die kleine
+Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt
+sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab
+das Bild eines gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen
+Sprachgelehrten.
+</p>
+
+<p>
+Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut brauchen,
+wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Sünden anderer
+gut machen.
+</p>
+
+<p>
+Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie
+vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor,
+aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von
+Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig
+verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit
+ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst
+darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu
+gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich
+schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer
+zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+</p>
+
+<p>
+Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken
+können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was für gute
+Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser
+als früher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein
+Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika
+zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch
+genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der
+Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse
+auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel
+Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo
+war denn das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben?
+Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm
+ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im
+Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und
+wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe sich
+auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht
+heimbringen.
+</p>
+
+<p>
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas
+besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber
+für die Mathematik fehlte das Verständnis.
+</p>
+
+<p>
+Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an seiner
+Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als
+sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte
+dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran, daß morgen Weihnachten ist!"
+und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie
+freundlich an sich: "Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist
+gut, daß du mich erinnerst."
+</p>
+
+<p>
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden immer nur
+von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor Weihnachten
+freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herüber, ich
+will machen, daß sie sich freuen!"
+</p>
+
+<p>
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister
+zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem Trüppchen dem
+Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drückten. Aus
+diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur gegen mich
+dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja
+keinen Sinn! Gegen den <i>Feind</i> verbindet man sich, nicht gegen den
+<i>Freund</i>. Habt ihr einen treuern Freund als mich? Halte ich nicht immer zu
+euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+</p>
+
+<p>
+Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die
+Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und
+sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten
+wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit
+mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir möchte ich nie etwas
+verheimlichen!"
+</p>
+
+<p>
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch Gutes dabei
+heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen,
+wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, daß sie das nächste
+Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind
+unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr
+weit her, aber wie wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter
+Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich
+darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von
+diesem Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer
+müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis
+Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an
+für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß sie am nächsten Tag
+nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt,
+dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder
+nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich
+in ihr Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.
+</p>
+
+<p>
+"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den
+Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie in der
+Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" Während des
+lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens fröhlichem Jauchzen
+ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme
+wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie
+haben gar nicht 'herein' gerufen."
+</p>
+
+<p>
+Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte
+sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die
+Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte Augen und rief: "Nein, wie
+viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen
+hatte, waren alle sieben schon verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie
+schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"
+</p>
+
+<p>
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als aber
+Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, machte nur
+einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf hereinschauen," und sie sah
+dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll aus, daß das Verbot mit lautem Jubel
+aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus
+und sogar aus dem Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille
+Nacht, heilige Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+</p>
+
+<p>
+"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur so auf
+gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen <i>die</i> Noten
+spielen, die da stehen."
+</p>
+
+<p>
+"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch nicht so
+pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf
+jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich weiter und nun, als
+der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich auf und sagte: "Ich habe
+mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum täglichen
+Gebrauch, Herr Pfäffling."
+</p>
+
+<p>
+"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie ihren
+Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie
+werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird."
+</p>
+
+<p>
+"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer sein?"
+</p>
+
+<p>
+Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes
+Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fräulein
+Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen.
+Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang
+nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere
+Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schülerin.
+</p>
+
+<p>
+In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt hoch in
+seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das über einen
+Meter lang herunter hing.
+</p>
+
+<p>
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? Zu
+einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, Cäcilie?" Da
+wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke für das Klavier
+erkannt.
+</p>
+
+<p>
+"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein Vernagelding, das
+ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich bitte dich, nimm mir das
+Ding da ab!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner
+Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. Nun waren die
+Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den Eltern am Tisch, und Herr
+Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge im Zentralhotel. Er stellte sich
+selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß
+Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen
+hätte. "Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte
+sie. "Und wenige, die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte
+lächelnd hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glückliches Paar, nicht wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater zu
+ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"
+</p>
+
+<p>
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein
+Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine
+Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich vorzustellen.
+Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es war Regenwetter und ich
+trug einen langen braunen Überrock und hatte den Regenschirm bei mir."
+</p>
+
+<p>
+"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, "einen
+dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar
+nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm trat dein Vater in
+unser hübsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den
+Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen.
+Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich
+noch ein junges, dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich
+alle Mühe hatte, mein Lachen zu unterdrücken."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, sondern
+hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine
+Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die
+Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespräch, und
+wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich
+vor, daß du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun
+kommt das Großartige. Als ich wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im
+Nebenhaus bei Professer Lenz Besuch machen wollte."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter hatten, so
+kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete. Ich dachte bei
+mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm in der Hand bei
+Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespött für den ganzen Kreis.
+Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch
+war ich schüchtern und ungeschickt."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling ein, "ich
+hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot
+dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht lieber ihren Überrock und
+Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu
+Willen sein und machte Anstalt, meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit
+deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen,
+sondern wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen
+Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei, im
+Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie haben
+es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht gesagt.' Da verging
+mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr Pfäffling.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap08"></a>8. Kapitel<br/>
+Endlich Weihnachten.</h2>
+
+<p>
+Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist
+Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an keinem
+anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht und gern aus
+den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und
+hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der Mutter helfen aus
+Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung
+fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die
+Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um
+die Wette, wenn die Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas
+Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der
+treuen Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche
+befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte.
+</p>
+
+<p>
+Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas
+holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus dem Nebenhaus,
+die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die allerlei zurechtgelegt
+war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht
+einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt ihr die Kleinen in euer Stübchen
+und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg
+waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst
+sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir
+einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die
+Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's
+kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter
+und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut.
+Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa
+Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen
+Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend."
+</p>
+
+<p>
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch
+viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen Kindern einen
+schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel—das
+können Sie sich denken bei sieben—aber weil keines vorher ein Stückchen sieht,
+so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns
+einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor
+dem heiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum
+geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet
+ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann
+sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar
+keine großen Geschenke daliegen."
+</p>
+
+<p>
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen Sinn für
+so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."
+</p>
+
+<p>
+"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht und
+Lichter dazu."
+</p>
+
+<p>
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch
+gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen
+gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke mir, daß Sie
+noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie
+habe etwas für mich und die Kinder."
+</p>
+
+<p>
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie
+alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so groß wie im
+reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag gezankt,
+weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester
+bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang
+gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe."
+</p>
+
+<p>
+"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was
+die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine Freude, wenn
+die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein Mann auch den Sinn
+für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, daß
+Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt,
+verstecken, und dann eine schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder
+bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+</p>
+
+<p>
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem Christbaum
+dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehört auch
+zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige
+übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen Kalender kaufen, oder
+was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich
+keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen
+war."
+</p>
+
+<p>
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen Sachen,
+die Sie mir zusammengerichtet haben."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein,
+und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie
+machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins
+Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die Reichen können die Armen nicht
+glücklich machen, wenn die nicht selbst wollen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese
+endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel
+abgezogen.
+</p>
+
+<p>
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu
+betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der
+Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt nur recht laut," sagte die
+Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt's heute,
+nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei
+Pfäfflings ist's auch so."
+</p>
+
+<p>
+Da ergaben sich die Kinder.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher Stimmung.
+"Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling und rief die
+Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen.
+</p>
+
+<p>
+"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," sagte
+sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben besorgen." Wilhelm
+und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil
+gespannt, an dem eine ungezählte Menge Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg
+war eine große Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten
+die hölzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt
+waren. "Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm
+fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen,"
+so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto
+gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei
+allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs Bodenkammer
+offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte,
+ganz erschrocken über den plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr
+denn aber da oben, ihr Kinder?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, wenn man
+Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben darnach springen,"
+sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und mit einem Hochsprung hatte
+er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der Strumpf fiel herunter.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+</p>
+
+<p>
+"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher grau und
+schwarz, denen schadet das nichts."
+</p>
+
+<p>
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken.
+Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle Strümpfe schienen
+zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten sonst noch da unten stehen
+und auf die Hände der vielbeschäftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld
+ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein
+wenig zu helfen?
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid herunter: Die
+meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie müßten noch
+hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und
+dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz
+Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und
+Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie
+den Vorrat auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich:
+Das gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein kärgliches
+Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu:
+"Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!" "Warum denn
+nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich.
+"Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es
+nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen."
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte
+das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf
+den Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom
+gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfäffling:
+"Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein großes
+Stück Braten denken!"
+</p>
+
+<p>
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein
+dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man
+nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst!
+</p>
+
+<p>
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen
+Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfältig
+verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nüssen
+und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte
+ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Häusern feiner geschmückte
+Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten
+Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das
+Grün des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem
+nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind
+vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten
+Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran ändern.
+Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen
+Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich.
+Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben,
+und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen,
+nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr
+wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten
+des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die
+mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen begann,
+dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm die Aufsicht
+über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf
+allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen
+fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten
+wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein
+Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer
+Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und
+alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem
+Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine Handvoll
+Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: "Das ist etwas
+zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen aus der Großmutter Paket
+gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schürzen an und sagt auch
+Walburg, daß sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der
+Mutter Angesicht leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern
+das gleiche Strahlen hervor.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen.
+"Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den Baum anzünden?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich bin so
+müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen Jubel Kraft zu
+sammeln."
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl noch
+eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schließe die
+Augen."
+</p>
+
+<p>
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur drei
+Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder frisch, und ich
+kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache Unruhe, die klopfenden
+Herzen der Kinder da draußen, wir wollen anzünden." Bald strahlten die Lichter
+an dem Baum, die großen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische
+erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein
+Glockenzeichen und die Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und
+Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung;
+solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen
+und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun
+geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird das
+Kinderglück.
+</p>
+
+<p>
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber
+es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den
+Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater
+dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den
+Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Güte, wenn es einem der Geschwister ins
+Gesicht sah, so glänzte dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft
+des Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den Frieder!"
+An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine
+ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf
+das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen
+Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+Fideln darfst du, kleiner Mann,<br/>
+Vater will dir's zeigen.<br/>
+Aber merk's und denk daran:<br/>
+Immerfort zu geigen<br/>
+Tut nicht gut und darf nicht sein.<br/>
+Halte fest die Ordnung ein:<br/>
+Eine Stund' am Tag, auch zwei,<br/>
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er drängte
+sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich sie gleich
+probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht
+viel Platz ließen, drückte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte
+an, leise über die Saiten zu streichen und zarte Töne hervorzulocken. Und er
+sah und hörte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte
+sich, denn er wollte <i>reine</i> Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern
+sahen sich mit glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in
+seinem Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen
+kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+</p>
+
+<p>
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+</p>
+
+<p>
+"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding geschickt!"
+</p>
+
+<p>
+"Was? Euch Kindern, was tut <i>ihr</i> denn damit?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche."
+</p>
+
+<p>
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"
+</p>
+
+<p>
+Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre neuen
+Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den
+Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. "Man könnte meinen, es sei
+ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz außer Rand und Band!" sagte Herr
+Hartwig zu seiner Frau. "Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort
+beschwichtigte den Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich
+auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang
+zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+</p>
+
+<p>
+In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie war
+ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die
+Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren großen, ernsten Zügen
+malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in
+ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, aber es hatte sich kein ruhiges
+Viertelstündchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt
+hätte sie vielleicht einen Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl
+schwerlich kommen. Während Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz
+von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf
+Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das
+Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war
+noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber
+unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu stehen?
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst
+nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja
+da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo ist denn die Mutter?"
+Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurück mit dem Bescheid, die
+Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst
+nie. "Dann laßt sie nur ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal
+redet, muß man froh sein."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit
+herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drückte
+sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: "Ich erzähle dir später!"
+Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und
+Marie sagte: "Unserer Walburg sieht man so gut an, daß heute Weihnachten ist."
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich
+nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis endlich Herr Pfäffling mit
+seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch der Ruhe bedürftig sein," sagte er.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie
+erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die
+schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem Jahr ihr Sohn Witwer
+geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos
+dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an
+kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, daß sie nicht gut höre,
+aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den
+Feiertagen einmal herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die
+Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg kennt den
+Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu
+sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut für Walburg!"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem Haushalt
+vorstehen können bei ihrer Taubheit?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein
+schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es rührend, daß der
+Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen.
+Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draußen viel besser, weil sie
+ihren Dialekt reden."
+</p>
+
+<p>
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, wenn
+auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag
+möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch
+nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurückkommt, sagen, daß
+sie Braut ist."
+</p>
+
+<p>
+Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer
+Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch
+einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hölzernen Truhe, in der
+ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit
+Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war,
+jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da
+draußen gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die
+breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu
+Ehren kommen!
+</p>
+
+<p>
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in
+ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
+</p>
+
+<p>
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar
+kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau
+Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön aufzuräumen, so hatten
+inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem großen
+Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen und Apfelbutzen kein Ende.
+Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte
+sich bei der geringen Kälte nicht bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel
+Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben
+sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war
+sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling nach den
+Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten
+Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch
+mittun könne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein.
+Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur
+die beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen
+hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die
+Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr
+Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der Küche ein
+Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel ließ sich auch
+an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon
+ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was <i>willst</i> du tun? Meistens drängten
+sich die Geschäfte von selbst auf und hätten schon fertig sein sollen, ehe man
+daran ging. Eine Weile ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr
+klar, was sie tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich
+komme zu dir!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen Jahren
+hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jährige Frau konnte
+<i>nicht mehr</i>, und die junge Frau konnte <i>noch</i> nicht die Reise wagen,
+die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch
+köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne.
+Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit
+den nötigsten Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen,
+wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und
+es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich
+aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht
+sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in
+dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und
+davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch
+festhielten: Ein jeder trage des andern Last.
+</p>
+
+<p>
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags.
+Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zündete ein einziges
+Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und große breite Schatten von
+Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine
+feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfäffling sagte leise vor sich
+hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch.
+</p>
+
+<p>
+Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und Bewegung
+Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau Pfäffling. Sie
+fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, fröhlich ging sie hinaus und
+sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er
+dich verlassen hat." Sie ging, ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber
+nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Türe.
+</p>
+
+<p>
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst mit dem
+letzten Zug erwartet."
+</p>
+
+<p>
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln
+zusetzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles
+gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich bin ganz allein zu
+Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's nicht so arg gedacht, er
+meint, für die Kinder wäre doch eine besser, die hört." Ohne ein weiteres Wort
+wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den
+bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze,
+versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage
+glücklich gemacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider,
+setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen
+auf die kahlen Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es
+war so öde und leer in ihrem Herzen.
+</p>
+
+<p>
+Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet neben dem
+Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du tust mir so leid,"
+sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. Walburg aber beherrschte ihre
+Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: "Draußen habe ich selbst erst
+gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden,
+sie haben mir's auf die Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So
+wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld
+hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und
+sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie sich's gehört. Ich weiß
+nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn
+nicht wie früher auch?"
+</p>
+
+<p>
+"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir verstehen uns
+und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, daß du uns
+nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da wich der starre, traurige
+Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der
+Frau, die sich so bemühte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen.
+Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken;
+eilfertig griff sie nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der
+Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so traurig
+aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr
+draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei uns recht heimisch fühlt."
+</p>
+
+<p>
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört sie."
+</p>
+
+<p>
+Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen noch
+geigen? Wie heißt dein Vers?
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Eine Stund am Tag, auch zwei,<br/>
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+</p>
+
+<p>
+Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden gespielt
+hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben Violinübungen, die
+sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Mädchen das Herz
+leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe
+Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr
+als eine Verbindung mit den Mitmenschen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap09"></a>9. Kapitel<br/>
+Bei grimmiger Kälte.</h2>
+
+<p>
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die
+menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen
+Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser
+eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt
+Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er mußte das
+Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. "Zwanzig Grad Kälte," verkündete er,
+"Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die
+Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.'"
+</p>
+
+<p>
+Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb daheim am
+warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel
+durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten mußte, bis
+die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig
+brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die
+Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und
+unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war
+die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme,
+dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im
+Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der
+Trennung auch <i>einmal</i> wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der
+alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus
+in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein
+eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter
+beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig
+sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu
+denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich
+die große Reise gar nicht lohnen."
+</p>
+
+<p>
+Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und
+so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es
+doch einmal geschah.
+</p>
+
+<p>
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr Pfäffling,
+indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg
+so zuverlässig ist."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem
+Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es
+sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da
+wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab,
+indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken,
+wir wollen sehen, was der Januar bringt!"
+</p>
+
+<p>
+Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder.
+So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich,
+die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie
+auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto
+hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen
+hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich
+wird's nicht so arg frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und
+Karl, obwohl er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war
+schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß
+doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so
+dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+</p>
+
+<p>
+"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen
+Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und
+deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht
+ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde
+frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ den
+Mantel fahren und rannte davon.
+</p>
+
+<p>
+Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie
+nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die
+Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete
+sich mit der Aussicht, daß nach den Osternferien auch sie mit den Großen den
+Schulweg einschlagen würde.
+</p>
+
+<p>
+So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder
+zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste
+Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder angeregt und von
+irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen würden. Um so mehr war
+sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden
+Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte
+und die Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie
+noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen
+wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau
+Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man
+sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen
+habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte.
+Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.
+</p>
+
+<p>
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
+Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. Aber
+Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein
+rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen,
+jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr
+alle heimkommt und von der Schule erzählt. Kommt, wir wollen beten:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Herr wie schon vor tausend Jahren<br/>
+Unsre Väter eifrig waren,<br/>
+Dich als Gast zu Tisch zu bitten,<br/>
+So verlangt uns noch heute,<br/>
+Daß Du teilest unsre Freude.<br/>
+Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+</p>
+
+<p>
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen.
+Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die
+Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr
+Pfäffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehört, was ihn ganz
+erfüllte: Ein Künstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden.
+Ein Künstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde
+hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen Städte
+Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum erstenmal
+auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die
+Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen des rührenden
+Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache.
+</p>
+
+<p>
+Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß unser
+Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares Vergnügen zu
+gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in
+solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten
+erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen großen Kunstgenuß
+hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen
+und sagte: "Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem
+Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die
+Mutter muß sich zur Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der
+Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war
+krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu eingetreten, ein
+anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit
+zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken
+weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier erzählt?" fragte er Otto.
+</p>
+
+<p>
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+</p>
+
+<p>
+"Hast du nichts näheres darüber gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiß
+nicht mehr."
+</p>
+
+<p>
+Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen
+wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres erfahren.
+</p>
+
+<p>
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen
+Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die
+russische Familie klagte über den kalten deutschen Winter.
+</p>
+
+<p>
+"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" meinte
+Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. Alle
+Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch
+jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie keinen Pelz bei
+solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn
+Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie
+gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein
+Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch
+gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich
+spielen."
+</p>
+
+<p>
+Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. "Es war
+sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der
+viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist übrigens jetzt nicht mehr
+hier."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht
+hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er
+kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben
+hinein.'"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat recht,"
+fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig sind, ist es
+besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land ungünstig sind, so wie
+bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern
+<i>Land</i> aufwachsen zu lassen. In Rußland haben wir ganz traurige Zustände,
+die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall,
+Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne
+haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war.
+Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen
+Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl
+in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit
+in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt."
+</p>
+
+<p>
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne standen
+beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, daß diese
+reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen
+Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: "Jeder einzelne
+leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige.
+Möchte das neue Jahr für Rußland bessere Zustände bringen!"
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit
+Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zögerten
+beide. Sie hatten <i>ein</i> gemeinsames Interesse, über das zu sprechen ihnen
+nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die Sprache darauf zu bringen,
+wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. Mit dem höflichen aber kühlen Gruß
+des Gastwirts ging er vorüber, gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt
+heute!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie auseinander.
+</p>
+
+<p>
+Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl
+sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, ein echter,
+wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder
+nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel
+gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel
+nach. Aus der Küche erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der
+eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ
+sich dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Nicht lange, Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir
+das genau?"
+</p>
+
+<p>
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: "Aber
+das ist doch noch nicht lang her?"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute
+nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da
+stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch
+ganz um die Geige! Gib sie her, in <i>der</i> Woche bekommst du sie nimmer!"
+Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie
+fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je
+eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur
+<i>ein</i> Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewußt die geliebte
+Violine dem Vater hin und ergab sich.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden,
+was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie
+sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen füllten. Sie stellte ihr
+Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: "Darfst du denn nicht
+spielen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.
+</p>
+
+<p>
+"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr."
+Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun
+war sie ihm für eine ganze Woche genommen!
+</p>
+
+<p>
+Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen Stimmung. Ihm
+war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte,
+eine große Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit für ihn weg, und dazu
+kam nun, daß er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand,
+die, nachdem er sie geöffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn
+hinübertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau.
+</p>
+
+<p>
+"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein fand,
+fragte er ungeduldig:
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist draußen und bügelt."
+</p>
+
+<p>
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." Frau
+Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich
+muß nur den Kragen erst steif haben."
+</p>
+
+<p>
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und in
+diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".
+</p>
+
+<p>
+Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfäffling kam
+in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. "Ist denn das
+nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen Bügelei," fragte Herr
+Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf
+diese gereizte Frage antwortete Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage:
+"Ist das die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"
+</p>
+
+<p>
+"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im
+vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf
+Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen besänftigten aber den
+Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, du armer Wurm," sagte er, "du
+kannst nichts dafür. Hast so viel Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch
+so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und
+wir wollen froh sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du
+jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," schluchzte das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch
+das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere Rechnungen, als die
+vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es ist doch immer alles gleich
+bezahlt worden?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß diese
+Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet wird. Ich war
+damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so
+schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die Schwestern ernsthaft
+an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr der
+Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling schon
+wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: "Es ist doch
+viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die einzige an Neujahr
+ist."
+</p>
+
+<p>
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als
+wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder,
+die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten bedenklich untereinander:
+"Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?" Sie riefen Elschen herbei:
+"Trage du dem Vater den Brief hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag
+und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß
+hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war
+sie und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte Herrn
+Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das anfangen, daß
+sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche Ordnung und Sicherheit
+auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und
+her lief: "Else, hole mir die drei Großen herüber," sagte er, "aber schnell."
+Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam
+dann zur Mutter an den Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer
+Rechnung," sagte sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind
+gar nicht gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht
+ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad Kälte
+draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch zu bügeln,
+heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es sind immer noch
+viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus und sagte sich im
+stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen
+ausgespannt würde!"
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, und
+Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt
+hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte Ausgabe
+benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er schon ärgerlich
+und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem ältesten Bruder
+beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein
+Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertröstet, er bekomme bald eine
+neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich
+mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater
+stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen
+können?"
+</p>
+
+<p>
+"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.
+</p>
+
+<p>
+"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."
+</p>
+
+<p>
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+</p>
+
+<p>
+"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; wie du
+es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur,
+wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen würdet. Wenn
+man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen
+brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr
+müßt es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an
+Weihnachten Geld geschickt bekommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die Grammatik
+geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder
+meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt
+nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am nächsten
+Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es,
+nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig
+abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum
+Buchhändler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine
+Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, auch
+das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn freundlich an: "Es
+ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da wäre
+eben eine Droschke frei!"
+</p>
+
+<p>
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich
+hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. Aber das Lachen
+verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei zwanzig Grad Kälte!
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap10"></a>10. Kapitel<br/>
+Ein Künstlerkonzert.</h2>
+
+<p>
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt hatten,
+die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende Stimme der
+Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah
+und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen
+solchen Reiz ausübte.
+</p>
+
+<p>
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine
+letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie
+zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfäffling
+Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer
+lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Söhnen trennen zu sollen. Auf der
+Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer
+bedrückte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie
+zurückkehren mußten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+</p>
+
+<p>
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den großen
+Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den beiden Männern
+etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme
+fanden und trennten sie sich.
+</p>
+
+<p>
+"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, "um sich
+bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu überbringen. Übermorgen
+werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhören, vielleicht sehen wir
+uns im Saal!"
+</p>
+
+<p>
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz machen. Ein
+prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für das Empfangszimmer
+des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem
+ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling verwundert, als ihn der
+Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht
+einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe
+eines Zimmers aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind
+heute wieder vollauf in Anspruch genommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken als meine
+Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am
+nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen
+Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, daß er seit Weihnachten bei
+meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals,
+als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber
+erfolgreiche Operation."
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr
+bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was
+schreibt Ihr Sohn?"
+</p>
+
+<p>
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber
+nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über seine Tante, obwohl
+diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluß
+ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnügt er die
+Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert." Herr Meier warf einen
+Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn
+vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und
+ihm eine ganze Anzahl Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre Telegramme
+beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das Telephon."
+</p>
+
+<p>
+"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur
+Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie wissen, daß die
+Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die
+Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr
+zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt."
+</p>
+
+<p>
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur Zimmerbestellungen,"
+sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muß
+für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf
+fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde
+Ihnen immer dankbar sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling."
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
+verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal einen
+Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie wenig Unterschied
+war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und
+was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche
+Geschäftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schließlich hatten sie alle
+das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre
+<i>Kinder</i> sorgten sie sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte
+ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Frühlingsstraße,
+um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war in der Musikschule,
+seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schüler, die ihrem Lehrer
+seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drückten sich nun
+schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu
+vermitteln und teilten ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage
+verschoben hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für
+die Stunden beilegen wollten.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, wenn er
+zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in der Musikschule
+nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern
+der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling kam später als sonst und nicht mit
+seiner gewohnten fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der
+Ansicht, daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der
+Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige
+Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben
+worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. Manche
+konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling
+war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen
+Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit
+schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark
+beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt hätten, das
+hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun,
+wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man auf das Stundenhonorar
+wochenlang warten muß oder nicht! Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch
+eine Freikarte mehr schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit
+ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich
+neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, soll
+diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht
+sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die
+vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!"
+</p>
+
+<p>
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+</p>
+
+<p>
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen
+als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen
+würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen Hausfrau folgte die Mutter
+augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling sah ihr nach; von Erbitterung war
+nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt
+eine öde Zeit, wenn sie für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon
+überstanden."
+</p>
+
+<p>
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren
+besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte,
+neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das Künstlerkind wurde liebkost,
+mit Bonbons überschüttet, aber dennoch langweilte es sich heute und war
+verstimmt. Dem Fräulein, das für den kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn
+an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht
+gelingen.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde
+der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Künstlerin, um die
+Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Sängerin zu hören
+und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. "Ich bin in Verzweiflung," sagte sie,
+"unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem
+Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es
+versagen würde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so
+verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn
+aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder
+verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis
+es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafür, nicht wahr,
+und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor
+allem lustige Kameraden!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und verließ das
+Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das stand ein für
+allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. "Wo
+bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte er sich und dachte an seinen
+Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so
+viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei
+diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam
+ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und
+munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder <i>dieses</i> Mannes
+sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu
+Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine
+Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich bitten, mir
+sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des
+Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!"
+</p>
+
+<p>
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, und der
+Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis
+drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie sollten dem kleinen
+Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei."
+</p>
+
+<p>
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie waren
+gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? Marianne war
+nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto,
+Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, er geniere sich. Wilhelm
+konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem
+kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit
+ihm treiben, daß er kreuzfidel würde!"
+</p>
+
+<p>
+"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch
+zustande bringen. Und Frieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. Wo ist
+sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen
+Gestältchen."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu schüchtern? Wir
+wollen sie fragen."
+</p>
+
+<p>
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte
+in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brüder
+unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: "Leise,
+leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. Frau Pfäffling beugte
+sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach
+dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so
+traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm
+spielen?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann ich
+schon fort."
+</p>
+
+<p>
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze
+Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.
+</p>
+
+<p>
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob
+entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick von
+Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus
+dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das entspricht, wird
+sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der
+Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter
+der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater,
+langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun kommt mir,
+Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein
+wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig.
+Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er
+will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch."
+</p>
+
+<p>
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das "Herein", statt
+dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber Edmund, wer wird denn die
+Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn sonst tun?" hörte man eine
+weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem
+Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit
+einem Purzelbaum herein kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut
+heißen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein"
+war erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und
+einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu
+sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und
+sagte: "Wie macht man denn das?"
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in ihrer
+Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem nebenan liegenden
+Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte freundlich und dankbar Herrn Meier
+zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie
+zuging. Das Kind hatte ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich
+einführte, ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der
+mütterlichen Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte
+sie zu der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
+herein, bloß heute, weil er lustig sein will."
+</p>
+
+<p>
+"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist Edmund
+versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz
+gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein schien dieser
+Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurück und die
+Kinder blieben sich selbst überlassen.
+</p>
+
+<p>
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas sehr
+Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, blonde Locken
+umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und wohlgepflegt. Das
+ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, die mit ihrem
+träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele mehr als andere
+empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus,
+sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in
+seinem Gesicht, die ihn viel älter erscheinen ließen.
+</p>
+
+<p>
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich mit
+diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir möchte ich
+gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+</p>
+
+<p>
+"Was willst du tanzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der
+von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum Tanz
+führen.
+</p>
+
+<p>
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."
+</p>
+
+<p>
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, für so
+kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen.
+</p>
+
+<p>
+"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen Walzer
+vorpfeifen."
+</p>
+
+<p>
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im
+Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das
+Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. Edmund fuhr die Tanzlust
+in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. Sie wäre ja keine Pfäffling
+gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt hätte; niedlich tanzte das kleine
+Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden
+Wilhelm einher. Das Fräulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch
+der Vater trat unter die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer
+sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu
+seiner Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
+das Fräulein. Sie wußte es nicht.
+</p>
+
+<p>
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die Anmut
+selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+</p>
+
+<p>
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fräulein,
+daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu
+lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand alle Fröhlichkeit aus
+seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen möge, sich nicht umkleiden und
+seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernünftigen Vorstellungen des
+Fräuleins, die zärtlichen Worte der Mutter hatten nur Tränen zur Folge.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt doch
+vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so
+lange auf das Konzert!"
+</p>
+
+<p>
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er
+eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das Künstlerzimmer
+kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, während du
+singst und Papa spielt."
+</p>
+
+<p>
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht kommen,"
+sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den
+ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben für morgen." Da
+flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er drückte sein Köpfchen an die
+Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir
+ist gar nicht gut." Es sah auch tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine
+Bübchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie
+Edmund verweint und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so
+verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen,
+heute abend."
+</p>
+
+<p>
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand und
+hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern
+besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon,
+das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Endlich wandte sich der
+Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte er, "wenn du zu unserem Kleinen
+in das Künstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest
+eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist,
+kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst,
+wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt
+noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein
+Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," rief er,
+"ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern
+zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!" Und als er bemerkte,
+wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen zum Lachen überging, sagte er zu
+diesem: "Könntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und
+sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn
+er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
+so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut lachte
+und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn rasch zum
+Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde redete sie gütig zu:
+"Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir." Darauf
+hin folgte der Knabe willig dem Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm.
+"Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir
+uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem
+Künstlerzimmer fragen."
+</p>
+
+<p>
+"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt es."
+</p>
+
+<p>
+Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, "woher
+weißt du das Zimmer?"
+</p>
+
+<p>
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+</p>
+
+<p>
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser Konzert?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr
+darüber freuen, als mein Vater!"
+</p>
+
+<p>
+Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei schlüpfte sie,
+so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld,
+heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch
+wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich
+rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn
+aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder
+entlassen.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, schnell,
+Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um
+halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+</p>
+
+<p>
+So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr erreichte,
+obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel.
+</p>
+
+<p>
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." Wilhelm
+wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und kommen viel
+früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber die Hand des großen,
+stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurück.
+"Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine Droschke geholt werden soll, es ist
+für dies kleine Mädchen ein weiter Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber
+wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen
+und einen Wagen holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde
+im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen
+Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.
+</p>
+
+<p>
+"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen bis nach
+Rußland."
+</p>
+
+<p>
+"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten Woche nach
+Berlin reist."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah erstaunt auf
+die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das gesagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+</p>
+
+<p>
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat
+heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun
+kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu
+setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der Wagenschlag
+für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und sie selbst sorgsam
+hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie
+durch die schön beleuchteten Straßen, dann durch die stillen Gassen der
+Vorstadt und endlich bogen sie in die Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater
+nicht daheim ist, müssen alle auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl
+und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß
+das Billet zu rechter Zeit bekommen!"
+</p>
+
+<p>
+In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau Pfäffling,
+die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie kommen!" Herr
+Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine
+Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestört wurde, wie
+viel schöner es wäre, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als
+über Musik zu lesen, Herr Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das
+können die Kinder sein, ob <i>sie</i> wenigstens etwas gehört haben in der
+Künstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich
+fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem
+Mann: "Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit
+kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand
+inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so
+flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner
+Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein
+Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch
+Herr Pfäffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm
+erwartet hätte, enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser
+fröhliche Ausruf der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um
+möglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!"
+der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal
+überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau
+Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht überrannt zu werden, wollte
+eben die Haustüre zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen,
+nachkommen sah. "Da hat es wieder so pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß
+sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm
+die Hand und schloß für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der
+Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht
+um sie gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und sagte,
+auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie du das machen
+mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du mußt nur dicke,
+dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schöner
+aus als das Holz da!"
+</p>
+
+<p>
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+</p>
+
+<p>
+Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet hatte sich
+allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die Erlebnisse im Zentralhotel
+überstürzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen für das Abendessen
+beschleunigt, damit Herr Pfäffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des
+Konzertes kommen konnten. Frau Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und
+auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl
+fühlt," sagte sie zu Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit
+Spässen bei guter Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und
+war zu vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit dem
+ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso strahlte,
+während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann
+unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert
+richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte
+Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm
+allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem
+Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen
+willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber über dem
+Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen
+ein: "Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und
+gelacht," sagte Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los
+mit ihm."
+</p>
+
+<p>
+So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem schon
+dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachträglich
+zu verdienen.
+</p>
+
+<p>
+Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begrüßten hier
+die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin allerlei Aufmerksamkeiten
+und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweißem Anzug da und
+lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid
+reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds
+Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja
+keine Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im Hintergrund
+des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das
+Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er
+hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für Edmund mitgebracht, soll ich
+ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" "Später, wenn wir allein sind und Edmund
+schwierig wird," sagte das Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar
+Augenblicke später kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es
+Zeit, Herr Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre Plätze
+im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide der Sängerin
+glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der
+der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," die Mutter drückte rasch
+noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne
+Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein
+paar Stufen nach dem erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das
+Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden
+Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hörte das mächtige
+Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann
+hinter ihnen die Türe und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die
+Menschenmenge entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das
+Nebenzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat unser
+kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte
+er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund antwortete nicht.
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat vorhin
+darnach gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen
+sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht ganz
+dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn dich
+Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu weinen.
+Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, Kind," tröstete
+sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit
+verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die Tränen, Weismann hielt es für
+klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm ließ den Kreisel tanzen; halb
+widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen
+geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich
+horchte er auf. Ein Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.
+</p>
+
+<p>
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß noch
+einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und
+kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag
+nicht gern wiederholen, aber man muß."
+</p>
+
+<p>
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so etwas
+habe ich noch gar nicht gehört."
+</p>
+
+<p>
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher
+schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun
+die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von
+Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer zurückkam, rief er ihr
+fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die Mutter beugte sich zu ihm und
+sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf
+Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+Im Saal erklang der Konzertflügel.
+</p>
+
+<p>
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an das
+Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, wenn das
+Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir bange, wenn ich
+vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich spielt, hat diese große Angst
+jede andere vertrieben. Wir hätten es nie anfangen sollen." Tröstend sprach das
+junge Mädchen der Mutter zu: "So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn
+alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz,
+mehr als über Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und
+hat seine Sache immer gut gemacht."
+</p>
+
+<p>
+"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht auch
+trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen Sie, Fräulein!"
+</p>
+
+<p>
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen lassen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen nicht
+müde sein vor dem Violinspiel."
+</p>
+
+<p>
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. Eine
+gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als
+verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er
+aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also <i>mußten</i> ihm Gedanken
+kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der
+Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall
+den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit
+der Violine zu folgen.
+</p>
+
+<p>
+"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," sagte er
+munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine
+Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den Türspalt, wie er
+seine Sache macht!"
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie der
+Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in kindlicher Weise
+den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel
+begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und
+deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal.
+Mit denselben träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt,
+hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser Kleine
+war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja
+klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich eines Mannes. Aber
+reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken und eine staunenswerte
+Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den Zuhörerinnen war manche zu
+Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein
+Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das
+Podium, um dem kleinen Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein
+kindliches Alter berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien,
+waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe,
+die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes,
+freundliches "Danke!" rufen.
+</p>
+
+<p>
+In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren,
+und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: die Mutter war über
+die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg glücklicher, als über den eigenen;
+auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal
+vorzuspielen, freilich ein schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne
+Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die
+begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer
+eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und
+siegesgewiß trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein
+zurück bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.
+</p>
+
+<p>
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche
+Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte sich buchstäblich
+auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat,
+setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an
+das Fräulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er
+schlief ein. Sie ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends,
+während sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das
+Edmunds Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat
+es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam
+vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie das Kind
+vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten ihm
+Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf
+gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, daß er noch
+einmal vorspiele.
+</p>
+
+<p>
+Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große Menge
+sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der Vater ihr
+soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+</p>
+
+<p>
+"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner Frau, "sie
+helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund reden." Er führte
+das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu Bette
+gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein
+ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur ein einziges Stück
+spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben
+die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafür Musik versprochen und muß
+mein Versprechen halten. Du mußt das deinige auch halten, dann erst darfst du
+dich zu Bette legen. Aber eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst,
+daß du dich tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des
+schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die
+du so gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht schön
+vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist
+es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, daß
+du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte
+der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab
+dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf.
+"Vater," fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+</p>
+
+<p>
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der Vater.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der
+Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des Künstlers zugute zu
+halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er möchte Ihnen lieber eine Romanze
+von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches
+Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß
+ihnen damit die Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte
+der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+</p>
+
+<p>
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten hatten
+keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und
+seinem einschmeichelnden Spiel.
+</p>
+
+<p>
+Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen,
+und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, die den Kleinen in
+zärtlichen Armen empfing.
+</p>
+
+<p>
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," sagte der
+Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum Droschkenplatz, nicht
+wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor dem
+Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu sehen.
+Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam
+hatte erwärmen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts,
+und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den
+Masern erkrankt.
+</p>
+
+<p>
+Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank darnieder,
+und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie manchmal mit
+Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich auftreten mußte, ehe
+es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap11"></a>11. Kapitel<br/>
+Geld- und Geigennot.</h2>
+
+<p>
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte täglich
+und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß des russischen
+Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden beigelegt sein sollte, aber
+es kam nichts. So mußte die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben
+haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die
+Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden
+sein. Herr Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit Familie
+gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach Berlin, wo er
+eine Woche verweilen wolle.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu
+sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und
+sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle geschäftlichen Angelegenheiten
+aufs pünktlichste geregelt und großmütig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist
+durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine
+Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie das Honorar
+überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die
+Abreise sei verschoben worden, die Eltern würden deshalb noch schriftlich ihren
+Dank machen. Glauben Sie, daß es von Berlin aus geschehen werde?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, ohne
+vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von
+einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Söhne
+ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld ist in den Händen der jungen
+Herrn hängen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie
+sind etwas leichtsinnig, die Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und
+streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich
+noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt
+übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise
+sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon über
+der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein paar Tage
+gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe
+die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling.
+Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus
+keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den
+Hergang erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne,
+wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist
+gut."
+</p>
+
+<p>
+In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren
+Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er dann, "daß mein
+Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir
+brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Nötigerem als diese
+leichtsinnigen Burschen."
+</p>
+
+<p>
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter Stimmung,
+langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," sagte er, "was
+meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich ordentlich gegen das, was sie
+schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht
+ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der
+verbrecherischen Handlung seiner Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut
+hätte, sieht man ja, er hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er
+das erfahren müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die
+ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von
+seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für Eltern. Soll
+ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du,
+Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich
+bringst," entgegnete Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz all dem
+Leid, was daraus entstehen muß?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es heilsam, wenn
+der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies ist ja immerhin die
+Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder
+verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Söhne über die
+verschobene Abreise nicht erklären könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar
+so nötig."
+</p>
+
+<p>
+"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich würde
+meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine Weile überlegend
+auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren
+alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den
+Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun
+machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert
+Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen
+das kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort:
+Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen
+General ungeschrieben.
+</p>
+
+<p>
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen
+und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über die schnöde
+Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters,
+der aus Rücksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte,
+priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen,
+die die Eltern sich auflegen mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und
+wandten sich am Schluß mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen
+Leute mit der Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner
+schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann
+setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den
+älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte
+nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den
+Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten sie sich nun
+in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld zurückkommen, an dem
+Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Überraschung, welche Freude mußte
+das geben!
+</p>
+
+<p>
+Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz anders
+erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am nächsten Morgen auf
+dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum lassen wir eigentlich den
+Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" Wilhelm und Otto wußten Gründe genug.
+"Weil sonst keine Überraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich
+sind und keinen Verdacht äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag
+ist; weil der Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde;
+weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
+wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, nicht lange
+vorher fragen."
+</p>
+
+<p>
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den
+Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brüder
+drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht werden, sonst ist's ja
+keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, was kann denn der Brief
+schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt er nichts, aber schaden kann er
+nichts, das mußt du selbst sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden
+sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief
+nicht herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte
+er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir
+heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es
+doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen."
+Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm
+blieb dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem
+dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es
+gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte die
+Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie
+wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt
+wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen,
+hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling
+zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen.
+Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist
+gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie gestern noch bei Nacht
+geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg
+mitgenommen hätten. Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die
+Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwörung, das Geld
+zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich angeführt.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
+veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf
+die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über diese Wirkung und
+verstummten.
+</p>
+
+<p>
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr auch an
+Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die
+Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der
+Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt keinen Brief
+mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. Nun erfährt er durch
+euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte.
+Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort
+fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht begierig,
+Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu können. Da
+drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: "Fort ist der Brief noch
+nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!"
+</p>
+
+<p>
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei schon
+abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich gewesen für
+den Vater, für den General und auch für euch, denn wir hätten nie mehr etwas in
+eurer Gegenwart besprochen, hätten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr
+euch heimlich in solche Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie
+doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+</p>
+
+<p>
+"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau Pfäffling,
+"ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen Leute, aber was
+nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewißheit wäre.
+Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten Richter einen Menschen verurteilt
+haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und später stellte sich
+doch heraus, daß er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug
+sein."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. "So,
+wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, "so kann man
+freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Söhne zu wenden, ist
+vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der
+Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte
+verausgaben sollen. Ich müßte an sie schreiben, sobald der General und seine
+Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen
+Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in
+dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern
+gerne schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber
+sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens
+den Versuch machen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr
+Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler willen. Aber wie eine
+Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld
+in den Schoß, rief vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick
+schon wieder verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der
+jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstück,
+weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber
+Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt
+hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du
+weißt nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur
+kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber
+nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+</p>
+
+<p>
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung
+über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß es Herrn Pfäffling
+nicht früher möglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der Pfäffling
+nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?"
+</p>
+
+<p>
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die sich
+nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja bloß
+Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß er seine zehn
+Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die große Familie
+aufnehmen wollte."
+</p>
+
+<p>
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich keine
+so gesalzene Rechnung geschickt!"
+</p>
+
+<p>
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+</p>
+
+<p>
+"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."
+</p>
+
+<p>
+"Gar nicht ähnlich."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Doch!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein!"
+</p>
+
+<p>
+Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten
+hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit einem
+bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."
+</p>
+
+<p>
+Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer Bett, hatte
+aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich über den heutigen
+Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte
+sie sich an Frieder heran, der geigend in der Küche stand, und bat
+schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und
+spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör
+auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er
+endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die
+Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu
+Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!"
+rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen.
+Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder
+die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach
+der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die
+andere Türe hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und
+spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe.
+"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du
+hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger
+ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen
+hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele
+bis ich fertig bin."
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen weinend
+auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er tut's doch nicht,
+vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!"
+</p>
+
+<p>
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr
+durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige sinken, legte
+den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?"
+fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du
+über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, dann ist's wohl besser, das
+Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich will hören, was der Vater meint."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was geschehen
+würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die
+Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im Zimmer. Frieder wagte
+kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: "Es ist
+mir leid."
+</p>
+
+<p>
+"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du bloß im
+Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann könnte ich dir das
+leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du aufhören solltest und
+magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft
+streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn
+ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das
+wäre gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern
+jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen
+folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer,
+aber für Jahr und Tag. Gib sie her!"
+</p>
+
+<p>
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie nun
+plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen Schritt vom
+Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so bestürzt, daß es fast
+einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt
+hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur
+dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob
+den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er
+ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du
+das?" und ernst fügte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun
+gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten
+sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern
+zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument
+leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist dir
+deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in seiner
+Stellung.
+</p>
+
+<p>
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du auch
+den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du
+erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum Vorplatz weit
+aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du fremdes Kind!" Da verließ
+Frieder das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die
+Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfäffling ging erregt
+hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter
+Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das Kind da soll gehalten werden
+wie ein armes Bettelkind. Es darf hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da
+auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie
+ihm den Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen
+Vater und keine Mutter mehr hat."
+</p>
+
+<p>
+Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an sich, die
+sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte sie, "Frieder
+wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, daß er
+sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles
+wieder gut."
+</p>
+
+<p>
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie
+rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war,
+ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf
+dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte,
+vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er
+sonst bekommt," sagte Herr Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns
+treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen."
+</p>
+
+<p>
+So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, kamen ihm
+Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war
+leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der Kinder.
+Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche—dann
+verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder wehgetan, er wußte nicht
+warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem
+Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich
+die Musik das Menschenherz bewegen kann.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten
+darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr Pfäffling
+verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige
+auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu
+ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile später, als Herr Pfäffling in seinem
+Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und
+trug mit beiden Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen,
+schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug
+sah auch der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+</p>
+
+<p>
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf
+die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den Pack ab,
+legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in
+warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!" Und
+Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus.
+</p>
+
+<p>
+Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder seine
+Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie
+zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen
+angesehen!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie kann man
+nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau Pfäffling, "mir
+ist das ganz unverständlich."
+</p>
+
+<p>
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte
+nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das wäre, wie
+wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist,
+ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird
+es leichter mit Maßen treiben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln können, daß
+er einmal ein Musiker wird."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap12"></a>12. Kapitel<br/>
+Ein Haus ohne Mutter.</h2>
+
+<p>
+So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau Pfäfflings
+Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer ausgemachten Sache, obwohl
+niemand hätte sagen können, an welchem Tag sie die Ansicht aufgegeben hatte,
+daß die Reise ganz unmöglich sei.
+</p>
+
+<p>
+Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, und
+als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling sagen:
+"Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid praktisch ist."
+</p>
+
+<p>
+"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu sehen, wie
+sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, trug sie "auf alle
+Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht reisen, wenn das Reisekleid
+fertig im Schrank hängt und die besten Zugverbindungen herausgefunden sind? So
+war es denn wirklich soweit gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar
+für einen bestimmten Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte,
+die mit herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
+Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen
+mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+</p>
+
+<p>
+Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große Aufregung in
+die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle und Meinungen kund,
+bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen aufgeregten Schwarm
+hinausscheuchte.
+</p>
+
+<p>
+"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir entschlossen
+sind," sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der Schule
+sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling heißt!"
+</p>
+
+<p>
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die Kinder
+zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf sich gerichtet.
+Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," sagte sie, "und ich
+will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten Reise ist auch der
+<i>halbe</i> Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn die gute Großmutter für
+dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn
+daheim die Türe aufmachen, wenn es klingelt, während alle in der Schule sind?
+Walburg hört das ja nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die
+kommen. Du mußt unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht
+daheim wärest, könnte ich gar nicht reisen."
+</p>
+
+<p>
+Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben mußte.
+Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, denn was wußte
+Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust und Erlebnissen? Für
+sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und Merkwürdiges genug brachte. So
+kam es zur Verwunderung der großen Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen
+bei der kleinen Schwester, die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie
+nicht mit hinunter gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es schwer ums
+Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst hätte sie ihren
+Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie sehnlich sie erwartet wurde,
+es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles
+voraus bedenkend, hin und her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche,
+Keller und Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte,
+überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so
+nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes
+Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, wo sie
+oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+</p>
+
+<p>
+"Was denn, Kind?"
+</p>
+
+<p>
+Es wollte nicht über seine Lippen.
+</p>
+
+<p>
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+</p>
+
+<p>
+"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater deine
+Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir ja auch der
+Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu meinem eigenen
+Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so lieb hat, das verstehst
+du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie
+wird das köstlich werden!"
+</p>
+
+<p>
+So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.
+</p>
+
+<p>
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein Wort:
+"Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig wegen seiner
+Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es schon
+gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, neigt den Kopf
+nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, wie wenn er den Bogen
+führte, und dann hört er die Melodien, das sieht man ihm gut an. Da tut er mir
+oft leid."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die erste
+Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und wenn nun der
+Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am Kasernenhof turnen könnt,
+dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm Lust. Und noch etwas: ich meine,
+deine Mathematikstunden mit Wilhelm werden nimmer regelmäßig eingehalten."
+</p>
+
+<p>
+"O doch, Mutter."
+</p>
+
+<p>
+"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber nicht
+genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm wieder eine so
+schlechte Note bekäme!"
+</p>
+
+<p>
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf verlassen!"
+</p>
+
+<p>
+Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in die
+Holzkammer.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran dürft
+ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in dieser Zeit
+alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und Kohlen sorgen."
+</p>
+
+<p>
+Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie möglich
+alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die Stiefel
+schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und anziehen, als es
+darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag vom Kochen fortspringen
+muß."
+</p>
+
+<p>
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und am
+Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch einmal Nadel
+und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an einem Kinderkleid
+auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja aus dem Wagenfenster
+kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich der Zug durch eine kaum
+hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache machte, daß Frau Pfäffling
+verreist war.
+</p>
+
+<p>
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine Weile im
+alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr selbst nur das
+Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts nützen konnte. Zugleich
+verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen der Stadt, freie, noch mit
+Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten auf, eine stille, einförmige Natur.
+Da machte sie es sich bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab
+sich darein, daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine
+wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer
+Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann mit den
+Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie machten sich
+an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten Gang. Nur Elschen
+lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen Zimmer, die andern
+empfanden die Lücke erst so recht bei dem Mittagessen. Es verlief auffallend
+still. Eigentlich war ja Frau Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann
+und ihre Kinder waren lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben
+können, eine so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch
+gegeben. Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu tun
+machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein, daß Karl
+für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und so nacheinander
+herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem jüngern. Anfangs machte
+es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so friedlich und so säuberlich zu
+wie bei der Mutter, und Walburg wunderte sich, daß sie bald eine noch fast
+gefüllte, bald eine ganz leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein
+regelmäßiger Verbrauch mehr wie bisher.
+</p>
+
+<p>
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden, wo sie
+allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten doch nicht
+viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die
+Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser
+nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese
+bildeten ein gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn.
+</p>
+
+<p>
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes Wiedersehen
+zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht ganz ohne Wehmut.
+Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges Großmütterlein, das da im
+Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe von einem Zimmer in das andere
+zu gehen! Und wiederum, wo war Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch
+deutliche Spuren hatte die Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen
+eingegraben!
+</p>
+
+<p>
+Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach einigen
+Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden wieder die
+geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu trauriger
+Empfindung da, denn die <i>alte</i> Frau hatte keine Schmerzen zu leiden, sie
+genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege der unverheirateten
+Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die <i>junge</i> Frau, wenn man
+Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit solcher Liebe von ihrem großen
+Familienkreis und schien so gereift durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen
+deutlich zum Bewußtsein kam, das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit
+Köstliches gebracht.
+</p>
+
+<p>
+Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, die noch
+ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte die Schwester in
+das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte Gastzimmer, zog sie an
+sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun soll dir's gut gehen! Du
+wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts tue ich
+lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen und
+herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das anschlägt, da
+kann man viel erreichen in vier Wochen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das nicht
+in <i>drei</i> Wochen erreichen?"
+</p>
+
+<p>
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich vier
+Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an
+vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du mich
+darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen Haushalt, Mann,
+sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. Es kommt so oft etwas
+vor bei uns!"
+</p>
+
+<p>
+"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber es ist
+so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen haben könnte,
+bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal anfängt, und selbst,
+wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten
+genug: Elschen muß vormittags immer allein die Türe aufmachen und Bescheid
+geben, das ist unheimlich in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht
+überzeugt bist, Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn
+mein Mann einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"
+</p>
+
+<p>
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, wenn ich
+etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der nächsten Woche komme.
+Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so lebhaft wie früher und die
+meisten unserer Kinder haben sein Temperament. Da gibt es nun bei solch einer
+Nachricht immer gleich einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und
+hören können!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches Leuchten
+ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz jugendlich, gar nicht
+pflegebedürftig aus.
+</p>
+
+<p>
+Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei Wochen
+geeinigt.
+</p>
+
+<p>
+Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war für
+Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der Mutter sitzen
+zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles Verständnis war da zu finden
+für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch stand die Mutter selbst schon fast
+<i>über</i> dem Leben. Einen weiten Weg hatte sie in achtzig Jahren
+zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, überblickte sie das Ganze wie aus der
+Ferne. Da sieht sich manches anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der
+Höhe herab erkennt man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören
+wollte, der konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen.
+Frau Pfäffling war von denen, die hören wollten.
+</p>
+
+<p>
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu diesem
+Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings einziger Bruder
+ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein
+erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen
+Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen,
+aber aus der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets
+Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder
+ins Auge zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu seiner
+Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, eine
+Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in einem kleinen
+Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in diesem Februar noch
+überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht streng, die Fahrt eine
+Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten zurück, in dem mit andern Gästen
+ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so
+wohlerzogen. Wenn du meine Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein
+wenig ungehobelt vor."
+</p>
+
+<p>
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als du, sie
+gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird damit oft
+kaum fertig."
+</p>
+
+<p>
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel miteinander,
+wie ist das bei euch?"
+</p>
+
+<p>
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. Sie haben
+ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur sollte man sich eben
+mehr mit dem einzelnen abgeben können."
+</p>
+
+<p>
+"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. Ich
+fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist das Fräulein
+zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei Dienstmädchen, und mit unserem
+Jungen werden sie oft alle drei nicht fertig."
+</p>
+
+<p>
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören über
+einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er beabsichtigte
+in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, dabei durch
+Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu besuchen.
+</p>
+
+<p>
+An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach dieser
+Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein besprach. Wenn auf der
+einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen wenig, auf der einen Seite
+Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der andern alles reichlich, warum sollte
+man nicht einen Ausgleich versuchen? Bruder und Schwägerin machten den
+Vorschlag, einen der jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die
+Sache wurde überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte
+mit ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der
+Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am
+besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf der
+Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein baldiges
+Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und in der Umgebung
+der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie erfuhr doch
+nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die Losung ausgegeben:
+"Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, sonst ist der Mutter der
+Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst mündlich erzählt." So gingen denn
+Nachrichten ab über gelungene Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über
+einen Maskenzug und Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel
+und über der Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr Pfäffling
+von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: "Haben Sie heute nacht
+nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen oder dergleichen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört."
+</p>
+
+<p>
+"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die zweite
+Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der Kinder so
+Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der Schlafzimmer kommt der
+schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, ich habe schon die Kinder
+danach gefragt, aber nichts erfahren können."
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf. Er
+fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die Tafelrunde an.
+Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts verrieten von nächtlichem
+Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings blaß und überwacht aus, ernst und
+fast wie von Schmerz verzogen. Das war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er
+beobachtete sie eine Weile und machte sich Vorwürfe, daß er das bisher
+übersehen hatte. Wenn die Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch
+ohne der Hausfrau Mitteilung.
+</p>
+
+<p>
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die Schwestern
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.
+</p>
+
+<p>
+"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr Pfäffling,
+"weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch auch darüber gern
+die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in den Augen den Kopf, und
+Herr Pfäffling wußte, woran er war.
+</p>
+
+<p>
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter nicht da
+ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun auch und er
+erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren bei Nacht heftig
+geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das noch vom vergangenen
+Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte alles nichts geholfen und
+erst gegen Morgen waren die Schwestern eingeschlafen. So war es schon zwei
+Nächte gewesen. Sie hatten es dem Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte
+nicht zum Ohrenarzt geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete
+auch die große Neujahrsrechnung.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des Arztes.
+Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern vorgehalten, daß
+Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn etwas versäumt würde.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei Unzertrennlichen
+rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so ängstlich aus wie die kranke,
+sie zuckte wie diese beim Schmerz, und doch kam sie immer als treue
+Begleiterin. Diesmal konnte er beide trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte
+er, "das gibt keine so böse Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel
+schüttet weg, das macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes.
+Wenn eure Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe noch auf
+die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die gehört dazu."
+</p>
+
+<p>
+Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
+gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, daß
+Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar nichts mehr?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr sagen, aber
+es wird alle Jahre schlimmer."
+</p>
+
+<p>
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+</p>
+
+<p>
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz gewiß, daß
+man ihr nicht helfen konnte.
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der Arzt,
+"schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt daheim, das
+gehe auch noch in die alte Rechnung."
+</p>
+
+<p>
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten sie sich,
+den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen sie es auch
+Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um sie handelte, und
+ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere Mutter zurückkommt,
+werde ich so frei sein."
+</p>
+
+<p>
+Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.
+</p>
+
+<p>
+Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum gestrigen
+Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie volle acht Tage
+früher heimkommen würde, als verabredet war.
+</p>
+
+<p>
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen vom
+Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, diese letzte
+Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+</p>
+
+<p>
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte einmal
+Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn so zeitig?
+Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, "ich habe es
+manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum Frühstück gekommen?" Es
+wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte es sich heraus, daß Frieder
+immer schon abends den Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst
+wohl, es kommt dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl
+und wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er
+Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg
+mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt.
+</p>
+
+<p>
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; ja im
+Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die jungen
+Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat gesorgt und Walburg
+mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. Während dieser Zeit wurde
+geklingelt und Elschen lief herzu, um aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn
+Pfäffling, dann nach dessen Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß
+sie alle fort seien, bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines
+Briefchen an Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von
+ihm, und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
+Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den Schreibtisch,
+wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte der Herr, "du kannst
+nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, den Brief für deinen Vater
+lasse ich hier liegen." Elschen verließ das Zimmer. Nach einer ganz kurzen
+Weile kam der Herr wieder heraus.
+</p>
+
+<p>
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam keine
+Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die Treppe hinunter
+und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben heraufkam.
+</p>
+
+<p>
+"Wer war da?" fragte diese.
+</p>
+
+<p>
+"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins Ohr;
+weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen zu unbequem,
+Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim Mittagessen fiel ihr die
+Sache wieder ein und sie erzählte sie dem Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo
+ist denn der Brief?" fragte er. Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu
+finden! Und wo war denn—ja, wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade
+jahraus, jahrein seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit
+allen sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft
+schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in dieser
+Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was die Familie
+Pfäffling am Leben erhielt.
+</p>
+
+<p>
+Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich eingeschlichen,
+hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen Pfennig fürs tägliche
+Brot!
+</p>
+
+<p>
+Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte ihr
+gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die bestürzten
+Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht
+und fragte bloß: "Gestohlen?"
+</p>
+
+<p>
+Und nun flogen Vorwürfe hin und her.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den Schreibtisch!"
+warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja gar kein Dieb, es war
+ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie nahm sie in Schutz. "Sie kann
+nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz getragen habt, wegen euch hat
+Walburg hinunter gemußt!"
+</p>
+
+<p>
+"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.
+</p>
+
+<p>
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder wagte
+zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir wollen ihr
+schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal niemand zu beruhigen,
+es war so traurig, zu denken, daß man sie mit solch einer Botschaft empfangen
+sollte! Karl und Marie hatten leise miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie
+jetzt, "wir alle zusammen haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März
+kommt wieder dein Gehalt. Wir sparen recht."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe auch
+noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die Steuer
+zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel abgezogen hätte, wäre
+vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin und wieder, bis ihn ein Wort
+Walburgs stillstehen machte, das Wort: Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß
+der Dieb ausfindig gemacht werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden
+konnte. Ja, sofort Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige.
+Elschen sollte mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur
+schnell, schon waren viele Stunden verloren!
+</p>
+
+<p>
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie setzten
+sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede knöpfte ihr einen
+Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die Brüder wollten ihr die
+Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, erklärten dann Handschuhe für ganz
+übertrieben und die Kleine sprang ohne solche dem Vater nach, der schon an der
+Treppe stand und nun mit so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging,
+daß das Kind an seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.
+</p>
+
+<p>
+Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger Musiker, der
+angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel betroffen worden und
+mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn aufzufinden.
+</p>
+
+<p>
+Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling abgegangen
+war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand schreiben mögen. So
+aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in großer Trübsal waren, einen
+dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem ihr eine ganze Anzahl
+Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll Jubel über das unerwartet nahe
+Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine Freude selbst aussprechen wollen.
+Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim
+inzwischen vollkommen umgeschlagen war.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich zu
+erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker gefahndet
+worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso am nächsten Tag
+in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, wurde ihm bedeutet, daß er
+sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm Nachricht zukommen.
+</p>
+
+<p>
+Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter mit einer
+so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die rechte Freude
+des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war unschlüssig, ob er die Nachricht
+nicht doch vorher schriftlich mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der
+Hoffnung auf Festnahme des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben
+entschloß, daß der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der
+Abreise seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der
+Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," sagte
+sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten Gruß von daheim
+bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die Mutter, "auch
+dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das Wiedersehen nicht
+verderben, wenn du nun siehst, daß manches in Unordnung geraten ist während
+deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein hier war so schön, das ist doch auch
+eines Opfers wert."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag irgend
+etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du daheim bist.
+Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht mehr als einundzwanzig
+Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht beklagen, darfst nicht
+behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und nicht gleich erklären: ich
+reise nie mehr."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr fern,
+nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich mit schwerem
+Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester, die sie so treulich
+gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem
+abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise antrat.
+</p>
+
+<p>
+Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei Wochen
+waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein Keimen und
+Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch schien ihr die Zeit so
+weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist war! Jetzt war ihr Herz noch
+vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte sich schon und drängte gewaltig in den
+Vordergrund die Freude auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der
+so von Lieben zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen
+wird. Wer kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim
+reist?
+</p>
+
+<p>
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes doch nicht
+lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben können. Die Kleinen
+hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis Samstag schon halb
+vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, aber doch mit dem
+unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her gehöre, je schwieriger die
+Lage im Haus war.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als er am
+Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof eilte. Er kam dort
+fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in ungeduldiger Erwartung der Kinder,
+die von der Schule aus kommen sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und
+winkte mit seinen langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl
+und Otto auftauchen sah.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof begrüßen
+sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, "und soll nicht
+gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an den Marktplatz
+entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der Frühlingsstraße und Elschen soll
+die Mutter an der Treppe empfangen, denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause
+sein."
+</p>
+
+<p>
+So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem Vater an
+die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch sie nicht
+vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges Vorrecht. Sie standen
+alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, während der Zug einfuhr,
+entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus dem Wagenfenster forschend nach
+ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie sich dann plötzlich ihre Züge
+verklärten, als sie den Vater erblickte, der, dem Schaffner zuvorkommend, die
+Türe ausriß und mit froher Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.
+</p>
+
+<p>
+Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen und
+Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge hinaus auf den
+Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein können mit ihrem Erfolg,
+denn die Verwunderung über der Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu
+einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn
+nicht Frau Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob
+die Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung
+erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam
+aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob!
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch krank
+sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer geschrieben
+habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete ein wenig bedrückt.
+Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen ist, bekümmert mich gar
+nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn.
+"Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig
+geworden auf der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz,
+wo ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und
+jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+</p>
+
+<p>
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der Ecke der
+Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte Frieder gewartet
+und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem Augenblick, als die Familie
+um die Ecke bog, sah er doch gerade in anderer Richtung.
+</p>
+
+<p>
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o Mutter!" rief
+er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn zärtlich und sagte ihm
+freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines Dummerle, wir sind ja jetzt
+wieder beisammen!"
+</p>
+
+<p>
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber die
+Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu ihr auf, ging
+dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie, im Hausflur
+angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die Jüngste
+aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon auf der Treppe
+mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum Empfang eine Torte
+geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen
+großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe.
+</p>
+
+<p>
+Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. Sie
+hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen können, an
+dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was konnte man von
+Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling verlassen, ihr hatte sie
+das Haus übergeben, und wenn sie nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen
+hätte, so wäre kein Unglück geschehen.
+</p>
+
+<p>
+Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf dem
+langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis erfahren
+hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein Vorwurf sein würde.
+Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort fürchtete sie zu hören, das sie
+schon einmal schwer getroffen hatte, das Wort: "ich will lieber eine, die
+hört!" Darum stand sie so starr und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr
+erschrak, als sie nun an der Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick
+durchzuckte sie der Gedanke: es ist <i>doch</i> etwas Schlimmes vorgefallen,
+aber im nächsten Moment sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur
+vergessen, wie groß, wie ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen
+mit herzlichem Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den
+Händedruck, den freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde
+ihr leicht ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß
+schloß mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."
+</p>
+
+<p>
+Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe sie noch
+nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern angerufen: "Dein Koffer
+kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ ihn in das Schlafzimmer bringen
+und nahm aus ihrem Täschchen ein Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der
+neben ihr stand, sah begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch
+viel Geld," rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein
+Frieder nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die
+Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie
+nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel
+verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber Vorwürfe. Aber
+viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, dadurch sollte kein
+Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun kommt nur,
+der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön gedeckt, Walburg hat
+gewiß etwas Gutes gekocht."
+</p>
+
+<p>
+Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter wieder,"
+sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet ist."
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau Pfäffling
+und sie sprach mit innerer Bewegung:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute<br/>
+Hier vor dir stehen!<br/>
+Du schenkest uns die schönste Freude,<br/>
+Das Wiedersehen.<br/>
+Nun gehn wir wieder eng verbunden<br/>
+Durch Lust und Leid,<br/>
+In guten und in bösen Stunden<br/>
+Gib uns Geleit!"
+</p>
+
+<p>
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee machen
+müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu gedeckt. "Sollen
+wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," sagte die Mutter. "Nein,
+erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein und schickte die Kinder hinaus.
+"Zuerst kommt etwas anderes," sagte er nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine
+Beichte," und er führte sie an den Schreibtisch und zog die kleine leere
+Schublade auf, deckte auch das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte
+lag. Dieser Stand der Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte.
+"Ich habe schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte
+sie, "aber daß <i>gar</i> nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich
+gehalten, wie <i>kann</i> man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja
+gar nicht zustande!"
+</p>
+
+<p>
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich gespart;
+gestohlen ist es, gestohlen!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die Nachricht
+erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien festgenommen, aber das
+Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung mehr, es zurück zu erhalten. Aber
+unentbehrlich war es und mußte auf irgend eine Weise wieder hereingebracht
+werden.
+</p>
+
+<p>
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß derselben
+war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es gelingen, das ist ein
+guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: "Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap13"></a>13. Kapitel<br/>
+Ein fremdes Element.</h2>
+
+<p>
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag auch
+den Kindern mitgeteilt werden.
+</p>
+
+<p>
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur gleich im
+rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. "Hört einmal,"
+sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch das sich der
+Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können uns allen helfen.
+Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!"
+</p>
+
+<p>
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne sein,"
+schlug Karl vor.
+</p>
+
+<p>
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," meinte
+Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die Blicke aller
+anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in ihren vertragenen
+schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre blonden Zöpfe waren mit
+schmalen blauen Bändchen gebunden.
+</p>
+
+<p>
+"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
+Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn ihr eure
+Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen etwas anderes."
+</p>
+
+<p>
+"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch mehr
+einbringt."
+</p>
+
+<p>
+Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich will es
+euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr Beiden zieht
+in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an einen Zimmerherrn
+vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das
+muß euch doch freuen? Die Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer
+herausräumen und eure Betten hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz
+nach eurem Belieben einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand
+darein; aus den alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur
+wollt."
+</p>
+
+<p>
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, aber
+zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und betätigten:
+"Ja, es wird sein!"
+</p>
+
+<p>
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in Zukunft auch
+ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in großer Begleitung.
+Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die Hauptpersonen. Sie schlossen
+ihr künftiges Revier auf. Es war ein kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und
+einem Dachfenster. "Kalt ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im
+Sommer ist's immer ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete
+Marie. "Da hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch
+das Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends kann
+Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen in ihrer
+Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr Häuschen gedrungen
+ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und wie eine dicke Schlange
+durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? Wie wäre sie glücklich gewesen
+über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."
+</p>
+
+<p>
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der Kammer
+erfüllt.
+</p>
+
+<p>
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis zu
+sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese wiederum
+mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts
+davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn
+zehn Leute den obern Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er
+habe nie welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für
+die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann
+blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses
+Frau Pfäffling mitteilen.
+</p>
+
+<p>
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann sagt
+ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er dabei. Er
+meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht mehr 'ja' sagen,
+sogar wenn er's möchte."
+</p>
+
+<p>
+Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr Pfäffling
+konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich sehe, daß jemand
+nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs Zimmerherrn nehmen, als in
+Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft den Tisch umkreiste. "Nicht mehr
+'ja' sagen dürfen, weil man vorher 'nein' gesagt hat? Soll sich darin die
+Männlichkeit zeigen? Dann wäre jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das
+nicht, ihr Buben," sagte er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen,
+was männlich ist: Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen
+geht; aber <i>nachgeben</i>, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht
+geurteilt hat."
+</p>
+
+<p>
+Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den Hausleuten
+weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling zufällig oder
+vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur zusammen.
+</p>
+
+<p>
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn nehmen
+durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge geraten. Aber
+da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht plagen, und es ist ja
+wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht heimkommen, Lärm machen und
+dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt entschließen, eine ältere Dame als
+Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist
+nur für uns unbequemer und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie
+uns ein wenig behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden,
+wären wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung
+setzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie
+besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu wissen wie,
+war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte Hausbewohnerin für
+den obern Stock zu bemühen.
+</p>
+
+<p>
+Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und sie
+bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und nun kamen
+wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, wer die Türe
+aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu zeigen. Allzuviele
+erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, daß die Frühlingsstraße
+"keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede von den wenigen, die sich
+meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer vermieten, nicht eine
+Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den
+vertrauten Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die
+Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu
+ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand
+das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber
+niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn
+haben."
+</p>
+
+<p>
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine anspruchsvolle
+Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann stört sie uns nicht,"
+lautete Herrn Pfäfflings Rat.
+</p>
+
+<p>
+Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften sich
+glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete Dame, etwa
+Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im Ausland, hatte
+vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt, daß sie sich jetzt,
+nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer
+Rente leben konnte. Sie war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit
+genießen, sich Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben
+bis jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der
+Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn
+in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle
+bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit dort
+ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit
+schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am
+Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
+seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den ganzen
+Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da ist, aber ich
+glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird."
+</p>
+
+<p>
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für Fräulein
+Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, wußte in
+anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch auch für den
+Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war zu bemerken, daß
+sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen fühlte, daß sie
+Verständnis hatte für des Hausherrn originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung
+für der Kinder Bescheidenheit. Freilich waren auch alle sieben voll
+Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer
+gemietet trotz der vielen Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage"
+war. Überdies flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten
+der ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und
+wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort
+"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann es den
+Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte und tadelte
+sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu sich in ihr Zimmer
+und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren
+Arbeiten sich bisher niemand bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen
+gerne, auch Frau Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung
+paßte doch nicht zum Ganzen.
+</p>
+
+<p>
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit in
+Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. "Marianne soll
+herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu machen." Die Mädchen
+standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann hielt sie zurück: "Das eilt
+doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit geht allem vor, das habe ich allen
+meinen Zöglingen eingeprägt. Die Ausgänge könnten doch auch von dem
+Dienstmädchen gemacht werden."
+</p>
+
+<p>
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch nicht
+genug für manche Besorgungen."
+</p>
+
+<p>
+"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte
+Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie möchte den
+Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," sagte Frau
+Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue voraus
+erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen überflügeln, und in
+der Schule würde jedermann staunen über unsere Fortschritte."
+</p>
+
+<p>
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar keine
+Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum lernen da und
+nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die Dunkelheit kommt mit
+den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als es finster war. "Finden Sie
+das passend?" fragte Fräulein Bergmann die Mutter, "sollten Sie nicht das
+Dienstmädchen schicken?"
+</p>
+
+<p>
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+</p>
+
+<p>
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie vollends
+ganz taub ist, muß sie doch fort."
+</p>
+
+<p>
+Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte Walburg
+in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie wohl bald ganz
+taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, teilnehmenden Blick. "Willst du
+mir was?" fragte sie und beugte sich zu ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und
+sagte ihr ins Ohr: "Ich mag Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg
+antwortete ausweichend: "Man muß froh sein, daß man sie hat."
+</p>
+
+<p>
+Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche Einmischung hin.
+Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im Pfäffling'schen
+Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer mit einem hellen
+Wachstuch bedeckt worden.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," bemerkte
+Fräulein Bergmann.
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen Haus,"
+entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit vermeiden und die
+großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+</p>
+
+<p>
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an unserem
+Tisch."
+</p>
+
+<p>
+Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer
+regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit <i>einem</i> Ofen
+heizen," erklärte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, das
+würde sich sehr fein machen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich mich
+nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei reichen Leuten
+leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn es nur immer zum
+täglichen Brot reicht."
+</p>
+
+<p>
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und ich
+habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles verzichten,
+woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie aus fein gebildeter
+Familie stammen."
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
+schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein Glück ruht
+auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit gar nichts zu
+tun."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu einer
+Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung wurde nun
+elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder standen voll
+Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum Ganzen, Fräulein
+Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es sehen nun allerdings die
+Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese
+doch erneuert werden."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die Portiere
+schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie mißliebig an.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du solltest
+ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+</p>
+
+<p>
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen Sinn für
+so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu unserer übrigen
+Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr Zimmer hängen so viel
+sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön genug sein, so wie sie sind."
+</p>
+
+<p>
+Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und sich
+nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten hinzu. Walburg
+hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller gewechselt. Die Kinder bekamen
+immer nur <i>einen</i> Teller.
+</p>
+
+<p>
+"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die Kinder
+alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein Bergmann
+fragend an Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller mehr
+aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft."
+</p>
+
+<p>
+"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das Fräulein, "das
+ist doch solch eine Kleinigkeit."
+</p>
+
+<p>
+Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, was in
+unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, müssen Sie mit
+unserer Art vorlieb nehmen."
+</p>
+
+<p>
+"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu sehen,
+wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich werde gewiß nicht
+mehr darein reden, kein Wort mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr Pfäffling, "und
+übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles ordentlich, schön und rein und
+ich möchte durchaus nicht, daß sie sich noch mehr Arbeit macht, und wenn meine
+Kinder ihr nachschlagen, wird man sie überall gern sehen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte gekränkt
+hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief in
+unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich Fräulein
+Bergmann zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern zu.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt sie
+sich ein!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt und
+haltet gar nicht zur Mutter!"
+</p>
+
+<p>
+Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr Pfäffling
+bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," sagte er zu seiner
+Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich jetzt schon besser in
+acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und mir ist ihr Dareinreden nicht
+so unangenehm, man macht doch seine Sache nicht vollkommen und da ist es gar
+nicht übel, einmal zu erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel
+mehr von der Welt gesehen als ich."
+</p>
+
+<p>
+Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden Frauen
+standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann machte von der
+Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man keinen
+eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf diese Zeit der
+Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht nach Herzenslust lesen,
+zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem ich Muße dazu habe, so viel ich
+nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:
+</p>
+
+<p>
+"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger Arbeit
+beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar nicht.
+Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner veränderten
+Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle selbst, daß ich
+unausstehlich bin."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß Fräulein
+Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr Kritik und
+Einmischung gestattete.
+</p>
+
+<p>
+Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich kein
+Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und brachte
+Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein Bergmanns Ansicht
+waren all diese kleinen Übelbefinden selbst verschuldet, sie behauptete,
+solches bei ihren Zöglingen durch sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.
+</p>
+
+<p>
+"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, "weißt du
+noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben ausgezogen,
+Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber dieses Jahr ist es so
+kalt."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, schöner
+war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen Familienkreis.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr
+Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen lassen,
+und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein feststehendes
+Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus vorgekommen. Das heutige hat
+kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie eigentlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man leichter mit
+dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es nicht jeden Tag das
+gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein Gebet gedankenlos gesprochen
+wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche Neuerungen.
+Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war es mit Herrn
+Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau liegt daran, in diese
+Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, "und wenn Sie lieber die leere
+Form haben, so brauchen Sie ja auf den Inhalt nicht zu horchen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre Hand
+auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm gemeint!"
+</p>
+
+<p>
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend. Im
+Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber nach Tisch
+rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. "Das ist ein
+unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist die verkörperte
+Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas kann ich nicht
+vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch
+wieder eine andere Mieterin."
+</p>
+
+<p>
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch leid für
+sie, wie soll ich denn das machen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken. Aber
+je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und mit ihr
+reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April mußt du
+dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie ihrer Arbeit
+nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend begründen könnte.
+Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie
+und Frieden im Hause mußte doch vorgehen.
+</p>
+
+<p>
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein Bergmann
+suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem Tisch lagen
+Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte das Fräulein,
+"hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen hervorgesucht, möchten
+Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich ordentlich schäme über
+die Zurechtweisung, die ich heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht
+vorgekommen in den vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja
+selbst, daß ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht
+so, bitte, lesen Sie!"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele Jahre in
+ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit war in den
+Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt hervorgehoben.
+</p>
+
+<p>
+Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die Erklärung
+dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann wieder in das
+richtige Geleise zu bringen wäre.
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und das ist
+wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. Sie stehen im
+gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn er schon aufhören
+wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch sein Bestes leisten, und
+so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, und haben eine reiche
+Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes Hauswesen leiten, eine Schar
+Kinder erziehen, und wollen hier in einem Stübchen hinter den Büchern sitzen!
+Das ertragen Sie einfach nicht und das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun
+in unser Hauswesen unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn
+ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle,
+und zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, "so wird
+es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie mir noch solch
+eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur schäme ich mich vor all
+meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen Entschluß mitgeteilt habe, zu
+privatisieren. Es war mir damals eine verlockende Stelle als Hausdame
+angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+</p>
+
+<p>
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später erfolgen."
+</p>
+
+<p>
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich keine
+passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+</p>
+
+<p>
+"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."
+</p>
+
+<p>
+Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, elastischen
+Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, "sie ist
+gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; warum sie wohl
+gerade heute so vergnügt ist?"
+</p>
+
+<p>
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. Schon
+zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte gemeinsame
+Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im Freien, der
+langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit der Sorge um das
+Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am
+Eßtisch.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann, "dann
+frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus. Ich kenne
+niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen möchte, als Ihrer
+lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine
+Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner
+Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik
+ist ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt.
+Solange Sie <i>alles</i> tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir
+in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel
+geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns—"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies wissen Sie
+wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen war."
+</p>
+
+<p>
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie mir
+nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, unseren
+Gewohnheiten?"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht aufrecht
+erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig spöttischen Lächeln
+fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur <i>eines</i>."
+</p>
+
+<p>
+"Und zwar?"
+</p>
+
+<p>
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie jetzt eben
+im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie es
+noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter Ihnen, immer
+die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen Zusammenstoß zu
+vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck stehenbleiben. Es war sehr
+drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig dabei."
+</p>
+
+<p>
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle Kinder
+folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich werde es mir
+abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu solchen übeln
+Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber—und nahm seinen Lauf um den
+Tisch wieder auf.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an Walburg.
+"Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+</p>
+
+<p>
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage ihn
+<i>gern</i> fort."
+</p>
+
+<p>
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein Bergmann
+über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert und war froh, daß
+diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie nicht, fragte auch nicht
+darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand unglücklich darüber war, Marianne
+vielleicht ausgenommen, aber die würde sich bald trösten, und eine neue
+Mieterin konnte sich nach Ostern finden.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit zur Bahn.
+Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als Herr Pfäffling
+seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere abnehmen, daß man
+wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe kann. Aber vorsichtig, die
+Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut verwenden!"
+</p>
+
+<p>
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig darauf
+los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das offene Fenster von
+der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach den Brüdern rief. Otto sah
+durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder herein: "Fräulein Bergmann hat
+ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst herauf!"
+</p>
+
+<p>
+"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den schmerzlichen
+Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch schon ihre Stimme: "Ich
+muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." Richtig, da stand er in der Ecke!
+Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell rannte er durch die Türe und konnte diese
+gerade noch hinter sich schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen.
+Sie hatte nichts gesehen und eilte davon.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr Pfäffling
+überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb unten, einen
+traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können bis morgen."
+</p>
+
+<p>
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald sah alles
+im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam nicht wieder,
+das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling kehrte mit Elschen allein
+zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," berichtete sie, "ihr letztes Wort
+war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, "wir
+singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu gekommen." Er
+stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders frisch und fröhlich
+klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap14"></a>14. Kapitel<br/>
+Wir nehmen Abschied.</h2>
+
+<p>
+Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, und das
+leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der Kinder ahnte
+etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen lernen und darnach
+beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit sich nehmen würde. Sie
+wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig geliebten Bruder erwartete,
+und freuten sich alle auf den seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch
+aus ihrer frühesten Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante
+gekommen waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt worden
+war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, auch war es
+ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen Kind mehr
+Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen Familie. Doch wollte er
+den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines
+der Kinder dem Geist des Elternhauses entfremdet würde.
+</p>
+
+<p>
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während desselben
+geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen zeigen.
+</p>
+
+<p>
+In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. Doch nur
+für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht besser ausfiel
+als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, schlimm auch um die
+Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht Karls Liebhaberei, der junge
+Lehrer und der Schüler hätten sie gleich gerne los gehabt. Darum strebten die
+Brüder gleich aufeinander zu, als die Klassentüre sich auftat und die Schüler
+herausdrängten. Über der andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne
+Karl sein Zeugnis hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl
+schon manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch zu
+erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die Jungen mit
+den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte er schon, daß es
+Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine Durchschnittsnote nötig?" fragte er und
+überblickte das Zeugnis, und war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder
+waren enttäuscht, nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein
+müssen. "Hast du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind wir noch
+in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so vergnügt seid, ihr
+meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, aber ganz kann ich euch noch
+nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst gleich wieder rückfällig werden.
+Sagen wir <i>einmal</i> statt zweimal in der Woche." Sie machten lange
+Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte
+der Vater hinzu. Da heiterten sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens
+in den Ferien frei war, im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr
+in einem hin. Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder
+vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern
+begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche Heftchen auf
+des Vaters Tisch ausbreiteten.
+</p>
+
+<p>
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie Elschen
+ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die geheimnisvollen
+Ziffern zu deuten.
+</p>
+
+<p>
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen Übermut
+hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a plus b ist? Das
+weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen Vierer." Von allen Seiten
+kamen nun solch verfängliche Fragen und es wurden ihr lauter Vierer prophezeit,
+bis ihr angst und bang wurde, sie sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du
+gibst mir dann jeden Tag Mathematikstunden!"
+</p>
+
+<p>
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten sie
+eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug gekommen. Sie
+schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in Händen
+hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm wieder das Bild vor
+die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine mit dem Ausdruck tiefsten
+Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein gewissenhafter und geschickter
+Klavierspieler geworden, aber die Liebe, die er zu seiner Violine und auch zu
+der Harmonika gehabt hatte, die brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem
+Herzen war er nicht dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine
+erwähnt. Ob sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater
+hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine
+Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an.
+</p>
+
+<p>
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir nicht mehr
+so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes Gesicht machte das
+Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete er leise: "Ich möchte sie
+gar nicht mehr haben."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören kann,
+wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du <i>kannst</i> nicht, Frieder? Du
+<i>willst</i> nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du nicht, daß
+wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte nicht lieber selbst
+weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde geben, wenn sie jetzt kommt?
+Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach Tisch in ihren schönen Büchern
+liest, nicht lieber weiterlesen als schon nach einer halben Stunde wieder das
+Buch aus der Hand legen und die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten
+nicht lieber auf den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben
+unter unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet hat? Und
+der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und sagen: 'Ich kann
+nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor den Tierlein, vor den
+Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich schämen!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim Geigen
+nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann mitten
+im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir Mühe, und wenn du
+dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage es mir, dann will ich dir
+jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige geben."
+</p>
+
+<p>
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank deutend, der
+in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem Ton: "Da innen ist
+sie!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen Willen
+bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; Fräulein
+Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern mit Marianne,
+ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei plaudernden
+Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur Stunde. Noch rosiger
+und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte solch eine wichtige Neuigkeit
+unter vielem Erröten mitzuteilen! Die Karten waren ja schon in der Druckerei,
+auf denen zu lesen stand, daß Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen
+schönen, jungen, reichen, blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber
+unmusikalisch war er leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er
+doch der Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+</p>
+
+<p>
+"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner Schülerin,
+"vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+</p>
+
+<p>
+"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht wahr,
+wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute Freunde und
+Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das gibt zwei süße
+Brautfräulein!"
+</p>
+
+<p>
+"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die Marianne?
+Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner Frau sprechen."—
+</p>
+
+<p>
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. Alle
+Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und zugleich für den
+Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren des langen Winters waren
+mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern
+verschwunden, die Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen,
+Walburg brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine
+mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden,
+Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der Gast
+ankommen.
+</p>
+
+<p>
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," sagte Karl,
+als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, Frau Pfäffling freute
+sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in der alten Heimat schön
+gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender sein, ihn im eigenen
+Familienkreis zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle
+miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, er war
+nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und nur allmählich
+erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe.
+</p>
+
+<p>
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und sahen
+begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten auf, und
+jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen Kopf kleiner als
+der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so schmal. Fein sah er aus im
+eleganten Reiseanzug und daß er eine voll gepackte Ledertasche in der Hand
+hatte, wurde von Elschen besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder
+bemerkt worden sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte
+sogar den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen
+doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht so,"
+entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom Fenster, und
+vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief
+Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!"
+</p>
+
+<p>
+Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die Kinder
+berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, in den Zügen,
+in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie ihn, und auch er
+fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen seiner Schwester, die
+andern seinem Schwager ähnlich.
+</p>
+
+<p>
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen den
+Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den Gast voran
+gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen Gefolge. "Wie komisch
+sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der Mutter.
+</p>
+
+<p>
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. "Cäcilie, nun
+kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"
+</p>
+
+<p>
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine stattliche
+Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die ungewöhnlich große
+Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr habt euch wohl eine
+besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen Schüsseln?" sagte er
+spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme Dienerin? Wie schade um das
+Mädchen!"
+</p>
+
+<p>
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, "ich war
+mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser werden."
+</p>
+
+<p>
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal ein
+Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel gefallen, es kommt
+etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht, welches ich meine?"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:
+</p>
+
+<p class="poem">
+In größerem Kreise stehen wir heute<br/>
+Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.<br/>
+Aber die richtige fröhliche Stimmung<br/>
+Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.<br/>
+Nahe dich freundlich jedem von uns.
+</p>
+
+<p>
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine Neffen
+und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich alle beteiligen
+konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, "die meinigen haben es
+auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, bei dem es nur leider gar zu
+leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie machten sich mit Eifer daran und
+trieben es täglich fast mit Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den
+Onkel, der, hinter der Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen
+die zwei Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler
+gleichmäßig verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite,
+Wilhelm, der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei
+nehmen, sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.
+</p>
+
+<p>
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht immer
+mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus der Hand und
+gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner Zeitung hervor. Das Wort:
+"Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch weiter zu wirken. "Hat jemand des
+Vaters Brief auf die Post getragen?" fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das
+könntest du besorgen, Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So
+entfernten sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling
+setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist
+rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich
+zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel aufgeben. Das
+täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?"
+</p>
+
+<p>
+"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die Kinder
+sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig werden, so helfen
+sie mit."
+</p>
+
+<p>
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und ich
+sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger hervorgehen. Wie
+die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie ihr eigenes Ich dem
+allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und widerspruchslosen Gehorsam
+sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß
+sonst das ganze System in Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein
+Mann ein so leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher
+Minister. Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme,
+in ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was kümmerte
+sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des Onkels, die
+traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer Kinder zu mir nehme,"
+hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören sollen, es war nur halblaut
+gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts anmerken, aber lange konnte sie diese
+Neuigkeit nicht bei sich behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle
+unten am Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie
+vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht
+zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit,
+fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer
+ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte:
+"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, der
+doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er
+<i>mich</i> mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für
+ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die
+fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so
+glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor
+die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein gestanden.
+Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen
+das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum
+andern blickten, und da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht
+missen mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle
+geben wir nicht her!"
+</p>
+
+<p>
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit Herrn
+Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah hinunter, "Dort
+steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, "eines dicht beim andern,
+keinen Stecken könnte man dazwischen schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und
+wie sie eifrig sprechen!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."
+</p>
+
+<p>
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue Freunde
+mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im Nest gesessen
+waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich nun aber die Hand
+ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest herausnehmen, dazu kann ich
+mich immer schwerer entschließen. Geben wir doch den Plan auf! Lassen wir das
+fröhliche Völklein beisammen, es kann nirgends besser gedeihen als daheim!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft
+unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+</p>
+
+<p>
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht. Aber
+den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut ist, die
+Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist."
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau
+Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von Wilhelm. Du
+kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen Lateinschüler findest,
+der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er neulich tat bei unserem ersten
+Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei meinen Kindern auch etwas von diesem Geist
+zu spüren! Kehren wir doch die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen
+einmal. In euren einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine
+Ansprüche fallen lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."
+</p>
+
+<p>
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+</p>
+
+<p>
+Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war von
+schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten plötzlich
+Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten herauf.
+</p>
+
+<p>
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr auch,
+Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von euch wollte ich
+mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für ein viertes, und eure
+Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich tue es nicht. Wollt ihr hören
+warum? Weil ihr es so schön und so gut habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen
+Welt besser haben könnet. Ihr lacht? Es ist mein Ernst."
+</p>
+
+<p>
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja wissen.
+</p>
+
+<p>
+Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du denn
+mitgenommen?" fragte sie.
+</p>
+
+<p>
+"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und deutete
+auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!
+</p>
+
+<p>
+Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie stand mit
+wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder für eine fremde
+Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen mußte. In ihren
+Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen Mann die Treppe
+heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen, hörte Marie zum Vater
+hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem
+Gedankengang.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt?
+</p>
+
+<p>
+Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie wollte
+dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da stand er vor ihr
+mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+</p>
+
+<p>
+"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht fassen und
+glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es selbst schwarz
+auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem gemieteten Lokal die
+Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer Pfäffling zum Direktor ernannt
+hätten. Es fehlte nichts mehr als seine Einwilligung, und auf diese brauchten
+die Marstadter nicht lange zu warten!
+</p>
+
+<p>
+Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern herbeigelockt.
+Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie die gute Kunde, sie
+sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und immer wieder sagte: "Wie mag
+ich dir das gönnen!"
+</p>
+
+<p>
+Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern widerstrahlte.
+</p>
+
+<p>
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er mit
+seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch sagen!"
+</p>
+
+<p>
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem Schrank
+stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+</p>
+
+<p>
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+</p>
+
+<p>
+Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst du mir
+am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten darin aufhören,
+ich habe es probiert."
+</p>
+
+<p>
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den Pfannenkuchen.
+Die andern wissen es."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine Tischnachbarn
+Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling schloß den Schrank
+auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, "dann warten wir gar nicht
+bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies Festtag bei uns, du weißt wohl noch
+gar nichts davon? Da hast du deine Violine, kleiner Direktorssohn!"
+</p>
+
+<p>
+Ja, das war ein seliger Tag!
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die
+Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so fürchtete
+sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, sah sie mit
+herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr Direktor will auch
+deinen Lohn erhöhen."
+</p>
+
+<p>
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder allein
+in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen Hände
+ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch Fremde die
+Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen zusammen, und während sie
+sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang herunter und Frau Pfäffling
+erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann übte mit den Kindern den Chor mit
+dem Endreim:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/>
+Es lebe die Direktorin!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe im Haus
+gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte er eine kleine
+Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und befestigte an der
+Haustüre die Aufschrift:
+</p>
+
+<p class="poem">
+<i>Wohnung zu vermieten</i>.
+</p>
+
+<p>
+Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf die
+Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir die
+Familie Pfäffling war!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***</div>
+</body>
+
+</html>
+
+
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #10917 (https://www.gutenberg.org/ebooks/10917)
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+The Project Gutenberg eBook of Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
+most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
+of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
+will have to check the laws of the country where you are located before
+using this eBook.
+
+Title: Die Familie Pfäffling
+
+Author: Agnes Sapper
+
+Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917]
+[Most recently updated: February 28, 2022]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+Produced by: Olaf Voss, Michael Wymann-Böni, and Project Gutenberg Distributed Proofreaders
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING ***
+
+
+
+
+Die Familie Pfäffling
+
+Eine deutsche Wintergeschichte
+
+von Agnes Sapper
+
+
+1909
+
+
+
+
+Meiner lieben Mutter
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+
+Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was
+ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene
+Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die
+Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in
+einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von
+Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
+verstanden, was ihnen versagt war.
+
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die
+Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du
+die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger,
+anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen
+Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer
+entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.
+
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte
+möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.
+
+Herbst 1906.
+
+
+Die Verfasserin.
+
+
+Inhalt
+
+ 1 Wir schließen Bekanntschaft
+ 2 Herr Direktor
+ 3 Der Leonidenschwarm
+ 4 Adventszeit
+ 5 Schnee am unrechten Platz
+ 6 Am kürzesten Tag
+ 7 Immer noch nicht Weihnachten
+ 8 Endlich Weihnachten
+ 9 Bei grimmiger Kälte
+ 10 Ein Künstlerkonzert
+ 11 Geld- und Geigennot
+ 12 Ein Haus ohne Mutter
+ 13 Ein fremdes Element
+ 14 Wir nehmen Abschied
+
+
+
+
+1. Kapitel
+Wir schließen Bekanntschaft.
+
+
+Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
+hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in
+die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die
+Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz.
+Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes
+Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem
+der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.
+
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein
+Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen
+fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge
+Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre
+Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten
+Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist
+sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.
+
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof
+verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach
+den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer
+Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht,
+war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der
+Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen
+sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte
+zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten
+sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das
+alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas
+näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule
+ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine
+runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr
+Zeit zu lassen als die andern.
+
+Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben
+Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur
+noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen,
+sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling
+atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen,
+bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine
+Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend
+von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie
+war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken
+versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen
+Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte,
+plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun
+die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr
+fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter
+in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den
+letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken
+kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie
+ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme
+allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie
+ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort
+oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders
+Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar
+zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig
+geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte
+Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die
+Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an
+ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!
+
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief:
+"Elschen, flink, Essig holen!"
+
+Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße
+hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem
+Essigkrug zum nächsten Kaufmann.
+
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner
+Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben.
+Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf
+gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge
+nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem
+Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit
+dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so
+abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen
+Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen
+herunterpoltern," sagte der Hausherr.
+
+"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja
+rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es
+pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie
+müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen
+auf die abgetretenen Stellen."
+
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt
+doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt,
+was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen
+voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer
+Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch
+nicht übers Herz."
+
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue
+Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand
+bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die
+Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.
+
+Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine
+vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und
+erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das
+Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren
+die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der
+Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief
+auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und
+Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen
+gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei
+Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."
+
+Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle
+zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor
+Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder,
+der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden
+Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern
+Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre
+Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen
+Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in
+dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet
+ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe
+an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr
+war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan,"
+fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln
+hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann
+richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie
+standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So
+schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja
+wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter
+Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten!
+"Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das
+erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an,
+langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der
+zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und
+Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und
+deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der
+verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er
+zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum
+denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig,
+"kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am
+öftesten."
+
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite,"
+und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich
+herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's
+recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie,
+was kann man mehr verlangen?
+
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog
+ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+
+Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft
+hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der
+Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so
+öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und
+klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch
+zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen
+Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach.
+Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal
+den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete
+sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die
+Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+
+Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen,
+aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie
+kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des
+Wintersemesters.
+
+"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."
+
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf
+ich nimmer mitbringen."
+
+"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."
+
+"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."
+
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+
+"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."
+
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war,
+umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der
+kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine
+Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den
+Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die
+sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.
+
+Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen,
+indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und
+Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die
+er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei
+Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor
+und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte
+der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt
+eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so
+viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder
+Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen,
+aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine
+kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war,
+"Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war
+nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und
+miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß
+auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr
+gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen
+sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab
+und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte.
+Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.
+
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen
+sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu
+ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen
+beisammen saßen.
+
+"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist
+höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue
+Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind
+jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir
+nicht leben."
+
+"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr
+zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es
+sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.
+
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der
+wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene
+Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern
+sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder
+heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen
+Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten
+nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den
+Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu,
+sagte genug.
+
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling,
+"daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als
+Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene
+Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die
+geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und
+vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"
+
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle
+andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins
+Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und
+strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte,
+rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm
+seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe
+blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was
+soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid,"
+rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief
+in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die
+Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu
+erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb
+drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog.
+
+Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in
+seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie
+wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in
+Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten
+zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner
+Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und
+von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich
+ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur
+_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine
+Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist
+doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und
+nun wurde die Harmonika eingeschlossen.
+
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als
+letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen
+Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule
+ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern
+gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es
+glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den
+kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich
+der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren,
+sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das
+Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah
+so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen.
+Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn
+der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein
+zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für
+Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch
+auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte
+Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte
+immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So
+erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte,
+sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder
+vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die
+Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein,
+die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie.
+"Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf
+an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei
+uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer
+gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles
+durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an
+den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war
+ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle
+du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann
+brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"
+
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb,
+denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und
+sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im
+Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht
+darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus
+und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend:
+"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist
+da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun
+fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+
+"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und
+Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut,
+die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz
+zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling,
+"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen,
+sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist
+traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich
+mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten
+geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen
+hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an
+als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große
+Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche
+hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und
+ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein
+paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer
+zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als
+niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der
+Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das
+Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast
+abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand
+wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem
+Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen
+Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu
+sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern
+bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg
+sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit
+ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an
+Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete
+Karl.
+
+Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter
+Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als
+Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das
+Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als
+sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer,
+wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama
+nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie
+zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den
+Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so
+bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie
+sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde
+sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling
+seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder
+drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame,
+die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte,
+begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu
+sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte
+Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie
+schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig
+herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_.
+
+
+
+
+2. Kapitel
+Herr Direktor?
+
+
+November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich
+leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde.
+Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden
+noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen
+Arbeit.
+
+Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen
+Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier
+Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte
+französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und
+suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte
+im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte
+kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal
+geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem
+Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still
+beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang.
+
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten
+ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten
+sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn
+der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern
+wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei
+rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten
+Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung
+hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet,
+es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch
+zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe.
+Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang
+hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine
+Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich
+die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf
+eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im
+Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den
+Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern
+kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde
+vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken
+sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten,
+entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt
+hatte.
+
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding
+hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen
+das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe.
+Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater
+noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"
+
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen
+wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch
+zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie
+sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein
+Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere
+hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht
+zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an
+und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir
+graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?"
+
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
+Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die
+Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in
+Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das
+Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre
+verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher
+Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.
+
+So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der
+eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker
+in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht
+eben schlechte Zeugnisse nach Hause.
+
+An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer
+trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu
+mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe
+zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie
+folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie
+beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag
+auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies,
+lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für
+seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste
+Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt
+schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle
+mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
+Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer
+größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach
+meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor
+zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen;
+Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit
+fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man
+nur so fragen!"
+
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee
+und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet
+eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und
+rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die
+Kartoffeln kalt!"
+
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend,
+folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll
+Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her,
+und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller
+Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem
+unsicheren Zukunftsplan erwähnten.
+
+Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige
+Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren
+gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei
+diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit
+auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen
+und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger
+Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte
+er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder
+hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den
+Hintergrund treten."
+
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder
+nicht," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder
+können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen
+gemütlichen Teetisch."
+
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
+Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des
+erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der
+Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es
+euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"
+
+Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung
+herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme.
+Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.
+
+Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der
+Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn
+auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und
+verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit
+dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den
+Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und
+weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich,
+mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein
+Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht
+das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber
+hinauf!"
+
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.
+
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch
+ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße
+gut ab."
+
+Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht
+recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den
+Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch
+lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die
+Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die
+Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für
+seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste
+Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben
+auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die
+wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich
+nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von
+seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem
+Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz
+trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich
+ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war
+ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der
+zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte.
+Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren
+zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun
+und plauderte freundschaftlich mit Karl.
+
+Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber.
+Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über
+ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt
+dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder
+einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal
+mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß
+redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen
+Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge
+Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde,
+mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing
+es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter,
+und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über
+die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen.
+Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte
+da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an
+Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter
+fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die
+Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter.
+Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz
+bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie
+wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er
+sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht:
+drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten!
+
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben
+die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen,
+die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß
+sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf,
+erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise
+nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte
+sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.
+
+"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer,
+da hört man uns nicht."
+
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das
+Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was
+sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier
+nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen
+an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und
+durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird,"
+schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich
+nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen
+meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt
+die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den
+großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber
+auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+
+In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos
+seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie
+miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre
+dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner
+Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_!
+
+Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des
+gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen
+Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe
+besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige,
+Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier
+gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete
+dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch
+nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.
+
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur
+Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im
+Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben,
+doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen
+habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die
+Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.
+
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer,
+als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und
+betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie
+nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige
+Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei
+diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten,
+sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit
+weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?"
+
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme
+oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er
+sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr,
+unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches
+Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch
+plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer."
+
+Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern
+Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im
+sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein
+mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er
+dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte
+Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem
+"Guten Morgen" und "Gute Nacht".
+
+Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und
+bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.
+
+Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit
+meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts
+davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging
+er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+
+Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein
+sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein,
+diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut
+und nicht ahnt, daß er stört.
+
+Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater
+schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden
+sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es
+eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf
+Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht
+fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich
+freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute
+Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+
+"Gute Nacht, Karl."
+
+Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte
+Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die
+Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und
+er hat gelesen."
+
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling
+lächelnd.
+
+"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief
+seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett
+gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch:
+"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."
+
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß
+du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier
+bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir
+besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun
+bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns."
+
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein
+Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde
+erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
+
+Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette
+legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen
+könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine
+Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu
+entreißen.
+
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach
+Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung
+des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden
+hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die
+Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling
+wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten
+habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling
+immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen,
+statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er
+sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine
+seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
+
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein
+Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so
+wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_
+Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu
+jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes
+über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber
+war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch
+eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten!
+
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten.
+Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner
+hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz
+unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn
+groß an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?"
+
+"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich,
+und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst
+hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in
+unseren knappen Verhältnissen."
+
+Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag
+gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der
+Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner
+Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine
+glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein
+schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört
+verschwenderischen Gabe einer Rose im November!
+
+Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit
+seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die
+geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch
+die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg
+wurde es ins Ohr gerufen.
+
+Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den
+Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen
+Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.
+
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als
+Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu
+Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer
+aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter
+hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der
+Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und
+von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm
+dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein
+bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde
+der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen,
+umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein
+paar Jahre warten wolle!
+
+Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
+weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er
+dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.
+
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus,
+wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den
+Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von
+einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
+
+Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es
+wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon
+vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher."
+
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die
+sind so—ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar
+nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!"
+
+Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre
+wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es
+ja nicht so sehr ferne gerückt!"
+
+"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr
+Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins
+richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts
+mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_."
+
+Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den
+Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern
+fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser
+Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn
+entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur
+gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß
+wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in
+der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."
+
+"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den
+schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht
+anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich
+kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen,
+aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört
+auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was
+Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit
+es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann
+deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt
+auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab."
+
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine
+Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten
+schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese
+Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.
+
+Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand
+und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend
+war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied
+komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die
+Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder
+Vers ausgeht:
+
+"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+Es lebe die Direktorin!'
+
+
+"Nun muß es heißen:
+
+"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
+Du wirst niemals Direktorin.'"
+
+
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es
+muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+
+"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er
+trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer
+machen."
+
+Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie
+auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel
+Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So
+erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.
+
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe
+eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"
+
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter
+der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit
+strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen,
+Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch.
+Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die
+Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?"
+fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil
+ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von
+unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus
+und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann
+kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut
+aufgenommen worden.
+
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling,
+die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich
+vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er
+war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch
+schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen,
+gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem
+festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung
+unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu
+seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:
+
+"'Direktor her, Direktor hin,
+Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+
+
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es.
+Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein
+Vernagelding sein?"
+
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde,
+die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich
+die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst
+nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das
+Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit
+verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter
+und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen
+zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als
+diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte
+und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit
+mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie,
+ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in
+Rosa."
+
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits
+etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht
+mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht
+immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon
+wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an
+den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn
+strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu,
+daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht
+süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte
+er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen,
+das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
+für heute."
+
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin
+empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
+
+Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß
+Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal
+entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+
+Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube
+aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.
+
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein,"
+sagte Frau Pfäffling besorgt.
+
+Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten
+Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller
+Herr. Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir
+müssen ihm gelegentlich ein Präsent machen, Agathe."
+
+
+
+
+3. Kapitel
+Der Leonidenschwarm.
+
+
+Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau
+Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die
+Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob
+sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den
+Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden
+die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten
+geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden
+konnte.
+
+Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten
+sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war.
+Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher
+Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als
+Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen
+Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil
+zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er
+ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er
+herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten.
+Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in
+verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem
+Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte.
+Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein
+kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es
+zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte,
+und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil,
+anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen
+früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht
+übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika
+genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes
+herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann
+mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört,
+da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'."
+"Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."
+
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder
+ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da
+wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine
+Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer
+nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er
+sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie
+hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin.
+Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen
+Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden
+vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während
+seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern
+von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute
+hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte
+er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren
+und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft.
+Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man
+meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht,
+kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im
+Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite,
+leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz
+unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind
+gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue,
+wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen
+über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer
+und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn
+mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn,
+dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz
+feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das
+nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine
+Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es
+auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr
+Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15.
+November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der
+Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in
+diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön
+wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb
+seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die
+Wache ziehen um den Preis."
+
+Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle
+mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie
+sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und
+von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die
+Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt
+unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die
+Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied
+Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht,
+weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts
+geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater
+wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die
+Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich
+erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei
+Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften
+nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der
+Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon
+von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen
+Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie
+lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine
+Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl
+durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft
+ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur
+so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf
+das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja
+es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die
+Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte
+er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch
+möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor
+Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und
+die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer
+mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor
+und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu
+sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel
+entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer
+fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei
+das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben
+dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht
+einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich
+wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei
+in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die
+Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles:
+"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große
+warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem
+Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel
+in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die
+Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches
+Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht
+ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den
+Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem
+Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem
+Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.
+
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas
+gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber
+sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte
+sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten
+Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb
+derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat
+nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr
+unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
+Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch
+entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre
+vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus
+herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon
+herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem
+Gewissen, der mochte klingeln.
+
+Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der
+Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In
+wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern
+und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so
+schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl,
+"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich
+reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß
+einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da
+droben alle so fest!"
+
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten.
+Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen
+dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die
+riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine
+Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend
+sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als
+die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder
+eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in
+gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
+vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich
+sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich
+aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die
+Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend,
+von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den
+staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein
+sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.
+
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden
+sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein
+einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto,
+"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die
+Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und
+schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also
+kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.
+
+"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+
+"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da
+draußen bleiben in der Kälte!"
+
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an
+die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von
+innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte
+Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte
+und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.
+
+"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+
+"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch,
+es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in
+Ordnung, was hält die Türe zu?"
+
+In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand
+hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder
+den Riegel vorgeschoben."
+
+"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat
+das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen:
+"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+
+"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+
+"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."
+
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein,
+wer hätte es sonst tun sollen?"
+
+Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln
+dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in
+den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon
+schlafen."
+
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und
+suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so
+stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so
+unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre!
+Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal
+reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber
+hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß
+ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte
+stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben.
+Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war
+denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte
+und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun
+aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich
+wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da
+fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett,"
+sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir
+nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da
+waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite
+des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so
+laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß
+Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne,
+Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber
+umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und
+die Hausleute wachten auf.
+
+Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun
+möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten
+Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder
+erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich,
+keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus,
+lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute
+Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir
+wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie
+tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in
+der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es
+unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen.
+
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte
+die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern
+draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie
+besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid
+Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen
+sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur
+Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So
+hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht,
+denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht
+an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur
+hinaus?"
+
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie
+vorwurfsvoll und schloß das Fenster.
+
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr,
+"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da
+schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen
+Morgen?"
+
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu
+seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist.
+Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts
+geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute
+bedanke ich mich!"
+
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob
+den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen
+Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit
+so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung
+entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von
+der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er
+ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten
+Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."
+
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es
+den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen
+Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der
+Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr
+Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn
+er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie
+sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum
+andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen
+der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung
+herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück!
+
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich
+ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen
+war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht
+vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte.
+Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf.
+
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine
+Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem
+Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr,
+als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön
+heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei,
+bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon
+hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser
+zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim
+Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der
+Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen.
+Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
+werden, kommt!"
+
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte.
+"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr
+hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war
+aber der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun
+schön?"
+
+Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß
+sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte
+gleich Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch
+nicht gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?"
+
+"Das nicht."
+
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und
+sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir
+hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken
+gewesen—wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa
+wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt."
+
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie
+aus einem Mund.
+
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf
+den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter
+Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das
+hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir
+sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte
+Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne.
+
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling.
+"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich
+würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So
+aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb
+geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?"
+
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
+Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht
+alles gesagt."
+
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die
+schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1.
+Januar sei gekündigt."
+
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch
+aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu
+glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist,
+glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man
+einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal
+wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn,
+was hat er denn sonst noch gesagt?"
+
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's
+schon vorher ausgedacht hätte."
+
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber
+geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die
+Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+
+Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes:
+"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht
+verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie
+in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen."
+
+"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch,
+frühstückt!"
+
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig
+waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor
+Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch
+nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute
+fühlte er, daß es so sein müsse.
+
+Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger
+Erregung, so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er
+tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um
+sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch
+als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den
+Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der
+Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der
+Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ.
+
+So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei
+Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem
+Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt
+bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch
+die Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der
+leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so
+viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht
+deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz
+anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau
+Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.
+
+Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie
+hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des
+echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie
+stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht
+hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen
+einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau
+Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die
+beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.
+
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien
+benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum
+Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des
+Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche
+hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.
+
+Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch
+sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
+
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes
+miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr
+und sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer
+miteinander verständigen würden.
+
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht
+gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der
+Wache gesehen hat?"
+
+"Ja, du warst ja dabei."
+
+"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum
+erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte
+Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem
+Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des
+Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte.
+Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn
+treiben, zu tun, was recht war.
+
+Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er
+ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel
+gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der
+Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die
+da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen
+ausgingen.
+
+Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der
+Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht,
+und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er
+nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar
+nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen
+Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt.
+Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch
+nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun
+wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"
+
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
+
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen
+sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller
+einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht,"
+sagte sie und gab jedem einen Apfel.
+
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht,
+damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen
+jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an
+der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh,
+so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu
+gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und
+kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der
+erschrockenen Hausfrau.
+
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je
+besser sie's meinen, um so ärger poltert's."
+
+
+
+
+4. Kapitel
+Adventszeit.
+
+
+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne
+Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen
+Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender
+hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den
+Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf.
+"Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom
+Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht
+erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen
+es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum
+Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher
+Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung
+stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling
+stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen
+und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!"
+Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung,
+auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen
+Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal
+gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.
+
+Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit
+sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige
+nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute
+mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und
+Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an
+der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden
+wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle
+sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer
+soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling
+bedenklich.
+
+"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der
+Kinderchor.
+
+"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.
+
+"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.
+
+"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist,
+hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die
+ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von
+ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche
+gesegnete Andacht".
+
+Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe
+herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche
+einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben
+ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der
+Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach
+einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er
+nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.
+
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs
+Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest
+sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das
+dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden
+die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber
+heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war
+über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling
+Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön
+der Christbaum war?"
+
+Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten
+stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit
+leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine
+Hauptperson, die allen die Freude erhöhte.
+
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten
+flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es
+durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken,
+die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst,
+in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht
+Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!"
+Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die
+Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer
+der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn
+ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche,
+wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und
+da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr
+drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr
+niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche.
+
+Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder
+wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte
+er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen
+und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte
+sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner
+Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es
+ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen,
+bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der
+Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
+
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden
+machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen
+bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer
+verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber
+es ging nicht so.
+
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch
+schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine
+Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob
+Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die
+Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht?
+Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral,
+vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er
+fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+
+Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten
+und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast
+du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte
+Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst."
+
+"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen
+nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand,
+"könntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und
+zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete
+der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze."
+
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
+spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und
+die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die
+Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer
+riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte:
+"Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie
+Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog,
+gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen
+betroffen auf den kleinen Musikanten.
+
+"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und
+wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte
+keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er
+drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber
+er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer
+zum Leben zu erwecken.
+
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von
+ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange
+Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich
+weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!"
+
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein
+Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände,
+bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz
+enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue.
+Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte
+er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten
+wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein
+Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht
+eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
+
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+
+Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die
+Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für
+die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen
+getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts
+ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder
+verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf
+den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht."
+
+"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen
+Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren
+großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern
+mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er
+wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig
+erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie
+lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen,
+was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.
+
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister
+um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte,
+streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da
+nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht
+erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne
+Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim
+Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das
+schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei
+können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum
+müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal
+Walburg sagt, Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte
+Zündhölzer, einen rechten Sack voll."
+
+Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte,
+und fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm,
+"dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da
+gestanden bist."
+
+"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der
+Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle
+vergnügt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du
+deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die
+andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht,
+das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er
+sich glücklich auch ohne Harmonika.
+
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es,
+viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis
+abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.
+
+Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt
+viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier,
+der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb
+hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und
+machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten
+es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und
+wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß
+sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen
+Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als
+alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen
+schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben
+herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die
+gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."
+
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes
+Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
+entgegengesetzt lag.
+
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in
+kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier
+ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und
+Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf
+Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in
+Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen
+abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all
+dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du
+mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen
+vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder
+einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen.
+"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?"
+sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles
+abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst."
+
+"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei
+euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als
+ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie
+angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören
+zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn
+heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben
+riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld
+glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland
+ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man
+artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater,
+sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem
+Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr
+sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit.
+Nun heißt es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die
+Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit
+liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren
+aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.'
+
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner
+militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem
+Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die
+zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das
+ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?
+
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es
+hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen
+Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug
+zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich
+wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft,
+eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht
+handeln."
+
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling
+hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den
+Musikunterricht geben?" fragte er.
+
+"Weiß ich nicht."
+
+"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."
+
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche
+Herrschaften muß man immer das feinste wählen."
+
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+
+"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hören sie gern."
+
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als
+Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen
+ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren
+für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."
+
+"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier
+herablassend, "vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer
+erkundigen und nicht bei den Professoren."
+
+"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt
+du mit den Russen sprechen."
+
+"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du
+hast keinen Begriff von Umgangsformen."
+
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht,
+aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen,
+was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar
+nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal
+in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein
+Schwindel."
+
+"Ich vermag viel im Hotel."
+
+"So beweise es!"
+
+"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen
+hast."
+
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich
+für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum
+Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel
+zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen
+wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben.
+
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag,
+in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen
+Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+
+"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit
+kommt."
+
+Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und
+erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause
+vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du
+solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater
+nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf
+Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei
+unser Vater viel zu vornehm."
+
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern
+der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter
+Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß
+sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran,
+als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom
+Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort
+warten."
+
+Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses,
+die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der
+höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und
+Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor
+Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten,
+flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der
+Rudolf Meier!
+
+Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so
+erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem
+schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier
+senior ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag
+erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr."
+
+Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier
+von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm
+zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der
+Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell
+ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr
+Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in
+Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung
+gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer
+weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen
+dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht:
+"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen
+gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere
+Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding."
+
+"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr
+Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für
+meine Marterstunde."
+
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die
+andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war
+schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch
+die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr
+Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit.
+Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute
+schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte,
+Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.
+
+Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich
+eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig
+herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen
+der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des
+Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel
+jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß
+Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber,
+lachte und spaßte mit den Schwestern.
+
+"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen
+heißt so?"
+
+"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es
+eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie
+und Anne, aber so ist's eben bei uns."
+
+Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes
+Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+
+"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu
+spielen," richtete Marie aus.
+
+"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es
+lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen
+Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint
+Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer,
+ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer.
+Die Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch
+nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den
+Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch
+zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt
+bloß die, die recht musikalisch sind."
+
+Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so
+plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner
+Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen.
+Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie
+mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so
+elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit
+mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ."
+
+"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch
+sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen
+Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer
+ein sicheres Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.
+
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen
+ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts
+zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am
+schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde,
+und im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe
+das Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein
+und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling
+lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es
+euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie,
+Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche
+herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn
+ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel
+gut ausgefallen sein!"
+
+"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch
+musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube
+kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und
+ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß
+sein wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich
+euch erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges
+Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als
+Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon,
+spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel,
+kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so
+einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte
+mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor
+einzuführen, und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach
+richten, die Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden
+glauben, solchen Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann
+geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe
+hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich
+an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling
+vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz
+nahm, empfahl er sich.
+
+"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht
+mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen
+durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei
+jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle
+ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in
+die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt
+davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen
+sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die
+Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig
+Deutsch, versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch
+hörten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+
+"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen
+Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich
+kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber
+allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter
+und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei
+lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für
+welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas
+überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich
+ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher
+Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr
+Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach
+ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich
+wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht
+einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann
+spielte ich.
+
+"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer
+näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß
+wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann
+Violine, und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel
+ihre größte Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag
+ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach
+dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung
+mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine
+Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging,
+begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit
+war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich
+vergessen hatte.
+
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er
+hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in
+der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt.
+Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien
+sich wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und
+flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet
+worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich
+habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter
+sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger
+Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen,
+als du bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das
+Auftreten eines Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst
+durchschaut."
+
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man
+sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."
+
+"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden
+bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges
+Jubellied gesungen werden!"
+
+Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der
+General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher
+Deutscher."
+
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen
+meinen Aufsatz machen."
+
+Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die
+Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau
+Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer
+Glacéhandschuhe."
+
+
+
+
+5. Kapitel
+Schnee am unrechten Platz.
+
+
+Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der
+erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten
+Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen
+Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der
+alles verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und
+glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die
+Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen
+des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+
+Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier
+nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch
+eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich
+verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.
+
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden
+Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie
+wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen
+Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde,
+klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke
+herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter
+ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er
+sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu
+dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum
+im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.
+
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge
+Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei
+doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.
+
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem
+Christbaum nicht den Platz?
+
+
+Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch
+den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit
+dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die
+Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren
+die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee
+bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt
+werden.
+
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da
+und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die
+wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und
+von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine
+hohe Mütze auf.
+
+Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas
+sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und
+öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus
+vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle
+beladen mit Christbäumen.
+
+"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der
+Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als
+er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch
+einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann
+nach.
+
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem
+richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand
+voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und
+richtete dadurch Unheil an.
+
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo
+einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein
+hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer
+der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen,
+indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat,
+seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die
+anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn
+nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit
+warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde
+eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht
+der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig
+auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz
+für den Schnee!
+
+Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und
+so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige
+Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus
+Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und
+dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.
+
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht.
+Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und
+erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees
+abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und
+Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr
+Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem
+Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle
+die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun
+freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann
+kommen sahen, liefen auf und davon.
+
+Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach
+seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der
+Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören.
+
+"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete
+die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+
+"Die Wohnung?"
+
+"Frühlingsstraße."
+
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir
+auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein
+"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein
+Name.
+
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling
+schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist
+das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's:
+fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich
+aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie
+ich."
+
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser
+Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig
+zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder,
+mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders
+Gesicht so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er
+unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen
+Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte
+beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am
+Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und
+Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor
+Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen
+Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, daß Herr
+Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam.
+
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah
+überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick.
+"Was ist's, Vater?" fragte er.
+
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da
+und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du
+angestellt?"
+
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann
+doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn
+getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr
+Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt
+an des Vaters Hand, daß es klatschte.
+
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft
+beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf
+diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein
+Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze
+Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der
+trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe
+wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und
+woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm
+nicht erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um
+welche Zeit?"
+
+"Um 11 Uhr."
+
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es
+dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt
+die Sache noch ins Zeugnis!"
+
+"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen
+sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+
+Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du
+nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu
+ihrem Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?"
+
+Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der
+Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein
+ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um
+einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar
+nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!"
+
+"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen
+haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert.
+Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich:
+"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr
+niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude
+aus dem Hause gewichen.
+
+Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen,
+berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde,
+und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und
+sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der
+Polizei hört, dann kündigt er uns!"
+
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das
+Schreckgespenst, die Kündigung!
+
+So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie
+auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein
+Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine
+Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr
+doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte
+zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von
+vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen."
+
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
+erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die
+übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu
+Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+
+"Es ist nicht wahr."
+
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es
+deutlich gesehen."
+
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als
+der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung
+seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn
+Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte,
+erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er
+hörte, daß Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir
+auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon
+störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute,
+wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich
+sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+
+So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht
+zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer
+Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen
+vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde.
+
+Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors
+das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten
+Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes
+Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden.
+Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er
+ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz
+fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster
+Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um
+ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun
+war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr.
+l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling.
+
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze
+Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte
+ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,"
+sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"
+
+Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
+
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache:
+Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit
+Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das
+Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.
+
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber
+weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast
+mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort
+heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte
+wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber,
+nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders,
+und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem
+Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär
+Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines
+Vergehens entschuldigt hat."
+
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit
+als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht
+mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht
+möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"
+
+"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und
+der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen
+Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu
+kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein."
+
+"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um
+solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie
+es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf
+der Sache war."
+
+Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach
+der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen
+der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte
+noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort,
+indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn
+gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort
+aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat,
+der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf
+Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in
+aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich
+nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den
+Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich
+gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling,
+den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein
+rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+
+"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."
+
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe
+hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir
+den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht
+lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer
+Klasse."
+
+"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich
+kann ihn doch nicht angeben?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und
+deine Menschenkenntnis ist nicht groß."
+
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,"
+sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus
+ist."
+
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das
+Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst
+nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem
+Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr
+euren Schulhof!"
+
+Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater,"
+rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du
+gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal
+erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel
+besser vorgebracht."
+
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht
+glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft
+möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke
+ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann
+schweige ich lieber."
+
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen
+genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine
+strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern
+lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür
+fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du
+ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber
+freilich mußt du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt."
+
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?"
+fragte Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich
+mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den
+Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer
+weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen
+vertreten haben, so gut er es eben versteht."
+
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz
+gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des
+Vaters Hand, küßte sie und lief davon.
+
+Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
+freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt
+nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine
+Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist
+gut vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei
+der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen
+Schriftsteller.
+
+"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der
+Professor nach der Stunde zu Wilhelm.
+
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht
+aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem
+angegeben."
+
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete
+Wilhelm.
+
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden
+sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war
+unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann
+aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den
+falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern
+fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts
+geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht
+übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts
+macht."
+
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief
+Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem
+Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann
+nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich
+durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe
+hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es
+so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere
+um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und
+bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten
+Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand
+lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und
+schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht
+_ein_ Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte
+er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt
+sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht
+entgehen.
+
+Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so
+peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts
+getan, was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich
+wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher
+Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es
+am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte
+sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei:
+'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu
+Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit
+taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und
+Geld für sie verwenden?
+
+In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr
+nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter
+das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft
+hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten
+die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn
+sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die
+doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob
+nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer
+daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen
+gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder
+fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war
+schuld.
+
+Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen.
+Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief
+die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte
+heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah
+sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.
+
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter
+Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände
+waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf
+die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte
+sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie
+aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem
+vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit
+hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die
+Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung
+vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in
+ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf
+dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr
+Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter,
+sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles
+gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!"
+
+Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch
+Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz
+andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen
+Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben
+geschrieben stand:
+
+Man bittet die Türe zu schließen!
+
+
+Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts
+helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.
+
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel
+ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig
+flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind
+manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß
+es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen."
+
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die
+Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als
+sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich,
+ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend,
+so weit sie nur aufging.
+
+Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den
+guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt,
+daß heute etwas besonderes los war.
+
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas
+kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+
+Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau
+Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die
+ganze Familie am Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die
+Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter
+geworfen?"
+
+"Vergessen!"
+
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+
+"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch
+nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht
+verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich
+nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem
+Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.
+
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie
+schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr
+fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte
+Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen
+waren.
+
+"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß,
+wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders
+für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn
+Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn
+ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter
+machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen."
+
+Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt
+werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der
+Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem
+Gymnasium ausgewiesen.
+
+Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine
+Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.
+
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling
+sagen.
+
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum
+nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder
+war etwas anderes gemeint?
+
+
+
+
+6. Kapitel
+Am kürzesten Tag.
+
+
+Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe
+Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel
+steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als
+diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den
+Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie
+gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen
+den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander
+wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der
+Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die
+wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse
+und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume!
+Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und
+Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt
+waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.
+
+Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und
+Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser
+kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung
+besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich
+nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er
+selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt
+sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und
+kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und
+wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+
+"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand
+legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus
+einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn
+angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die
+andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst
+der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte
+die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter.
+
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte
+die Dame.
+
+"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume
+geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm
+heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame.
+"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur
+nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch
+unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der
+Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der
+andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß
+er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es
+aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so
+mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen,
+freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen
+Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet
+wären oder gar der Vater!
+
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in
+die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der
+Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man
+mußte ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem
+Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu
+Boden, ohne daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden
+hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei
+mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem
+Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen
+aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende
+schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten
+eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem
+Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige
+Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich,
+die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das
+wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer
+Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte
+niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten
+Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach
+Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte
+einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum
+wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige
+Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen.
+
+"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist
+Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun
+lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei
+die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als
+sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43
+vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr.
+Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und
+größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als
+er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er
+jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die
+Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar
+nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+
+Und es war wirklich höchste Zeit.
+
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun
+aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen:
+"Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen
+Vormittag weggeblieben!"
+
+"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife.
+Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu
+ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem
+zugestoßen sein—, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die
+Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen
+sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und,
+als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur
+nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim,
+fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon
+fertig?"
+
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört
+hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch
+in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man
+nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl.
+
+"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg
+zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der
+Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht
+machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den
+Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter
+sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen
+dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging
+von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen
+ganz hart.
+
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können
+ja noch ein wenig mit dem Essen warten."
+
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die
+Kinder.
+
+So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er
+es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf,
+und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau
+Pfäffling merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch
+hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den
+Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?"
+
+Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie
+man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell
+ihn nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz.
+Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte
+dieser, "ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie
+heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau
+hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders
+Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du
+kleines Dummerle, du!"
+
+Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte,
+läßt sich denken.
+
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner
+rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit
+Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus
+zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen,"
+entgegnete Karl.
+
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde
+ich mich schämen."
+
+"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß
+wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der
+Ecke stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte
+spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle
+nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'"
+
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird
+so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein
+Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie
+schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte
+sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies
+oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht
+auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs
+Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf
+Meier ab."
+
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit
+Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der
+Baum in die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.
+
+Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir
+nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht
+gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."
+
+"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir
+ein Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+
+"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen
+Pfennig mehr."
+
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins
+Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum
+so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit,
+deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+
+Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto
+mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen,
+als Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und
+sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich
+aus, wenn sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück
+kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst
+entschuldigen, nicht?"
+
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach
+war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr.
+Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im
+zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der
+rechten Türe.
+
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein
+wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als
+Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu
+gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den
+Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße
+wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile
+vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war
+Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war
+nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten
+gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich
+erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum
+getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte
+man auch schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein,
+und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der
+kleine Unglücksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie
+trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht
+gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund,
+er würgte an den Tränen, die kommen wollten, und preßte hervor:
+"Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid,
+aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten
+bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben gar
+nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen
+größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so
+treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten."
+
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit
+dem Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr
+zurück," und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein
+wenig von seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig
+davon.
+
+In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und
+sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch
+noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo
+bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar
+nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht
+mir."
+
+Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen
+jungen Pfäfflingen gemacht hatte.
+
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er
+kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe
+nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt,
+ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da
+konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr
+wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken."
+
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+
+"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten
+kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen
+Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?"
+
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit
+seinem Baum heimwärts.
+
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter
+angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe
+geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm
+klingelte, und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie
+den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins
+Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum,
+der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht
+aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!"
+
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab
+ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der
+Baum, Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim
+kam, ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber
+er merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte
+sie eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte
+er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so
+gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann
+heiße ich dich einen Feigling!"
+
+Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das
+brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu
+vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten
+Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem
+Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der
+Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und
+ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich
+kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn
+um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für
+feig."
+
+"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar
+schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen
+über dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft
+nur ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer
+sein kannst."
+
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten,
+fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er
+zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen
+Musikalien auf. "Willst du etwas?"
+
+"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon
+welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt
+gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von
+meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld,
+die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem
+Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war
+auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!"
+
+
+
+
+7. Kapitel
+Immer noch nicht Weihnachten.
+
+
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der
+Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade
+das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das
+Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie
+zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die
+schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von
+Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß
+die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen
+redeten, die sie bekommen würden.
+
+Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß
+morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig
+und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es
+gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+
+"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel
+ist zurzeit noch keine eröffnet."
+
+"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch.
+Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag
+nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal
+nichts zu machen war.
+
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der
+letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie
+nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise
+geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer.
+Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es
+sich, daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die
+geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl
+4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen.
+"So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß
+ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht
+doch auf den ersten Blick den Vierer."
+
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+
+"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"
+
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater
+darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du
+es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"
+
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren
+inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die
+Brüder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie:
+"Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte,
+fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal,
+und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon
+zufrieden sein."
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen
+soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und
+zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und
+dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz
+des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt
+sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen
+anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in
+einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter
+nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben
+werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte
+man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das
+beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis
+gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte
+Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+
+"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur
+von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten
+bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft
+wieder, Karl?"
+
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."
+
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat
+sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.
+
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es
+übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht
+nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr
+Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das
+Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß
+er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse
+bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was
+wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen
+ist? Magst du raten, Vater?"
+
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte
+ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei
+bis drei vielleicht?"
+
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+
+"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und
+Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will
+ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal
+unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling
+noch von der Treppe herauf.
+
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber
+sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da
+niemand in die Hände fallen.
+
+Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel,
+denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten
+und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal
+stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer
+waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels
+stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt
+seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling,
+nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit
+herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des
+Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm,
+einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume
+in den Saal getragen wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche
+zusammen, denn hinter ihm ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst
+du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es
+war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling
+gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den
+Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt
+Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm
+vorbei, die Treppe hinauf.
+
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf
+seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den
+Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm,
+er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr
+Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die
+Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm,
+sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch
+empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter
+war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
+geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas
+erzählten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über
+ihn, das wußte er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+
+Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe
+hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel
+seiner Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig
+musiziert.
+
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte
+ihm die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen
+Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein
+Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut
+selbst keine! Der Sohn wird nichts."
+
+Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte
+und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen,
+über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war:
+"Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen
+Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht
+teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht
+zufällig da. Er wußte vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb.
+Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein
+anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur
+Sprache zu bringen.
+
+"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für
+andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest
+nur Arbeit."
+
+Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater
+sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch
+wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war
+und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß
+ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie
+begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß.
+Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her
+sein."
+
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen
+anleiten?"
+
+Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar
+nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein
+gewöhnlicher Schuljunge war?
+
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder
+freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."
+
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und
+ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind,
+Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte
+Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen
+können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession
+merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen
+uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das
+bringt ein Welthotel so mit sich."
+
+Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und
+der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er
+offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor
+der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen,
+die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand
+auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte
+Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen:
+
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft
+von den Gästen abgehalten wird."
+
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern
+kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem
+Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen
+Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der
+von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht
+merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in
+Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit
+gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit
+dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus
+eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du
+siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den
+schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von
+der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während
+sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins
+Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen
+Saal.
+
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die
+Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke,"
+sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber
+um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+
+Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach
+einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie
+Platz nehmen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er
+sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch
+begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+
+"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann
+sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr
+Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie
+ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der
+tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von
+beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den
+Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein
+Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er
+dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort
+von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus
+ihm werden, aber so nicht!"
+
+Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen
+nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und
+kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles
+sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur
+ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir,
+daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus
+vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern
+Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und
+werde für sein Wohl sorgen."
+
+Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie
+dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie
+gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich
+vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren
+habe, daß es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre
+Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht.
+Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich
+Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum
+sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen
+Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!"
+
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung
+ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser
+Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie
+nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
+
+"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe
+nichts erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun
+ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich
+seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was
+er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken
+Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng
+ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so
+ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz
+aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute
+einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+
+Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er
+sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen
+eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn:
+eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die
+Folge davon war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu
+Hause in den Weg lief, zurief:
+
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich
+will sie sehen!"
+
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse
+müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu.
+"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List
+mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck
+und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer.
+
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als
+sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."
+
+Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine
+List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend
+etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar
+fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er
+überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst
+Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus,
+jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines
+gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten.
+
+Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut
+brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte
+viele Sünden anderer gut machen.
+
+Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da
+war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie
+sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute
+Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn
+sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer,
+ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen,
+aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei
+diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die
+Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht
+und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer
+zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+
+Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes
+entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und
+staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal
+erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung
+des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders
+anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika
+zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in
+Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es
+kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die
+besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote
+herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines
+fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern,
+hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein
+und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das
+war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin
+und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie
+feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe
+sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier
+auch nicht heimbringen.
+
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis
+etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es
+wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis.
+
+Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand
+an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es
+war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm
+fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht
+daran, daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und
+folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr,
+Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich
+erinnerst."
+
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden
+immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+
+"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor
+Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal
+alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!"
+
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre
+Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf
+einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so
+eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die
+Durchschnittsnote hervorgegangen.
+
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur
+gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und
+Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet
+man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als
+mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns
+darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+
+Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen
+Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um
+den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen
+wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht
+verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen,
+nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!"
+
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch
+Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann
+kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was
+machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden
+kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit
+meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie
+wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast
+das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen.
+Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem
+Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den
+Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her.
+Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch
+nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß
+sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch.
+Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis
+gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her,
+suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr
+Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.
+
+"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort
+mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön
+wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf
+Weihnachten?" Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang,
+und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein
+Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich
+habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht
+'herein' gerufen."
+
+Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch
+immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als
+sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große,
+erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch
+ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon
+verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei
+Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"
+
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche.
+Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht
+ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf
+hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll
+aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt
+beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem
+Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige
+Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+
+"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur
+so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_
+Noten spielen, die da stehen."
+
+"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch
+nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch
+nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich
+weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich
+auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit
+zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling."
+
+"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie
+ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber
+nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton
+falsch wird."
+
+"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"
+
+"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer
+sein?"
+
+Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in
+rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte
+zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem
+8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude,
+und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu
+haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem
+Musiklehrer und seiner Schülerin.
+
+In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt
+hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens,
+das über einen Meter lang herunter hing.
+
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein?
+Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden,
+Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine
+Tastendecke für das Klavier erkannt.
+
+"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein
+Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich
+bitte dich, nimm mir das Ding da ab!"
+
+Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden,
+seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen.
+Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den
+Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge
+im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht,
+aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines
+Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig
+Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige,
+die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd
+hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glückliches Paar, nicht wahr?"
+
+Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der
+Vater zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu,
+Cäcilie?"
+
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"
+
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und
+dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die
+kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich
+vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es
+war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte
+den Regenschirm bei mir."
+
+"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein,
+"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man
+sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm
+trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes
+Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als
+mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu
+Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges,
+dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe
+hatte, mein Lachen zu unterdrücken."
+
+"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können,
+sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und
+um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine
+Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein
+gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich
+warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst
+dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich
+wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz
+Besuch machen wollte."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter
+hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie
+fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit
+dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird
+er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte
+mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und
+ungeschickt."
+
+"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling
+ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an,
+wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht
+lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich,
+was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt,
+meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du
+lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern
+wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen
+Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich
+sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der
+Lachlust."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel,
+Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht
+gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr
+Pfäffling.
+
+
+
+
+8. Kapitel
+Endlich Weihnachten.
+
+
+Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute
+ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an
+keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht
+und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so
+dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch
+der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um
+6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob
+gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn
+geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die
+Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes
+erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen
+Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche
+befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht
+hätte.
+
+Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der
+etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus
+dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die
+allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber
+damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie,
+"führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen,
+bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau
+Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie
+ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir
+einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach,"
+entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder
+nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken
+will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem
+keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist
+auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen
+hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns
+war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend."
+
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch
+noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen
+Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder
+bekommen auch nicht viel—das können Sie sich denken bei sieben—aber
+weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung
+doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder
+sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen
+Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt
+wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet
+ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich,
+und dann sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor
+Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen."
+
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen
+Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."
+
+"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.
+
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines
+heimgebracht und Lichter dazu."
+
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf
+den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen
+hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich
+denke mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen,
+etwas bekommen, oder nicht?"
+
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein
+kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder."
+
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr
+tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel
+gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon
+auch daran freuen."
+
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag
+gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der
+Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie
+haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen
+getan habe."
+
+"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will,
+als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine
+Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein
+Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir
+versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau
+Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine
+schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange
+Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem
+Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule?
+Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem
+Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann
+noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen
+Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am
+heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war."
+
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen
+Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben."
+
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen
+allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das
+können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die
+Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und
+die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht
+selbst wollen."
+
+Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück;
+als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen
+und der Schlüssel abgezogen.
+
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an,
+darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie
+gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt
+nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus
+hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn
+ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so."
+
+Da ergaben sich die Kinder.
+
+Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher
+Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau
+Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die
+Mädchen.
+
+"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche,"
+sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben
+besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien
+Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge
+Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und
+pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen
+Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren.
+"Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm
+fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer
+wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte
+es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln
+und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe
+von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben
+ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den
+plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben,
+ihr Kinder?"
+
+"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht,
+wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben
+darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und
+mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der
+Strumpf fiel herunter.
+
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+
+"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher
+grau und schwarz, denen schadet das nichts."
+
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre
+Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle
+Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten
+sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten
+Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen!
+Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen?
+
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid
+herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau
+meine, sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang
+der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz
+entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe
+heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr
+Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat
+auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das
+gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein
+kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den
+Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel
+nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam
+von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch
+nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen.
+Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling,
+"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch
+knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den
+Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste
+vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr
+Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf
+dabei an ein großes Stück Braten denken!"
+
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr
+wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar
+jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann
+wurde es Ernst!
+
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die
+kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte,
+wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck
+da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und
+oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in
+andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und
+Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit
+Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des
+Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem
+nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter
+Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil
+ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie
+nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt
+wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu
+gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns
+schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen
+unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach
+diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr
+wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem
+Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren,
+und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und
+Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet
+und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie
+nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen
+vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in
+der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz
+und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das
+Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer
+Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen
+und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+
+Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus
+aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war
+eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die
+Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist
+zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und
+dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich
+bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht
+leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das
+gleiche Strahlen hervor.
+
+Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten
+Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den
+Baum anzünden?"
+
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich
+bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen
+Jubel Kraft zu sammeln."
+
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich
+wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein
+wenig und schließe die Augen."
+
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur
+drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder
+frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache
+Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen
+anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in
+den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen
+Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die
+Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter
+ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung;
+solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein
+Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der
+Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und
+jubelnder wird das Kinderglück.
+
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht
+dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war
+sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen
+kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen
+Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe
+und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte
+dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des
+Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
+
+Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den
+Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war,
+stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit
+staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine!
+Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war,
+und las das Verschen:
+
+Fideln darfst du, kleiner Mann,
+Vater will dir's zeigen.
+Aber merk's und denk daran:
+Immerfort zu geigen
+Tut nicht gut und darf nicht sein.
+Halte fest die Ordnung ein:
+Eine Stund' am Tag, auch zwei,
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+
+
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er
+drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich
+sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die
+Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den
+Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen
+und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von
+dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte
+_reine_ Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit
+glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem
+Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen
+kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+
+"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding
+geschickt!"
+
+"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?"
+
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben
+welche."
+
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"
+
+Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre
+neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch
+gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe.
+"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz
+außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau.
+"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den
+Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es
+wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles
+gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+
+In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für
+sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht
+worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren
+großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute
+morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen
+hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen.
+Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen
+Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während
+Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern
+in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs
+Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das
+Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben?
+Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie
+nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der
+kalten Küche zu stehen?
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde
+zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und
+der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage:
+"Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er
+kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und
+Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur
+ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh
+sein."
+
+Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen
+Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im
+Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise:
+"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten
+sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht
+man so gut an, daß heute Weihnachten ist."
+
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie
+wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis
+endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch
+der Ruhe bedürftig sein," sagte er.
+
+"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut
+hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem
+Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem
+Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem
+kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und
+weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er
+wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel.
+Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal
+herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit
+festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg
+kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz
+entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das
+freut für Walburg!"
+
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem
+Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?"
+
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht
+kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde
+es rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten
+Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da
+draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden."
+
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person,
+wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz
+finden."
+
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten
+Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit
+den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg
+zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist."
+
+Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in
+ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen
+kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor
+der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam
+geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer
+getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie
+hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen
+gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die
+breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun
+wieder zu Ehren kommen!
+
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste
+sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
+
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es
+war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen.
+Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön
+aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht
+und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen
+und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe
+lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht
+bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon
+erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle
+sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht
+hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr
+Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich
+auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als
+eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine
+Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein
+seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die
+beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen
+hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die
+Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr
+zu spielen.
+
+So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war;
+ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus
+der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe!
+Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das
+man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was
+_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf
+und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile
+ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie
+tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme
+zu dir!"
+
+Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen
+Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80
+jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_
+nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig
+daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu
+besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den
+Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten
+Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie
+wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre.
+Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur
+Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das
+konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem
+Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel
+von des Tages Last und Hitze und davon, daß ihr Mann und sie noch immer
+treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern
+Last.
+
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen
+Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und
+zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und
+große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke
+des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und
+Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet
+er sich zu euch.
+
+Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und
+Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich
+Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen,
+fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll
+dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging,
+ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt
+hatten, Walburg stand vor der Türe.
+
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst
+mit dem letzten Zug erwartet."
+
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen.
+"Kartoffeln zusetzen?"
+
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst,
+wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich
+bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's
+nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser,
+die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die
+Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen.
+Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe
+und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte.
+Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die
+alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen
+Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so
+öde und leer in ihrem Herzen.
+
+Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet
+neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du
+tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer.
+Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen
+Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir
+geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die
+Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl
+recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat
+er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die
+Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie
+sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch
+auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?"
+
+"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir
+verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns
+ist's lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt."
+Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll
+Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der
+Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie
+freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie
+nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt
+und das Essen nicht gerichtet ist!"
+
+Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so
+traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch
+Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei
+uns recht heimisch fühlt."
+
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton
+hört sie."
+
+Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen
+noch geigen? Wie heißt dein Vers?
+
+"'Eine Stund am Tag, auch zwei,
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+
+
+Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden
+gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben
+Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem
+traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die
+Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die
+Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine
+Verbindung mit den Mitmenschen.
+
+
+
+
+9. Kapitel
+Bei grimmiger Kälte.
+
+
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man
+die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus
+den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war
+das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke
+einschlagen, ehe man es benützen konnte.
+
+Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch
+zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor
+dem Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen.
+"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie
+erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über
+Nacht eingefroren.'"
+
+Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb
+daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz
+besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern
+stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches
+teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse
+warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen
+Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war
+einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf
+Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme,
+dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der
+im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen
+Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der
+Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und
+Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings
+Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand
+geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling
+tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur
+möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort
+und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große
+Reise gar nicht lohnen."
+
+Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch
+äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie
+Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.
+
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+
+"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr
+Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder
+groß sind und Walburg so zuverlässig ist."
+
+Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor
+stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und
+versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich
+zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den
+Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte
+mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der
+Januar bringt!"
+
+Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen
+wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den
+Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei
+Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute
+hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem
+er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und
+Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg
+frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl
+er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon
+im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte:
+"Laß doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen,
+es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+
+"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine
+großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen
+könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger
+als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der
+Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so
+zimpferlich?"
+
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er
+ließ den Mantel fahren und rannte davon.
+
+Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den
+Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten
+bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von
+Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den
+Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.
+
+So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit
+wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch
+auf das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und
+Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt,
+zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne
+diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut
+mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die
+Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie
+noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch
+setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?"
+fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das
+Geständnis, daß man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp
+anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein
+Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen
+Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.
+
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
+Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast.
+Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist
+gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun
+kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir
+haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule
+erzählt. Kommt, wir wollen beten:
+
+"Herr wie schon vor tausend Jahren
+Unsre Väter eifrig waren,
+Dich als Gast zu Tisch zu bitten,
+So verlangt uns noch heute,
+Daß Du teilest unsre Freude.
+Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+
+
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei
+Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie
+vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man
+wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der
+Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert
+ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das
+vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen
+hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen
+Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise
+zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler
+Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen
+Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des
+wunderbar begabten Knaben mache.
+
+Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß
+unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares
+Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule
+gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer
+der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude
+auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb
+dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine
+Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum
+80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur
+Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem
+Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer
+war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu
+eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit
+halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr,
+der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier
+erzählt?" fragte er Otto.
+
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+
+"Hast du nichts näheres darüber gehört?"
+
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich
+weiß nicht mehr."
+
+Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand.
+Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald
+näheres erfahren.
+
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel,
+im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt,
+und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen
+Winter.
+
+"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?"
+meinte Herr Pfäffling.
+
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu
+schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen
+belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße.
+Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin,
+indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der
+Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles,
+vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe
+käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom
+Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen."
+
+Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel.
+"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn
+des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist
+übrigens jetzt nicht mehr hier."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich
+gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der
+Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein
+richtiges Familienleben hinein.'"
+
+Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat
+recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig
+sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land
+ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser,
+die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland
+haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort
+aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und
+Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von
+dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine
+Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen
+Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren,
+was wohl in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über
+diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt."
+
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne
+standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte,
+daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren
+schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer
+Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme
+Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland
+bessere Zustände bringen!"
+
+Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er
+unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen
+Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über
+das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die
+Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht.
+Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber,
+gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!"
+
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie
+auseinander.
+
+Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der
+kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein
+Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie
+war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater
+sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl
+seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche
+erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine
+Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich
+dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?"
+fragte er.
+
+"Nicht lange, Vater."
+
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast?
+Sage mir das genau?"
+
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu:
+"Aber das ist doch noch nicht lang her?"
+
+"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon
+heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei,
+Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht,
+sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche
+bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der
+Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen.
+Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem
+Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann
+reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab
+sich.
+
+Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht
+verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie
+sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken
+Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich
+und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?"
+
+"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.
+
+"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf
+die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach
+seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen!
+
+Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen
+Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie
+zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme
+fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im
+Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet
+und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das
+Familienzimmer zu seiner Frau.
+
+"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein
+fand, fragte er ungeduldig:
+
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+
+"Sie ist draußen und bügelt."
+
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+
+Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir."
+Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich
+komme gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben."
+
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und
+in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".
+
+Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau
+Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in
+der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen
+Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso
+glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete
+Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die
+Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"
+
+"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"
+
+"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von
+Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle
+Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die
+Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei
+still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel
+Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber
+sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh
+sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt
+wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+
+"Ja," schluchzte das Kind.
+
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja
+noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere
+Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es
+ist doch immer alles gleich bezahlt worden?"
+
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß
+diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet
+wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim
+Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen
+sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's
+schlimm!"
+
+Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr
+der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling
+schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich
+sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die
+Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist."
+
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen,
+als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und
+die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten
+bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung
+sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief
+hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater
+geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den
+Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie
+und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte
+Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das
+anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche
+Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch
+warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen
+herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter
+Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den
+Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte
+sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht
+gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen
+nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig
+Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn
+noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg
+entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte
+weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es
+freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!"
+
+Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen
+angestellt, und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs
+die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte
+gerne die alte Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor
+nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich
+schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer
+wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr
+hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch
+nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht
+anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater
+stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da
+machen können?"
+
+"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."
+
+"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.
+
+"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."
+
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+
+"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter;
+wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht
+so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf
+Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann
+man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich
+bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen.
+Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld
+geschickt bekommen?"
+
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+
+"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die
+Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder
+eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich
+darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt
+mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr,
+Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag
+dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war.
+Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler
+tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke,
+eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer
+Vater, auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn
+freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie
+nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!"
+
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte
+vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte.
+Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei
+zwanzig Grad Kälte!
+
+
+
+
+10. Kapitel
+Ein Künstlerkonzert.
+
+
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt
+hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende
+Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers
+die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine
+musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte.
+
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um
+seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal
+musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann
+nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen
+ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den
+Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden
+jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der
+jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten.
+Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den
+großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den
+beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und
+warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.
+
+"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General,
+"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu
+überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch
+anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!"
+
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz
+machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war
+für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe
+und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr
+Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte
+und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit
+mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers
+aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute
+wieder vollauf in Anspruch genommen?"
+
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken
+als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch
+und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach,
+was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es
+vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester
+ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den
+Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation."
+
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir
+sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen
+habe. Was schreibt Ihr Sohn?"
+
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben
+finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über
+seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er
+ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum,
+wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern
+schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner
+Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte
+ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl
+Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.
+
+"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre
+Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das
+Telephon."
+
+"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich
+alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie
+wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders
+auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen
+Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich
+im Konzertsaal abspielt."
+
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur
+Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt
+oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen.
+Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner
+Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar
+sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling."
+
+Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
+verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal
+einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie
+wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit
+zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte.
+Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte
+Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen.
+Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie
+sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer
+Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der
+Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war
+in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden
+Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten.
+Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen
+Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten
+ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben
+hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die
+Stunden beilegen wollten.
+
+Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen,
+wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in
+der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte
+Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr
+Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten
+fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht,
+daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der
+Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine
+einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der
+Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung
+unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch
+Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe
+ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch
+dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit schlechtem
+Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark
+beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt
+hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so
+gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man
+auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die
+Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken
+können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das
+Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch
+bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt,
+soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und
+warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei
+man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man
+nicht bitter werden!"
+
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+
+Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis
+Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu
+Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen
+Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling
+sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu
+lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie
+für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden."
+
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer
+waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt,
+alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das
+Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch
+langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den
+kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter
+Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.
+
+Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele
+Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der
+Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche
+Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen.
+"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht
+in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur,
+wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde
+in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so
+verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung,
+ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar
+muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen
+und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte,
+sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas
+Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!"
+
+"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und
+verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das
+stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also
+auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte
+er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte
+dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal
+war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang
+sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in
+Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und
+munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes
+sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine
+Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie
+ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn
+Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder,
+Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch
+Spielzeug dazu, aber rasch!"
+
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor,
+und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse
+bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal,
+sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so
+zuwider sei."
+
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie
+waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu?
+Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur
+Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto
+erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie
+kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll?
+Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er
+kreuzfidel würde!"
+
+"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du
+es auch zustande bringen. Und Frieder?"
+
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten.
+Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem
+niedlichen Gestältchen."
+
+"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu
+schüchtern? Wir wollen sie fragen."
+
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer,
+hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und
+Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte
+bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen.
+Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches,
+lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine
+Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er
+kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?"
+
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann
+ich schon fort."
+
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch
+die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.
+
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas
+bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der
+Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn.
+Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und
+sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden."
+Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen,
+hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen
+Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater,
+langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun
+kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der
+Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm
+spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht
+mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie
+andere Kinder auch."
+
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das
+"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber
+Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn
+sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da
+lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg
+Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein
+kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte,
+aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war
+erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein
+und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen,
+die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun
+laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?"
+
+Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in
+ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem
+nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte
+freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt
+entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte
+ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte,
+ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen
+Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu
+der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
+herein, bloß heute, weil er lustig sein will."
+
+"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist
+Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die
+Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das
+Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich
+mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen.
+
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas
+sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche,
+blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und
+wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen,
+die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese
+Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern
+spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war,
+lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die
+ihn viel älter erscheinen ließen.
+
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte
+sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit
+dir möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+
+"Was willst du tanzen?"
+
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres
+Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts
+gewußt hatte.
+
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen
+zum Tanz führen.
+
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."
+
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken,
+für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu
+machen.
+
+"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir
+einen Walzer vorpfeifen."
+
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und
+sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter
+ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte.
+Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin.
+Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt
+hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den
+Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein
+rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter
+die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in
+unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner
+Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
+das Fräulein. Sie wußte es nicht.
+
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist
+die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das
+Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und
+sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand
+alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen
+möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle.
+Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der
+Mutter hatten nur Tränen zur Folge.
+
+Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt
+doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen
+sich schon so lange auf das Konzert!"
+
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte,
+sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das
+Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so
+langweilig, während du singst und Papa spielt."
+
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht
+kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich
+habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele
+Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er
+drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht
+kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch
+tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief
+den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint
+und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so
+verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen
+durchmachen, heute abend."
+
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand
+und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden
+Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden
+nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt.
+Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte
+er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den
+Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal
+bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl
+tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten
+dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt
+noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet.
+Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke!
+"Ja," rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater
+geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht
+durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom
+Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei
+sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich
+freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen
+Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
+so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad
+laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen
+Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem
+Kinde redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt
+heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem
+Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der
+Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten,
+so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer
+fragen."
+
+"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt
+es."
+
+Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte
+er, "woher weißt du das Zimmer?"
+
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser
+Konzert?"
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich
+mehr darüber freuen, als mein Vater!"
+
+Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei
+schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden
+Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken.
+Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem
+Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer
+einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu
+belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen.
+
+Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell,
+schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist
+schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+
+So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr
+erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die
+Freitreppe vor dem Hotel.
+
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren."
+Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und
+kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber
+die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des
+Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine
+Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter
+Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so
+kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen
+holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im
+Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei
+riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.
+
+"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen
+bis nach Rußland."
+
+"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten
+Woche nach Berlin reist."
+
+"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."
+
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah
+erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das
+gesagt?"
+
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General
+selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen
+vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+
+Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung
+zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der
+Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und
+sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt
+nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen,
+dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die
+Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle
+auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und
+Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu
+rechter Zeit bekommen!"
+
+In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau
+Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte:
+"Sie kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin
+und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch
+den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend
+Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr
+Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder
+sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie,
+singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also:
+die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann:
+"Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die
+Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling
+stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte
+fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den
+eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater,
+wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt
+vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den
+Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte,
+enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf
+der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst
+schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der
+durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.
+
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es
+diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag
+herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht
+überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die
+Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so
+pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen
+hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß
+für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden
+verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie
+gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und
+sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie
+du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont
+wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im
+Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!"
+
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+
+Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet
+hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die
+Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die
+Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling
+und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau
+Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem
+kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu
+Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter
+Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu
+vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit
+dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der
+ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen
+verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und
+Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. "Wenn der
+Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau
+Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm
+allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem
+Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen
+bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht
+lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen
+Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er
+hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und
+unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm."
+
+So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem
+schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters
+Billet nachträglich zu verdienen.
+
+Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn
+begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin
+allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand
+in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter,
+die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da
+kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms
+bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine
+Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+
+"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im
+Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben
+hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt
+hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel
+für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?"
+"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das
+Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später
+kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr
+Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an
+ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am
+Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge
+die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu
+Wilhelm," die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des
+Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann
+öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem
+erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten
+sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht
+hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das
+junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe
+und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge
+entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer.
+
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms
+hat unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte
+Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?"
+Edmund antwortete nicht.
+
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat
+vorhin darnach gesehen."
+
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du
+stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch,
+nicht ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn
+dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu
+weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden,
+Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall
+klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die
+Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm
+ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte
+er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er
+vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein
+Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.
+
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß
+noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens
+hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch
+manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß."
+
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm,
+"so etwas habe ich noch gar nicht gehört."
+
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es
+nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem
+Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl
+geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer
+zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?"
+Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt
+ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.
+
+Im Saal erklang der Konzertflügel.
+
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an
+das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist,
+wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir
+bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich
+spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie
+anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So
+sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist
+von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre
+eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine
+Sache immer gut gemacht."
+
+"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht
+auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen
+Sie, Fräulein!"
+
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen
+lassen."
+
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen
+nicht müde sein vor dem Violinspiel."
+
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen.
+Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber
+ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem
+Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also
+_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und
+sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in
+der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er
+Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.
+
+"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,"
+sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr
+war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch
+den Türspalt, wie er seine Sache macht!"
+
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie
+der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in
+kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem
+Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen
+Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung
+nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben
+träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte
+Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser
+Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die
+Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich
+eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu
+wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände.
+Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte
+Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal,
+Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen
+Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter
+berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren
+unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe,
+die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein
+schlichtes, freundliches "Danke!" rufen.
+
+In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu
+gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte:
+die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg
+glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das
+Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein
+schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie
+war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten
+Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und
+von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß
+trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück
+bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.
+
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine
+weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm
+mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da
+dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing
+an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte
+gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie
+ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein
+Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds
+Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat
+es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr
+grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie
+das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind,
+boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien,
+wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu
+bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele.
+
+Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große
+Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der
+Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+
+"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner
+Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit
+Edmund reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng
+in die Augen.
+
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu
+Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe
+doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur
+ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht:
+Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen
+dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das
+deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber
+eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich
+tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen
+Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so
+gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht
+schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer
+Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann
+verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm
+das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm
+verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die
+Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater,"
+fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt
+der Vater.
+
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte
+sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des
+Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er
+möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von
+Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die
+Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die
+Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater
+noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die
+meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen
+von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.
+
+Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit
+erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter,
+die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing.
+
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,"
+sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum
+Droschkenplatz, nicht wahr?"
+
+Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer
+vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal
+zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom
+Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen.
+
+Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des
+Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine
+Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.
+
+Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank
+darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie
+manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich
+auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+
+Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+
+
+
+
+11. Kapitel
+Geld- und Geigennot.
+
+
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte
+täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß
+des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden
+beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische
+Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte
+sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder
+aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr
+Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit
+Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach
+Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.
+
+Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar
+zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich
+handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle
+geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig
+jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so
+werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+
+"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt,
+seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie
+das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne
+Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern
+würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es
+von Berlin aus geschehen werde?"
+
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab,
+ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas
+anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die
+Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das
+Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus
+allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die
+Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es
+scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas
+reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt
+übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die
+Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die
+Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie
+nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie
+noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will
+sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf,
+schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht
+gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang
+erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne,
+wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und
+alles ist gut."
+
+In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem
+offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er
+dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich
+schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und
+Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen."
+
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter
+Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie,"
+sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich
+ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich
+auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt
+doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner
+Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er
+hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren
+müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die
+ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können.
+Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser
+Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert
+Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?"
+
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über
+dich bringst," entgegnete Frau Pfäffling.
+
+"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz
+all dem Leid, was daraus entstehen muß?"
+
+"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es
+heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies
+ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben
+und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die
+unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären
+könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig."
+
+"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"
+
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich
+würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine
+Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm
+mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater
+begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber
+sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor
+der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich
+verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das
+kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem
+Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den
+russischen General ungeschrieben.
+
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto
+beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung
+über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck,
+den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die
+Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten,
+schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen
+mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß
+mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der
+Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner
+schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und
+dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an
+Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie
+gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur
+Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer
+Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin
+mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln,
+und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben!
+
+Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz
+anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am
+nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum
+lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?"
+Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung
+mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht
+äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der
+Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil
+dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
+wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken,
+nicht lange vorher fragen."
+
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf
+er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber
+die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht
+werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und
+ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten
+Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst
+sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch
+wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht
+herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche,"
+sagte er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen
+ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache
+schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es
+nicht erlauben sollen." Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto
+auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben
+ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen
+Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun
+Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den
+Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der
+Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre.
+Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen,
+hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau
+Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das
+Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun
+ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie
+gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und
+heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen
+Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und
+die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich
+angeführt.
+
+Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
+veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast
+entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über
+diese Wirkung und verstummten.
+
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr
+auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in
+die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel,
+sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General
+übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn
+zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das,
+was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch
+so einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins
+Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht
+begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht
+erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief:
+"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch
+nicht so!"
+
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er
+sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir
+schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch,
+denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten
+alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche
+Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe
+daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+
+"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau
+Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen
+Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie
+wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten
+Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht
+gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er
+unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein."
+
+Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber.
+"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau,
+"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die
+Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch
+unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in
+dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte
+an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der
+Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der
+General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung
+einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne
+schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung
+unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu
+bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen."
+
+Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen
+Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner
+Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages
+plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief
+vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder
+verschwunden.
+
+Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen
+Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein
+kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten
+Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er
+es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu
+fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie
+die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil
+entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht
+nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer
+Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß
+es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe
+zusammenzubringen.
+
+Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der
+Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball
+gegeben hat?"
+
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die
+sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja
+bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß
+er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand
+die große Familie aufnehmen wollte."
+
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich
+keine so gesalzene Rechnung geschickt!"
+
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+
+"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."
+
+"Gar nicht ähnlich."
+
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"
+
+"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."
+
+"Doch!"
+
+"Nein!"
+
+Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens
+gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld
+ein mit einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."
+
+Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer
+Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie
+sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister
+schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der
+geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich
+aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie
+wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du
+hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er
+endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo
+die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar
+nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und
+spielte. "Du Böser!" rief die kleine Schwester und Tränen der
+Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen
+die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder
+an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber
+ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe
+hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte
+und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe.
+"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich
+aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der
+leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an
+dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich
+kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin."
+
+In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen
+weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er
+tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur
+an!"
+
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch
+mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige
+sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.
+
+"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch
+weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir
+gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt,
+dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich
+will hören, was der Vater meint."
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was
+geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten,
+und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im
+Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht,
+denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid."
+
+"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du
+bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann
+könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß
+du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht
+tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit
+dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen
+wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn
+bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder
+spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen
+folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für
+immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!"
+
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie
+nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen
+Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so
+bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+
+Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines
+gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und
+dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch
+seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine
+hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt
+kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er
+hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir
+gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich
+nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern
+zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das
+Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich:
+"Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der
+Kleine beharrte in seiner Stellung.
+
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast
+du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser
+Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe
+zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du
+fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer.
+
+Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen
+schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr
+Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo
+er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief:
+"Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf
+hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm
+nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den
+Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen
+Vater und keine Mutter mehr hat."
+
+Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an
+sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind,"
+sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen
+ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die
+Violine bringen, dann ist alles wieder gut."
+
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für
+Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der
+zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als
+ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die
+ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch.
+"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr
+Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll
+es tun und das Gewissen."
+
+So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging,
+kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen
+und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen
+wollte er spielen, immerzu spielen.
+
+Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der
+Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle.
+Drei Striche—dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder
+wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie
+mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er
+auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz
+bewegen kann.
+
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er
+mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den
+Schwestern.
+
+"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr
+Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd,
+wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick
+ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile
+später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein
+sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden
+Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen
+Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch
+der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der
+fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling
+rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen,
+zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder,
+und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen
+seinen Schmerz aus.
+
+Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder
+seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst
+wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer
+mit so traurigen Augen angesehen!"
+
+Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie
+kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte
+Frau Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich."
+
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und
+fügte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen,
+das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich
+denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis
+jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben."
+
+"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln
+können, daß er einmal ein Musiker wird."
+
+Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."
+
+
+
+
+12. Kapitel
+Ein Haus ohne Mutter.
+
+
+So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau
+Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer
+ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag
+sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei.
+
+Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines
+Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man
+Frau Pfäffling sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als
+Reisekleid praktisch ist."
+
+"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu
+sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen,
+trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht
+reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten
+Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit
+gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten
+Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit
+herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
+Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr
+Elschen mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+
+Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große
+Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle
+und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den
+ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte.
+
+"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir
+entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in
+der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man
+Pfäffling heißt!"
+
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die
+Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf
+sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein,
+Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer
+so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst,
+wenn ihn die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich
+doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen,
+wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja
+nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt
+unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim
+wärest, könnte ich gar nicht reisen."
+
+Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben
+mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen,
+denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust
+und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und
+Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen
+Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester,
+die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter
+gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es
+schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren,
+sonst hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte,
+wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte
+jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und
+her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und
+Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte,
+überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein,
+nahe, so nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes,
+stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem
+Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+
+"Was denn, Kind?"
+
+Es wollte nicht über seine Lippen.
+
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+
+"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem
+Vater deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum
+tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein,
+daß ich zu meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine
+Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das
+Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich
+werden!"
+
+So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.
+
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein
+Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig
+wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders
+schwer."
+
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es
+schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte,
+neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten,
+wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht
+man ihm gut an. Da tut er mir oft leid."
+
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die
+erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und
+wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am
+Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm
+Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm
+werden nimmer regelmäßig eingehalten."
+
+"O doch, Mutter."
+
+"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"
+
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."
+
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist
+aber nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm
+wieder eine so schlechte Note bekäme!"
+
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf
+verlassen!"
+
+Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in
+die Holzkammer.
+
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie,
+"daran dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg
+muß in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz
+und Kohlen sorgen."
+
+Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie
+möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."
+
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die
+Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und
+anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am
+Vormittag vom Kochen fortspringen muß."
+
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und
+am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch
+einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden
+an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur
+Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen,
+bis endlich der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen
+Tatsache machte, daß Frau Pfäffling verreist war.
+
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine
+Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr
+selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts
+nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und
+Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder
+tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich
+bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein,
+daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine
+wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer
+Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.
+
+Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann
+mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war.
+Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen
+geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch
+die stillen Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei
+dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau
+Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren
+lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine
+so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben.
+Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das
+zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch
+ein, daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto
+und so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern
+dem jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht
+immer so friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg
+wunderte sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz
+leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger
+Verbrauch mehr wie bisher.
+
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten
+Abendstunden, wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe
+gerückt und wußten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das
+Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man
+bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen.
+Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein
+gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn.
+
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes
+Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht
+ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges
+Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne
+Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war
+Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die
+Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben!
+
+Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach
+einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden
+wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu
+trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu
+leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege
+der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die
+_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit
+solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift
+durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam,
+das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht.
+
+Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde,
+die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte
+die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte
+Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie,
+nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+
+"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts
+tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen
+und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das
+anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen."
+
+Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du
+das nicht in _drei_ Wochen erreichen?"
+
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich
+vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang
+an vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß
+du mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen
+Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen.
+Es kommt so oft etwas vor bei uns!"
+
+"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"
+
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber
+es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme
+Folgen haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er
+einmal anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das
+Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags
+immer allein die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich
+in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist,
+Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann
+einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"
+
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde,
+wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der
+nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so
+lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein
+Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich
+einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!"
+
+Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches
+Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz
+jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus.
+
+Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei
+Wochen geeinigt.
+
+Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war
+für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der
+Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles
+Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und
+doch stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten
+Weg hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel,
+überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches
+anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt
+man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der
+konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau
+Pfäffling war von denen, die hören wollten.
+
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag.
+Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau
+Pfäfflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer
+fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen.
+Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universität war,
+hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus
+der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets
+Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich
+einmal wieder ins Auge zu sehen.
+
+"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu
+seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte,
+eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in
+einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in
+diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht
+streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten
+zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend
+ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine
+Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor."
+
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als
+du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."
+
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird
+damit oft kaum fertig."
+
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel
+miteinander, wie ist das bei euch?"
+
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander.
+Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur
+sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können."
+
+"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel.
+Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist
+das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei
+Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht
+fertig."
+
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören
+über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er
+beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen,
+dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu
+besuchen.
+
+An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach
+dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein
+besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen
+wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der
+andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich
+versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der
+jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde
+überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit
+ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der
+Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der
+Kinder am besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte
+er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht
+auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie
+wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es
+still wie vorher.
+
+Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie
+erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die
+Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet,
+sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst
+mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene
+Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und
+Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der
+Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr
+Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an:
+"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen
+oder dergleichen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes
+gehört."
+
+"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die
+zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der
+Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der
+Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in
+Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren
+können."
+
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging
+hinauf. Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam
+die Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts
+verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings
+blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das
+war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und
+machte sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die
+Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau
+Mitteilung.
+
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die
+Schwestern zurück.
+
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.
+
+"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr
+Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte
+doch auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit
+Tränen in den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war.
+
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter
+nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun
+auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren
+bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt,
+das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das
+hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern
+eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem
+Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt
+geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die
+große Neujahrsrechnung.
+
+Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des
+Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern
+vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn
+etwas versäumt würde.
+
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei
+Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so
+ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und
+doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide
+trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse
+Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das
+macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure
+Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe
+noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die
+gehört dazu."
+
+Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
+gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch,
+daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar
+nichts mehr?" fragte er.
+
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr
+sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer."
+
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz
+gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte.
+
+"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der
+Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt
+daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung."
+
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten
+sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen
+sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um
+sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn
+euere Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein."
+
+Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.
+
+Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum
+gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie
+volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war.
+
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen
+vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen,
+diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte
+einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es
+denn so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte
+Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir
+zum Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da
+stellte es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den
+Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt
+dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und
+wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er
+Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen
+Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich
+so nahegerückt.
+
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg;
+ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die
+jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat
+gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen.
+Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um
+aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen
+Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien,
+bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an
+Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm,
+und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
+Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den
+Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte
+der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann,
+den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das
+Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus.
+
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam
+keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die
+Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben
+heraufkam.
+
+"Wer war da?" fragte diese.
+
+"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins
+Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen
+zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim
+Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem
+Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er.
+Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn—ja,
+wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein
+seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen
+sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum.
+Oft schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in
+dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was
+die Familie Pfäffling am Leben erhielt.
+
+Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich
+eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen,
+keinen Pfennig fürs tägliche Brot!
+
+Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man
+brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere
+Schublade, die bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich
+genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?"
+
+Und nun flogen Vorwürfe hin und her.
+
+"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den
+Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja
+gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie
+nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein
+Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!"
+
+"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.
+
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder
+wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir
+wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal
+niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit
+solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise
+miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen
+haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein
+Gehalt. Wir sparen recht."
+
+"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe
+auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die
+Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel
+abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt
+hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort:
+Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht
+werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort
+Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte
+mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell,
+schon waren viele Stunden verloren!
+
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie
+setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede
+knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die
+Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt,
+erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang
+ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit
+so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an
+seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.
+
+Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger
+Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel
+betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn
+aufzufinden.
+
+Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling
+abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand
+schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in
+großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus
+dem ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll
+Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte
+seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte
+Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen
+umgeschlagen war.
+
+Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich
+zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker
+gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso
+am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien,
+wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm
+Nachricht zukommen.
+
+Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter
+mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht
+die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war
+unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich
+mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme
+des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß
+der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise
+seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der
+Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+
+Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere
+mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen
+letzten Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung
+sein?"
+
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die
+Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das
+Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in
+Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein
+hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert."
+
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag
+irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du
+daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht
+mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht
+beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist,
+und nicht gleich erklären: ich reise nie mehr."
+
+Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr
+fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß
+sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der
+Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf
+Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die
+weite Heimreise antrat.
+
+Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei
+Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein
+Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch
+schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher
+gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch
+rührte sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude
+auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben
+zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer
+kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim
+reist?
+
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes
+doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben
+können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis
+Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran,
+aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her
+gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war.
+
+Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als
+er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof
+eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in
+ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen
+sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen
+langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto
+auftauchen sah.
+
+Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof
+begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er,
+"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an
+den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der
+Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen,
+denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein."
+
+So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem
+Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch
+sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges
+Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter,
+während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus
+dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie
+sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte,
+der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher
+Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.
+
+Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches
+Wiedersehen und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch
+die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte
+zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der
+Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und
+hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau
+Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die
+Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung
+erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise,
+da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob!
+
+"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von
+euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich
+nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort
+lautete ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa
+vorgekommen ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte
+glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder,"
+sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf
+der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo
+ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten
+und jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der
+Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte
+Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem
+Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in
+anderer Richtung.
+
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o
+Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn
+zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines
+Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!"
+
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber
+die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu
+ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis
+sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um
+darin die Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang
+und schon auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß
+soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein
+Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen
+gebacken habe.
+
+Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als
+sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht
+vergessen können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld
+war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau
+Pfäffling verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie
+nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein
+Unglück geschehen.
+
+Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf
+dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis
+erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein
+Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort
+fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte,
+das Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr
+und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der
+Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke:
+es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment
+sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie
+ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem
+Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den
+freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht
+ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß
+mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."
+
+Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe
+sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern
+angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ
+ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein
+Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah
+begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld,"
+rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder
+nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die
+Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb
+sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu
+viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber
+Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben,
+dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun
+kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön
+gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht."
+
+Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter
+wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet
+ist."
+
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau
+Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung:
+
+"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute
+Hier vor dir stehen!
+Du schenkest uns die schönste Freude,
+Das Wiedersehen.
+Nun gehn wir wieder eng verbunden
+Durch Lust und Leid,
+In guten und in bösen Stunden
+Gib uns Geleit!"
+
+
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee
+machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu
+gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja,"
+sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein
+und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er
+nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an
+den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch
+das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der
+Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe
+schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte
+sie, "aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für
+möglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das
+brächte ich ja gar nicht zustande!"
+
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich
+gespart; gestohlen ist es, gestohlen!"
+
+Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die
+Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien
+festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung
+mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf
+irgend eine Weise wieder hereingebracht werden.
+
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß
+derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es
+gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus:
+"Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+
+
+
+
+13. Kapitel
+Ein fremdes Element.
+
+
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten
+Tag auch den Kindern mitgeteilt werden.
+
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.
+
+"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur
+gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen.
+"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch
+das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch
+können uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet
+einmal!"
+
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne
+sein," schlug Karl vor.
+
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+
+"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen,"
+meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die
+Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in
+ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre
+blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden.
+
+"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
+Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn
+ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir
+wissen etwas anderes."
+
+"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch
+mehr einbringt."
+
+Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich
+will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen:
+"Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer
+Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür
+einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die
+Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten
+hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben
+einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den
+alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt."
+
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht,
+aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu
+und betätigten: "Ja, es wird sein!"
+
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in
+Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf
+in großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die
+Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein
+kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt
+ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer
+ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da
+hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das
+Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends
+kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen
+in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr
+Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und
+wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist?
+Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein!
+Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."
+
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der
+Kammer erfüllt.
+
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute
+Erlaubnis zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der
+Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf
+Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts.
+Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern
+Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie
+welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für
+die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr
+Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders
+als dieses Frau Pfäffling mitteilen.
+
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein
+Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann
+bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er
+nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte."
+
+Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr
+Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich
+sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs
+Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft
+den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher
+'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre
+jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte
+er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist:
+Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber
+_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt
+hat."
+
+Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den
+Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling
+zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur
+zusammen.
+
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn
+nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge
+geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht
+plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht
+heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt
+entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da
+fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer
+und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig
+behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären
+wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung
+setzen?"
+
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen."
+Sie besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu
+wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte
+Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen.
+
+Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und
+sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und
+nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten,
+wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu
+zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren,
+daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht
+jede von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das
+Zimmer vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen
+Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten
+Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die
+Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und
+sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt
+irgend jemand das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die
+Kost zu geben. Aber niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem
+Mittagstisch, wie wir ihn haben."
+
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine
+anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann
+stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat.
+
+Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften
+sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein
+gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen,
+meist im Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel
+zurückgelegt, daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren
+fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie
+war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich
+Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis
+jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der
+Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein
+Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt
+aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen.
+Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine
+Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit schwerem Herzen machte ihr
+Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am Mittagstisch der Familie
+teilnehmen dürfe.
+
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
+seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den
+ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da
+ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein
+wird."
+
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für
+Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen,
+wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch
+auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich
+war zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen
+angezogen fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn
+originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit.
+Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue
+Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen
+Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies
+flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der
+ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und
+wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das
+Wort "ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so
+gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie
+ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die
+Schwestern zu sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die
+Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand
+bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau
+Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte
+doch nicht zum Ganzen.
+
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume
+Zeit in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte.
+"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu
+machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann
+hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit
+geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die
+Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden."
+
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört
+auch nicht genug für manche Besorgungen."
+
+"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe,"
+sagte Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama,
+sie möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."
+
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.
+
+"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet,"
+sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"
+
+"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue
+voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen
+überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere
+Fortschritte."
+
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar
+keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum
+lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in
+die Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim,
+als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann
+die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?"
+
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie
+vollends ganz taub ist, muß sie doch fort."
+
+Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte
+Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie
+wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden,
+teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu
+ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag
+Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend:
+"Man muß froh sein, daß man sie hat."
+
+Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche
+Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung
+im Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher
+immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden.
+
+"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen,"
+bemerkte Fräulein Bergmann.
+
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen
+Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit
+vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."
+
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an
+unserem Tisch."
+
+Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum
+Nebenzimmer regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer
+mit _einem_ Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling.
+
+"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen,
+das würde sich sehr fein machen."
+
+"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann
+ich mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr
+bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind,
+wenn es nur immer zum täglichen Brot reicht."
+
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin,
+und ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf
+vieles verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß,
+daß Sie aus fein gebildeter Familie stammen."
+
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
+schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein
+Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben
+damit gar nichts zu tun."
+
+Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff
+zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die
+Türöffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus,
+die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht
+so recht zum Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das
+bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus,"
+sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese doch erneuert
+werden."
+
+Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die
+Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie
+mißliebig an.
+
+"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du
+solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen
+Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu
+unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in
+ihr Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön
+genug sein, so wie sie sind."
+
+Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und
+sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten
+hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller
+gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller.
+
+"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die
+Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich
+Fräulein Bergmann fragend an Frau Pfäffling.
+
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben
+Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein
+Geschäft."
+
+"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das
+Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit."
+
+Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen,
+was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind,
+müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen."
+
+"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu
+sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich
+werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr."
+
+"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr
+Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles
+ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich
+noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird
+man sie überall gern sehen."
+
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte
+gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit
+verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog
+sich Fräulein Bergmann zurück.
+
+"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern
+zu.
+
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt
+sie sich ein!"
+
+"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"
+
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt
+und haltet gar nicht zur Mutter!"
+
+Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr
+Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins,"
+sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird
+sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart,
+und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine
+Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu
+erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der
+Welt gesehen als ich."
+
+Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die
+beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein
+Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.
+
+"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man
+keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf
+diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht
+nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem
+ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+
+Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:
+
+"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger
+Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."
+
+"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar
+nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner
+veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle
+selbst, daß ich unausstehlich bin."
+
+Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß
+Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr
+Kritik und Einmischung gestattete.
+
+Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte
+sich kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles
+zurück und brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach
+Fräulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst
+verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch
+sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.
+
+"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März,
+"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen
+sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen.
+Aber dieses Jahr ist es so kalt."
+
+"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein,
+schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen
+Familienkreis.
+
+Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem
+Herr Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare
+streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+
+"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein
+feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus
+vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben
+Sie eigentlich?"
+
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man
+leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn
+es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein
+Gebet gedankenlos gesprochen wird."
+
+"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche
+Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war
+es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau
+liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft,
+"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den
+Inhalt nicht zu horchen."
+
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend
+ihre Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht
+schlimm gemeint!"
+
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling
+begütigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch
+einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in
+das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses
+Frauenzimmer ist die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie
+im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache
+der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin."
+
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch
+leid für sie, wie soll ich denn das machen?"
+
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu
+kränken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich
+hinüber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+
+"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April
+mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während
+sie ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung
+schonend begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die
+Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch
+vorgehen.
+
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein
+Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem
+Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen,"
+sagte das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten
+Stellen hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen
+sagen, daß ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich
+heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den
+vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß
+ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so,
+bitte, lesen Sie!"
+
+Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele
+Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit
+war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt
+hervorgehoben.
+
+Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die
+Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann
+wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre.
+
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und
+das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen.
+Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn
+er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch
+sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft,
+und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes
+Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem
+Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und
+das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen
+unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen
+einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und
+zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+
+Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt,
+"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie
+mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur
+schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen
+Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine
+verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+
+"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später
+erfolgen."
+
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich
+keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+
+"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."
+
+Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen,
+elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+
+"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam,
+"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt;
+warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?"
+
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in
+Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten.
+Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich
+unten, im Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau
+Pfäffling war mit der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt,
+diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am Eßtisch.
+
+"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein
+Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in
+Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern
+anvertrauen möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten
+Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor
+meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um
+den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist
+ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt.
+Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo
+wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr
+Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein
+bei uns—"
+
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies
+wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen
+war."
+
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie
+mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen,
+unseren Gewohnheiten?"
+
+Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht
+aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig
+spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur
+_eines_."
+
+"Und zwar?"
+
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie
+jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+
+Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+
+"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben
+Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter
+Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen
+Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck
+stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig
+dabei."
+
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich
+alle Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit.
+Ich werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur
+zu solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken
+darüber—und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf.
+
+Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.
+
+Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an
+Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage
+ihn _gern_ fort."
+
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein
+Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert
+und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie
+nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand
+unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die
+würde sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern
+finden.
+
+Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit
+zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus,
+als Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die
+Portiere abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die
+Türe kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen
+Stoff gut verwenden!"
+
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten
+lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch
+das offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die
+nach den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell
+wieder herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt
+selbst herauf!"
+
+"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den
+schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch
+schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben."
+Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell
+rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich
+schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts
+gesehen und eilte davon.
+
+"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr
+Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb
+unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten
+können bis morgen."
+
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald
+sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann
+kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling
+kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen,"
+berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch
+einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"
+
+Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er,
+"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu
+gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders
+frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!
+
+
+
+
+14. Kapitel
+Wir nehmen Abschied.
+
+
+Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet,
+und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der
+Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen
+lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts
+mit sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen,
+innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den
+seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten
+Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen
+waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+
+Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt
+worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch,
+auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem
+einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der
+eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder
+höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des
+Elternhauses entfremdet würde.
+
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während
+desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen
+zeigen.
+
+In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes.
+Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht
+besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm,
+schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht
+Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich
+gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als
+die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der
+andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis
+hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon
+manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater
+noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als
+er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen
+sah, wußte er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine
+Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und
+war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht,
+nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast
+du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind
+wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so
+vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig,
+aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte
+sonst gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal
+in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar
+keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten
+sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war,
+im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin.
+Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder
+vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die
+Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust
+sämtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten.
+
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie
+Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die
+geheimnisvollen Ziffern zu deuten.
+
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen
+Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a
+plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen
+Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es
+wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie
+sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag
+Mathematikstunden!"
+
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten
+sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug
+gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.
+
+Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder
+in Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm
+wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine
+mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein
+gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe,
+die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die
+brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht
+dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob
+sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater
+hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der
+kleine Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf
+an.
+
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir
+nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes
+Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete
+er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben."
+
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören
+kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht,
+Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst
+du nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte
+nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde
+geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie
+nach Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als
+schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und
+die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf
+den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter
+unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet
+hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und
+sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor
+den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich
+schämen!"
+
+"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim
+Geigen nicht."
+
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann
+mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir
+Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage
+es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige
+geben."
+
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank
+deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit
+zärtlichem Ton: "Da innen ist sie!"
+
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen
+Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind;
+Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange
+plaudern mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."
+
+Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei
+plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur
+Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte
+solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die
+Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß
+Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen,
+blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er
+leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der
+Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+
+"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner
+Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+
+"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht
+wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute
+Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das
+gibt zwei süße Brautfräulein!"
+
+"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die
+Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner
+Frau sprechen."—
+
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte.
+Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und
+zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren
+des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit
+Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die
+Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg
+brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine
+mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden,
+Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der
+Gast ankommen.
+
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung,"
+sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja,
+Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder
+in der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel
+beglückender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben.
+
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm
+alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber
+dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich
+verteilen und nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein
+Gedränge gäbe.
+
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und
+sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei
+Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel,
+fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur
+nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er
+eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen
+besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden
+sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar
+den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen
+doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist
+nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe
+verschwanden vom Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe
+hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief Marie, "geht an der
+Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!"
+
+Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die
+Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war,
+in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten
+sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die
+einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich.
+
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen
+den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den
+Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen
+Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der
+Mutter.
+
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück.
+"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"
+
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine
+stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die
+ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr
+habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen
+Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue,
+stumme Dienerin? Wie schade um das Mädchen!"
+
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie,
+"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig
+besser werden."
+
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal
+ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel
+gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du
+nicht, welches ich meine?"
+
+Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:
+
+In größerem Kreise stehen wir heute
+Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.
+Aber die richtige fröhliche Stimmung
+Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.
+Nahe dich freundlich jedem von uns.
+
+
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine
+Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich
+alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er,
+"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel,
+bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern."
+Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit
+Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der
+Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei
+Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig
+verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm,
+der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen,
+sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.
+
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch
+nicht immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger
+aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner
+Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch
+weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?"
+fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen,
+Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten
+sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling
+setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen.
+"Es ist rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so
+selbstverständlich zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne
+Widerspruch das Spiel aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen
+das beigebracht?"
+
+"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die
+Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig
+werden, so helfen sie mit."
+
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und
+ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger
+hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie
+ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und
+widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt
+entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in
+Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so
+leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister.
+Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in
+ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+
+Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was
+kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung
+des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer
+Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht
+hören sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich
+nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich
+behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am
+Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie
+vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand
+dicht zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die
+Möglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte.
+Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel
+wählen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die
+Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der
+Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er _mich_ mitnehmen." Das war die
+Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für ihn gab es da nichts
+Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die fremde Welt.
+Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten
+ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor
+die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein
+gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen
+sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die
+angsterfüllt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle
+bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der
+aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!"
+
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit
+Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah
+hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er,
+"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen
+schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!"
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."
+
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue
+Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im
+Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich
+nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest
+herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir
+doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann
+nirgends besser gedeihen als daheim!"
+
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind
+oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch
+nicht. Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus
+aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch
+Herzenssache ist."
+
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte
+Frau Pfäffling.
+
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von
+Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen
+Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er
+neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei
+meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch
+die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren
+einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen
+lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."
+
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+
+Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war
+von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten
+plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten
+herauf.
+
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr
+auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von
+euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für
+ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich
+tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut
+habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr
+lacht? Es ist mein Ernst."
+
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja
+wissen.
+
+Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du
+denn mitgenommen?" fragte sie.
+
+"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und
+deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!
+
+Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie
+stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es
+wieder für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald
+umsehen mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem
+Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder
+schließen, hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts
+besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang.
+
+Aber jetzt?
+
+Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie
+wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da
+stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+
+"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht
+fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las
+es selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem
+gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer
+Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine
+Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu
+warten!
+
+Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern
+herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie
+die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und
+immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!"
+
+Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern
+widerstrahlte.
+
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er
+mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.
+
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch
+sagen!"
+
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem
+Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.
+
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+
+Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst
+du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten
+darin aufhören, ich habe es probiert."
+
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den
+Pfannenkuchen. Die andern wissen es."
+
+"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine
+Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling
+schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich,
+"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies
+Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine
+Violine, kleiner Direktorssohn!"
+
+Ja, das war ein seliger Tag!
+
+Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon
+die Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute,
+so fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau
+selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr:
+"Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhöhen."
+
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder
+allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die
+fleißigen Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+
+Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch
+Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen
+zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang
+herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann
+übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim:
+
+"Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+Es lebe die Direktorin!"
+
+
+Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe
+im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte
+er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus
+und befestigte an der Haustüre die Aufschrift:
+
+_Wohnung zu vermieten_.
+
+
+Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf
+die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb
+mir die Familie Pfäffling war!"
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING ***
+
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+
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+ any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
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+ receipt of the work.
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+* You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
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+Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
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+or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
+additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
+Defect you cause.
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of
+computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
+exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
+from people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
+generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
+Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
+www.gutenberg.org
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
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+The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
+Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
+to date contact information can be found at the Foundation's website
+and official page at www.gutenberg.org/contact
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+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
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+widespread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
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+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
+DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
+state visit www.gutenberg.org/donate
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+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+ways including checks, online payments and credit card donations. To
+donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
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+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
+Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
+freely shared with anyone. For forty years, he produced and
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+necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
+edition.
+
+Most people start at our website which has the main PG search
+facility: www.gutenberg.org
+
+This website includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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+
+
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@@ -0,0 +1,9645 @@
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+<div style='display:block; margin:1em 0'>
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
+most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
+of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
+at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
+are not located in the United States, you will have to check the laws of the
+country where you are located before using this eBook.
+</div>
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Die Familie Pfäffling</div>
+<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Agnes Sapper</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917]<br />
+[Most recently updated: February 28, 2022]</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Language: German</div>
+<div style='display:block; margin:1em 0'>Character set encoding: UTF-8</div>
+<div style='display:block; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Produced by: Olaf Voss, Michael Wymann-Böni, and Project Gutenberg Distributed Proofreaders</div>
+<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING ***</div>
+
+<h1>Die Familie Pfäffling</h1>
+
+<h3>Eine deutsche Wintergeschichte</h3>
+
+<h2 class="no-break">von Agnes Sapper</h2>
+
+<p class="center">
+1909
+</p>
+
+<hr />
+
+<p class="center">
+Meiner lieben Mutter
+</p>
+
+<p class="center">
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+</p>
+
+<p>
+Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in
+diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns
+vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im
+großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter
+dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
+verstanden, was ihnen versagt war.
+</p>
+
+<p>
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an
+Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und
+Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist
+das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist
+aus einer entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.
+</p>
+
+<p>
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte möchte ich
+in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Herbst 1906.
+</p>
+
+<p class="letter">
+Die Verfasserin.
+</p>
+
+<hr />
+
+<h2>Inhalt</h2>
+
+<table summary="" style="">
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap01">1 Wir schließen Bekanntschaft</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap02">2 Herr Direktor</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap03">3 Der Leonidenschwarm</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap04">4 Adventszeit</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap05">5 Schnee am unrechten Platz</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap06">6 Am kürzesten Tag</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap07">7 Immer noch nicht Weihnachten</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap08">8 Endlich Weihnachten</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap09">9 Bei grimmiger Kälte</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap10">10 Ein Künstlerkonzert</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap11">11 Geld- und Geigennot</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap12">12 Ein Haus ohne Mutter</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap13">13 Ein fremdes Element</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td> <a href="#chap14">14 Wir nehmen Abschied</a></td>
+</tr>
+
+</table>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap01"></a>1. Kapitel<br/>
+Wir schließen Bekanntschaft.</h2>
+
+<p>
+Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
+hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die
+äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen
+den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von
+der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem
+Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie
+in Miete wohnt.
+</p>
+
+<p>
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für
+Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen
+und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben,
+manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf
+den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist
+sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und
+niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien,
+wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der
+noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten
+den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben.
+Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und
+Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die
+Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte
+Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die
+Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am
+schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in
+Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern.
+</p>
+
+<p>
+Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder
+eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und
+Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der
+Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was
+war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht
+hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie
+ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich
+zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken
+versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen
+Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde,
+fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der
+Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte
+sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen.
+Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den
+glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten
+und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme
+allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging
+weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein
+kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer
+mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete,
+war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die
+Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte
+sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und
+dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!
+</p>
+
+<p>
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen,
+flink, Essig holen!"
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar
+nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten
+Kaufmann.
+</p>
+
+<p>
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es
+waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine
+freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des
+Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter
+gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie
+die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die
+Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach
+einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen
+herunterpoltern," sagte der Hausherr.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll,
+aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein
+Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber
+gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen."
+</p>
+
+<p>
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der
+Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so
+eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere
+Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu
+kündigen brächtest du doch nicht übers Herz."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden
+bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und
+sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie
+blieben doch abgetreten.
+</p>
+
+<p>
+Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte
+Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von
+weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf
+tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die
+elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen
+Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist
+schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen
+und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei
+Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."
+</p>
+
+<p>
+Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich
+ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief:
+"Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die
+Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der
+Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam.
+Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war
+ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten
+Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+</p>
+
+<p>
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein
+wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht
+ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch
+keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+</p>
+
+<p>
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die
+Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab
+gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in <i>einem</i>
+Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf
+die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die
+Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen,
+der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung
+bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das
+erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam
+und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto,
+der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur
+Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der
+Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete
+nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der
+Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle,"
+sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl
+am öftesten."
+</p>
+
+<p>
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem
+er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so
+wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und
+indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den
+guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen?
+</p>
+
+<p>
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins
+Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+</p>
+
+<p>
+Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und
+hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten
+war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so
+gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das
+Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken
+und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet
+sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal
+den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich
+darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du
+gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+</p>
+
+<p>
+Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das
+Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon,
+es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters.
+</p>
+
+<p>
+"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."
+</p>
+
+<p>
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich
+nimmer mitbringen."
+</p>
+
+<p>
+"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."
+</p>
+
+<p>
+"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."
+</p>
+
+<p>
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+</p>
+
+<p>
+"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."
+</p>
+
+<p>
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten
+die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler,
+hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich;
+Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche
+Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen
+konnten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er
+hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort
+wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte
+nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte
+wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich
+glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht
+anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher
+sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun
+wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt
+reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade
+seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und
+rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade.
+Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das
+Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben,"
+bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen.
+Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+</p>
+
+<p>
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und
+waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb
+kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.
+</p>
+
+<p>
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder
+auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das
+Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen.
+</p>
+
+<p>
+"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste
+Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die
+besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier;
+von der Musikschule allein könnten wir nicht leben."
+</p>
+
+<p>
+"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich
+klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im
+Herzen bewegte.
+</p>
+
+<p>
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte
+Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden
+kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei,"
+sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief
+dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die
+Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der
+sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu,
+sagte genug.
+</p>
+
+<p>
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist
+wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe
+heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen—streckte der Vater ihm
+schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den
+Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber
+vergißt!"
+</p>
+
+<p>
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon
+fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine
+Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei,
+während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell,
+schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß
+davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief
+kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur
+gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße
+hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid."
+Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu erraten,
+was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er
+um die Ecke der Frühlingsstraße bog.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen
+Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den
+Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat
+wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht
+benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es
+nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine
+Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte,
+ich hätte auch nur <i>einen</i> Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber
+daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das
+ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun
+wurde die Harmonika eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter
+heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was
+vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte.
+Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die
+Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber
+Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren
+oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie
+alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch
+an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er
+sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen.
+Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater
+war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die
+weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging
+ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht
+auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt,
+denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter
+Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte,
+sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen
+müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich
+aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot
+und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der
+große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm,
+der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er
+zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles
+durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den
+Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner
+und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der
+Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen,
+du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"
+</p>
+
+<p>
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in
+diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig:
+"Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln
+gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die
+der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in
+freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame
+mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie
+nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else
+fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören
+sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir
+unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns
+bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und
+<i>wieviel</i> tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches
+Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde
+ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man
+gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an
+als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett
+voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg
+war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen
+guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem
+Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast
+Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei
+kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie
+nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen
+fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand
+wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem
+Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge
+wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie
+nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen,
+und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte
+Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling,
+"wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal
+reich," vollendete Karl.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang
+des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin
+angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17
+Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes
+Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und
+kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung,
+sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und
+zählte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die
+Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl
+sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein.
+Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und
+reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster,
+sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die
+Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als
+ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?"
+fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie
+schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren,
+er lautete: <i>Frau Privatiere Vernagelding</i>.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap02"></a>2. Kapitel<br/>
+Herr Direktor?</h2>
+
+<p>
+November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? Ich
+glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den
+Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu
+etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter
+der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der
+eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte
+deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für
+den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von
+Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde
+auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb
+oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber
+nicht immer gelang.
+</p>
+
+<p>
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein
+Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört
+ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin
+stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten sich zu helfen. Sie
+lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht
+zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich
+aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene
+Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen,
+einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand
+eine Ganglampe. Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den
+langen Gang hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling
+seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die
+Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde
+die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und
+manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und
+begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's,
+wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die Schüler im
+Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum
+Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es
+nicht bemerkt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte
+Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel.
+Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde
+war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: "das ist
+doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an
+ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner
+Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie
+diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand
+in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht,
+aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch
+einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr
+Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht
+machen?"
+</p>
+
+<p>
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
+Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern
+mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von
+Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das Lachen verging und sie so
+schnell wie möglich durch die Treppentüre verschwand. Das Arbeiten im eigenen
+Zimmer mußte also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch
+nicht davon lassen.
+</p>
+
+<p>
+So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine
+mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule,
+machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte
+Zeugnisse nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer trat
+und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber,
+aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr
+leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm über den Gang,
+dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer,
+wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er
+ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden
+Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er:
+"Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus
+Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er
+wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
+Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren
+aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen
+einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt
+mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau
+Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen
+Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!"
+</p>
+
+<p>
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und
+besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und
+sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: "Walburg hat das
+Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!"
+</p>
+
+<p>
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, folgte
+Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend
+oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte
+sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den
+Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung
+hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch
+hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlaß nun kündigte
+er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an.
+Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder
+abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein
+etwas verwöhnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht
+viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz
+in den Hintergrund treten."
+</p>
+
+<p>
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht,"
+sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder können ja
+irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen
+Teetisch."
+</p>
+
+<p>
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
+Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten
+Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen:
+"Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der
+Kinderfeind kommt!"
+</p>
+
+<p>
+Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis
+der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie
+wollten sich unten im Hof aufhalten.
+</p>
+
+<p>
+Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der
+Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die
+ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus.
+Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden
+Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim
+ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die
+Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern.
+Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder,
+ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.
+</p>
+
+<p>
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein
+Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab."
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht recht,
+ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die
+waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu
+der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen
+nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen.
+Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich
+wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den
+Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle
+eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er
+sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von
+seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der
+den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren
+neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune
+machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling
+des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei
+ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und
+Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den
+Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl.
+</p>
+
+<p>
+Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den
+Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes
+Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der
+eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die
+Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen war, so kam er doch das
+sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der
+Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische
+Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück
+kommandiert wurde, mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick.
+Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich
+darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über
+die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie
+wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da,
+zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder
+vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter fielen und
+kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er
+würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein
+Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, daß er
+immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er mußte
+mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig
+bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen <i>einen</i>
+ungeschickten Rekruten!
+</p>
+
+<p>
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die
+Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei
+der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie erkundigen sollten,
+wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe
+und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den
+Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser
+vor.
+</p>
+
+<p>
+"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hört
+man uns nicht."
+</p>
+
+<p>
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort
+fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten,
+von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle
+sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie
+waren naß und durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm
+wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich
+nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine
+rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus
+dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach.
+Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil
+Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen
+Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins
+Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich
+balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun
+erst für den Kinder_feind_!
+</p>
+
+<p>
+Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten
+Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle
+Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück,
+grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören,
+deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren
+Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich
+wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden
+gegenüber.
+</p>
+
+<p>
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn
+geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer
+und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen
+bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei
+seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte
+es nicht wissen.
+</p>
+
+<p>
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er
+über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das
+friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder
+ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu
+erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen
+allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen
+fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo
+er hin gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder
+wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine
+Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in
+stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein
+künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so
+größer."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht
+gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre
+Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem
+fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im
+Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort
+zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht".
+</p>
+
+<p>
+Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch
+ungefähr denselben Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit meiner
+Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen.
+Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah
+wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein sind,
+aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe!
+Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, daß er
+stört.
+</p>
+
+<p>
+Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt
+und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über
+Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis.
+Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich
+fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl
+angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und
+sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+</p>
+
+<p>
+"Gute Nacht, Karl."
+</p>
+
+<p>
+Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr
+Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die Mutter. "Woran
+sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen."
+</p>
+
+<p>
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd.
+</p>
+
+<p>
+"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen
+Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen
+Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf
+deine Uhr gesehen hast, Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß du Takt
+hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann
+wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich
+auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer,
+setze dich noch einmal zu uns."
+</p>
+
+<p>
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein Freund zu
+Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine
+Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
+</p>
+
+<p>
+Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da
+besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen
+der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine Lockung noch Drohung stark
+genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen.
+</p>
+
+<p>
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um
+sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die
+neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer,
+jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun mußte sich's
+zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die
+besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr
+Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling,
+wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er
+sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen
+Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
+</p>
+
+<p>
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund
+Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine
+Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus <i>einem</i> Munde lautete
+das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und
+einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er
+selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt;
+das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre
+warten!
+</p>
+
+<p>
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am
+Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen
+Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine
+Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: "Zu was brauchst <i>du</i> so
+etwas?"
+</p>
+
+<p>
+"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als
+sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weißt du, sie
+hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen."
+</p>
+
+<p>
+Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich
+nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu
+telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose
+reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse
+Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das
+alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im
+November!
+</p>
+
+<p>
+Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem
+Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante
+Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hörten
+nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen.
+</p>
+
+<p>
+Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid.
+Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr
+darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr
+Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie
+gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der
+Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer
+Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen
+Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren,
+brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war
+ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der
+letzten Stunde der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu
+gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch
+ein paar Jahre warten wolle!
+</p>
+
+<p>
+Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
+weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er dirigieren
+wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.
+</p>
+
+<p>
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie
+starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die
+Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil
+sie gar nichts von dem allen verstand!
+</p>
+
+<p>
+Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre viel
+freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht
+hätten, und das mit dem Vater erst nachher."
+</p>
+
+<p>
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so—ich
+will gar nicht sagen wie, das <i>kann</i> man überhaupt gar nicht sagen, dafür
+gibt es keinen Ausdruck!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen
+sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so
+sehr ferne gerückt!"
+</p>
+
+<p>
+"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling,
+"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und
+ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor
+bin ich <i>gewesen</i>."
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das
+Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war.
+"Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da
+stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter
+wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen
+Grund, froh zu sein, daß wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut
+wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den schönen
+Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten.
+"Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der
+ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen
+das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten
+dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß
+ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den
+Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit
+hinaus, die Blätter fallen ab."
+</p>
+
+<p>
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau,
+denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches
+Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese Enttäuschung gemeinsam
+durchgekämpft werden.
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und
+reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend war ich so
+zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte
+ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den
+Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/>
+Es lebe die Direktorin!'
+</p>
+
+<p>
+"Nun muß es heißen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn<br/>
+Du wirst niemals Direktorin.'"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß
+ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+</p>
+
+<p>
+"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, "ich
+brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen."
+</p>
+
+<p>
+Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den
+beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt
+waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft
+grau wie der heutige Novemberhimmel.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine
+Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"
+</p>
+
+<p>
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe
+erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann
+Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das
+alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht
+recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein,
+Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast
+nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du
+darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter
+der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht
+zanken," so war also die Überraschung gut aufgenommen worden.
+</p>
+
+<p>
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er
+sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich
+gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner
+festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch schon den Kindern zuliebe
+tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch
+die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue
+Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser
+Musiklehrer zu seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Direktor her, Direktor hin,<br/>
+Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau
+Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte
+ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt
+vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie
+unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch
+auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein
+Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre
+niedlichen Löckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig
+zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier
+setzte und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit
+mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war
+gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa."
+</p>
+
+<p>
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas
+nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den
+Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f
+nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber
+Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr
+Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den
+morgigen Ball, was sagen Sie dazu, daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal
+in Meergrün. Ist das nicht süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja
+süß!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu
+plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
+für heute."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl
+sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß Fräulein
+Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr
+Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber
+nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte Frau
+Pfäffling besorgt.
+</p>
+
+<p>
+Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten Stunde
+berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. Er gönnt doch
+auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm gelegentlich ein
+Präsent machen, Agathe."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap03"></a>3. Kapitel<br/>
+Der Leonidenschwarm.</h2>
+
+<p>
+Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling
+und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und
+Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in
+der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die
+Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten
+alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein
+fertig werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in
+der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber
+heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem
+Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch
+den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie
+sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit
+kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe,
+und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders
+vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in
+verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur
+daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er
+war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine
+leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden
+spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das
+Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen
+früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so
+weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst
+probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der
+Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele
+Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die
+Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."
+</p>
+
+<p>
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz
+erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen,
+wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder
+machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über
+sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich
+dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine
+alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander
+entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es
+unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon,
+während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern
+von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er
+Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem
+Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden
+steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen
+eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der
+Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen
+eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor
+mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze
+Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich
+der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so
+hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem
+Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer
+und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir
+zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es
+sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir
+aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst.
+Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim
+und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen
+hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15.
+November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm.
+In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach
+Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht,
+weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich
+wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."
+</p>
+
+<p>
+Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit
+<i>einem</i> Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen!
+Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken
+aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu
+bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts
+Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden
+eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen:
+"Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die
+Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen.
+Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die
+Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich
+erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht
+gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so
+zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten
+könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch
+gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder
+versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte
+die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte
+wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft
+ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine
+halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch
+zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch
+den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am
+Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne
+sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1
+Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen
+Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel
+immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und
+als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas
+zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar
+ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das
+ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem
+Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust
+zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie
+ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan
+schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte
+sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!"
+wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder
+zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen,
+die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel
+angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne
+Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im
+Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's
+lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter
+den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen
+gelungen.
+</p>
+
+<p>
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehört. Sie
+wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefühl:
+Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte,
+vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schließenden Haustüre
+und dann ein Flüstern außerhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen,"
+sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es
+war ihr unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
+Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch entschlossen ging
+sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre vor. Dann legte sie sich
+beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf
+diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es
+jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln.
+</p>
+
+<p>
+Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht
+und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit
+wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen
+Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. "Wenn auch weiter gar
+nichts zu sehen wäre," sagte Karl, "so würde mich's doch nicht reuen, daß ich
+aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar
+nicht glaube, daß einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die
+stehen da droben alle so fest!"
+</p>
+
+<p>
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein
+heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war
+dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen,
+wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das
+ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine
+Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach
+wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und
+flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
+vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es
+war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf
+immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam
+das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen
+ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne
+Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze
+Herrlichkeit.
+</p>
+
+<p>
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich
+wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern.
+"Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind
+davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal,
+daß es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu
+schlüpfen, mußte köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der
+Stockfinsternis dem Haus zu.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da draußen
+bleiben in der Kälte!"
+</p>
+
+<p>
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die
+Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen
+verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte Karl, drehte den
+Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte und drückte gegen die
+Türe, aber die gab nicht nach.
+</p>
+
+<p>
+"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+</p>
+
+<p>
+"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht
+nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in Ordnung, was hält
+die Türe zu?"
+</p>
+
+<p>
+In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas
+vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den Riegel
+vorgeschoben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan?
+Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der
+Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."
+</p>
+
+<p>
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, wer
+hätte es sonst tun sollen?"
+</p>
+
+<p>
+Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln dürfen
+wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen
+Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen."
+</p>
+
+<p>
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten
+sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster
+gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so unbequem und wenn es nur
+vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick
+liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt
+ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß,
+in drei Jahren muß ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das
+Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das
+Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was
+war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte und
+weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und
+klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner
+unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als
+Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden
+sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen
+können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder
+munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen
+lag, und nun galt es so laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so
+leise, daß Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne,
+Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt,
+als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute
+wachten auf.
+</p>
+
+<p>
+Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun möchte man
+wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte
+das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder erschraken, als sie des
+Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr
+starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß
+das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt
+stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und
+sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der
+Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich,
+daß die Schwestern so fest schliefen.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte die
+Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen sein in
+der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise
+öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen
+Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, näherten sich dem
+Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt."
+Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen
+hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden,
+aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll
+und schloß das Fenster.
+</p>
+
+<p>
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist
+denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die
+Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau,
+"ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr
+seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann
+hört ja alles auf. Für solche Mietsleute bedanke ich mich!"
+</p>
+
+<p>
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den
+Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen
+nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick,
+daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie
+das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt
+wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den <i>einen</i> Satz: "Sagt
+eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."
+</p>
+
+<p>
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es den drei
+Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie
+ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der Meinung, der eigene Vater
+habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr Fortgehen schon so schlimm
+aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn er erfuhr, was daraus entstanden
+war! Und wie deutlich erinnerten sie sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo
+der Vater von einem Haus zum andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen
+war, weswegen? Wegen der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung
+herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück!
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich ein
+wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen war. Um so
+schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er
+am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. Er fand nur einen kurzen,
+unruhigen Schlaf.
+</p>
+
+<p>
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine Ahnung.
+Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem Bett kamen,
+bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, als die Schwestern
+durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön heute nacht?" Als er aber
+gern erfahren hätte, von was die Rede sei, bekam er ungeduldige Antwort: "Sei
+nur still, du wirst noch genug davon hören." Sie waren sonst alle flinker als
+Frieder, heute aber kam dieser zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit
+den Schwestern beim Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die
+Brüder in der Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu
+kommen. Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
+werden, kommt!"
+</p>
+
+<p>
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. "Nun,"
+fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr hat sich der
+Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber der Meinung, ihr
+würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?"
+</p>
+
+<p>
+Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß sie
+zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich Böses.
+"Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht gut? Oder habt
+ihr den Hausschlüssel verloren?"
+</p>
+
+<p>
+"Das nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und sagte:
+"Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir hinunter gegangen,
+ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken gewesen—wie schön es da war, sage
+ich später. Um halb drei Uhr etwa wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe
+von innen zugeriegelt."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus einem
+Mund.
+</p>
+
+<p>
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf den
+Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannens
+Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hörte die Hausfrau
+und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkämen und daß
+wir nicht hereinkönnten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns
+herein." Karl hielt inne.
+</p>
+
+<p>
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. "Hättet ihr
+mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich würde euch vorher
+hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl
+ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch
+recht entschuldigt?"
+</p>
+
+<p>
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
+Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht alles
+gesagt."
+</p>
+
+<p>
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme
+Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. Januar sei
+gekündigt."
+</p>
+
+<p>
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch aufgewacht!"
+Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu glauben. "Es ist doch gar
+nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst du das, Cäcilie? Kann das
+wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir
+das? Mich dürfte man zehnmal wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas.
+War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon
+vorher ausgedacht hätte."
+</p>
+
+<p>
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist
+unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne rufen! Der
+Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: "Es ist
+gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben,
+sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen,
+sieh, wie sie aussehen."
+</p>
+
+<p>
+"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, frühstückt!"
+</p>
+
+<p>
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig waren,
+griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen
+noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den
+Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte er, daß es so sein
+müsse.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so daß
+es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: "O
+Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum täglichen Gang nach
+der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern
+Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar
+keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete
+ab, bis alle Glieder der Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er
+das Haus verließ.
+</p>
+
+<p>
+So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen,
+die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge,
+die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und
+nach der eben erlebten Enttäuschung durch die Direktorsstelle. Und es kränkte
+sie, daß ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben
+sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es
+erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden,
+ganz anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau
+Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte
+so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten
+christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie stimmte dazu die
+Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschließen und dann noch zu
+kündigen, und das alles bloß wegen einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich
+das erklären lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr <i>allein</i> wollte sie
+sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet
+sich bald ein Weg.
+</p>
+
+<p>
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benützten. Das
+war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Wäschetrocknen und die
+Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem
+kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch sie
+hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes miteinander
+herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und sie waren der
+guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer miteinander verständigen
+würden.
+</p>
+
+<p>
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht gestern
+Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen
+hat?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, du warst ja dabei."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum erstenmal
+gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte Frau Hartwig gar
+nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie
+wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen
+die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein
+eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu tun, was recht war.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er ließ
+sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und
+wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hießen. Das
+wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen,
+aus dem Sternbild des Löwen ausgingen.
+</p>
+
+<p>
+Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der Hausherr sie
+wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf
+seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner früheren
+Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe
+den Leonidenschwarm für einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr
+euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich
+werde euch doch nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind
+nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
+</p>
+
+<p>
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen sie an
+der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat
+Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," sagte sie und gab jedem
+einen Apfel.
+</p>
+
+<p>
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine
+Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz
+nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden
+deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter." Um
+recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor
+das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor
+die Füße der erschrockenen Hausfrau.
+</p>
+
+<p>
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's
+meinen, um so ärger poltert's."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap04"></a>4. Kapitel<br/>
+Adventszeit.</h2>
+
+<p>
+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne Blättchen, das
+allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen Pfäfflinge standen alle
+in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im
+Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am
+Frühstückstisch, sahen auf. "Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die
+vier Brüder vom Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht
+erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es
+miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und
+zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste
+Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur
+bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie
+soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner
+Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach
+Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen
+Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte
+etwas anderes als die Melodie.
+</p>
+
+<p>
+Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu
+richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den
+Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den
+Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum
+Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden
+verabschieden wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß
+alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll
+dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich.
+</p>
+
+<p>
+"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der Kinderchor.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.
+</p>
+
+<p>
+"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, hole sie
+schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die ganze Familie im
+Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in
+ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete Andacht".
+</p>
+
+<p>
+Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe herrschte in
+der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die
+Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben ließen aber, ihrem Versprechen
+gemäß, die ganze Breite der Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und
+Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte.
+Da konnte er nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester
+zu.
+</p>
+
+<p>
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn
+im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte
+die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das dauert noch lange, lange, davon
+reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig." So hätte sie
+auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte
+Advent, Weihnachten war über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog
+Frau Pfäffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch,
+wie schön der Christbaum war?"
+</p>
+
+<p>
+Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie
+nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen
+vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die
+Freude erhöhte.
+</p>
+
+<p>
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten flüsternd,
+was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte kein Geld kosten,
+denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie
+ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu
+kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu
+bescheren, das ist eine Kunst!" Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die
+Beratung sehr in die Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang
+heute immer der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte
+ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, wo
+Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da sie sich
+in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm
+den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam
+die Adventsstimmung bis in die Küche.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder wollte sie
+auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen,
+er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral
+vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie
+zeigen oder vordrängen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich
+hören zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an
+ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in
+der Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
+</p>
+
+<p>
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte,
+bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der großen
+Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und die Schüler
+sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so.
+</p>
+
+<p>
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein
+paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht."
+Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem großen
+Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die Kameraden von allen Seiten: "Spiel
+doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder
+seinen Adventschoral, vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und
+sagte, nachdem er fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+</p>
+
+<p>
+Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten und wie
+der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du das bei deinem
+Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte Frieder, "Harmonika muß man
+nicht lernen, das geht von selbst."
+</p>
+
+<p>
+"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen nicht.
+Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest du das auch?"
+"O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." "Du wirst dich wundern,
+wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze."
+</p>
+
+<p>
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
+spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die
+wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von
+Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riß sie dem andern mit
+Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie geht ja gar nicht, ich
+glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah,
+wurde er blaß und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden
+sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten.
+</p>
+
+<p>
+"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde
+zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick
+von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich
+an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wußte es ja schon vorher,
+daß ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken.
+</p>
+
+<p>
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er
+trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause,
+rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten
+Ausruf: "Sie ist tot!"
+</p>
+
+<p>
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser.
+Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum
+Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an
+seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen
+Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit
+ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half
+kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht eine
+neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+</p>
+
+<p>
+Es war wieder Sonntag, der <i>zweite</i> Advent, und wieder standen die Kinder
+beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern.
+Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er
+konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still
+zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun
+mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf den Balken, da kann man sich
+alles ausdenken, aber da oben nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen Seiten. Er
+war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit
+hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika
+aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große
+Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch
+gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten
+auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der
+Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn,
+und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun
+seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel
+mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf
+einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie
+es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und
+Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir
+zwei können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen
+wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt,
+Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten
+Sack voll."
+</p>
+
+<p>
+Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand
+ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich zeichne ich
+ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist."
+</p>
+
+<p>
+"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin
+vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt. "Frieder," sagte
+Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine Harmonika nimmer hast, aber
+mir bist du lieber ohne sie." Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer
+das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum
+erstenmal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele
+Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest-
+und Ferienzeit wollte verdient sein.
+</p>
+
+<p>
+Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in
+seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich
+sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn
+von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern
+ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es erfahren, wenn hohe
+Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten
+erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß sich's die andern zur Ehre
+rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen
+ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine
+Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte
+gelegentlich von oben herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich
+die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."
+</p>
+
+<p>
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück
+Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
+entgegengesetzt lag.
+</p>
+
+<p>
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem,
+schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines
+junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester
+Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem
+Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der
+griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine
+Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres
+zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich
+einige Stellen vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir
+wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. "Was tust
+du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" sagte Otto
+ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann
+dich gar nicht begreifen, daß du das magst."
+</p>
+
+<p>
+"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und
+das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum
+Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs,
+offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf
+Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange
+zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben
+ihr Geld glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in
+Deutschland ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist
+man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie
+möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen
+er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt
+natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: 'Rudolf, mach
+deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne
+feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn
+Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.'
+</p>
+
+<p>
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen
+Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir,
+du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an,
+als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu
+reden oder nicht?
+</p>
+
+<p>
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat
+ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren
+gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu laufen hatte, bis
+ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie
+haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's
+um Musikunterricht handeln."
+</p>
+
+<p>
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling hört, so
+klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den Musikunterricht geben?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Weiß ich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche Herrschaften muß
+man immer das feinste wählen."
+</p>
+
+<p>
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+</p>
+
+<p>
+"Wohl, wohl, aber so ein <i>Titel</i> fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hören sie gern."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor
+nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon
+seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren für ihn. Nur ist es noch
+nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."
+</p>
+
+<p>
+"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend,
+"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht
+bei den Professoren."
+</p>
+
+<p>
+"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du mit
+den Russen sprechen."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen
+Begriff von Umgangsformen."
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, aber wenn
+<i>du das</i> nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, was du
+kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein
+Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel
+etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel."
+</p>
+
+<p>
+"Ich vermag viel im Hotel."
+</p>
+
+<p>
+"So beweise es!"
+</p>
+
+<p>
+"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast."
+</p>
+
+<p>
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich für den
+Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu
+bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen überein,
+daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder
+eine Enttäuschung geben.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in einer
+Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst
+du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+</p>
+
+<p>
+"<i>Zehn</i> Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es <i>bald</i> so weit
+kommt."
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzählte
+ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorüber war, faßte
+er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest das zurücknehmen, so eine
+Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So möchte er die Stunden gar nicht
+annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu
+solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm."
+</p>
+
+<p>
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Ärger
+eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." So ging die
+Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber geschwiegen hatten.
+Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete:
+"Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er
+soll auf Antwort warten."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, die die
+Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der höflich angefragt
+wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen
+möchte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfäffling adressiert, und als die
+Brüder diese Aufschrift bemerkten, flüsterten sie lachend einander zu: Ein
+Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier!
+</p>
+
+<p>
+Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so erwünschten
+Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer
+nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, daß Herr
+Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es
+ist ein sehr feiner Herr."
+</p>
+
+<p>
+Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier von dem
+Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm zu, er war stolz
+und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg
+nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand
+konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfäffling suchte hervor, was er sich
+neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht
+wieder eine Enttäuschung gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte
+knüpfte, "wer weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit
+denen dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht:
+"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für
+ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler bekommen
+als Fräulein Vernagelding."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr Pfäffling,
+"ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine Marterstunde."
+</p>
+
+<p>
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern,
+er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der
+Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war
+schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen geholt worden. Um fünf
+Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau Pfäffling wurde unruhig. So
+gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspäten. Nun
+schlug es fünf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe
+herbei.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich eine
+kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen
+mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe,
+dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies
+das Fräulein und es plauderte mit den viel jüngern Mädchen wie mit
+ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr Pfäffling noch nicht da sei,
+schien sie ganz vergnügt darüber, lachte und spaßte mit den Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen heißt so?"
+</p>
+
+<p>
+"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es eigentlich
+nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie und Anne, aber so
+ist's eben bei uns."
+</p>
+
+<p>
+Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes Lachen
+über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu spielen,"
+richtete Marie aus.
+</p>
+
+<p>
+"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es lautet
+nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen Klavier? und man
+muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint Mama. Mein voriger
+Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, ich sei unmusikalisch. Herr
+Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die Herrn wollen immer nur
+musikalische Schülerinnen, es kann aber doch nicht jedermann musikalisch sein,
+nicht wahr? Man muß es doch auch den Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch zuviel
+für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß die, die
+recht musikalisch sind."
+</p>
+
+<p>
+Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so plötzlich
+stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner Verspätung war er mit
+wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. Fräulein Vernagelding tat
+einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Pfäffling,
+aber wie fein sehen Sie heute aus, so elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie:
+"Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie
+warten ließ."
+</p>
+
+<p>
+"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen, ehe
+sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick nachher
+wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres Zeichen war,
+daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.
+</p>
+
+<p>
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen ist?"
+wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts zu sagen, man
+mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am schwersten, und er paßte
+und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und im selben Augenblick, wo
+Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das Zimmer verließ, schlüpfte er
+schon durch den andern Eingang hinein und fragte: "Vater, wird etwas aus den
+Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er,
+"komm, ich erzähle es euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er:
+"Cäcilie, Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche
+herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum
+meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen
+sein!"
+</p>
+
+<p>
+"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch musikalische
+Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube kaum, daß wir
+<i>einen</i> solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre Mutter spielt
+Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein wird, mit ihr zusammen
+vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch erzählen. Im Vorplatz des
+Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen empfangen, den ich nach deiner
+Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in
+einen kleinen Salon, spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich,
+der Schlingel, kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der
+von so einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte
+mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen,
+und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die Familie
+würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen Leuten gegenüber
+müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich die breite, mit dicken
+Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer,
+klopfte für mich an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor
+Pfäffling vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm
+Notiz nahm, empfahl er sich.
+</p>
+
+<p>
+"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht mehr im
+Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen durchdringenden Blick.
+Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei jungen Söhnen vor und bot mir einen
+Platz an. Aber sie waren alle ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie
+nicht viel Vertrauen in die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz
+unbestimmt davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen
+sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die
+Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch,
+versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da meinte
+die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+</p>
+
+<p>
+"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen Beinen,
+dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein Direktor bin.
+Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber allerdings die Dame ein
+wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter und sagte: 'Ich denke, es ist
+besser, wir machen ein wenig Musik, dabei lernt man sich viel schneller
+kennen,' und ich fragte die Dame, für welchen deutschen Komponisten sie sich
+interessiere? Sie schien etwas überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir
+recht war. Da ging ich ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und
+fragte, aus welcher Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den
+Nibelungen, Herr Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch
+einmal nach ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling;
+ich wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal,
+aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich.
+</p>
+
+<p>
+"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer näher
+heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir uns
+verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, und die
+Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte Passion sei
+und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei Stunden zu kommen.
+Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der war ihnen auch recht, eine
+unbescheidene Forderung mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier
+tun, wenn er seine Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich
+fortging, begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle
+Steifheit war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich
+vergessen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er hat
+offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in der Klasse
+wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er ist aber, wie mir
+scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich wirklich zu freuen, daß
+die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei
+Herren zur Türe begleitet worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil
+geworden.' Ich habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn
+öfter sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger
+Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du
+bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines
+Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man sich
+sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden bekommt.
+Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges Jubellied gesungen
+werden!"
+</p>
+
+<p>
+Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der General
+im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher Deutscher."
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen
+Aufsatz machen."
+</p>
+
+<p>
+Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die Marianne
+ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau Privatiere
+Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer Glacéhandschuhe."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap05"></a>5. Kapitel<br/>
+Schnee am unrechten Platz.</h2>
+
+<p>
+Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der erste
+Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen stundenlang
+gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das ganze Land überzieht
+mit seiner weichen, weißen Decke; der alles verhüllt, was vorher braun und
+häßlich war, der alles rundet und glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist
+sie schön, die Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose
+Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+</p>
+
+<p>
+Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen,
+und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch eine Sitte muß aus dem
+Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich verpflanzt, wird etwas ganz
+anderes daraus.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden Kinder zu
+ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele
+Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie
+versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie
+Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man für
+sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein
+Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er sogleich den Baum, der in einem
+Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu dem Gärtner, von dem er gemietet war.
+Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er
+verbreitet.
+</p>
+
+<p>
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge Deutsche und
+sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er
+nehme ja so viel Platz weg.
+</p>
+
+<p>
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem Christbaum
+nicht den Platz?
+</p>
+
+<hr />
+
+<p>
+Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch den
+frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten
+Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her,
+und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfüße
+schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die größten Schneeballenschlachten
+konnten ausgeführt werden.
+</p>
+
+<p>
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und sah
+vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein großer
+weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem Zaun hatte
+jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze auf.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas sehen," und
+schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und öffnete das Fenster.
+Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr
+eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbäumen.
+</p>
+
+<p>
+"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der Fuhrleute,
+der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glückselige
+Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch einer dabei!" Die Kleine
+erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann nach.
+</p>
+
+<p>
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem richtigen
+Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem
+schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil
+an.
+</p>
+
+<p>
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo einige
+Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein hitziges
+Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler
+hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter
+der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder
+hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber
+wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen
+zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe.
+Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war
+nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die
+rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee!
+</p>
+
+<p>
+Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so
+schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach
+den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen,
+daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen,
+das war Frechheit.
+</p>
+
+<p>
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. Nach
+Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklärte das
+Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien
+die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach
+Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser
+weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und
+verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das
+war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann
+kommen sahen, liefen auf und davon.
+</p>
+
+<p>
+Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach seinem
+Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war
+noch so nahe, um seine Antwort zu hören.
+</p>
+
+<p>
+"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete die
+Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+</p>
+
+<p>
+"Die Wohnung?"
+</p>
+
+<p>
+"Frühlingsstraße."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die
+Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein "Wilhelm" war er
+allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein Name.
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling schadet
+das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders,
+wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: fort mit dir. Ich
+sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der
+Pfäffling hat ebensogut geworfen wie ich."
+</p>
+
+<p>
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser Wilhelm an
+seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst,
+denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand,
+abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, daß allen davor
+graute. Nun mußte er unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über
+des kleinen Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische
+Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht
+am Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze
+zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde.
+So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er
+achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen
+Stuhl kam.
+</p>
+
+<p>
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah überrascht
+auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was ist's, Vater?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da und hat
+dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?"
+</p>
+
+<p>
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann doch nicht
+sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der
+gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr Pfäffling,
+und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand,
+daß es klatschte.
+</p>
+
+<p>
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft beiseite,
+"warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf diesen Vorwurf
+versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Möglichstes getan, daß man
+ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über
+den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie
+zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und
+woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht
+erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?"
+</p>
+
+<p>
+"Um 11 Uhr."
+</p>
+
+<p>
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem
+Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die Sache
+noch ins Zeugnis!"
+</p>
+
+<p>
+"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen sind
+jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+</p>
+
+<p>
+Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du nicht
+etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem Mann, "und
+ein gutes Wort für ihn einlegen?"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da
+kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch
+nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter
+handelt; war auch gewiß sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum
+glauben!"
+</p>
+
+<p>
+"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben,
+dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. Besonders der
+Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+</p>
+
+<p>
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: "Jetzt
+wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr niemand, für diesen
+Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen.
+</p>
+
+<p>
+Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, berieten,
+ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, und als Anne eben
+im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: "Das ärgste ist
+mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hört, dann kündigt er
+uns!"
+</p>
+
+<p>
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das Schreckgespenst, die
+Kündigung!
+</p>
+
+<p>
+So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den
+Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen
+mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine Angst, ein Unrecht
+ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr doch angemerkt, wie
+unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufällig gehört, wie der Vater
+zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt
+machen."
+</p>
+
+<p>
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
+erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die übrigen
+Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+</p>
+
+<p>
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu Baumann,
+"dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist nicht wahr."
+</p>
+
+<p>
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich
+gesehen."
+</p>
+
+<p>
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der
+Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler
+und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief
+reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch
+mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß Pfäffling der einzige sei,
+sagte er: "Dann möchte ich mir auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum
+kümmern. Es ist schon störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß,
+gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird.
+Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+</p>
+
+<p>
+So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu
+bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, daß er
+allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, daß
+sein Betrug an den Tag kommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das
+Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und
+auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet
+war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner,
+den sauern Gang auf die Polizei mußte er ganz allein tun. Und nun betrat er das
+große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der
+Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner
+kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und
+warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein,
+Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze Qual,
+die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte ihn bei Hand.
+"Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," sagte er, "jetzt komm
+nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
+</p>
+
+<p>
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war
+angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen,
+darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer
+Nähe fortgesetzt habe.
+</p>
+
+<p>
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+</p>
+
+<p>
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber weiter
+nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast mir erzählt,
+daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest."
+Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte wohl der Vater besänftigt
+werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs
+und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr
+Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des
+Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen
+eines Vergehens entschuldigt hat."
+</p>
+
+<p>
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit als Lüge
+auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm
+gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn
+Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"
+</p>
+
+<p>
+"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der
+Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen Polizeidiener. "Bitten
+Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den
+Schutzmann Schmidt herein."
+</p>
+
+<p>
+"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine
+Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie es wünschen, können
+Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der
+Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen der
+Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte noch weiter
+sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den
+Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn gerade <i>diesen</i> Jungen
+aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich
+in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt
+hat?" und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir
+zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte
+ich nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann:
+"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der
+rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich
+aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht.
+Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."
+</p>
+
+<p>
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus,
+das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich
+gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. "Jawohl," sagte
+er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse."
+</p>
+
+<p>
+"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich kann ihn
+doch nicht angeben?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und deine
+Menschenkenntnis ist nicht groß."
+</p>
+
+<p>
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," sagte
+der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist."
+</p>
+
+<p>
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das Versehen,"
+sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst nun gehen, aber
+halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem Schneeballenwerfen, in den
+Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!"
+</p>
+
+<p>
+Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief
+Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen bist!
+Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt,
+wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser
+vorgebracht."
+</p>
+
+<p>
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht glauben
+wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich
+etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet
+das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber."
+</p>
+
+<p>
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit
+der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge
+Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht
+wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und
+wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich
+schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt du sicher sein, daß er darauf
+'nein' sagt."
+</p>
+
+<p>
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+</p>
+
+<p>
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte
+Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den Grund
+nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von
+Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der
+junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht."
+</p>
+
+<p>
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die
+Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küßte sie
+und lief davon.
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
+freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts
+verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe
+an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut vorübergegangen." Nach ein
+paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener
+Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller.
+</p>
+
+<p>
+"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der Professor nach
+der Stunde zu Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben
+worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben."
+</p>
+
+<p>
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+</p>
+
+<p>
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um
+Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen.
+Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann aufgeschrieben
+worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den falschen Namen angegeben."
+Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: "Dem
+Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer
+gewesen. Du mußt mir's nicht übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt,
+daß dir das nichts macht."
+</p>
+
+<p>
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief Wilhelm,
+"du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe
+ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann
+kann es ja wohl sein, daß du dich durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der
+Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe.
+Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige
+Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und
+bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen
+des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor.
+Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in
+solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht <i>ein</i> Gesicht erkannt hatte.
+Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht
+fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und
+er sollte ihm nicht entgehen.
+</p>
+
+<p>
+Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich!
+Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan, was strafwürdig
+ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: 'warum ist er dann
+vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das
+Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle
+Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im
+Haushalt und dachte dabei: 'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger
+Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht
+ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim
+Zeit und Geld für sie verwenden?
+</p>
+
+<p>
+In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht
+gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett
+geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das
+schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum
+Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs
+hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein
+wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter
+Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte
+leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter
+ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst
+war schuld.
+</p>
+
+<p>
+Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg
+hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief die Kleine, "die
+Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen
+Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren
+von Teig an der Schürze.
+</p>
+
+<p>
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter Strenge,
+"gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an
+die Schürze wischen," und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog
+leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind
+alle unfolgsam!' Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das
+angefangene mußte trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum
+Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo
+die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr
+langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den
+Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der
+Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur
+schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie
+gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich
+freuen!"
+</p>
+
+<p>
+Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau
+Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund.
+Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf
+dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand:
+</p>
+
+<p class="poem">
+Man bittet die Türe zu schließen!
+</p>
+
+<p>
+Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen,
+die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel ordentlicher, als
+du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer
+aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird
+zumachen, wenn er hört, daß es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre
+wird geschlossen."
+</p>
+
+<p>
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie
+Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als sonst, hörte sie die
+Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um
+nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging.
+</p>
+
+<p>
+Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten
+Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß heute etwas
+besonderes los war.
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas kleinlaut
+erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+</p>
+
+<p>
+Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war
+es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am
+Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die Mutter: "Marianne, warum
+habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?"
+</p>
+
+<p>
+"Vergessen!"
+</p>
+
+<p>
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+</p>
+
+<p>
+"Aber doch <i>nach</i> dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht
+helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte." Da
+widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem
+Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine
+Frau verwundert an.
+</p>
+
+<p>
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr
+den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die
+Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das
+Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren.
+</p>
+
+<p>
+"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die
+Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter.
+Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann
+entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll
+eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei
+Tassen."
+</p>
+
+<p>
+Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden,
+denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf
+die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen.
+</p>
+
+<p>
+Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine
+Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.
+</p>
+
+<p>
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling sagen.
+</p>
+
+<p>
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch,
+wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes
+gemeint?
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap06"></a>6. Kapitel<br/>
+Am kürzesten Tag.</h2>
+
+<p>
+Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo
+im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel steht, saß man heute
+noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde,
+war es noch trüb und dämmerig in den Häusern. Allmählich aber hellte es sich
+auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch
+ihre schrägen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig
+durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich
+der Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen
+hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse und Hasen wurden
+da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! Auf den Plätzen der Stadt
+standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den
+großen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.
+</p>
+
+<p>
+Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und Anblick ganz
+hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte
+für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwärts über
+den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem
+Bäumchen, nicht größer als er selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten
+vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so
+rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet
+und wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+</p>
+
+<p>
+"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; <i>so</i> wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand legte sich
+von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte
+sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen hatte, war eine
+große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und
+Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weißt
+doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und legte ihm den Baum über die
+Schulter.
+</p>
+
+<p>
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte die Dame.
+</p>
+
+<p>
+"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume geschleppt,
+sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen."
+"Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. "Sieh, auf diesem Papier
+ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, daß dich's nicht in die
+Hände friert." Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin
+einen kleinen Anstoß in der Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern,
+trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß er mehr aus
+Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es aber nicht gewiß.
+Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so mußten eben die Buben
+helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, freilich meist größere. Er war
+eigentlich stolz, daß man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt
+nur die Brüder begegnet wären oder gar der Vater!
+</p>
+
+<p>
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase
+stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, obwohl er
+nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn oft von der einen
+auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen
+mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne daß die steife, von der Kälte
+erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er
+trug den Baum frei mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von
+einem Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen
+aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm
+den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du,
+Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum
+hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße
+glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder
+hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei
+einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte
+niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten
+Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47,
+die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum
+gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen
+wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig
+auf die Treppe setzen, um auszuruhen.
+</p>
+
+<p>
+"In der Luisenstraße wohnt nur <i>ein</i> Doktor," sagte sie, "und das ist Dr.
+Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun lieber in Nr.
+43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer,
+aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte
+er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hörte
+dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. Weber, sie hätten längst einen Baum und
+einen viel schöneren und größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen
+herunter, und als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz
+klar, wo er jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter
+Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts mehr
+vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+</p>
+
+<p>
+Und es war wirklich höchste Zeit.
+</p>
+
+<p>
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie
+und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder hat
+versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag
+weggeblieben!"
+</p>
+
+<p>
+"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. Sieh
+einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu ängstigen,
+nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem zugestoßen sein—, aber wenn
+er nicht zu Mittag käme, würden sich die Eltern sorgen und darüber ärgern, daß
+doch wieder etwas vorgekommen sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten
+sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von
+allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater
+heim, fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?"
+</p>
+
+<p>
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört hatte.
+"Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch in sein
+Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man nur das Essen ein
+wenig verzögern könnte," sagte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg zu sich
+und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so
+zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, daß man später
+ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Töpfe auf und
+sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch
+eine Weile kochen dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs
+Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die
+Linsen ganz hart.
+</p>
+
+<p>
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja noch
+ein wenig mit dem Essen warten."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die Kinder.
+</p>
+
+<p>
+So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur
+mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem
+Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling merkte jetzt, daß
+etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz außer
+Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte
+ängstlich: "Ißt man schon?"
+</p>
+
+<p>
+Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie man
+seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn nur ab, du
+glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der
+Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, "ich muß ihn einer Frau
+bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie
+ihn aus und wollten alles genau hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen
+und hörte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm
+nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!"
+</p>
+
+<p>
+Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt sich
+denken.
+</p>
+
+<p>
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner rechtmäßigen
+Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit Frieder gehen, ihm
+helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus zu Haus
+laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," entgegnete Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde ich mich
+schämen."
+</p>
+
+<p>
+"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl ich
+meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke stand, hob ihn
+frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte spassend: "So werde ich durch
+die Luisenstraße ziehen, eine Schelle nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum
+gehört, der soll sich melden.'"
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird so
+gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein Kamerad denken
+sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie schwiegen aber. Da setzte
+Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte sehr ernst: "Kinder, fangt nur das
+gar nicht an, daß ihr meint: dies oder jenes paßt sich nicht, das könnten die
+Kameraden schlecht auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer
+durchs Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf
+Meier ab."
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe dessen
+und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in die Luisenstraße
+Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.
+</p>
+
+<p>
+Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir nichts
+daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht gedacht, daß
+es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."
+</p>
+
+<p>
+"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir ein
+Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen Pfennig
+mehr."
+</p>
+
+<p>
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins Zimmer
+kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so lang bleibt,
+tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem alten Mantel
+schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+</p>
+
+<p>
+Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto mußte
+sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+</p>
+
+<p>
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als Otto
+plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: "Da vornen
+kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn sie meinen, ich
+müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du doch den Baum selbst
+tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach war das
+nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", das stimmte
+alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock stand noch einmal
+der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe.
+</p>
+
+<p>
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein wenig mit
+ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als Frieder nach Hause
+kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen, war es ihm nicht
+behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen zuletzt noch im Stich
+gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er mit dem Bruder wieder
+zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich auf ihn, dann ging ihm die
+Geduld aus, vermutlich war Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu
+finden, aber es war nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von
+allen Seiten gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er
+freilich erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum
+getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch
+schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja
+die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch und
+hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. "Ja
+Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast alle
+zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die kommen
+wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren
+nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht
+oben oder unten bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben
+gar nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen
+größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos
+ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten."
+</p>
+
+<p>
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem Baum
+und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück," und flink
+faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von seiner Schönheit
+eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon.
+</p>
+
+<p>
+In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und sofort
+rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch noch!" Eine
+lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo bist du denn so lang
+geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar nicht, dir habe ich keinen Baum
+zu tragen gegeben, der gehört nicht mir."
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen jungen
+Pfäfflingen gemacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er kam,
+war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe nämlich nicht
+gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, ich brauche ihn schon
+heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da konnte ich nicht warten. Was
+mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr wohl schon einen zu Haus? Ich würde
+euch den gern schenken."
+</p>
+
+<p>
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten kleinen
+Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen Lebkuchen schicken,
+den bringst du ihm, nicht wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit seinem
+Baum heimwärts.
+</p>
+
+<p>
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter angezündet, als
+Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe geraubt hatten, kamen
+eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, und ließen sie vor Schreck
+fast aus der Hand fallen, als sie den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!"
+schrien die Mädchen ins Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte
+Karl, "der Baum, der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht
+aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!"
+</p>
+
+<p>
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab ihn
+Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, Mutter,
+der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam, ergötzte er sich an
+der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er merkte, daß es Otto nicht
+recht wohl war bei der Sache, und wollte sie eben deshalb genauer hören. "Also
+so hat sich's verhalten," sagte er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden
+hast du dich so gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen
+hast? Dann heiße ich dich einen Feigling!"
+</p>
+
+<p>
+Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte und
+schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu vergessen. Es war
+auch am nächsten Morgen, an dem vierten Adventssonntag, Ottos erster Gedanke.
+Es trieb ihn um, er konnte dem Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen.
+Da trachtete er, mit der Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er
+ihr nachging, und ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte
+er, "ich kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich
+ihn um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für feig."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar schon
+manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über dich
+urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur ankämpfen gegen
+die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein kannst."
+</p>
+
+<p>
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, fehlte
+Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er zuerst den Vater
+in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen Musikalien auf. "Willst du
+etwas?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon welches.
+Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt gestanden und
+habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von meiner Klasse haben es
+gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, die ich bekommen habe." Da sah
+Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es
+gibt allerlei Heldentum, das war auch eines; nein, Kind, du bist doch kein
+Feigling!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap07"></a>7. Kapitel<br/>
+Immer noch nicht Weihnachten.</h2>
+
+<p>
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der Familie
+Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade das einzige
+Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das Elschen. Ihr war die
+Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie zurückdenken konnte, alle
+Geschwister entzog, die unbarmherzig die schönsten Spiele unterbrach, die ihre
+dunkeln Schatten in Gestalt von Aufgaben über die ganzen Abende warf und die
+auch heute schuld war, daß die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den
+Schulzeugnissen redeten, die sie bekommen würden.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß morgen
+der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig und mißmutig.
+"Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es gar kein Land auf der
+ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+</p>
+
+<p>
+"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel ist
+zurzeit noch keine eröffnet."
+</p>
+
+<p>
+"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. Aber da
+alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag nichts taugte,
+und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal nichts zu machen war.
+</p>
+
+<p>
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der letzten
+Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie nur so beiseite
+geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise geführtem Gespräch und
+verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. Es waren nämlich die Zeugnisse
+ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, daß Wilhelm in der Mathematik die
+Note "4" bekommen hatte, die geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch
+nie dagewesen, die Zahl 4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen
+Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was
+hilft es mich, daß ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der
+Vater sieht doch auf den ersten Blick den Vierer."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+</p>
+
+<p>
+"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater darnach
+fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es nicht
+wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren inzwischen auch
+mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder auf. Marie warf nur
+einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, ihr seid schlecht
+weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse
+sind gut, besser als das letztemal, und der Frieder hat auch gute Noten. Dann
+wird der Vater schon zufrieden sein."
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+</p>
+
+<p>
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen soll,
+daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+</p>
+
+<p>
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und zuletzt
+wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und dann die
+Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz des fatalen
+Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt sein konnten. Die
+Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen anzusehen, und dem Vater wollte
+man die schöne Durchschnittsnote in einem geschickten Augenblick mitteilen,
+dann würde er nicht weiter nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse
+unterschrieben werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus
+sorgte man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das
+beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis gezeigt,
+nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte Wilhelm, "wie
+der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+</p>
+
+<p>
+"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur von der
+Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten bekomme, werden
+die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft wieder, Karl?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."
+</p>
+
+<p>
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat sich so
+gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es übernehmen, sie
+dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht nach den Heften fragen
+würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr Pfäffling sich richtete, um zum
+letztenmal vor dem Fest in das Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen
+Bewegungen bemerkte sie, daß er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben
+alle unsere Zeugnisse bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl
+berechnet, was wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da
+herausgekommen ist? Magst du raten, Vater?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich es
+doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis drei
+vielleicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+</p>
+
+<p>
+"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und Marie
+bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will ich alle in der
+Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal unterschreiben kannst." "Ja,
+hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling noch von der Treppe herauf.
+</p>
+
+<p>
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber sehr
+weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da niemand in die
+Hände fallen.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, denn es
+war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten und so betrat er
+auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal stand die große Flügeltüre
+des untern Saales weit offen, Tapezierer waren beschäftigt, die Wände zu
+dekorieren, der Besitzer des Hotels stand mitten unter den Handwerksleuten und
+erteilte ruhig und bestimmt seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte
+Herr Pfäffling, nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit
+herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand
+ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der Hand
+und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen wurden. Aber
+plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm ertönte eine
+scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an
+dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er
+Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not
+mit den Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt
+Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei,
+die Treppe hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf seine
+verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den Leuten, die
+er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, er spreche so klug
+wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr Pfäffling noch größere Ansprüche
+machten? Rudolf stellte sich die Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie
+doch im Vergleich mit ihm, sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte
+ihr Vater doch empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel
+weiter war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
+geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten
+sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er
+wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+</p>
+
+<p>
+Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe hinaufgesprungen.
+Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner Schüler, und nun wurde
+noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert.
+</p>
+
+<p>
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm die
+Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen Gästen viel
+zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein Geschäft ausgezeichnet,
+aber sein Sohn <i>spricht</i> nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn
+wird nichts."
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und
+hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben <i>den</i> Sohn stehen, über
+den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er wird
+nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind
+gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm
+vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte vielleicht
+selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu
+verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als
+seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere
+Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur Arbeit."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater sehr viel
+zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre
+Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+</p>
+
+<p>
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war und
+meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß ich jetzt so
+etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, daß ich
+als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. Die Dienstboten sind so
+unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her sein."
+</p>
+
+<p>
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen anleiten?"
+</p>
+
+<p>
+Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht
+gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein gewöhnlicher
+Schuljunge war?
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien
+Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."
+</p>
+
+<p>
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich weiß
+auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben über
+Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, feierliche Messen und
+dergleichen. Man muß allen dienen können und darf keine Vorliebe für die eine
+oder andere Konfession merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht
+verletzen und müssen uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen
+lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der
+verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er offenbar
+Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor der Stunde für ihn
+gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+</p>
+
+<p>
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, die
+Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der
+Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte Herr Pfäffling ihn
+zu einem Tapezierer sagen:
+</p>
+
+<p>
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den
+Gästen abgehalten wird."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern kam, die
+schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken
+versunken. Er sah vor sich den tüchtigen Geschäftsmann, der in unermüdlicher
+Tätigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug
+abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst
+gehören sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine
+Straße weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich
+mit dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus eine
+Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, daß
+sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den schlimmen Einflüssen
+zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der großen Stadt, in
+einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während sich Herr Pfäffling dies
+überlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurück, und nun stand er
+vor Herrn Meier, in dem großen Saal.
+</p>
+
+<p>
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die Dekoration
+und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," sagte Herr
+Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr
+Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+</p>
+
+<p>
+Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem
+anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie Platz nehmen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er sagen
+sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch begonnen, so trieb
+ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+</p>
+
+<p>
+"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann sehen Sie
+gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's
+denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch
+kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tüchtig arbeitet und dann
+fröhlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen
+sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das
+Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein
+Christ, denn er dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem
+Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas
+aus ihm werden, aber so nicht!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen nicht zu
+Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kühl: "Ich muß
+mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht
+und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz flüchtig. Mir scheint, Sie
+urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, daß mein Sohn der geborene
+Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so
+wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes
+Kind wohl am besten und werde für sein Wohl sorgen."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser
+vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt habe. Das
+wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so
+oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es die Menschen nicht
+ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der
+reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es
+mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu
+fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr
+für seinen Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!"
+</p>
+
+<p>
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende,
+indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich
+sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten." Er ging,
+der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts
+erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch er
+sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in
+Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen
+ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit
+sich selbst ebenso streng ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen;
+immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und
+nachbedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst,
+auf die Leute einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+</p>
+
+<p>
+Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich
+über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern.
+Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte
+in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, daß er nach
+seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief:
+</p>
+
+<p>
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie
+sehen!"
+</p>
+
+<p>
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse müssen
+her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. "Warum denn,
+warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie mußte die
+Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinübertragen in des
+Vaters Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als sie
+wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine List mit
+der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend etwas ist sicher
+nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar fatale Dreier da, oder
+eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er überblickte die kleine
+Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt
+sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab
+das Bild eines gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen
+Sprachgelehrten.
+</p>
+
+<p>
+Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut brauchen,
+wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Sünden anderer
+gut machen.
+</p>
+
+<p>
+Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie
+vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor,
+aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von
+Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig
+verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit
+ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst
+darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu
+gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich
+schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer
+zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+</p>
+
+<p>
+Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken
+können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was für gute
+Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser
+als früher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein
+Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika
+zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch
+genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der
+Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse
+auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel
+Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo
+war denn das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben?
+Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm
+ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im
+Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und
+wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe sich
+auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht
+heimbringen.
+</p>
+
+<p>
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas
+besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber
+für die Mathematik fehlte das Verständnis.
+</p>
+
+<p>
+Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an seiner
+Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als
+sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte
+dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran, daß morgen Weihnachten ist!"
+und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie
+freundlich an sich: "Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist
+gut, daß du mich erinnerst."
+</p>
+
+<p>
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden immer nur
+von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+</p>
+
+<p>
+"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor Weihnachten
+freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herüber, ich
+will machen, daß sie sich freuen!"
+</p>
+
+<p>
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister
+zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem Trüppchen dem
+Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drückten. Aus
+diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur gegen mich
+dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja
+keinen Sinn! Gegen den <i>Feind</i> verbindet man sich, nicht gegen den
+<i>Freund</i>. Habt ihr einen treuern Freund als mich? Halte ich nicht immer zu
+euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+</p>
+
+<p>
+Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die
+Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und
+sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten
+wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit
+mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir möchte ich nie etwas
+verheimlichen!"
+</p>
+
+<p>
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch Gutes dabei
+heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen,
+wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, daß sie das nächste
+Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind
+unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr
+weit her, aber wie wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter
+Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich
+darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von
+diesem Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer
+müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis
+Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an
+für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß sie am nächsten Tag
+nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt,
+dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder
+nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich
+in ihr Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.
+</p>
+
+<p>
+"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den
+Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie in der
+Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" Während des
+lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens fröhlichem Jauchzen
+ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme
+wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie
+haben gar nicht 'herein' gerufen."
+</p>
+
+<p>
+Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte
+sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die
+Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte Augen und rief: "Nein, wie
+viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen
+hatte, waren alle sieben schon verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie
+schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"
+</p>
+
+<p>
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als aber
+Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, machte nur
+einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf hereinschauen," und sie sah
+dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll aus, daß das Verbot mit lautem Jubel
+aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus
+und sogar aus dem Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille
+Nacht, heilige Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+</p>
+
+<p>
+"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur so auf
+gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen <i>die</i> Noten
+spielen, die da stehen."
+</p>
+
+<p>
+"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch nicht so
+pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf
+jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich weiter und nun, als
+der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich auf und sagte: "Ich habe
+mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum täglichen
+Gebrauch, Herr Pfäffling."
+</p>
+
+<p>
+"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie ihren
+Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie
+werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird."
+</p>
+
+<p>
+"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer sein?"
+</p>
+
+<p>
+Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes
+Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fräulein
+Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen.
+Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang
+nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere
+Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schülerin.
+</p>
+
+<p>
+In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt hoch in
+seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das über einen
+Meter lang herunter hing.
+</p>
+
+<p>
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? Zu
+einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, Cäcilie?" Da
+wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke für das Klavier
+erkannt.
+</p>
+
+<p>
+"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein Vernagelding, das
+ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich bitte dich, nimm mir das
+Ding da ab!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner
+Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. Nun waren die
+Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den Eltern am Tisch, und Herr
+Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge im Zentralhotel. Er stellte sich
+selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß
+Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen
+hätte. "Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte
+sie. "Und wenige, die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte
+lächelnd hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glückliches Paar, nicht wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater zu
+ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"
+</p>
+
+<p>
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein
+Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine
+Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich vorzustellen.
+Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es war Regenwetter und ich
+trug einen langen braunen Überrock und hatte den Regenschirm bei mir."
+</p>
+
+<p>
+"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, "einen
+dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar
+nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm trat dein Vater in
+unser hübsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den
+Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen.
+Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich
+noch ein junges, dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich
+alle Mühe hatte, mein Lachen zu unterdrücken."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, sondern
+hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine
+Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die
+Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespräch, und
+wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich
+vor, daß du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun
+kommt das Großartige. Als ich wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im
+Nebenhaus bei Professer Lenz Besuch machen wollte."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter hatten, so
+kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete. Ich dachte bei
+mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm in der Hand bei
+Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespött für den ganzen Kreis.
+Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch
+war ich schüchtern und ungeschickt."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling ein, "ich
+hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot
+dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht lieber ihren Überrock und
+Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu
+Willen sein und machte Anstalt, meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit
+deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen,
+sondern wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen
+Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei, im
+Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie haben
+es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht gesagt.' Da verging
+mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr Pfäffling.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap08"></a>8. Kapitel<br/>
+Endlich Weihnachten.</h2>
+
+<p>
+Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist
+Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an keinem
+anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht und gern aus
+den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und
+hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der Mutter helfen aus
+Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung
+fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die
+Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um
+die Wette, wenn die Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas
+Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der
+treuen Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche
+befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte.
+</p>
+
+<p>
+Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas
+holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus dem Nebenhaus,
+die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die allerlei zurechtgelegt
+war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht
+einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt ihr die Kleinen in euer Stübchen
+und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg
+waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst
+sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir
+einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die
+Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's
+kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter
+und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut.
+Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa
+Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen
+Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend."
+</p>
+
+<p>
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch
+viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen Kindern einen
+schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel—das
+können Sie sich denken bei sieben—aber weil keines vorher ein Stückchen sieht,
+so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns
+einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor
+dem heiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum
+geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet
+ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann
+sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar
+keine großen Geschenke daliegen."
+</p>
+
+<p>
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen Sinn für
+so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."
+</p>
+
+<p>
+"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht und
+Lichter dazu."
+</p>
+
+<p>
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch
+gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen
+gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke mir, daß Sie
+noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?"
+</p>
+
+<p>
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie
+habe etwas für mich und die Kinder."
+</p>
+
+<p>
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie
+alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so groß wie im
+reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag gezankt,
+weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester
+bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang
+gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe."
+</p>
+
+<p>
+"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was
+die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine Freude, wenn
+die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein Mann auch den Sinn
+für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, daß
+Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt,
+verstecken, und dann eine schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder
+bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+</p>
+
+<p>
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem Christbaum
+dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehört auch
+zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige
+übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen Kalender kaufen, oder
+was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich
+keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen
+war."
+</p>
+
+<p>
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen Sachen,
+die Sie mir zusammengerichtet haben."
+</p>
+
+<p>
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein,
+und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie
+machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins
+Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die Reichen können die Armen nicht
+glücklich machen, wenn die nicht selbst wollen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese
+endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel
+abgezogen.
+</p>
+
+<p>
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu
+betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der
+Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt nur recht laut," sagte die
+Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt's heute,
+nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei
+Pfäfflings ist's auch so."
+</p>
+
+<p>
+Da ergaben sich die Kinder.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher Stimmung.
+"Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling und rief die
+Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen.
+</p>
+
+<p>
+"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," sagte
+sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben besorgen." Wilhelm
+und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil
+gespannt, an dem eine ungezählte Menge Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg
+war eine große Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten
+die hölzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt
+waren. "Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm
+fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen,"
+so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto
+gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei
+allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs Bodenkammer
+offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte,
+ganz erschrocken über den plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr
+denn aber da oben, ihr Kinder?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, wenn man
+Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben darnach springen,"
+sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und mit einem Hochsprung hatte
+er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der Strumpf fiel herunter.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+</p>
+
+<p>
+"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher grau und
+schwarz, denen schadet das nichts."
+</p>
+
+<p>
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken.
+Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle Strümpfe schienen
+zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten sonst noch da unten stehen
+und auf die Hände der vielbeschäftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld
+ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein
+wenig zu helfen?
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid herunter: Die
+meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie müßten noch
+hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und
+dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz
+Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und
+Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie
+den Vorrat auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich:
+Das gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein kärgliches
+Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu:
+"Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!" "Warum denn
+nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich.
+"Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es
+nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen."
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte
+das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf
+den Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom
+gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfäffling:
+"Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein großes
+Stück Braten denken!"
+</p>
+
+<p>
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein
+dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man
+nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst!
+</p>
+
+<p>
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen
+Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfältig
+verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nüssen
+und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte
+ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Häusern feiner geschmückte
+Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten
+Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das
+Grün des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem
+nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind
+vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten
+Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran ändern.
+Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen
+Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich.
+Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben,
+und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen,
+nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr
+wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten
+des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die
+mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen begann,
+dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm die Aufsicht
+über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf
+allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen
+fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten
+wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein
+Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer
+Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und
+alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem
+Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine Handvoll
+Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: "Das ist etwas
+zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen aus der Großmutter Paket
+gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schürzen an und sagt auch
+Walburg, daß sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der
+Mutter Angesicht leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern
+das gleiche Strahlen hervor.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen.
+"Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den Baum anzünden?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich bin so
+müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen Jubel Kraft zu
+sammeln."
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl noch
+eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schließe die
+Augen."
+</p>
+
+<p>
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur drei
+Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder frisch, und ich
+kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache Unruhe, die klopfenden
+Herzen der Kinder da draußen, wir wollen anzünden." Bald strahlten die Lichter
+an dem Baum, die großen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische
+erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein
+Glockenzeichen und die Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und
+Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung;
+solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen
+und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun
+geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird das
+Kinderglück.
+</p>
+
+<p>
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber
+es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den
+Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater
+dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den
+Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Güte, wenn es einem der Geschwister ins
+Gesicht sah, so glänzte dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft
+des Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den Frieder!"
+An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine
+ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf
+das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen
+Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen:
+</p>
+
+<p class="poem">
+Fideln darfst du, kleiner Mann,<br/>
+Vater will dir's zeigen.<br/>
+Aber merk's und denk daran:<br/>
+Immerfort zu geigen<br/>
+Tut nicht gut und darf nicht sein.<br/>
+Halte fest die Ordnung ein:<br/>
+Eine Stund' am Tag, auch zwei,<br/>
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er drängte
+sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich sie gleich
+probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht
+viel Platz ließen, drückte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte
+an, leise über die Saiten zu streichen und zarte Töne hervorzulocken. Und er
+sah und hörte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte
+sich, denn er wollte <i>reine</i> Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern
+sahen sich mit glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in
+seinem Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen
+kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+</p>
+
+<p>
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+</p>
+
+<p>
+"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding geschickt!"
+</p>
+
+<p>
+"Was? Euch Kindern, was tut <i>ihr</i> denn damit?"
+</p>
+
+<p>
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche."
+</p>
+
+<p>
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"
+</p>
+
+<p>
+Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre neuen
+Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den
+Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. "Man könnte meinen, es sei
+ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz außer Rand und Band!" sagte Herr
+Hartwig zu seiner Frau. "Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort
+beschwichtigte den Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich
+auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang
+zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+</p>
+
+<p>
+In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie war
+ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die
+Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren großen, ernsten Zügen
+malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in
+ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, aber es hatte sich kein ruhiges
+Viertelstündchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt
+hätte sie vielleicht einen Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl
+schwerlich kommen. Während Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz
+von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf
+Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das
+Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war
+noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber
+unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu stehen?
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst
+nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja
+da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo ist denn die Mutter?"
+Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurück mit dem Bescheid, die
+Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst
+nie. "Dann laßt sie nur ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal
+redet, muß man froh sein."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit
+herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drückte
+sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: "Ich erzähle dir später!"
+Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und
+Marie sagte: "Unserer Walburg sieht man so gut an, daß heute Weihnachten ist."
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich
+nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis endlich Herr Pfäffling mit
+seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch der Ruhe bedürftig sein," sagte er.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie
+erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die
+schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem Jahr ihr Sohn Witwer
+geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos
+dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an
+kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, daß sie nicht gut höre,
+aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den
+Feiertagen einmal herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die
+Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg kennt den
+Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu
+sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut für Walburg!"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem Haushalt
+vorstehen können bei ihrer Taubheit?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein
+schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es rührend, daß der
+Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen.
+Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draußen viel besser, weil sie
+ihren Dialekt reden."
+</p>
+
+<p>
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, wenn
+auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag
+möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch
+nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurückkommt, sagen, daß
+sie Braut ist."
+</p>
+
+<p>
+Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer
+Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch
+einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hölzernen Truhe, in der
+ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit
+Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war,
+jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da
+draußen gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die
+breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu
+Ehren kommen!
+</p>
+
+<p>
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in
+ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
+</p>
+
+<p>
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar
+kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau
+Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön aufzuräumen, so hatten
+inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem großen
+Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen und Apfelbutzen kein Ende.
+Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte
+sich bei der geringen Kälte nicht bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel
+Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben
+sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war
+sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling nach den
+Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten
+Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch
+mittun könne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein.
+Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur
+die beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen
+hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die
+Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr
+Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der Küche ein
+Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel ließ sich auch
+an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon
+ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was <i>willst</i> du tun? Meistens drängten
+sich die Geschäfte von selbst auf und hätten schon fertig sein sollen, ehe man
+daran ging. Eine Weile ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr
+klar, was sie tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich
+komme zu dir!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen Jahren
+hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jährige Frau konnte
+<i>nicht mehr</i>, und die junge Frau konnte <i>noch</i> nicht die Reise wagen,
+die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch
+köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne.
+Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit
+den nötigsten Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen,
+wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und
+es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich
+aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht
+sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in
+dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und
+davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch
+festhielten: Ein jeder trage des andern Last.
+</p>
+
+<p>
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags.
+Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zündete ein einziges
+Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und große breite Schatten von
+Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine
+feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfäffling sagte leise vor sich
+hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch.
+</p>
+
+<p>
+Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und Bewegung
+Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau Pfäffling. Sie
+fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, fröhlich ging sie hinaus und
+sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er
+dich verlassen hat." Sie ging, ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber
+nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Türe.
+</p>
+
+<p>
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst mit dem
+letzten Zug erwartet."
+</p>
+
+<p>
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln
+zusetzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles
+gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich bin ganz allein zu
+Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's nicht so arg gedacht, er
+meint, für die Kinder wäre doch eine besser, die hört." Ohne ein weiteres Wort
+wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den
+bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze,
+versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage
+glücklich gemacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider,
+setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen
+auf die kahlen Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es
+war so öde und leer in ihrem Herzen.
+</p>
+
+<p>
+Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet neben dem
+Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du tust mir so leid,"
+sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. Walburg aber beherrschte ihre
+Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: "Draußen habe ich selbst erst
+gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden,
+sie haben mir's auf die Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So
+wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld
+hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und
+sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie sich's gehört. Ich weiß
+nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn
+nicht wie früher auch?"
+</p>
+
+<p>
+"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir verstehen uns
+und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, daß du uns
+nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da wich der starre, traurige
+Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der
+Frau, die sich so bemühte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen.
+Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken;
+eilfertig griff sie nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der
+Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so traurig
+aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr
+draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei uns recht heimisch fühlt."
+</p>
+
+<p>
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört sie."
+</p>
+
+<p>
+Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen noch
+geigen? Wie heißt dein Vers?
+</p>
+
+<p class="poem">
+"'Eine Stund am Tag, auch zwei,<br/>
+Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+</p>
+
+<p>
+Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden gespielt
+hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben Violinübungen, die
+sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Mädchen das Herz
+leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe
+Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr
+als eine Verbindung mit den Mitmenschen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap09"></a>9. Kapitel<br/>
+Bei grimmiger Kälte.</h2>
+
+<p>
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die
+menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen
+Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser
+eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt
+Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er mußte das
+Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. "Zwanzig Grad Kälte," verkündete er,
+"Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die
+Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.'"
+</p>
+
+<p>
+Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb daheim am
+warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel
+durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten mußte, bis
+die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig
+brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die
+Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und
+unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war
+die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme,
+dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im
+Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der
+Trennung auch <i>einmal</i> wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der
+alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus
+in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein
+eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter
+beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig
+sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu
+denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich
+die große Reise gar nicht lohnen."
+</p>
+
+<p>
+Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und
+so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es
+doch einmal geschah.
+</p>
+
+<p>
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+</p>
+
+<p>
+"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr Pfäffling,
+indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg
+so zuverlässig ist."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem
+Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es
+sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da
+wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab,
+indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken,
+wir wollen sehen, was der Januar bringt!"
+</p>
+
+<p>
+Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder.
+So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich,
+die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie
+auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto
+hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen
+hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich
+wird's nicht so arg frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und
+Karl, obwohl er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war
+schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß
+doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so
+dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+</p>
+
+<p>
+"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen
+Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und
+deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht
+ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde
+frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ den
+Mantel fahren und rannte davon.
+</p>
+
+<p>
+Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie
+nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die
+Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete
+sich mit der Aussicht, daß nach den Osternferien auch sie mit den Großen den
+Schulweg einschlagen würde.
+</p>
+
+<p>
+So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder
+zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste
+Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder angeregt und von
+irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen würden. Um so mehr war
+sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden
+Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte
+und die Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie
+noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen
+wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau
+Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man
+sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen
+habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte.
+Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.
+</p>
+
+<p>
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
+Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. Aber
+Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein
+rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen,
+jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr
+alle heimkommt und von der Schule erzählt. Kommt, wir wollen beten:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Herr wie schon vor tausend Jahren<br/>
+Unsre Väter eifrig waren,<br/>
+Dich als Gast zu Tisch zu bitten,<br/>
+So verlangt uns noch heute,<br/>
+Daß Du teilest unsre Freude.<br/>
+Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+</p>
+
+<p>
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen.
+Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die
+Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr
+Pfäffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehört, was ihn ganz
+erfüllte: Ein Künstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden.
+Ein Künstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde
+hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen Städte
+Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum erstenmal
+auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die
+Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen des rührenden
+Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache.
+</p>
+
+<p>
+Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß unser
+Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares Vergnügen zu
+gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in
+solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten
+erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen großen Kunstgenuß
+hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen
+und sagte: "Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem
+Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die
+Mutter muß sich zur Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der
+Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war
+krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu eingetreten, ein
+anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit
+zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken
+weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier erzählt?" fragte er Otto.
+</p>
+
+<p>
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+</p>
+
+<p>
+"Hast du nichts näheres darüber gehört?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiß
+nicht mehr."
+</p>
+
+<p>
+Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen
+wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres erfahren.
+</p>
+
+<p>
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen
+Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die
+russische Familie klagte über den kalten deutschen Winter.
+</p>
+
+<p>
+"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" meinte
+Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. Alle
+Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch
+jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie keinen Pelz bei
+solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn
+Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie
+gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein
+Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch
+gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich
+spielen."
+</p>
+
+<p>
+Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. "Es war
+sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der
+viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist übrigens jetzt nicht mehr
+hier."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht
+hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er
+kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben
+hinein.'"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat recht,"
+fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig sind, ist es
+besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land ungünstig sind, so wie
+bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern
+<i>Land</i> aufwachsen zu lassen. In Rußland haben wir ganz traurige Zustände,
+die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall,
+Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne
+haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war.
+Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen
+Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl
+in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit
+in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt."
+</p>
+
+<p>
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne standen
+beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, daß diese
+reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen
+Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: "Jeder einzelne
+leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige.
+Möchte das neue Jahr für Rußland bessere Zustände bringen!"
+</p>
+
+<p>
+Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit
+Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zögerten
+beide. Sie hatten <i>ein</i> gemeinsames Interesse, über das zu sprechen ihnen
+nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die Sprache darauf zu bringen,
+wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. Mit dem höflichen aber kühlen Gruß
+des Gastwirts ging er vorüber, gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt
+heute!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie auseinander.
+</p>
+
+<p>
+Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl
+sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, ein echter,
+wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder
+nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel
+gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel
+nach. Aus der Küche erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der
+eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ
+sich dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Nicht lange, Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir
+das genau?"
+</p>
+
+<p>
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: "Aber
+das ist doch noch nicht lang her?"
+</p>
+
+<p>
+"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute
+nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da
+stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch
+ganz um die Geige! Gib sie her, in <i>der</i> Woche bekommst du sie nimmer!"
+Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie
+fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je
+eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur
+<i>ein</i> Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewußt die geliebte
+Violine dem Vater hin und ergab sich.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden,
+was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie
+sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen füllten. Sie stellte ihr
+Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: "Darfst du denn nicht
+spielen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.
+</p>
+
+<p>
+"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr."
+Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun
+war sie ihm für eine ganze Woche genommen!
+</p>
+
+<p>
+Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen Stimmung. Ihm
+war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte,
+eine große Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit für ihn weg, und dazu
+kam nun, daß er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand,
+die, nachdem er sie geöffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn
+hinübertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau.
+</p>
+
+<p>
+"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein fand,
+fragte er ungeduldig:
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist draußen und bügelt."
+</p>
+
+<p>
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+</p>
+
+<p>
+Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." Frau
+Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich
+muß nur den Kragen erst steif haben."
+</p>
+
+<p>
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und in
+diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".
+</p>
+
+<p>
+Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfäffling kam
+in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. "Ist denn das
+nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen Bügelei," fragte Herr
+Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf
+diese gereizte Frage antwortete Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage:
+"Ist das die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"
+</p>
+
+<p>
+"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im
+vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf
+Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen besänftigten aber den
+Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, du armer Wurm," sagte er, "du
+kannst nichts dafür. Hast so viel Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch
+so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und
+wir wollen froh sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du
+jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," schluchzte das Kind.
+</p>
+
+<p>
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch
+das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere Rechnungen, als die
+vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es ist doch immer alles gleich
+bezahlt worden?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß diese
+Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet wird. Ich war
+damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so
+schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die Schwestern ernsthaft
+an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr der
+Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling schon
+wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: "Es ist doch
+viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die einzige an Neujahr
+ist."
+</p>
+
+<p>
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als
+wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder,
+die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten bedenklich untereinander:
+"Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?" Sie riefen Elschen herbei:
+"Trage du dem Vater den Brief hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag
+und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß
+hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war
+sie und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte Herrn
+Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das anfangen, daß
+sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche Ordnung und Sicherheit
+auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und
+her lief: "Else, hole mir die drei Großen herüber," sagte er, "aber schnell."
+Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam
+dann zur Mutter an den Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer
+Rechnung," sagte sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind
+gar nicht gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht
+ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad Kälte
+draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch zu bügeln,
+heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es sind immer noch
+viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus und sagte sich im
+stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen
+ausgespannt würde!"
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, und
+Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt
+hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte Ausgabe
+benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er schon ärgerlich
+und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem ältesten Bruder
+beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein
+Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertröstet, er bekomme bald eine
+neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich
+mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater
+stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen
+können?"
+</p>
+
+<p>
+"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."
+</p>
+
+<p>
+"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.
+</p>
+
+<p>
+"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."
+</p>
+
+<p>
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+</p>
+
+<p>
+"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; wie du
+es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur,
+wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen würdet. Wenn
+man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen
+brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr
+müßt es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an
+Weihnachten Geld geschickt bekommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die Grammatik
+geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder
+meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt
+nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am nächsten
+Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es,
+nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig
+abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum
+Buchhändler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine
+Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, auch
+das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn freundlich an: "Es
+ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da wäre
+eben eine Droschke frei!"
+</p>
+
+<p>
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich
+hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. Aber das Lachen
+verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei zwanzig Grad Kälte!
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap10"></a>10. Kapitel<br/>
+Ein Künstlerkonzert.</h2>
+
+<p>
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt hatten,
+die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende Stimme der
+Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah
+und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen
+solchen Reiz ausübte.
+</p>
+
+<p>
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine
+letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie
+zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfäffling
+Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer
+lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Söhnen trennen zu sollen. Auf der
+Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer
+bedrückte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie
+zurückkehren mußten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+</p>
+
+<p>
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den großen
+Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den beiden Männern
+etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme
+fanden und trennten sie sich.
+</p>
+
+<p>
+"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, "um sich
+bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu überbringen. Übermorgen
+werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhören, vielleicht sehen wir
+uns im Saal!"
+</p>
+
+<p>
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz machen. Ein
+prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für das Empfangszimmer
+des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem
+ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling verwundert, als ihn der
+Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht
+einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe
+eines Zimmers aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind
+heute wieder vollauf in Anspruch genommen?"
+</p>
+
+<p>
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken als meine
+Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am
+nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen
+Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, daß er seit Weihnachten bei
+meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals,
+als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber
+erfolgreiche Operation."
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr
+bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was
+schreibt Ihr Sohn?"
+</p>
+
+<p>
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber
+nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über seine Tante, obwohl
+diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluß
+ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnügt er die
+Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert." Herr Meier warf einen
+Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn
+vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und
+ihm eine ganze Anzahl Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.
+</p>
+
+<p>
+"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre Telegramme
+beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das Telephon."
+</p>
+
+<p>
+"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur
+Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie wissen, daß die
+Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die
+Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr
+zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt."
+</p>
+
+<p>
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur Zimmerbestellungen,"
+sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muß
+für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf
+fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde
+Ihnen immer dankbar sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling."
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
+verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal einen
+Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie wenig Unterschied
+war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und
+was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche
+Geschäftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schließlich hatten sie alle
+das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre
+<i>Kinder</i> sorgten sie sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte
+ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Frühlingsstraße,
+um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war in der Musikschule,
+seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schüler, die ihrem Lehrer
+seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drückten sich nun
+schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu
+vermitteln und teilten ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage
+verschoben hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für
+die Stunden beilegen wollten.
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, wenn er
+zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in der Musikschule
+nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern
+der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling kam später als sonst und nicht mit
+seiner gewohnten fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der
+Ansicht, daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der
+Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige
+Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben
+worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. Manche
+konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling
+war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen
+Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit
+schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark
+beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt hätten, das
+hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun,
+wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man auf das Stundenhonorar
+wochenlang warten muß oder nicht! Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch
+eine Freikarte mehr schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit
+ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich
+neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, soll
+diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht
+sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die
+vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!"
+</p>
+
+<p>
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+</p>
+
+<p>
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen
+als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen
+würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen Hausfrau folgte die Mutter
+augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling sah ihr nach; von Erbitterung war
+nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt
+eine öde Zeit, wenn sie für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon
+überstanden."
+</p>
+
+<p>
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren
+besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte,
+neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das Künstlerkind wurde liebkost,
+mit Bonbons überschüttet, aber dennoch langweilte es sich heute und war
+verstimmt. Dem Fräulein, das für den kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn
+an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht
+gelingen.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde
+der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Künstlerin, um die
+Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Sängerin zu hören
+und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. "Ich bin in Verzweiflung," sagte sie,
+"unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem
+Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es
+versagen würde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so
+verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn
+aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder
+verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis
+es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafür, nicht wahr,
+und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor
+allem lustige Kameraden!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und verließ das
+Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das stand ein für
+allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. "Wo
+bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte er sich und dachte an seinen
+Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so
+viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei
+diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam
+ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und
+munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder <i>dieses</i> Mannes
+sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu
+Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine
+Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich bitten, mir
+sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des
+Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!"
+</p>
+
+<p>
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, und der
+Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis
+drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie sollten dem kleinen
+Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei."
+</p>
+
+<p>
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie waren
+gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? Marianne war
+nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto,
+Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, er geniere sich. Wilhelm
+konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem
+kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit
+ihm treiben, daß er kreuzfidel würde!"
+</p>
+
+<p>
+"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch
+zustande bringen. Und Frieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. Wo ist
+sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen
+Gestältchen."
+</p>
+
+<p>
+"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu schüchtern? Wir
+wollen sie fragen."
+</p>
+
+<p>
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte
+in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brüder
+unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: "Leise,
+leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. Frau Pfäffling beugte
+sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach
+dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so
+traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm
+spielen?"
+</p>
+
+<p>
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann ich
+schon fort."
+</p>
+
+<p>
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze
+Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.
+</p>
+
+<p>
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob
+entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick von
+Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus
+dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das entspricht, wird
+sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der
+Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter
+der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater,
+langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun kommt mir,
+Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein
+wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig.
+Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er
+will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch."
+</p>
+
+<p>
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das "Herein", statt
+dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber Edmund, wer wird denn die
+Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn sonst tun?" hörte man eine
+weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem
+Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit
+einem Purzelbaum herein kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut
+heißen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein"
+war erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und
+einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu
+sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und
+sagte: "Wie macht man denn das?"
+</p>
+
+<p>
+Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in ihrer
+Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem nebenan liegenden
+Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte freundlich und dankbar Herrn Meier
+zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie
+zuging. Das Kind hatte ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich
+einführte, ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der
+mütterlichen Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte
+sie zu der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
+herein, bloß heute, weil er lustig sein will."
+</p>
+
+<p>
+"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist Edmund
+versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz
+gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein schien dieser
+Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurück und die
+Kinder blieben sich selbst überlassen.
+</p>
+
+<p>
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas sehr
+Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, blonde Locken
+umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und wohlgepflegt. Das
+ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, die mit ihrem
+träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele mehr als andere
+empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus,
+sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in
+seinem Gesicht, die ihn viel älter erscheinen ließen.
+</p>
+
+<p>
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich mit
+diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir möchte ich
+gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+</p>
+
+<p>
+"Was willst du tanzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der
+von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum Tanz
+führen.
+</p>
+
+<p>
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."
+</p>
+
+<p>
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, für so
+kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen.
+</p>
+
+<p>
+"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen Walzer
+vorpfeifen."
+</p>
+
+<p>
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im
+Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das
+Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. Edmund fuhr die Tanzlust
+in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. Sie wäre ja keine Pfäffling
+gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt hätte; niedlich tanzte das kleine
+Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden
+Wilhelm einher. Das Fräulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch
+der Vater trat unter die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer
+sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu
+seiner Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
+das Fräulein. Sie wußte es nicht.
+</p>
+
+<p>
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die Anmut
+selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+</p>
+
+<p>
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fräulein,
+daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu
+lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand alle Fröhlichkeit aus
+seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen möge, sich nicht umkleiden und
+seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernünftigen Vorstellungen des
+Fräuleins, die zärtlichen Worte der Mutter hatten nur Tränen zur Folge.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt doch
+vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so
+lange auf das Konzert!"
+</p>
+
+<p>
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er
+eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das Künstlerzimmer
+kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, während du
+singst und Papa spielt."
+</p>
+
+<p>
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht kommen,"
+sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den
+ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben für morgen." Da
+flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er drückte sein Köpfchen an die
+Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir
+ist gar nicht gut." Es sah auch tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine
+Bübchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie
+Edmund verweint und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so
+verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen,
+heute abend."
+</p>
+
+<p>
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand und
+hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern
+besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon,
+das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Endlich wandte sich der
+Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte er, "wenn du zu unserem Kleinen
+in das Künstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest
+eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist,
+kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst,
+wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt
+noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein
+Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," rief er,
+"ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern
+zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!" Und als er bemerkte,
+wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen zum Lachen überging, sagte er zu
+diesem: "Könntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und
+sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn
+er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
+so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut lachte
+und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn rasch zum
+Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde redete sie gütig zu:
+"Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir." Darauf
+hin folgte der Knabe willig dem Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm.
+"Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir
+uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem
+Künstlerzimmer fragen."
+</p>
+
+<p>
+"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt es."
+</p>
+
+<p>
+Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, "woher
+weißt du das Zimmer?"
+</p>
+
+<p>
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+</p>
+
+<p>
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser Konzert?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr
+darüber freuen, als mein Vater!"
+</p>
+
+<p>
+Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei schlüpfte sie,
+so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld,
+heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch
+wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich
+rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn
+aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder
+entlassen.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, schnell,
+Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um
+halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+</p>
+
+<p>
+So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr erreichte,
+obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel.
+</p>
+
+<p>
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." Wilhelm
+wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und kommen viel
+früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber die Hand des großen,
+stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurück.
+"Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine Droschke geholt werden soll, es ist
+für dies kleine Mädchen ein weiter Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber
+wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen
+und einen Wagen holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde
+im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen
+Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.
+</p>
+
+<p>
+"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen bis nach
+Rußland."
+</p>
+
+<p>
+"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten Woche nach
+Berlin reist."
+</p>
+
+<p>
+"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah erstaunt auf
+die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das gesagt?"
+</p>
+
+<p>
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+</p>
+
+<p>
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat
+heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun
+kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu
+setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der Wagenschlag
+für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und sie selbst sorgsam
+hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie
+durch die schön beleuchteten Straßen, dann durch die stillen Gassen der
+Vorstadt und endlich bogen sie in die Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater
+nicht daheim ist, müssen alle auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl
+und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß
+das Billet zu rechter Zeit bekommen!"
+</p>
+
+<p>
+In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau Pfäffling,
+die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie kommen!" Herr
+Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine
+Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestört wurde, wie
+viel schöner es wäre, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als
+über Musik zu lesen, Herr Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das
+können die Kinder sein, ob <i>sie</i> wenigstens etwas gehört haben in der
+Künstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich
+fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem
+Mann: "Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit
+kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand
+inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so
+flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner
+Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein
+Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch
+Herr Pfäffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm
+erwartet hätte, enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser
+fröhliche Ausruf der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um
+möglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!"
+der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal
+überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau
+Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht überrannt zu werden, wollte
+eben die Haustüre zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen,
+nachkommen sah. "Da hat es wieder so pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß
+sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm
+die Hand und schloß für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der
+Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht
+um sie gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und sagte,
+auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie du das machen
+mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du mußt nur dicke,
+dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schöner
+aus als das Holz da!"
+</p>
+
+<p>
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+</p>
+
+<p>
+Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet hatte sich
+allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die Erlebnisse im Zentralhotel
+überstürzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen für das Abendessen
+beschleunigt, damit Herr Pfäffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des
+Konzertes kommen konnten. Frau Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und
+auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl
+fühlt," sagte sie zu Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit
+Spässen bei guter Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und
+war zu vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit dem
+ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso strahlte,
+während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann
+unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert
+richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte
+Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm
+allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem
+Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen
+willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber über dem
+Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen
+ein: "Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und
+gelacht," sagte Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los
+mit ihm."
+</p>
+
+<p>
+So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem schon
+dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachträglich
+zu verdienen.
+</p>
+
+<p>
+Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begrüßten hier
+die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin allerlei Aufmerksamkeiten
+und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweißem Anzug da und
+lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid
+reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds
+Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja
+keine Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+</p>
+
+<p>
+"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im Hintergrund
+des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das
+Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er
+hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für Edmund mitgebracht, soll ich
+ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" "Später, wenn wir allein sind und Edmund
+schwierig wird," sagte das Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar
+Augenblicke später kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es
+Zeit, Herr Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre Plätze
+im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide der Sängerin
+glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der
+der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," die Mutter drückte rasch
+noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne
+Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein
+paar Stufen nach dem erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das
+Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden
+Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hörte das mächtige
+Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann
+hinter ihnen die Türe und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die
+Menschenmenge entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das
+Nebenzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat unser
+kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte
+er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund antwortete nicht.
+</p>
+
+<p>
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat vorhin
+darnach gesehen."
+</p>
+
+<p>
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen
+sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht ganz
+dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+</p>
+
+<p>
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn dich
+Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu weinen.
+Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, Kind," tröstete
+sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit
+verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die Tränen, Weismann hielt es für
+klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm ließ den Kreisel tanzen; halb
+widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen
+geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich
+horchte er auf. Ein Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.
+</p>
+
+<p>
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß noch
+einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und
+kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag
+nicht gern wiederholen, aber man muß."
+</p>
+
+<p>
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so etwas
+habe ich noch gar nicht gehört."
+</p>
+
+<p>
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher
+schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun
+die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von
+Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer zurückkam, rief er ihr
+fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die Mutter beugte sich zu ihm und
+sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf
+Wilhelm.
+</p>
+
+<p>
+Im Saal erklang der Konzertflügel.
+</p>
+
+<p>
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an das
+Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, wenn das
+Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir bange, wenn ich
+vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich spielt, hat diese große Angst
+jede andere vertrieben. Wir hätten es nie anfangen sollen." Tröstend sprach das
+junge Mädchen der Mutter zu: "So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn
+alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz,
+mehr als über Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und
+hat seine Sache immer gut gemacht."
+</p>
+
+<p>
+"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht auch
+trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen Sie, Fräulein!"
+</p>
+
+<p>
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen lassen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen nicht
+müde sein vor dem Violinspiel."
+</p>
+
+<p>
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. Eine
+gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als
+verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er
+aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also <i>mußten</i> ihm Gedanken
+kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der
+Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall
+den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit
+der Violine zu folgen.
+</p>
+
+<p>
+"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," sagte er
+munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine
+Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den Türspalt, wie er
+seine Sache macht!"
+</p>
+
+<p>
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie der
+Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in kindlicher Weise
+den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel
+begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und
+deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal.
+Mit denselben träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt,
+hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser Kleine
+war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja
+klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich eines Mannes. Aber
+reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken und eine staunenswerte
+Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den Zuhörerinnen war manche zu
+Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein
+Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das
+Podium, um dem kleinen Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein
+kindliches Alter berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien,
+waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe,
+die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes,
+freundliches "Danke!" rufen.
+</p>
+
+<p>
+In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren,
+und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: die Mutter war über
+die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg glücklicher, als über den eigenen;
+auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal
+vorzuspielen, freilich ein schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne
+Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die
+begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer
+eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und
+siegesgewiß trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein
+zurück bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.
+</p>
+
+<p>
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche
+Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte sich buchstäblich
+auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat,
+setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an
+das Fräulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er
+schlief ein. Sie ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends,
+während sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das
+Edmunds Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat
+es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam
+vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie das Kind
+vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten ihm
+Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf
+gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, daß er noch
+einmal vorspiele.
+</p>
+
+<p>
+Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große Menge
+sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der Vater ihr
+soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+</p>
+
+<p>
+"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner Frau, "sie
+helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund reden." Er führte
+das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu Bette
+gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein
+ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur ein einziges Stück
+spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben
+die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafür Musik versprochen und muß
+mein Versprechen halten. Du mußt das deinige auch halten, dann erst darfst du
+dich zu Bette legen. Aber eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst,
+daß du dich tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des
+schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die
+du so gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht schön
+vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist
+es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, daß
+du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte
+der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab
+dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf.
+"Vater," fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+</p>
+
+<p>
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der Vater.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der
+Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des Künstlers zugute zu
+halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er möchte Ihnen lieber eine Romanze
+von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches
+Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß
+ihnen damit die Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte
+der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+</p>
+
+<p>
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten hatten
+keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und
+seinem einschmeichelnden Spiel.
+</p>
+
+<p>
+Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen,
+und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, die den Kleinen in
+zärtlichen Armen empfing.
+</p>
+
+<p>
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," sagte der
+Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum Droschkenplatz, nicht
+wahr?"
+</p>
+
+<p>
+Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor dem
+Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu sehen.
+Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam
+hatte erwärmen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts,
+und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den
+Masern erkrankt.
+</p>
+
+<p>
+Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank darnieder,
+und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie manchmal mit
+Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich auftreten mußte, ehe
+es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap11"></a>11. Kapitel<br/>
+Geld- und Geigennot.</h2>
+
+<p>
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte täglich
+und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß des russischen
+Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden beigelegt sein sollte, aber
+es kam nichts. So mußte die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben
+haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die
+Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden
+sein. Herr Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit Familie
+gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach Berlin, wo er
+eine Woche verweilen wolle.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu
+sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und
+sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle geschäftlichen Angelegenheiten
+aufs pünktlichste geregelt und großmütig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist
+durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine
+Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie das Honorar
+überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die
+Abreise sei verschoben worden, die Eltern würden deshalb noch schriftlich ihren
+Dank machen. Glauben Sie, daß es von Berlin aus geschehen werde?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, ohne
+vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von
+einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Söhne
+ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld ist in den Händen der jungen
+Herrn hängen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie
+sind etwas leichtsinnig, die Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und
+streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich
+noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt
+übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise
+sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon über
+der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein paar Tage
+gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe
+die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling.
+Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus
+keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den
+Hergang erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne,
+wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist
+gut."
+</p>
+
+<p>
+In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren
+Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er dann, "daß mein
+Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir
+brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Nötigerem als diese
+leichtsinnigen Burschen."
+</p>
+
+<p>
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter Stimmung,
+langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," sagte er, "was
+meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich ordentlich gegen das, was sie
+schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht
+ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der
+verbrecherischen Handlung seiner Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut
+hätte, sieht man ja, er hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er
+das erfahren müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die
+ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von
+seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für Eltern. Soll
+ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du,
+Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich
+bringst," entgegnete Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz all dem
+Leid, was daraus entstehen muß?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es heilsam, wenn
+der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies ist ja immerhin die
+Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder
+verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Söhne über die
+verschobene Abreise nicht erklären könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar
+so nötig."
+</p>
+
+<p>
+"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"
+</p>
+
+<p>
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich würde
+meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine Weile überlegend
+auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren
+alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den
+Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun
+machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert
+Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen
+das kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort:
+Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen
+General ungeschrieben.
+</p>
+
+<p>
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen
+und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über die schnöde
+Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters,
+der aus Rücksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte,
+priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen,
+die die Eltern sich auflegen mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und
+wandten sich am Schluß mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen
+Leute mit der Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner
+schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann
+setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den
+älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte
+nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den
+Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten sie sich nun
+in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld zurückkommen, an dem
+Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Überraschung, welche Freude mußte
+das geben!
+</p>
+
+<p>
+Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz anders
+erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am nächsten Morgen auf
+dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum lassen wir eigentlich den
+Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" Wilhelm und Otto wußten Gründe genug.
+"Weil sonst keine Überraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich
+sind und keinen Verdacht äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag
+ist; weil der Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde;
+weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
+wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, nicht lange
+vorher fragen."
+</p>
+
+<p>
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den
+Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brüder
+drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht werden, sonst ist's ja
+keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, was kann denn der Brief
+schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt er nichts, aber schaden kann er
+nichts, das mußt du selbst sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden
+sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief
+nicht herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte
+er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir
+heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es
+doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen."
+Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm
+blieb dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem
+dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es
+gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte die
+Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie
+wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt
+wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen,
+hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling
+zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen.
+Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist
+gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie gestern noch bei Nacht
+geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg
+mitgenommen hätten. Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die
+Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwörung, das Geld
+zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich angeführt.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
+veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf
+die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über diese Wirkung und
+verstummten.
+</p>
+
+<p>
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr auch an
+Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die
+Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der
+Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt keinen Brief
+mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. Nun erfährt er durch
+euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte.
+Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort
+fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht begierig,
+Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu können. Da
+drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: "Fort ist der Brief noch
+nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!"
+</p>
+
+<p>
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei schon
+abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich gewesen für
+den Vater, für den General und auch für euch, denn wir hätten nie mehr etwas in
+eurer Gegenwart besprochen, hätten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr
+euch heimlich in solche Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie
+doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+</p>
+
+<p>
+"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau Pfäffling,
+"ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen Leute, aber was
+nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewißheit wäre.
+Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten Richter einen Menschen verurteilt
+haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und später stellte sich
+doch heraus, daß er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug
+sein."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. "So,
+wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, "so kann man
+freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Söhne zu wenden, ist
+vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der
+Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte
+verausgaben sollen. Ich müßte an sie schreiben, sobald der General und seine
+Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen
+Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in
+dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern
+gerne schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber
+sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens
+den Versuch machen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr
+Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler willen. Aber wie eine
+Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld
+in den Schoß, rief vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick
+schon wieder verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der
+jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstück,
+weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber
+Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt
+hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du
+weißt nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur
+kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber
+nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+</p>
+
+<p>
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung
+über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß es Herrn Pfäffling
+nicht früher möglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der Pfäffling
+nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?"
+</p>
+
+<p>
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die sich
+nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja bloß
+Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß er seine zehn
+Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die große Familie
+aufnehmen wollte."
+</p>
+
+<p>
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich keine
+so gesalzene Rechnung geschickt!"
+</p>
+
+<p>
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+</p>
+
+<p>
+"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."
+</p>
+
+<p>
+"Gar nicht ähnlich."
+</p>
+
+<p>
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Doch!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein!"
+</p>
+
+<p>
+Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten
+hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit einem
+bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."
+</p>
+
+<p>
+Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer Bett, hatte
+aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich über den heutigen
+Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte
+sie sich an Frieder heran, der geigend in der Küche stand, und bat
+schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und
+spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör
+auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er
+endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die
+Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu
+Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!"
+rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen.
+Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder
+die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach
+der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die
+andere Türe hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und
+spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe.
+"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du
+hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger
+ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen
+hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele
+bis ich fertig bin."
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen weinend
+auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er tut's doch nicht,
+vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!"
+</p>
+
+<p>
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr
+durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige sinken, legte
+den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?"
+fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du
+über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, dann ist's wohl besser, das
+Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich will hören, was der Vater meint."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was geschehen
+würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die
+Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im Zimmer. Frieder wagte
+kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: "Es ist
+mir leid."
+</p>
+
+<p>
+"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du bloß im
+Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann könnte ich dir das
+leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du aufhören solltest und
+magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft
+streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn
+ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das
+wäre gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern
+jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen
+folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer,
+aber für Jahr und Tag. Gib sie her!"
+</p>
+
+<p>
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie nun
+plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen Schritt vom
+Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so bestürzt, daß es fast
+einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt
+hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur
+dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob
+den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er
+ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du
+das?" und ernst fügte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun
+gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten
+sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern
+zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument
+leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist dir
+deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in seiner
+Stellung.
+</p>
+
+<p>
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du auch
+den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du
+erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum Vorplatz weit
+aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du fremdes Kind!" Da verließ
+Frieder das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die
+Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfäffling ging erregt
+hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter
+Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das Kind da soll gehalten werden
+wie ein armes Bettelkind. Es darf hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da
+auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie
+ihm den Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen
+Vater und keine Mutter mehr hat."
+</p>
+
+<p>
+Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an sich, die
+sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte sie, "Frieder
+wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, daß er
+sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles
+wieder gut."
+</p>
+
+<p>
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie
+rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war,
+ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf
+dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte,
+vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er
+sonst bekommt," sagte Herr Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns
+treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen."
+</p>
+
+<p>
+So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, kamen ihm
+Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war
+leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu
+spielen.
+</p>
+
+<p>
+Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der Kinder.
+Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche—dann
+verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder wehgetan, er wußte nicht
+warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem
+Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich
+die Musik das Menschenherz bewegen kann.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten
+darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den Schwestern.
+</p>
+
+<p>
+"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr Pfäffling
+verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige
+auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu
+ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile später, als Herr Pfäffling in seinem
+Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und
+trug mit beiden Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen,
+schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug
+sah auch der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+</p>
+
+<p>
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf
+die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den Pack ab,
+legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in
+warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!" Und
+Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus.
+</p>
+
+<p>
+Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder seine
+Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie
+zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen
+angesehen!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie kann man
+nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau Pfäffling, "mir
+ist das ganz unverständlich."
+</p>
+
+<p>
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte
+nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das wäre, wie
+wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist,
+ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird
+es leichter mit Maßen treiben."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln können, daß
+er einmal ein Musiker wird."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap12"></a>12. Kapitel<br/>
+Ein Haus ohne Mutter.</h2>
+
+<p>
+So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau Pfäfflings
+Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer ausgemachten Sache, obwohl
+niemand hätte sagen können, an welchem Tag sie die Ansicht aufgegeben hatte,
+daß die Reise ganz unmöglich sei.
+</p>
+
+<p>
+Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, und
+als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling sagen:
+"Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid praktisch ist."
+</p>
+
+<p>
+"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu sehen, wie
+sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, trug sie "auf alle
+Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht reisen, wenn das Reisekleid
+fertig im Schrank hängt und die besten Zugverbindungen herausgefunden sind? So
+war es denn wirklich soweit gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar
+für einen bestimmten Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte,
+die mit herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
+Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen
+mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+</p>
+
+<p>
+Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große Aufregung in
+die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle und Meinungen kund,
+bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen aufgeregten Schwarm
+hinausscheuchte.
+</p>
+
+<p>
+"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir entschlossen
+sind," sagte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der Schule
+sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling heißt!"
+</p>
+
+<p>
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die Kinder
+zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf sich gerichtet.
+Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," sagte sie, "und ich
+will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten Reise ist auch der
+<i>halbe</i> Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn die gute Großmutter für
+dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn
+daheim die Türe aufmachen, wenn es klingelt, während alle in der Schule sind?
+Walburg hört das ja nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die
+kommen. Du mußt unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht
+daheim wärest, könnte ich gar nicht reisen."
+</p>
+
+<p>
+Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben mußte.
+Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, denn was wußte
+Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust und Erlebnissen? Für
+sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und Merkwürdiges genug brachte. So
+kam es zur Verwunderung der großen Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen
+bei der kleinen Schwester, die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie
+nicht mit hinunter gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es schwer ums
+Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst hätte sie ihren
+Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie sehnlich sie erwartet wurde,
+es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles
+voraus bedenkend, hin und her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche,
+Keller und Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte,
+überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so
+nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes
+Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, wo sie
+oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+</p>
+
+<p>
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+</p>
+
+<p>
+"Was denn, Kind?"
+</p>
+
+<p>
+Es wollte nicht über seine Lippen.
+</p>
+
+<p>
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+</p>
+
+<p>
+"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater deine
+Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir ja auch der
+Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu meinem eigenen
+Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so lieb hat, das verstehst
+du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie
+wird das köstlich werden!"
+</p>
+
+<p>
+So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.
+</p>
+
+<p>
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein Wort:
+"Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig wegen seiner
+Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders schwer."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es schon
+gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, neigt den Kopf
+nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, wie wenn er den Bogen
+führte, und dann hört er die Melodien, das sieht man ihm gut an. Da tut er mir
+oft leid."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die erste
+Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und wenn nun der
+Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am Kasernenhof turnen könnt,
+dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm Lust. Und noch etwas: ich meine,
+deine Mathematikstunden mit Wilhelm werden nimmer regelmäßig eingehalten."
+</p>
+
+<p>
+"O doch, Mutter."
+</p>
+
+<p>
+"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber nicht
+genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm wieder eine so
+schlechte Note bekäme!"
+</p>
+
+<p>
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf verlassen!"
+</p>
+
+<p>
+Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in die
+Holzkammer.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran dürft
+ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in dieser Zeit
+alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und Kohlen sorgen."
+</p>
+
+<p>
+Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie möglich
+alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die Stiefel
+schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und anziehen, als es
+darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag vom Kochen fortspringen
+muß."
+</p>
+
+<p>
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und am
+Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch einmal Nadel
+und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an einem Kinderkleid
+auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja aus dem Wagenfenster
+kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich der Zug durch eine kaum
+hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache machte, daß Frau Pfäffling
+verreist war.
+</p>
+
+<p>
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine Weile im
+alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr selbst nur das
+Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts nützen konnte. Zugleich
+verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen der Stadt, freie, noch mit
+Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten auf, eine stille, einförmige Natur.
+Da machte sie es sich bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab
+sich darein, daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine
+wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer
+Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann mit den
+Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie machten sich
+an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten Gang. Nur Elschen
+lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen Zimmer, die andern
+empfanden die Lücke erst so recht bei dem Mittagessen. Es verlief auffallend
+still. Eigentlich war ja Frau Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann
+und ihre Kinder waren lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben
+können, eine so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch
+gegeben. Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu tun
+machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein, daß Karl
+für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und so nacheinander
+herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem jüngern. Anfangs machte
+es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so friedlich und so säuberlich zu
+wie bei der Mutter, und Walburg wunderte sich, daß sie bald eine noch fast
+gefüllte, bald eine ganz leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein
+regelmäßiger Verbrauch mehr wie bisher.
+</p>
+
+<p>
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden, wo sie
+allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten doch nicht
+viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die
+Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser
+nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese
+bildeten ein gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn.
+</p>
+
+<p>
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes Wiedersehen
+zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht ganz ohne Wehmut.
+Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges Großmütterlein, das da im
+Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe von einem Zimmer in das andere
+zu gehen! Und wiederum, wo war Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch
+deutliche Spuren hatte die Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen
+eingegraben!
+</p>
+
+<p>
+Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach einigen
+Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden wieder die
+geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu trauriger
+Empfindung da, denn die <i>alte</i> Frau hatte keine Schmerzen zu leiden, sie
+genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege der unverheirateten
+Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die <i>junge</i> Frau, wenn man
+Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit solcher Liebe von ihrem großen
+Familienkreis und schien so gereift durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen
+deutlich zum Bewußtsein kam, das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit
+Köstliches gebracht.
+</p>
+
+<p>
+Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, die noch
+ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte die Schwester in
+das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte Gastzimmer, zog sie an
+sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun soll dir's gut gehen! Du
+wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts tue ich
+lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen und
+herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das anschlägt, da
+kann man viel erreichen in vier Wochen."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das nicht
+in <i>drei</i> Wochen erreichen?"
+</p>
+
+<p>
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich vier
+Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an
+vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du mich
+darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen Haushalt, Mann,
+sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. Es kommt so oft etwas
+vor bei uns!"
+</p>
+
+<p>
+"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"
+</p>
+
+<p>
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber es ist
+so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen haben könnte,
+bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal anfängt, und selbst,
+wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten
+genug: Elschen muß vormittags immer allein die Türe aufmachen und Bescheid
+geben, das ist unheimlich in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht
+überzeugt bist, Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn
+mein Mann einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"
+</p>
+
+<p>
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, wenn ich
+etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der nächsten Woche komme.
+Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so lebhaft wie früher und die
+meisten unserer Kinder haben sein Temperament. Da gibt es nun bei solch einer
+Nachricht immer gleich einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und
+hören können!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches Leuchten
+ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz jugendlich, gar nicht
+pflegebedürftig aus.
+</p>
+
+<p>
+Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei Wochen
+geeinigt.
+</p>
+
+<p>
+Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war für
+Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der Mutter sitzen
+zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles Verständnis war da zu finden
+für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch stand die Mutter selbst schon fast
+<i>über</i> dem Leben. Einen weiten Weg hatte sie in achtzig Jahren
+zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, überblickte sie das Ganze wie aus der
+Ferne. Da sieht sich manches anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der
+Höhe herab erkennt man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören
+wollte, der konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen.
+Frau Pfäffling war von denen, die hören wollten.
+</p>
+
+<p>
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu diesem
+Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings einziger Bruder
+ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein
+erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen
+Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen,
+aber aus der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets
+Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder
+ins Auge zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu seiner
+Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, eine
+Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in einem kleinen
+Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in diesem Februar noch
+überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht streng, die Fahrt eine
+Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten zurück, in dem mit andern Gästen
+ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so
+wohlerzogen. Wenn du meine Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein
+wenig ungehobelt vor."
+</p>
+
+<p>
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als du, sie
+gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird damit oft
+kaum fertig."
+</p>
+
+<p>
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel miteinander,
+wie ist das bei euch?"
+</p>
+
+<p>
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. Sie haben
+ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur sollte man sich eben
+mehr mit dem einzelnen abgeben können."
+</p>
+
+<p>
+"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. Ich
+fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist das Fräulein
+zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei Dienstmädchen, und mit unserem
+Jungen werden sie oft alle drei nicht fertig."
+</p>
+
+<p>
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören über
+einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er beabsichtigte
+in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, dabei durch
+Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu besuchen.
+</p>
+
+<p>
+An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach dieser
+Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein besprach. Wenn auf der
+einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen wenig, auf der einen Seite
+Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der andern alles reichlich, warum sollte
+man nicht einen Ausgleich versuchen? Bruder und Schwägerin machten den
+Vorschlag, einen der jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die
+Sache wurde überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte
+mit ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der
+Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am
+besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf der
+Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein baldiges
+Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und in der Umgebung
+der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie erfuhr doch
+nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die Losung ausgegeben:
+"Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, sonst ist der Mutter der
+Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst mündlich erzählt." So gingen denn
+Nachrichten ab über gelungene Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über
+einen Maskenzug und Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel
+und über der Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr Pfäffling
+von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: "Haben Sie heute nacht
+nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen oder dergleichen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört."
+</p>
+
+<p>
+"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die zweite
+Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der Kinder so
+Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der Schlafzimmer kommt der
+schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, ich habe schon die Kinder
+danach gefragt, aber nichts erfahren können."
+</p>
+
+<p>
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf. Er
+fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die Tafelrunde an.
+Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts verrieten von nächtlichem
+Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings blaß und überwacht aus, ernst und
+fast wie von Schmerz verzogen. Das war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er
+beobachtete sie eine Weile und machte sich Vorwürfe, daß er das bisher
+übersehen hatte. Wenn die Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch
+ohne der Hausfrau Mitteilung.
+</p>
+
+<p>
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die Schwestern
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.
+</p>
+
+<p>
+"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr Pfäffling,
+"weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch auch darüber gern
+die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in den Augen den Kopf, und
+Herr Pfäffling wußte, woran er war.
+</p>
+
+<p>
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter nicht da
+ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun auch und er
+erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren bei Nacht heftig
+geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das noch vom vergangenen
+Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte alles nichts geholfen und
+erst gegen Morgen waren die Schwestern eingeschlafen. So war es schon zwei
+Nächte gewesen. Sie hatten es dem Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte
+nicht zum Ohrenarzt geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete
+auch die große Neujahrsrechnung.
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des Arztes.
+Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern vorgehalten, daß
+Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn etwas versäumt würde.
+</p>
+
+<p>
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei Unzertrennlichen
+rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so ängstlich aus wie die kranke,
+sie zuckte wie diese beim Schmerz, und doch kam sie immer als treue
+Begleiterin. Diesmal konnte er beide trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte
+er, "das gibt keine so böse Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel
+schüttet weg, das macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes.
+Wenn eure Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe noch auf
+die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die gehört dazu."
+</p>
+
+<p>
+Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
+gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, daß
+Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar nichts mehr?"
+fragte er.
+</p>
+
+<p>
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr sagen, aber
+es wird alle Jahre schlimmer."
+</p>
+
+<p>
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+</p>
+
+<p>
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz gewiß, daß
+man ihr nicht helfen konnte.
+</p>
+
+<p>
+"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der Arzt,
+"schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt daheim, das
+gehe auch noch in die alte Rechnung."
+</p>
+
+<p>
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten sie sich,
+den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen sie es auch
+Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um sie handelte, und
+ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere Mutter zurückkommt,
+werde ich so frei sein."
+</p>
+
+<p>
+Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.
+</p>
+
+<p>
+Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum gestrigen
+Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie volle acht Tage
+früher heimkommen würde, als verabredet war.
+</p>
+
+<p>
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen vom
+Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, diese letzte
+Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+</p>
+
+<p>
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte einmal
+Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn so zeitig?
+Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, "ich habe es
+manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum Frühstück gekommen?" Es
+wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte es sich heraus, daß Frieder
+immer schon abends den Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst
+wohl, es kommt dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl
+und wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er
+Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg
+mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt.
+</p>
+
+<p>
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; ja im
+Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die jungen
+Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat gesorgt und Walburg
+mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. Während dieser Zeit wurde
+geklingelt und Elschen lief herzu, um aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn
+Pfäffling, dann nach dessen Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß
+sie alle fort seien, bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines
+Briefchen an Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von
+ihm, und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
+Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den Schreibtisch,
+wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte der Herr, "du kannst
+nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, den Brief für deinen Vater
+lasse ich hier liegen." Elschen verließ das Zimmer. Nach einer ganz kurzen
+Weile kam der Herr wieder heraus.
+</p>
+
+<p>
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam keine
+Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die Treppe hinunter
+und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben heraufkam.
+</p>
+
+<p>
+"Wer war da?" fragte diese.
+</p>
+
+<p>
+"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins Ohr;
+weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen zu unbequem,
+Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim Mittagessen fiel ihr die
+Sache wieder ein und sie erzählte sie dem Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo
+ist denn der Brief?" fragte er. Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu
+finden! Und wo war denn—ja, wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade
+jahraus, jahrein seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit
+allen sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft
+schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in dieser
+Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was die Familie
+Pfäffling am Leben erhielt.
+</p>
+
+<p>
+Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich eingeschlichen,
+hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen Pfennig fürs tägliche
+Brot!
+</p>
+
+<p>
+Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte ihr
+gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die bestürzten
+Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht
+und fragte bloß: "Gestohlen?"
+</p>
+
+<p>
+Und nun flogen Vorwürfe hin und her.
+</p>
+
+<p>
+"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den Schreibtisch!"
+warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja gar kein Dieb, es war
+ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie nahm sie in Schutz. "Sie kann
+nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz getragen habt, wegen euch hat
+Walburg hinunter gemußt!"
+</p>
+
+<p>
+"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.
+</p>
+
+<p>
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder wagte
+zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir wollen ihr
+schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal niemand zu beruhigen,
+es war so traurig, zu denken, daß man sie mit solch einer Botschaft empfangen
+sollte! Karl und Marie hatten leise miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie
+jetzt, "wir alle zusammen haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März
+kommt wieder dein Gehalt. Wir sparen recht."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe auch
+noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die Steuer
+zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel abgezogen hätte, wäre
+vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin und wieder, bis ihn ein Wort
+Walburgs stillstehen machte, das Wort: Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß
+der Dieb ausfindig gemacht werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden
+konnte. Ja, sofort Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige.
+Elschen sollte mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur
+schnell, schon waren viele Stunden verloren!
+</p>
+
+<p>
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie setzten
+sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede knöpfte ihr einen
+Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die Brüder wollten ihr die
+Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, erklärten dann Handschuhe für ganz
+übertrieben und die Kleine sprang ohne solche dem Vater nach, der schon an der
+Treppe stand und nun mit so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging,
+daß das Kind an seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.
+</p>
+
+<p>
+Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger Musiker, der
+angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel betroffen worden und
+mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn aufzufinden.
+</p>
+
+<p>
+Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling abgegangen
+war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand schreiben mögen. So
+aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in großer Trübsal waren, einen
+dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem ihr eine ganze Anzahl
+Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll Jubel über das unerwartet nahe
+Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine Freude selbst aussprechen wollen.
+Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim
+inzwischen vollkommen umgeschlagen war.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich zu
+erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker gefahndet
+worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso am nächsten Tag
+in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, wurde ihm bedeutet, daß er
+sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm Nachricht zukommen.
+</p>
+
+<p>
+Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter mit einer
+so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die rechte Freude
+des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war unschlüssig, ob er die Nachricht
+nicht doch vorher schriftlich mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der
+Hoffnung auf Festnahme des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben
+entschloß, daß der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der
+Abreise seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der
+Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+</p>
+
+<p>
+Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," sagte
+sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten Gruß von daheim
+bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?"
+</p>
+
+<p>
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die Mutter, "auch
+dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das Wiedersehen nicht
+verderben, wenn du nun siehst, daß manches in Unordnung geraten ist während
+deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein hier war so schön, das ist doch auch
+eines Opfers wert."
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag irgend
+etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du daheim bist.
+Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht mehr als einundzwanzig
+Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht beklagen, darfst nicht
+behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und nicht gleich erklären: ich
+reise nie mehr."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr fern,
+nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich mit schwerem
+Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester, die sie so treulich
+gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem
+abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise antrat.
+</p>
+
+<p>
+Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei Wochen
+waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein Keimen und
+Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch schien ihr die Zeit so
+weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist war! Jetzt war ihr Herz noch
+vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte sich schon und drängte gewaltig in den
+Vordergrund die Freude auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der
+so von Lieben zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen
+wird. Wer kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim
+reist?
+</p>
+
+<p>
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes doch nicht
+lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben können. Die Kleinen
+hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis Samstag schon halb
+vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, aber doch mit dem
+unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her gehöre, je schwieriger die
+Lage im Haus war.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als er am
+Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof eilte. Er kam dort
+fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in ungeduldiger Erwartung der Kinder,
+die von der Schule aus kommen sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und
+winkte mit seinen langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl
+und Otto auftauchen sah.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof begrüßen
+sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, "und soll nicht
+gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an den Marktplatz
+entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der Frühlingsstraße und Elschen soll
+die Mutter an der Treppe empfangen, denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause
+sein."
+</p>
+
+<p>
+So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem Vater an
+die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch sie nicht
+vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges Vorrecht. Sie standen
+alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, während der Zug einfuhr,
+entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus dem Wagenfenster forschend nach
+ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie sich dann plötzlich ihre Züge
+verklärten, als sie den Vater erblickte, der, dem Schaffner zuvorkommend, die
+Türe ausriß und mit froher Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.
+</p>
+
+<p>
+Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen und
+Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge hinaus auf den
+Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein können mit ihrem Erfolg,
+denn die Verwunderung über der Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu
+einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn
+nicht Frau Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob
+die Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung
+erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam
+aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob!
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch krank
+sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer geschrieben
+habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete ein wenig bedrückt.
+Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen ist, bekümmert mich gar
+nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn.
+"Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig
+geworden auf der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz,
+wo ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und
+jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+</p>
+
+<p>
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der Ecke der
+Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte Frieder gewartet
+und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem Augenblick, als die Familie
+um die Ecke bog, sah er doch gerade in anderer Richtung.
+</p>
+
+<p>
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o Mutter!" rief
+er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn zärtlich und sagte ihm
+freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines Dummerle, wir sind ja jetzt
+wieder beisammen!"
+</p>
+
+<p>
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber die
+Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu ihr auf, ging
+dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie, im Hausflur
+angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die Jüngste
+aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon auf der Treppe
+mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum Empfang eine Torte
+geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen
+großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe.
+</p>
+
+<p>
+Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. Sie
+hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen können, an
+dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was konnte man von
+Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling verlassen, ihr hatte sie
+das Haus übergeben, und wenn sie nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen
+hätte, so wäre kein Unglück geschehen.
+</p>
+
+<p>
+Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf dem
+langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis erfahren
+hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein Vorwurf sein würde.
+Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort fürchtete sie zu hören, das sie
+schon einmal schwer getroffen hatte, das Wort: "ich will lieber eine, die
+hört!" Darum stand sie so starr und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr
+erschrak, als sie nun an der Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick
+durchzuckte sie der Gedanke: es ist <i>doch</i> etwas Schlimmes vorgefallen,
+aber im nächsten Moment sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur
+vergessen, wie groß, wie ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen
+mit herzlichem Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den
+Händedruck, den freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde
+ihr leicht ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß
+schloß mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."
+</p>
+
+<p>
+Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe sie noch
+nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern angerufen: "Dein Koffer
+kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ ihn in das Schlafzimmer bringen
+und nahm aus ihrem Täschchen ein Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der
+neben ihr stand, sah begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch
+viel Geld," rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein
+Frieder nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die
+Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie
+nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel
+verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber Vorwürfe. Aber
+viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, dadurch sollte kein
+Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+</p>
+
+<p>
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun kommt nur,
+der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön gedeckt, Walburg hat
+gewiß etwas Gutes gekocht."
+</p>
+
+<p>
+Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter wieder,"
+sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet ist."
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau Pfäffling
+und sie sprach mit innerer Bewegung:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute<br/>
+Hier vor dir stehen!<br/>
+Du schenkest uns die schönste Freude,<br/>
+Das Wiedersehen.<br/>
+Nun gehn wir wieder eng verbunden<br/>
+Durch Lust und Leid,<br/>
+In guten und in bösen Stunden<br/>
+Gib uns Geleit!"
+</p>
+
+<p>
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee machen
+müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu gedeckt. "Sollen
+wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," sagte die Mutter. "Nein,
+erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein und schickte die Kinder hinaus.
+"Zuerst kommt etwas anderes," sagte er nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine
+Beichte," und er führte sie an den Schreibtisch und zog die kleine leere
+Schublade auf, deckte auch das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte
+lag. Dieser Stand der Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte.
+"Ich habe schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte
+sie, "aber daß <i>gar</i> nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich
+gehalten, wie <i>kann</i> man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja
+gar nicht zustande!"
+</p>
+
+<p>
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich gespart;
+gestohlen ist es, gestohlen!"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die Nachricht
+erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien festgenommen, aber das
+Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung mehr, es zurück zu erhalten. Aber
+unentbehrlich war es und mußte auf irgend eine Weise wieder hereingebracht
+werden.
+</p>
+
+<p>
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß derselben
+war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es gelingen, das ist ein
+guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: "Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap13"></a>13. Kapitel<br/>
+Ein fremdes Element.</h2>
+
+<p>
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag auch
+den Kindern mitgeteilt werden.
+</p>
+
+<p>
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur gleich im
+rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. "Hört einmal,"
+sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch das sich der
+Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können uns allen helfen.
+Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!"
+</p>
+
+<p>
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne sein,"
+schlug Karl vor.
+</p>
+
+<p>
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," meinte
+Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die Blicke aller
+anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in ihren vertragenen
+schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre blonden Zöpfe waren mit
+schmalen blauen Bändchen gebunden.
+</p>
+
+<p>
+"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
+Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn ihr eure
+Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen etwas anderes."
+</p>
+
+<p>
+"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch mehr
+einbringt."
+</p>
+
+<p>
+Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich will es
+euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr Beiden zieht
+in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an einen Zimmerherrn
+vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das
+muß euch doch freuen? Die Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer
+herausräumen und eure Betten hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz
+nach eurem Belieben einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand
+darein; aus den alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur
+wollt."
+</p>
+
+<p>
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, aber
+zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und betätigten:
+"Ja, es wird sein!"
+</p>
+
+<p>
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in Zukunft auch
+ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in großer Begleitung.
+Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die Hauptpersonen. Sie schlossen
+ihr künftiges Revier auf. Es war ein kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und
+einem Dachfenster. "Kalt ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im
+Sommer ist's immer ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete
+Marie. "Da hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch
+das Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends kann
+Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen in ihrer
+Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr Häuschen gedrungen
+ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und wie eine dicke Schlange
+durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? Wie wäre sie glücklich gewesen
+über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."
+</p>
+
+<p>
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der Kammer
+erfüllt.
+</p>
+
+<p>
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis zu
+sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese wiederum
+mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts
+davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn
+zehn Leute den obern Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er
+habe nie welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für
+die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann
+blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses
+Frau Pfäffling mitteilen.
+</p>
+
+<p>
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann sagt
+ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er dabei. Er
+meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht mehr 'ja' sagen,
+sogar wenn er's möchte."
+</p>
+
+<p>
+Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr Pfäffling
+konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich sehe, daß jemand
+nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs Zimmerherrn nehmen, als in
+Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft den Tisch umkreiste. "Nicht mehr
+'ja' sagen dürfen, weil man vorher 'nein' gesagt hat? Soll sich darin die
+Männlichkeit zeigen? Dann wäre jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das
+nicht, ihr Buben," sagte er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen,
+was männlich ist: Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen
+geht; aber <i>nachgeben</i>, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht
+geurteilt hat."
+</p>
+
+<p>
+Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den Hausleuten
+weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling zufällig oder
+vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur zusammen.
+</p>
+
+<p>
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn nehmen
+durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge geraten. Aber
+da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht plagen, und es ist ja
+wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht heimkommen, Lärm machen und
+dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt entschließen, eine ältere Dame als
+Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist
+nur für uns unbequemer und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie
+uns ein wenig behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden,
+wären wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung
+setzen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie
+besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu wissen wie,
+war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte Hausbewohnerin für
+den obern Stock zu bemühen.
+</p>
+
+<p>
+Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und sie
+bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und nun kamen
+wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, wer die Türe
+aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu zeigen. Allzuviele
+erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, daß die Frühlingsstraße
+"keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede von den wenigen, die sich
+meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer vermieten, nicht eine
+Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den
+vertrauten Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die
+Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu
+ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand
+das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber
+niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn
+haben."
+</p>
+
+<p>
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine anspruchsvolle
+Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann stört sie uns nicht,"
+lautete Herrn Pfäfflings Rat.
+</p>
+
+<p>
+Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften sich
+glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete Dame, etwa
+Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im Ausland, hatte
+vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt, daß sie sich jetzt,
+nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer
+Rente leben konnte. Sie war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit
+genießen, sich Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben
+bis jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der
+Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn
+in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle
+bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit dort
+ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit
+schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am
+Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
+seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den ganzen
+Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da ist, aber ich
+glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird."
+</p>
+
+<p>
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für Fräulein
+Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, wußte in
+anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch auch für den
+Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war zu bemerken, daß
+sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen fühlte, daß sie
+Verständnis hatte für des Hausherrn originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung
+für der Kinder Bescheidenheit. Freilich waren auch alle sieben voll
+Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer
+gemietet trotz der vielen Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage"
+war. Überdies flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten
+der ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und
+wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort
+"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann es den
+Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte und tadelte
+sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu sich in ihr Zimmer
+und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren
+Arbeiten sich bisher niemand bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen
+gerne, auch Frau Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung
+paßte doch nicht zum Ganzen.
+</p>
+
+<p>
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit in
+Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. "Marianne soll
+herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu machen." Die Mädchen
+standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann hielt sie zurück: "Das eilt
+doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit geht allem vor, das habe ich allen
+meinen Zöglingen eingeprägt. Die Ausgänge könnten doch auch von dem
+Dienstmädchen gemacht werden."
+</p>
+
+<p>
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch nicht
+genug für manche Besorgungen."
+</p>
+
+<p>
+"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte
+Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie möchte den
+Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," sagte Frau
+Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"
+</p>
+
+<p>
+"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue voraus
+erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen überflügeln, und in
+der Schule würde jedermann staunen über unsere Fortschritte."
+</p>
+
+<p>
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar keine
+Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum lernen da und
+nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die Dunkelheit kommt mit
+den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als es finster war. "Finden Sie
+das passend?" fragte Fräulein Bergmann die Mutter, "sollten Sie nicht das
+Dienstmädchen schicken?"
+</p>
+
+<p>
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+</p>
+
+<p>
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie vollends
+ganz taub ist, muß sie doch fort."
+</p>
+
+<p>
+Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte Walburg
+in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie wohl bald ganz
+taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, teilnehmenden Blick. "Willst du
+mir was?" fragte sie und beugte sich zu ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und
+sagte ihr ins Ohr: "Ich mag Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg
+antwortete ausweichend: "Man muß froh sein, daß man sie hat."
+</p>
+
+<p>
+Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche Einmischung hin.
+Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im Pfäffling'schen
+Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer mit einem hellen
+Wachstuch bedeckt worden.
+</p>
+
+<p>
+"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," bemerkte
+Fräulein Bergmann.
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen Haus,"
+entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit vermeiden und die
+großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."
+</p>
+
+<p>
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+</p>
+
+<p>
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an unserem
+Tisch."
+</p>
+
+<p>
+Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer
+regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit <i>einem</i> Ofen
+heizen," erklärte Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, das
+würde sich sehr fein machen."
+</p>
+
+<p>
+"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich mich
+nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei reichen Leuten
+leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn es nur immer zum
+täglichen Brot reicht."
+</p>
+
+<p>
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und ich
+habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles verzichten,
+woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie aus fein gebildeter
+Familie stammen."
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
+schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein Glück ruht
+auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit gar nichts zu
+tun."
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu einer
+Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung wurde nun
+elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder standen voll
+Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum Ganzen, Fräulein
+Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es sehen nun allerdings die
+Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese
+doch erneuert werden."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die Portiere
+schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie mißliebig an.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du solltest
+ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+</p>
+
+<p>
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen Sinn für
+so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu unserer übrigen
+Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr Zimmer hängen so viel
+sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön genug sein, so wie sie sind."
+</p>
+
+<p>
+Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und sich
+nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten hinzu. Walburg
+hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller gewechselt. Die Kinder bekamen
+immer nur <i>einen</i> Teller.
+</p>
+
+<p>
+"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die Kinder
+alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein Bergmann
+fragend an Frau Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller mehr
+aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft."
+</p>
+
+<p>
+"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das Fräulein, "das
+ist doch solch eine Kleinigkeit."
+</p>
+
+<p>
+Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, was in
+unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, müssen Sie mit
+unserer Art vorlieb nehmen."
+</p>
+
+<p>
+"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu sehen,
+wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich werde gewiß nicht
+mehr darein reden, kein Wort mehr."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr Pfäffling, "und
+übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles ordentlich, schön und rein und
+ich möchte durchaus nicht, daß sie sich noch mehr Arbeit macht, und wenn meine
+Kinder ihr nachschlagen, wird man sie überall gern sehen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte gekränkt
+hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief in
+unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich Fräulein
+Bergmann zurück.
+</p>
+
+<p>
+"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern zu.
+</p>
+
+<p>
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt sie
+sich ein!"
+</p>
+
+<p>
+"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt und
+haltet gar nicht zur Mutter!"
+</p>
+
+<p>
+Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr Pfäffling
+bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," sagte er zu seiner
+Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich jetzt schon besser in
+acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und mir ist ihr Dareinreden nicht
+so unangenehm, man macht doch seine Sache nicht vollkommen und da ist es gar
+nicht übel, einmal zu erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel
+mehr von der Welt gesehen als ich."
+</p>
+
+<p>
+Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden Frauen
+standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann machte von der
+Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.
+</p>
+
+<p>
+"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man keinen
+eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf diese Zeit der
+Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht nach Herzenslust lesen,
+zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem ich Muße dazu habe, so viel ich
+nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:
+</p>
+
+<p>
+"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger Arbeit
+beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."
+</p>
+
+<p>
+"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar nicht.
+Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner veränderten
+Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle selbst, daß ich
+unausstehlich bin."
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß Fräulein
+Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr Kritik und
+Einmischung gestattete.
+</p>
+
+<p>
+Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich kein
+Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und brachte
+Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein Bergmanns Ansicht
+waren all diese kleinen Übelbefinden selbst verschuldet, sie behauptete,
+solches bei ihren Zöglingen durch sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.
+</p>
+
+<p>
+"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, "weißt du
+noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben ausgezogen,
+Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber dieses Jahr ist es so
+kalt."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, schöner
+war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen Familienkreis.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr
+Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen lassen,
+und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein feststehendes
+Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus vorgekommen. Das heutige hat
+kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie eigentlich?"
+</p>
+
+<p>
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man leichter mit
+dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es nicht jeden Tag das
+gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein Gebet gedankenlos gesprochen
+wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche Neuerungen.
+Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war es mit Herrn
+Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau liegt daran, in diese
+Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, "und wenn Sie lieber die leere
+Form haben, so brauchen Sie ja auf den Inhalt nicht zu horchen."
+</p>
+
+<p>
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre Hand
+auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm gemeint!"
+</p>
+
+<p>
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend. Im
+Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber nach Tisch
+rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. "Das ist ein
+unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist die verkörperte
+Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas kann ich nicht
+vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch
+wieder eine andere Mieterin."
+</p>
+
+<p>
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch leid für
+sie, wie soll ich denn das machen?"
+</p>
+
+<p>
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken. Aber
+je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und mit ihr
+reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+</p>
+
+<p>
+"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April mußt du
+dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie ihrer Arbeit
+nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend begründen könnte.
+Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie
+und Frieden im Hause mußte doch vorgehen.
+</p>
+
+<p>
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein Bergmann
+suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem Tisch lagen
+Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte das Fräulein,
+"hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen hervorgesucht, möchten
+Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich ordentlich schäme über
+die Zurechtweisung, die ich heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht
+vorgekommen in den vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja
+selbst, daß ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht
+so, bitte, lesen Sie!"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele Jahre in
+ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit war in den
+Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt hervorgehoben.
+</p>
+
+<p>
+Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die Erklärung
+dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann wieder in das
+richtige Geleise zu bringen wäre.
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und das ist
+wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. Sie stehen im
+gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn er schon aufhören
+wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch sein Bestes leisten, und
+so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, und haben eine reiche
+Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes Hauswesen leiten, eine Schar
+Kinder erziehen, und wollen hier in einem Stübchen hinter den Büchern sitzen!
+Das ertragen Sie einfach nicht und das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun
+in unser Hauswesen unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn
+ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle,
+und zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, "so wird
+es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie mir noch solch
+eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur schäme ich mich vor all
+meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen Entschluß mitgeteilt habe, zu
+privatisieren. Es war mir damals eine verlockende Stelle als Hausdame
+angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+</p>
+
+<p>
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+</p>
+
+<p>
+"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später erfolgen."
+</p>
+
+<p>
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+</p>
+
+<p>
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich keine
+passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+</p>
+
+<p>
+"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."
+</p>
+
+<p>
+Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, elastischen
+Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+</p>
+
+<p>
+"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, "sie ist
+gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; warum sie wohl
+gerade heute so vergnügt ist?"
+</p>
+
+<p>
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. Schon
+zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte gemeinsame
+Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im Freien, der
+langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit der Sorge um das
+Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am
+Eßtisch.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann, "dann
+frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus. Ich kenne
+niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen möchte, als Ihrer
+lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine
+Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner
+Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik
+ist ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt.
+Solange Sie <i>alles</i> tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir
+in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel
+geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns—"
+</p>
+
+<p>
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies wissen Sie
+wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen war."
+</p>
+
+<p>
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie mir
+nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, unseren
+Gewohnheiten?"
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht aufrecht
+erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig spöttischen Lächeln
+fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur <i>eines</i>."
+</p>
+
+<p>
+"Und zwar?"
+</p>
+
+<p>
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie jetzt eben
+im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+</p>
+
+<p>
+"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie es
+noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter Ihnen, immer
+die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen Zusammenstoß zu
+vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck stehenbleiben. Es war sehr
+drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig dabei."
+</p>
+
+<p>
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle Kinder
+folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich werde es mir
+abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu solchen übeln
+Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber—und nahm seinen Lauf um den
+Tisch wieder auf.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an Walburg.
+"Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+</p>
+
+<p>
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage ihn
+<i>gern</i> fort."
+</p>
+
+<p>
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein Bergmann
+über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert und war froh, daß
+diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie nicht, fragte auch nicht
+darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand unglücklich darüber war, Marianne
+vielleicht ausgenommen, aber die würde sich bald trösten, und eine neue
+Mieterin konnte sich nach Ostern finden.
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit zur Bahn.
+Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als Herr Pfäffling
+seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere abnehmen, daß man
+wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe kann. Aber vorsichtig, die
+Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut verwenden!"
+</p>
+
+<p>
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig darauf
+los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das offene Fenster von
+der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach den Brüdern rief. Otto sah
+durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder herein: "Fräulein Bergmann hat
+ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst herauf!"
+</p>
+
+<p>
+"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den schmerzlichen
+Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch schon ihre Stimme: "Ich
+muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." Richtig, da stand er in der Ecke!
+Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell rannte er durch die Türe und konnte diese
+gerade noch hinter sich schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen.
+Sie hatte nichts gesehen und eilte davon.
+</p>
+
+<p>
+"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr Pfäffling
+überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb unten, einen
+traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können bis morgen."
+</p>
+
+<p>
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald sah alles
+im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam nicht wieder,
+das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling kehrte mit Elschen allein
+zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," berichtete sie, "ihr letztes Wort
+war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, "wir
+singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu gekommen." Er
+stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders frisch und fröhlich
+klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div class="chapter">
+
+<h2><a name="chap14"></a>14. Kapitel<br/>
+Wir nehmen Abschied.</h2>
+
+<p>
+Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, und das
+leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der Kinder ahnte
+etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen lernen und darnach
+beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit sich nehmen würde. Sie
+wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig geliebten Bruder erwartete,
+und freuten sich alle auf den seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch
+aus ihrer frühesten Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante
+gekommen waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt worden
+war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, auch war es
+ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen Kind mehr
+Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen Familie. Doch wollte er
+den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines
+der Kinder dem Geist des Elternhauses entfremdet würde.
+</p>
+
+<p>
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während desselben
+geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen zeigen.
+</p>
+
+<p>
+In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. Doch nur
+für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht besser ausfiel
+als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, schlimm auch um die
+Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht Karls Liebhaberei, der junge
+Lehrer und der Schüler hätten sie gleich gerne los gehabt. Darum strebten die
+Brüder gleich aufeinander zu, als die Klassentüre sich auftat und die Schüler
+herausdrängten. Über der andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne
+Karl sein Zeugnis hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl
+schon manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch zu
+erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die Jungen mit
+den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte er schon, daß es
+Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine Durchschnittsnote nötig?" fragte er und
+überblickte das Zeugnis, und war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder
+waren enttäuscht, nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein
+müssen. "Hast du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+</p>
+
+<p>
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind wir noch
+in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so vergnügt seid, ihr
+meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, aber ganz kann ich euch noch
+nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst gleich wieder rückfällig werden.
+Sagen wir <i>einmal</i> statt zweimal in der Woche." Sie machten lange
+Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte
+der Vater hinzu. Da heiterten sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens
+in den Ferien frei war, im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr
+in einem hin. Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder
+vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern
+begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche Heftchen auf
+des Vaters Tisch ausbreiteten.
+</p>
+
+<p>
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie Elschen
+ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die geheimnisvollen
+Ziffern zu deuten.
+</p>
+
+<p>
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen Übermut
+hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a plus b ist? Das
+weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen Vierer." Von allen Seiten
+kamen nun solch verfängliche Fragen und es wurden ihr lauter Vierer prophezeit,
+bis ihr angst und bang wurde, sie sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du
+gibst mir dann jeden Tag Mathematikstunden!"
+</p>
+
+<p>
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten sie
+eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug gekommen. Sie
+schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.
+</p>
+
+<p>
+Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in Händen
+hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm wieder das Bild vor
+die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine mit dem Ausdruck tiefsten
+Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein gewissenhafter und geschickter
+Klavierspieler geworden, aber die Liebe, die er zu seiner Violine und auch zu
+der Harmonika gehabt hatte, die brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem
+Herzen war er nicht dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine
+erwähnt. Ob sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater
+hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine
+Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an.
+</p>
+
+<p>
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir nicht mehr
+so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes Gesicht machte das
+Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete er leise: "Ich möchte sie
+gar nicht mehr haben."
+</p>
+
+<p>
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören kann,
+wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du <i>kannst</i> nicht, Frieder? Du
+<i>willst</i> nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du nicht, daß
+wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte nicht lieber selbst
+weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde geben, wenn sie jetzt kommt?
+Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach Tisch in ihren schönen Büchern
+liest, nicht lieber weiterlesen als schon nach einer halben Stunde wieder das
+Buch aus der Hand legen und die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten
+nicht lieber auf den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben
+unter unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet hat? Und
+der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und sagen: 'Ich kann
+nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor den Tierlein, vor den
+Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich schämen!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim Geigen
+nicht."
+</p>
+
+<p>
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann mitten
+im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir Mühe, und wenn du
+dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage es mir, dann will ich dir
+jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige geben."
+</p>
+
+<p>
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank deutend, der
+in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem Ton: "Da innen ist
+sie!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen Willen
+bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; Fräulein
+Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern mit Marianne,
+ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."
+</p>
+
+<p>
+Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei plaudernden
+Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur Stunde. Noch rosiger
+und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte solch eine wichtige Neuigkeit
+unter vielem Erröten mitzuteilen! Die Karten waren ja schon in der Druckerei,
+auf denen zu lesen stand, daß Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen
+schönen, jungen, reichen, blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber
+unmusikalisch war er leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er
+doch der Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+</p>
+
+<p>
+"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner Schülerin,
+"vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+</p>
+
+<p>
+"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht wahr,
+wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute Freunde und
+Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das gibt zwei süße
+Brautfräulein!"
+</p>
+
+<p>
+"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die Marianne?
+Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner Frau sprechen."—
+</p>
+
+<p>
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. Alle
+Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und zugleich für den
+Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren des langen Winters waren
+mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern
+verschwunden, die Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen,
+Walburg brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine
+mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden,
+Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der Gast
+ankommen.
+</p>
+
+<p>
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," sagte Karl,
+als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, Frau Pfäffling freute
+sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in der alten Heimat schön
+gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender sein, ihn im eigenen
+Familienkreis zu haben.
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle
+miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, er war
+nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und nur allmählich
+erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe.
+</p>
+
+<p>
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und sahen
+begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten auf, und
+jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen Kopf kleiner als
+der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so schmal. Fein sah er aus im
+eleganten Reiseanzug und daß er eine voll gepackte Ledertasche in der Hand
+hatte, wurde von Elschen besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder
+bemerkt worden sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte
+sogar den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen
+doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht so,"
+entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom Fenster, und
+vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief
+Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!"
+</p>
+
+<p>
+Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die Kinder
+berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, in den Zügen,
+in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie ihn, und auch er
+fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen seiner Schwester, die
+andern seinem Schwager ähnlich.
+</p>
+
+<p>
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen den
+Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den Gast voran
+gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen Gefolge. "Wie komisch
+sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der Mutter.
+</p>
+
+<p>
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+</p>
+
+<p>
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. "Cäcilie, nun
+kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"
+</p>
+
+<p>
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine stattliche
+Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die ungewöhnlich große
+Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr habt euch wohl eine
+besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen Schüsseln?" sagte er
+spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme Dienerin? Wie schade um das
+Mädchen!"
+</p>
+
+<p>
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, "ich war
+mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser werden."
+</p>
+
+<p>
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal ein
+Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel gefallen, es kommt
+etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht, welches ich meine?"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:
+</p>
+
+<p class="poem">
+In größerem Kreise stehen wir heute<br/>
+Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.<br/>
+Aber die richtige fröhliche Stimmung<br/>
+Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.<br/>
+Nahe dich freundlich jedem von uns.
+</p>
+
+<p>
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine Neffen
+und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich alle beteiligen
+konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, "die meinigen haben es
+auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, bei dem es nur leider gar zu
+leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie machten sich mit Eifer daran und
+trieben es täglich fast mit Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den
+Onkel, der, hinter der Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen
+die zwei Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler
+gleichmäßig verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite,
+Wilhelm, der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei
+nehmen, sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.
+</p>
+
+<p>
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht immer
+mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus der Hand und
+gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner Zeitung hervor. Das Wort:
+"Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch weiter zu wirken. "Hat jemand des
+Vaters Brief auf die Post getragen?" fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das
+könntest du besorgen, Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So
+entfernten sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling
+setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist
+rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich
+zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel aufgeben. Das
+täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?"
+</p>
+
+<p>
+"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die Kinder
+sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig werden, so helfen
+sie mit."
+</p>
+
+<p>
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und ich
+sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger hervorgehen. Wie
+die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie ihr eigenes Ich dem
+allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und widerspruchslosen Gehorsam
+sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß
+sonst das ganze System in Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein
+Mann ein so leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher
+Minister. Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme,
+in ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was kümmerte
+sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des Onkels, die
+traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer Kinder zu mir nehme,"
+hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören sollen, es war nur halblaut
+gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts anmerken, aber lange konnte sie diese
+Neuigkeit nicht bei sich behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle
+unten am Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie
+vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht
+zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit,
+fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer
+ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte:
+"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, der
+doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er
+<i>mich</i> mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für
+ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die
+fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so
+glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor
+die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein gestanden.
+Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen
+das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum
+andern blickten, und da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht
+missen mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle
+geben wir nicht her!"
+</p>
+
+<p>
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit Herrn
+Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah hinunter, "Dort
+steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, "eines dicht beim andern,
+keinen Stecken könnte man dazwischen schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und
+wie sie eifrig sprechen!"
+</p>
+
+<p>
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."
+</p>
+
+<p>
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue Freunde
+mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im Nest gesessen
+waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich nun aber die Hand
+ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest herausnehmen, dazu kann ich
+mich immer schwerer entschließen. Geben wir doch den Plan auf! Lassen wir das
+fröhliche Völklein beisammen, es kann nirgends besser gedeihen als daheim!"
+</p>
+
+<p>
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft
+unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+</p>
+
+<p>
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht. Aber
+den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut ist, die
+Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist."
+</p>
+
+<p>
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau
+Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von Wilhelm. Du
+kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen Lateinschüler findest,
+der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er neulich tat bei unserem ersten
+Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei meinen Kindern auch etwas von diesem Geist
+zu spüren! Kehren wir doch die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen
+einmal. In euren einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine
+Ansprüche fallen lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."
+</p>
+
+<p>
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+</p>
+
+<p>
+Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war von
+schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten plötzlich
+Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten herauf.
+</p>
+
+<p>
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr auch,
+Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von euch wollte ich
+mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für ein viertes, und eure
+Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich tue es nicht. Wollt ihr hören
+warum? Weil ihr es so schön und so gut habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen
+Welt besser haben könnet. Ihr lacht? Es ist mein Ernst."
+</p>
+
+<p>
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja wissen.
+</p>
+
+<p>
+Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du denn
+mitgenommen?" fragte sie.
+</p>
+
+<p>
+"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und deutete
+auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!
+</p>
+
+<p>
+Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie stand mit
+wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder für eine fremde
+Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen mußte. In ihren
+Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen Mann die Treppe
+heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen, hörte Marie zum Vater
+hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem
+Gedankengang.
+</p>
+
+<p>
+Aber jetzt?
+</p>
+
+<p>
+Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie wollte
+dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da stand er vor ihr
+mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+</p>
+
+<p>
+"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht fassen und
+glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es selbst schwarz
+auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem gemieteten Lokal die
+Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer Pfäffling zum Direktor ernannt
+hätten. Es fehlte nichts mehr als seine Einwilligung, und auf diese brauchten
+die Marstadter nicht lange zu warten!
+</p>
+
+<p>
+Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern herbeigelockt.
+Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie die gute Kunde, sie
+sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und immer wieder sagte: "Wie mag
+ich dir das gönnen!"
+</p>
+
+<p>
+Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern widerstrahlte.
+</p>
+
+<p>
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er mit
+seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.
+</p>
+
+<p>
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch sagen!"
+</p>
+
+<p>
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem Schrank
+stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+</p>
+
+<p>
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.
+</p>
+
+<p>
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+</p>
+
+<p>
+Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst du mir
+am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten darin aufhören,
+ich habe es probiert."
+</p>
+
+<p>
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+</p>
+
+<p>
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den Pfannenkuchen.
+Die andern wissen es."
+</p>
+
+<p>
+"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine Tischnachbarn
+Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling schloß den Schrank
+auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, "dann warten wir gar nicht
+bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies Festtag bei uns, du weißt wohl noch
+gar nichts davon? Da hast du deine Violine, kleiner Direktorssohn!"
+</p>
+
+<p>
+Ja, das war ein seliger Tag!
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die
+Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so fürchtete
+sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, sah sie mit
+herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr Direktor will auch
+deinen Lohn erhöhen."
+</p>
+
+<p>
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder allein
+in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen Hände
+ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+</p>
+
+<p>
+Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch Fremde die
+Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen zusammen, und während sie
+sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang herunter und Frau Pfäffling
+erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann übte mit den Kindern den Chor mit
+dem Endreim:
+</p>
+
+<p class="poem">
+"Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/>
+Es lebe die Direktorin!"
+</p>
+
+<p>
+Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe im Haus
+gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte er eine kleine
+Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und befestigte an der
+Haustüre die Aufschrift:
+</p>
+
+<p class="poem">
+<i>Wohnung zu vermieten</i>.
+</p>
+
+<p>
+Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf die
+Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir die
+Familie Pfäffling war!"
+</p>
+
+</div><!--end chapter-->
+
+<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING ***</div>
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+
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+The Project Gutenberg eBook, Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper
+
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+
+
+
+Title: Die Familie Pfäffling
+
+Author: Agnes Sapper
+
+Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+
+***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFäFFLING***
+
+
+E-text prepared by Olaf Voss, Michael Wymann-Böni, and Project Gutenberg
+Distributed Proofreaders
+
+
+
+Die Familie Pfäffling
+
+Eine deutsche Wintergeschichte
+
+von
+
+Agnes Sapper
+
+1909
+
+
+
+
+
+
+Meiner lieben Mutter
+
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+
+
+Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was
+ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene
+Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die
+Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in
+einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von Eltern,
+die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was
+ihnen versagt war.
+
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die
+Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du
+die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger,
+anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen
+Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer
+entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.
+
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte
+möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.
+
+Herbst 1906.
+
+Die Verfasserin.
+
+ * * * * *
+
+
+Inhalt
+
+
+1 Wir schließen Bekanntschaft
+2 Herr Direktor
+3 Der Leonidenschwarm
+4 Adventszeit
+5 Schnee am unrechten Platz
+6 Am kürzesten Tag
+7 Immer noch nicht Weihnachten
+8 Endlich Weihnachten
+9 Bei grimmiger Kälte
+10 Ein Künstlerkonzert
+11 Geld- und Geigennot
+12 Ein Haus ohne Mutter
+13 Ein fremdes Element
+14 Wir nehmen Abschied
+
+
+
+
+
+1. Kapitel
+
+Wir schließen Bekanntschaft.
+
+
+Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
+hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in
+die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die
+Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz.
+Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes
+Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem
+der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.
+
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz
+für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich
+herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge,
+die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der
+eine Kleine, den man täglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei
+die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder
+Pfäffling.
+
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof
+verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den
+langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer
+Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht,
+war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der
+Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen
+sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte
+zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich
+die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte
+Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in
+die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte
+sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine runde
+Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu
+lassen als die andern.
+
+Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben
+Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch
+die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie
+die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete
+auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, bis der
+letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine Unruhe all
+die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend von einem
+Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie war von
+Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken,
+aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen Familienkreis
+gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende,
+musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der Ruhe
+freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen
+hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen
+Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn
+sie ängstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die
+Brüder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte.
+Jetzt hatte sie alle die Baumstämme allein zu ihrer Verfügung, aber nun
+machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die
+übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett
+querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der
+Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete,
+war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die
+Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war,
+hätte sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders
+Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen--fast zum
+weinen!
+
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief:
+"Elschen, flink, Essig holen!"
+
+Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter,
+zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum
+nächsten Kaufmann.
+
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau.
+Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war
+eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute
+Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander
+die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt:
+"Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo
+Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden,
+daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird."
+"Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der
+Hausherr.
+
+"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja
+rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert
+ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer
+springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die
+abgetretenen Stellen."
+
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt
+doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt,
+was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges
+Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und
+jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch nicht übers
+Herz."
+
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue
+Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand
+bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die
+Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.
+
+Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine
+vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und
+erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das
+Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren
+die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der
+Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch
+Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe
+ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen gar nicht voran.
+Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Großen, jetzt muß ich
+entgegen laufen."
+
+Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle
+zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen
+entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu
+hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Händen
+gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung
+aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre Mützen,
+denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht
+gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem
+Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet
+ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe
+an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr
+war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr
+die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal
+auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr
+mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle
+betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen
+diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem
+kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter Hauptregel ins
+Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir
+leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erlösende Wort:
+"Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam und
+behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und
+Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit
+Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb
+den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte
+noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich
+zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an
+den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das
+nicht denken? In der Mitte geht man wohl am öftesten."
+
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und
+indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich
+herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's
+recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie,
+was kann man mehr verlangen?
+
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn
+ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+
+Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin
+und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu
+berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm
+eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen
+großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es
+schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen Augenblick lautloser
+Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage
+dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die
+Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich darnach. Heute sprach
+sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du gönnst uns die
+Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+
+Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen,
+aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie
+kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des
+Wintersemesters.
+
+"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."
+
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf
+ich nimmer mitbringen."
+
+"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."
+
+"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."
+
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+
+"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."
+
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war,
+umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der
+kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine
+Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den
+Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich
+noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.
+
+Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem
+er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer
+war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen
+sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei
+Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor
+und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte
+der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt
+eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so
+viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder
+Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber
+jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine
+Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut
+selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht
+viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und
+miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß
+auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr
+gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen
+sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab
+und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte.
+Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.
+
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich
+wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann
+in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen
+saßen.
+
+"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist
+höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue
+Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt
+so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir nicht
+leben."
+
+"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr
+zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es
+sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.
+
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der
+wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster
+und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist
+doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag
+keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben
+hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie
+sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern
+herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug.
+
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran
+ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die
+Treppe heraufkam--ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene
+Stufen--streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die
+geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und
+vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"
+
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern
+schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer
+lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd
+vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer
+verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze
+hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe blieb er
+aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was soll ich
+denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm
+nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief in seiner Angst
+immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Vorübergehenden sahen
+ihm mitleidig lächelnd nach--es war leicht zu erraten, was dem kleinen
+Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die
+Ecke der Frühlingsstraße bog.
+
+Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in
+seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie
+wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in
+Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten
+zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner
+Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und
+von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich
+ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur
+_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine
+Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist doch
+ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun
+wurde die Harmonika eingeschlossen.
+
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als
+letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester,
+was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen
+sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt,
+und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen
+würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht
+und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und
+ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig,
+zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das Spöttische verging ihnen
+bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so kläglich verweint aus!
+Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht
+recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer
+und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die weggenommene
+Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans
+Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar
+nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder
+herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die
+Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der
+Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, sich auf seinen Platz zu setzen,
+aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen müssen, ja und dann--dann
+stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen
+seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick.
+"Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der
+große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte
+Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule
+vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen
+und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf
+einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um
+und sagte: "Der war ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her,
+du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel
+gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine
+Harmonika wieder, aber--"
+
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb,
+denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und
+sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im
+Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht
+darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus
+und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend:
+"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist
+da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun
+fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+
+"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und
+Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut,
+die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz
+zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling,
+"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen,
+sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist traurig,
+zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem
+Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten geben."
+Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen hatte, trat
+ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie
+bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett voll
+geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg
+war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte
+einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie
+aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden
+Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie
+dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfäffling
+ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen
+hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewöhnt. So tat sie
+stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wußte viel von dem,
+was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der
+Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge wach geworden
+und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den
+Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen,
+und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die
+ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte
+Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann--"
+"Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl.
+
+Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter
+Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als
+Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das
+Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als
+sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer,
+wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama
+nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog
+auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den
+Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt
+man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich,
+das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da
+ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht
+und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die
+Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen
+Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die
+mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von
+euch schon diesen Namen gehört?" fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen
+die Visitenkarte der Dame hin. Sie schüttelten alle verneinend, der Name
+war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere
+Vernagelding_.
+
+
+
+
+2. Kapitel
+
+Herr Direktor?
+
+
+November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden?
+Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst
+den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch
+nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit.
+
+Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch
+unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern
+schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte
+französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte
+nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte im
+Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte
+kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal
+geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem
+Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen
+sollte, was aber nicht immer gelang.
+
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten
+ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie
+ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der
+Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten
+sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten
+sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten Schal um
+sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine
+Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen
+auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber
+im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. Sie mußte immer
+brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang hinunter gehen
+mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine Stunden gab.
+Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die Türe des
+Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde
+die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und
+manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und
+begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer
+war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die
+Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten
+eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und
+waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte.
+
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding
+hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen
+das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe.
+Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater
+noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"
+
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen
+wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu
+seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich
+daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein
+Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere
+hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht
+zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an
+und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir
+graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?"
+
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
+Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die
+Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in
+Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das
+Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre
+verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher
+Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.
+
+So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der
+eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in
+der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben
+schlechte Zeugnisse nach Hause.
+
+An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer
+trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu
+mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe
+zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie
+folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie
+beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag
+auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies,
+lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für seine
+Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste Seite
+ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt
+schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle
+mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
+Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer
+größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach
+meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor
+zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen;
+Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit
+fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man
+nur so fragen!"
+
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und
+besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete.
+Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief:
+"Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln
+kalt!"
+
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend,
+folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll
+Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her,
+und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller
+Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem
+unsicheren Zukunftsplan erwähnten.
+
+Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung
+hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut
+bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei
+diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit
+auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen
+und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger
+Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte er
+zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder hat, am
+wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund
+treten."
+
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder
+nicht," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder
+können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen
+gemütlichen Teetisch."
+
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
+Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des
+erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater
+zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch
+sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"
+
+Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen,
+bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war
+leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.
+
+Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater
+in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn
+auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und
+verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit
+dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den
+Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und
+weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich,
+mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein
+Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht
+das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber
+hinauf!"
+
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.
+
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch
+ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße
+gut ab."
+
+Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht
+recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den
+Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch
+lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die
+Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die
+Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für seine
+kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die
+Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den
+Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die wollte er
+auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und
+hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von seinem
+hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der
+den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im
+Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen
+ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter
+Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich
+ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in
+Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von
+großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte
+freundschaftlich mit Karl.
+
+Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter
+den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein
+gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu
+anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen
+Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen
+war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß redlicher
+Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten
+machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge Bewegungen. Als
+die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, mußten sie
+nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing es an zu
+regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, und die
+kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über die
+unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie
+wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da,
+zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an
+Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter
+fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die
+Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter.
+Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz
+bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie
+wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er
+sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht:
+drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten!
+
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben
+die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen,
+die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie
+erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf,
+erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise
+nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte
+sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.
+
+"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer,
+da hört man uns nicht."
+
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das
+Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was
+sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts
+zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in
+dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und durchkältet. "Wir
+wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und
+Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen
+Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du
+Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus dem
+Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach.
+Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps,
+weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+
+In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos
+seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie
+miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre
+dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner
+Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_!
+
+Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des
+gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen
+Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe
+besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater,
+wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier gewesen,"
+dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete dadurch noch
+einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch nie so
+ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.
+
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur
+Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im
+Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch
+war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und
+was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja
+nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.
+
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als
+er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und
+betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie
+nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige
+Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei
+diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten,
+sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit
+weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?"
+
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme
+oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich
+an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser
+Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu
+stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann
+ist die Dunkelheit um so größer."
+
+Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute
+Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten
+Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern
+am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es
+wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht;
+manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute
+Nacht".
+
+Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und
+bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.
+
+Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit
+meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts
+davon wissen. Er zog seine Taschenuhr--es war noch nicht spät. Dann ging
+er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+
+Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein
+sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein,
+diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und
+nicht ahnt, daß er stört.
+
+Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater
+schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden
+sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine
+besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten
+seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und
+die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er
+klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute
+Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+
+"Gute Nacht, Karl."
+
+Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte
+Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die
+Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und
+er hat gelesen."
+
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling
+lächelnd.
+
+"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief
+seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett
+gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch:
+"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."
+
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß
+du Takt hast--übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier
+bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir
+besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun
+bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns."
+
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein
+Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde
+erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
+
+Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette
+legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen
+könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine
+Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu
+entreißen.
+
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach
+Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung
+des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden
+hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die
+Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling
+wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten habe.
+Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling immer
+kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, statt
+dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich
+seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen
+Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
+
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein
+Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs
+seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ Munde
+lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum
+Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die
+Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und
+von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch eine Stelle,
+der sollte nur noch zehn Jahre warten!
+
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am
+Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner
+hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz
+unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß
+an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?"
+
+"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich,
+und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu:
+"Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren
+knappen Verhältnissen."
+
+Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag
+gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der
+Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner
+Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine
+glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein
+schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört
+verschwenderischen Gabe einer Rose im November!
+
+Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit
+seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die
+geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch
+die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde
+es ins Ohr gerufen.
+
+Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den
+Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen
+Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.
+
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als
+Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu
+Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen
+dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das
+aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und
+sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und von den
+dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem
+Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein bedenklich
+langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde der
+Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen,
+umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein
+paar Jahre warten wolle!
+
+Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
+weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er
+dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.
+
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus,
+wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den
+Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von
+einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
+
+Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre
+viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher
+ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher."
+
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind
+so--ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar nicht
+sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!"
+
+Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre
+wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es
+ja nicht so sehr ferne gerückt!"
+
+"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling,
+"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter
+und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen,
+Direktor bin ich _gewesen_."
+
+Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang
+in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast
+erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus
+gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud
+sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut
+gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß wir
+hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in der
+Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."
+
+"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den
+schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht
+anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich
+kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen,
+aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört
+auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was
+Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit
+es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann
+deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt
+auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab."
+
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine
+Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten
+schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese
+Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.
+
+Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand
+und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend
+war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied
+komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die
+Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder
+Vers ausgeht:
+
+ "'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+ Es lebe die Direktorin!'
+
+"Nun muß es heißen:
+
+ "'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
+ Du wirst niemals Direktorin.'"
+
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß
+ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+
+"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig,
+"ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen."
+
+Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie
+auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel
+Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So
+erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.
+
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe
+eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"
+
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter
+der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit
+strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen,
+Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch.
+Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die
+Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?"
+fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil
+ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von
+unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus
+und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann
+kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut
+aufgenommen worden.
+
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling,
+die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich
+vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er
+war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch
+schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen,
+gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem
+festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung
+unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu
+seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:
+
+ "'Direktor her, Direktor hin,
+ Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau
+Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding
+sein?"
+
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die
+hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die
+jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst
+nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das
+Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit
+verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und
+Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen zurechtgesteckt
+hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese
+unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und
+mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit mir
+nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich
+war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in
+Rosa."
+
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits
+etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht
+mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht
+immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon
+wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an
+den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn
+strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu,
+daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht
+süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte
+er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen,
+das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
+für heute."
+
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin
+empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.
+
+Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß
+Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal
+entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+
+Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube
+aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.
+
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte
+Frau Pfäffling besorgt.
+
+Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten
+Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr.
+Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm
+gelegentlich ein Präsent machen, Agathe."
+
+
+
+
+3. Kapitel
+
+Der Leonidenschwarm.
+
+
+Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau
+Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die
+Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob
+sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den
+Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die
+Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten
+geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden
+konnte.
+
+Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen,
+daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das
+hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher
+Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als
+Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen
+Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil zu
+spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen
+versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er
+herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei
+Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Höhe
+spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur daß auf
+kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er
+war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt
+wie seine leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch
+viel näher am Boden spannen mußte, und als er seine ersten
+Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darüber sprang,
+lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen früheren Kinderjahren,
+das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so weniger als
+Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst
+probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte:
+"Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern
+haben ihm viele Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied:
+'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das
+lernen wir jetzt in der Schule."
+
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder
+ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da
+wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine
+Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur
+eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er
+sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie
+hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher
+hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen Menschen,
+und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber
+doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während seine
+Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern von
+seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte
+er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er,
+"vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die
+Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört
+auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man
+sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein
+Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten
+war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere
+Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz
+unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind
+gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue,
+wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen über
+den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und
+zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir
+zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte
+ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich
+zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie
+meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer
+nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es auch beobachtet und
+fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklärt, daß
+alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. November herum so ein
+Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. In manchen
+Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach
+Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen
+Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht
+hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."
+
+Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle
+mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie
+sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und
+von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis
+der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es
+war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen
+dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das
+praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht
+ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts geschlossen." Also
+mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der
+Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett
+in die Novembernacht hinaus würden sie sich erkälten. Und alle beide
+fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht gestört werden. Dagegen
+sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so zimperlich sein, daß sie
+nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten könnten, und die
+Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt
+hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder
+versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da
+machte die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit
+ihrer Bitte wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte:
+"Also dann dürft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber
+doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für
+klug, nimmer auf das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend
+an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand
+dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu
+Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren.
+Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und
+konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus
+wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am
+Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern
+leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster
+huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste
+Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer
+fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei
+das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben
+dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht
+einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich
+wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei
+in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die
+Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles:
+"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große
+warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem
+Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel
+in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die
+Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches
+Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht
+ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den
+Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem
+Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun
+waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.
+
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas
+gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber
+sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich
+im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton
+der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb
+derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat
+nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr
+unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
+Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch
+entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre
+vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus
+herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon
+herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem
+Gewissen, der mochte klingeln.
+
+Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der
+Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In
+wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern
+und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so
+schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl,
+"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich
+reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß
+einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da
+droben alle so fest!"
+
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten.
+Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen
+dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die
+riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine
+Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend
+sahen die Kinder hinauf: da--schon wieder eine Sternschnuppe, größer als
+die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder
+eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in
+gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
+vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich
+sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber
+von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne
+zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der
+die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden
+Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein sollte, zog
+sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.
+
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden
+sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein
+einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto,
+"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die
+Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und
+schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also
+kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.
+
+"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+
+"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da
+draußen bleiben in der Kälte!"
+
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an
+die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von
+innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte
+Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte
+und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.
+
+"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+
+"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch,
+es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in
+Ordnung, was hält die Türe zu?"
+
+In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat
+etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den
+Riegel vorgeschoben."
+
+"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das
+getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen:
+"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+
+"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+
+"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."
+
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein,
+wer hätte es sonst tun sollen?"
+
+Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln
+dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in
+den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon
+schlafen."
+
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und
+suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so
+stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so
+unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre!
+Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal
+reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber hin
+und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß ich's
+ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte stramm
+hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber
+nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war denn das?
+Er kam näher zu den Brüdern her--wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte
+ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und
+klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner
+unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl
+als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich,
+"sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die
+Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die
+Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des
+Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so laut zu
+rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß Hartwigs, die
+unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, Marianne," klang es
+zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es hätte
+gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute wachten
+auf.
+
+Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun
+möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten
+Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder
+erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich,
+keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus,
+lauschte--sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute
+Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir
+wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie
+tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der
+Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es
+unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen.
+
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte
+die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen
+sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!"
+und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es,
+Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie
+dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur
+Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So
+hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht,
+denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht an
+die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur
+hinaus?"
+
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie
+vorwurfsvoll und schloß das Fenster.
+
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr,
+"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da
+schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen
+Morgen?"
+
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu
+seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist.
+Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts
+geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute
+bedanke ich mich!"
+
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob
+den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen
+Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit
+so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung
+entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von der
+Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig
+und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei
+ihm die Wohnung gekündigt."
+
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es
+den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen
+Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der
+Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr
+Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn
+er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie
+sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum
+andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen
+der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung herausbeschworen,
+in ihren Augen das größte Familienunglück!
+
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich
+ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen
+war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht
+vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte.
+Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf.
+
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine
+Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem
+Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr,
+als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön
+heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei,
+bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon
+hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser
+zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim
+Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der
+Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen.
+Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
+werden, kommt!"
+
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte.
+"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr
+hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber
+der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?"
+
+Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß
+sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich
+Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht
+gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?"
+
+"Das nicht."
+
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und
+sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir
+hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken
+gewesen--wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa
+wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt."
+
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus
+einem Mund.
+
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf
+den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter
+Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das
+hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir
+sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte
+Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne.
+
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling.
+"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich
+würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So
+aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb
+geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?"
+
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
+Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht
+alles gesagt."
+
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die
+schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf
+1. Januar sei gekündigt."
+
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch
+aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu
+glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst
+du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im
+Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal wecken und
+ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er
+denn sonst noch gesagt?"
+
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's
+schon vorher ausgedacht hätte."
+
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt?
+Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne
+rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+
+Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes:
+"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht
+verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie
+in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen."
+
+"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch,
+frühstückt!"
+
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig
+waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen
+und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht
+wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte
+er, daß es so sein müsse.
+
+Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung,
+so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf,
+seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum
+täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst
+eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn
+zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner
+wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie
+Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ.
+
+So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei
+Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken
+an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei
+Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch die
+Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der
+leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel
+von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht deutlich,
+eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz anders als je
+für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau Pfäffling
+besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.
+
+Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie
+hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des
+echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie
+stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht
+hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen
+einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau
+Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die
+beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.
+
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien
+benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum
+Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs.
+Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an,
+das Rad zu drehen und zu mangen.
+
+Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch
+sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.
+
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes
+miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und
+sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer
+miteinander verständigen würden.
+
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht
+gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der
+Wache gesehen hat?"
+
+"Ja, du warst ja dabei."
+
+"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum
+erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte
+Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem
+Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des
+Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie
+wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu
+tun, was recht war.
+
+Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er
+ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel
+gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der
+Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die
+da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen
+ausgingen.
+
+Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der
+Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und
+fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit
+all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von
+der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen Verein oder
+dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas
+dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht bös sein,
+wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde.
+Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"
+
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.
+
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen
+sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller
+einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht,"
+sagte sie und gab jedem einen Apfel.
+
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht,
+damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen
+jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der
+Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so
+hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu gehen,
+setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und
+kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der
+erschrockenen Hausfrau.
+
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser
+sie's meinen, um so ärger poltert's."
+
+
+
+
+4. Kapitel
+
+Adventszeit.
+
+
+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne
+Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen
+Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing,
+und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember
+aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf. "Buben,
+galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom Kampfplatz
+zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das
+Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es miteinander," sagten
+sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es
+war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste Advent.
+Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur
+bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung
+an: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt
+Verlangen, o meiner Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme,
+zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise,
+denn sie allein von der ganzen Familie war vollständig unmusikalisch und
+sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.
+
+Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit
+sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige
+nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute
+mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Flüstern.
+Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe
+standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden wollten, fand
+sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle sieben bereit
+standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll dann
+aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich.
+
+"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der
+Kinderchor.
+
+"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.
+
+"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.
+
+"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist,
+hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die
+ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von
+ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete
+Andacht".
+
+Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe
+herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche
+einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben
+ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der
+Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach
+einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er
+nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.
+
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs
+Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest
+sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das
+dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden
+die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber
+heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war
+über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling
+Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön
+der Christbaum war?"
+
+Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand
+sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit
+leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine
+Hauptperson, die allen die Freude erhöhte.
+
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten
+flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte
+kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld
+kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen
+Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht
+Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!"
+Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die
+Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer
+der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn
+ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche,
+wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da
+sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang,
+schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr
+niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche.
+
+Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder
+wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte
+er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen
+und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte
+sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner
+Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es
+ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen,
+bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der Hand,
+den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.
+
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte,
+bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der
+großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und
+die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht
+so.
+
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch
+schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine
+Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob
+Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die
+Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel
+doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergaß
+seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig
+war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+
+Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten
+und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du
+das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte
+Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst."
+
+"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen
+nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest
+du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen."
+"Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer,
+"aber jetzt: auf eure Plätze."
+
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
+spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und
+die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die
+Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer
+riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie
+geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder
+zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog, gab sie
+keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen
+auf den kleinen Musikanten.
+
+"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und
+wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte
+keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er
+drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber
+er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer
+zum Leben zu erwecken.
+
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von
+ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange
+Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich
+weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!"
+
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein
+Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände,
+bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz
+enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er
+selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte er
+sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten
+wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein
+Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht
+eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.
+
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+
+Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die
+Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für
+die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen
+getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts
+ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder
+verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf
+den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht."
+
+"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen
+Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen
+Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner
+Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz
+in das große Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner
+Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der
+Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte.
+Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.
+
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister
+um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte,
+streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da
+nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht
+erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne
+Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim
+Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das
+schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei können
+nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen wir
+solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt,
+Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen
+rechten Sack voll."
+
+Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und
+fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich
+zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden
+bist."
+
+"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga
+darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt.
+"Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine
+Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die andern
+stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man
+die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er sich
+glücklich auch ohne Harmonika.
+
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es,
+viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis
+abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.
+
+Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt
+viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der
+machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte.
+Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte
+sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es
+erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und
+wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß
+sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen
+von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als alle
+andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen
+schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben
+herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die
+gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."
+
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes
+Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
+entgegengesetzt lag.
+
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in
+kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier
+ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und
+Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf
+Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in
+Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen
+abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all dies
+Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du mir
+nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen
+vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder
+einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen.
+"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?"
+sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles
+abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst."
+
+"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei
+euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als
+ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen,
+Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten
+Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet.
+Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer.
+Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld glücklich noch aus
+Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die
+Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man artig, das
+begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie möchte
+ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen
+er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft,
+kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es:
+'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer,
+gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswürdigen
+Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den
+Unterricht in Gang zu bringen.'
+
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner
+militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem
+Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei
+jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein
+Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?
+
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es
+hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen
+Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu
+laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl
+noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine
+Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln."
+
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht--wenn das ein Pfäffling
+hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den
+Musikunterricht geben?" fragte er.
+
+"Weiß ich nicht."
+
+"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."
+
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche
+Herrschaften muß man immer das feinste wählen."
+
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+
+"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hören sie gern."
+
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als
+Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen
+ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren
+für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."
+
+"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend,
+"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und
+nicht bei den Professoren."
+
+"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du
+mit den Russen sprechen."
+
+"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast
+keinen Begriff von Umgangsformen."
+
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht,
+aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen,
+was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar
+nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal
+in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein
+Schwindel."
+
+"Ich vermag viel im Hotel."
+
+"So beweise es!"
+
+"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast."
+
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich
+für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum
+Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel
+zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen
+wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben.
+
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in
+einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater
+empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+
+"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit kommt."
+
+Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und
+erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause
+vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest
+das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So
+möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er
+soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater
+viel zu vornehm."
+
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern
+der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler."
+So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber
+geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines
+Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom Zentralhotel hat
+diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort warten."
+
+Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses,
+die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der
+höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und
+Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor
+Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten,
+flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der
+Rudolf Meier!
+
+Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so
+erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem
+schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior
+ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag
+erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr."
+
+Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier
+von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm
+zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der
+Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell
+ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr
+Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in
+Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung
+gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer weiß,
+wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen dieser
+Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: "Das
+erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für
+ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler
+bekommen als Fräulein Vernagelding."
+
+"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr
+Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine
+Marterstunde."
+
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die
+andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war
+schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die
+Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen
+geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau
+Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute
+schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte,
+Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.
+
+Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich
+eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig
+herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen
+der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des
+Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel
+jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr
+Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber, lachte
+und spaßte mit den Schwestern.
+
+"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen
+heißt so?"
+
+"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es
+eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie
+und Anne, aber so ist's eben bei uns."
+
+Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes
+Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+
+"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu
+spielen," richtete Marie aus.
+
+"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es
+lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen
+Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint
+Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer,
+ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die
+Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch
+nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den
+Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch
+zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß
+die, die recht musikalisch sind."
+
+Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so
+plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner
+Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen.
+Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie
+mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so
+elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit mehr
+verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ."
+
+"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen,
+ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick
+nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres
+Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.
+
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen
+ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts
+zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am
+schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und
+im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das
+Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein und
+fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte
+vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es euch im
+Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie, Cäcilie," und
+seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche herbeigeholt werden.
+Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum meine Tassen
+abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen sein!"
+
+"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch
+musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube
+kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre
+Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein
+wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch
+erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen
+empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf
+Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon, spricht
+mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, kein
+Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so einem
+Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte mir
+nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen,
+und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die
+Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen
+Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich
+die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier
+fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich an und stellte mich
+dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling vor. Eine Weile
+blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz nahm, empfahl er
+sich.
+
+"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht
+mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen
+durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei
+jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle
+ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in
+die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt davon,
+daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen sollten, und
+ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die Unterhaltung war
+auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch,
+versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da
+meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+
+"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen
+Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein
+Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber
+allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter
+und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei
+lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für
+welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas
+überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich
+ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher
+Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr
+Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach ihr
+um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich wäre
+allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, aber
+zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich.
+
+"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer
+näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir
+uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine,
+und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte
+Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei
+Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der
+war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung mochte ich nicht
+machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine Hotelrechnung
+stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, begleiteten die
+Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit war vorbei und
+die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich vergessen hatte.
+
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er
+hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in
+der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er
+ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich
+wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir
+zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet worden, diese
+Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich habe ihm auch
+gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter sehe, werde ich
+ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger Bursch bist, gib
+dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du bist! Er
+macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines
+Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut."
+
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man
+sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."
+
+"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden
+bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges
+Jubellied gesungen werden!"
+
+Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der
+General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher
+Deutscher."
+
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen
+Aufsatz machen."
+
+Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die
+Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau
+Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer
+Glacéhandschuhe."
+
+
+
+
+5. Kapitel
+
+Schnee am unrechten Platz.
+
+
+Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der
+erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen
+stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das
+ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der alles
+verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und
+glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die
+Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen
+des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+
+Dezember--Schnee--Tannenbaum--Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier
+nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch
+eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich
+verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.
+
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden
+Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie
+wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen
+Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde,
+klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke
+herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter
+ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er
+sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu
+dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im
+Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.
+
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge
+Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch
+unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.
+
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem
+Christbaum nicht den Platz?
+
+ * * * * *
+
+Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch
+den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit
+dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die
+Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren
+die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee
+bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt
+werden.
+
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und
+sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein
+großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem
+Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze
+auf.
+
+Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas
+sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und
+öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus
+vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle
+beladen mit Christbäumen.
+
+"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der
+Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als
+er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch
+einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann
+nach.
+
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem
+richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand
+voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und
+richtete dadurch Unheil an.
+
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo
+einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein
+hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer
+der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen,
+indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat,
+seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die
+anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn
+nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit
+warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde
+eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht
+der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig
+auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz
+für den Schnee!
+
+Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so
+schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige
+Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus
+Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht
+an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.
+
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht.
+Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und
+erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees
+abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und
+Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr
+Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem
+Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle
+die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun
+freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen
+sahen, liefen auf und davon.
+
+Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach
+seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der
+Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören.
+
+"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete
+die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+
+"Die Wohnung?"
+
+"Frühlingsstraße."
+
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir
+auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein
+"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein
+Name.
+
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling
+schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist
+das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's:
+fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich
+aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie
+ich."
+
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser
+Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig
+zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder,
+mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht
+so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er unwillkürlich auf
+seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen Bruders gutmütiges
+Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte beugte, die vor ihm
+lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken
+saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu
+dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren
+Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er
+achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter
+seinen Stuhl kam.
+
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah
+überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was
+ist's, Vater?" fragte er.
+
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da
+und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du
+angestellt?"
+
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann
+doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn
+getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr
+Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an
+des Vaters Hand, daß es klatschte.
+
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft
+beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf
+diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein
+Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar
+fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der trotzdem auf der
+Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch
+genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen
+gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklären. "Muß ich
+denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?"
+
+"Um 11 Uhr."
+
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem
+Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die
+Sache noch ins Zeugnis!"
+
+"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen
+sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+
+Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du
+nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem
+Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?"
+
+Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der
+Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein
+ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um
+einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar
+nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!"
+
+"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen
+haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert.
+Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich:
+"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr
+niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude
+aus dem Hause gewichen.
+
+Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen,
+berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde,
+und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und
+sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der
+Polizei hört, dann kündigt er uns!"
+
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das
+Schreckgespenst, die Kündigung!
+
+So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie
+auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein
+Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine
+Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr
+doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte
+zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von
+vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen."
+
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
+erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die
+übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu
+Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+
+"Es ist nicht wahr."
+
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es
+deutlich gesehen."
+
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als
+der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner
+Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn
+Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte
+er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß
+Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir auch
+ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon
+störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute,
+wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich
+sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+
+So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht
+zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer
+Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen
+vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde.
+
+Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors
+das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten
+Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes
+Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden.
+Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er
+ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz
+fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster
+Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um
+ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun
+war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr. l2.
+Vor diesem Zimmer stand ein Mann--und das war Herr Pfäffling.
+
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze
+Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte
+ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,"
+sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"
+
+Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.
+
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache:
+Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit
+Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das
+Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.
+
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber
+weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast
+mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort
+heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte
+wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach
+der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, und Sie
+werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem
+Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär
+Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines
+Vergehens entschuldigt hat."
+
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit
+als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht
+mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht
+möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"
+
+"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und
+der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen
+Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu
+kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein."
+
+"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um
+solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie
+es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der
+Sache war."
+
+Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach
+der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen
+der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte
+noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort,
+indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn
+gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort
+aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat,
+der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf
+Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in
+aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich
+nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann:
+"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der
+rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich
+aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes
+Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+
+"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."
+
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe
+hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir
+den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht
+lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer
+Klasse."
+
+"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich
+kann ihn doch nicht angeben?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und
+deine Menschenkenntnis ist nicht groß."
+
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,"
+sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus
+ist."
+
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das
+Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst
+nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem
+Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren
+Schulhof!"
+
+Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief
+Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen
+bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal
+erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel
+besser vorgebracht."
+
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht
+glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft
+möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke
+ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann
+schweige ich lieber."
+
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau
+mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge
+Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer
+recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte
+du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu
+demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt
+du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt."
+
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte
+Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den
+Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von
+Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht
+haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er
+es eben versteht."
+
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz
+gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des
+Vaters Hand, küßte sie und lief davon.
+
+Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
+freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt
+nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine
+Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut
+vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der
+Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen
+Schriftsteller.
+
+"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der
+Professor nach der Stunde zu Wilhelm.
+
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht
+aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem
+angegeben."
+
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete
+Wilhelm.
+
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden
+sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war
+unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann
+aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den
+falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern
+fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts
+geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht
+übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts
+macht."
+
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief
+Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem
+Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann
+nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich
+durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe
+hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es
+so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere
+um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis
+um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen
+des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd
+am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm
+vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht _ein_ Gesicht
+erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den
+Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß
+er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht entgehen.
+
+Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so
+peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan,
+was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder:
+'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung
+alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am
+liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte sich
+sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: 'Wenn
+Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu Hause
+gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten,
+wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld für
+sie verwenden?
+
+In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr
+nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter
+das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft
+hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten
+die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn
+sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die
+doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob
+nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer
+daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen
+gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder
+fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war
+schuld.
+
+Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen.
+Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief
+die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte
+heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie
+nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.
+
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter
+Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände
+waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf
+die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte
+sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie
+aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem
+vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit
+hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die
+Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung
+vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in
+ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf
+dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr
+Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, sie
+allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles gelöst
+hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!"
+
+Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch
+Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz
+andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen
+Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben
+stand:
+
+ Man bittet die Türe zu schließen!
+
+Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts
+helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.
+
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel
+ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig
+flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind
+manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß es
+mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen."
+
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die
+Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam--eifriger sprechend als
+sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen--noch flinker als gewöhnlich,
+ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so
+weit sie nur aufging.
+
+Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den
+guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß
+heute etwas besonderes los war.
+
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas
+kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+
+Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau
+Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die
+ganze Familie am Essen. Aber doch--zwischen Suppe und Fleisch--sagte die
+Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter
+geworfen?"
+
+"Vergessen!"
+
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+
+"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch
+nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht
+verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich
+nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem
+Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.
+
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer
+es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast
+jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr
+Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren.
+
+"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß,
+wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders
+für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn
+Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn
+ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter
+machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen."
+
+Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt
+werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der
+Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem
+Gymnasium ausgewiesen.
+
+Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock--eine
+Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.
+
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling
+sagen.
+
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht
+auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas
+anderes gemeint?
+
+
+
+
+6. Kapitel
+
+Am kürzesten Tag.
+
+
+Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe
+Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel
+steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als
+diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den
+Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie
+gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen
+den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander
+wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der
+Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die
+wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse
+und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume!
+Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und
+Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt
+waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.
+
+Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und
+Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner
+Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt,
+kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich nicht
+trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er selbst,
+saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser
+Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie
+standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen
+gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+
+"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand
+legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem
+Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen
+hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine
+Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den
+Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und
+legte ihm den Baum über die Schulter.
+
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte
+die Dame.
+
+"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume
+geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm
+heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame.
+"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur
+nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch
+unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der
+Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der
+andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß
+er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es
+aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so
+mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen,
+freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen
+Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet
+wären oder gar der Vater!
+
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die
+Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum,
+obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn
+oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel
+entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne
+daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun
+schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden
+Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm
+entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch
+deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm den Baum
+unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du,
+Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch
+deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch
+die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden
+gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43
+und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer
+zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen,
+aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmädchen wußte es
+ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr
+auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47.
+Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die
+Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe
+setzen, um auszuruhen.
+
+"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist
+Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun
+lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die
+richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich
+selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43
+vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr.
+Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und
+größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als er
+wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt
+hingehen wollte--heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die
+Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts
+mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+
+Und es war wirklich höchste Zeit.
+
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber
+Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder
+hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag
+weggeblieben!"
+
+"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife.
+Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu
+ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder--was sollte dem
+zugestoßen sein--, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die
+Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen sei.
+"Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, als nun
+die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von
+Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, fröhlich
+und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?"
+
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört
+hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch
+in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man
+nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl.
+
+"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg
+zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der
+Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht
+machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den
+Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen,
+den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen dürften." Da
+sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu
+Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart.
+
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja
+noch ein wenig mit dem Essen warten."
+
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die
+Kinder.
+
+So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er
+es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und
+bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling
+merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da
+stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf
+der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?"
+
+Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie
+man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn
+nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie
+meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser,
+"ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und
+wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hören,
+auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders
+Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du
+kleines Dummerle, du!"
+
+Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt
+sich denken.
+
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner
+rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit
+Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus
+zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen,"
+entgegnete Karl.
+
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde
+ich mich schämen."
+
+"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl
+ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke
+stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte
+spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle
+nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'"
+
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird
+so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein
+Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie
+schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte
+sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies
+oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht auslegen.
+Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs Leben, fühlt
+sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf Meier ab."
+
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe
+dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in
+die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.
+
+Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir
+nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht
+gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."
+
+"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir
+ein Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+
+"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen
+Pfennig mehr."
+
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins
+Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so
+lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem
+alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+
+Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto
+mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als
+Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte:
+"Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn
+sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du
+doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen,
+nicht?"
+
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach
+war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller",
+das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock
+stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe.
+
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein
+wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als
+Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen,
+war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen
+zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er
+mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich
+auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war Frieder schon
+längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war nicht so, das
+konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten gefragt wurde:
+wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich erzählen, daß er
+nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum getragen, und dann mit
+einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch schon wieder
+jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja die
+Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch
+und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum.
+"Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast
+alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die
+kommen wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu
+Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht
+verstehen, warum er nicht oben oder unten bei anderen Hausbewohnern
+angefragt hätte. Daran hatte er eben gar nicht gedacht. "Deshalb gibt
+man solch einem kleinen Dummerle einen größeren Bruder mit," sagte Frau
+Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos ist und vorher umkehrt,
+dann ist der Kleine schlecht beraten."
+
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem
+Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück,"
+und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von
+seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon.
+
+In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und
+sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch
+noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo
+bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar
+nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht
+mir."
+
+Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen
+jungen Pfäfflingen gemacht hatte.
+
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er
+kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe
+nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt,
+ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da
+konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr
+wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken."
+
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+
+"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten
+kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen
+Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?"
+
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit
+seinem Baum heimwärts.
+
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter
+angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe
+geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte,
+und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie den Baum
+sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins Zimmer.
+"Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, der
+unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht aufgemacht,
+wenn man noch so oft klingelt!"
+
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab
+ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum,
+Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam,
+ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er
+merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte sie
+eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte er
+schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so gefürchtet,
+daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann heiße ich
+dich einen Feigling!"
+
+Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte
+und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu
+vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten
+Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem
+Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der
+Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und
+ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich
+kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn
+um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für
+feig."
+
+"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar
+schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über
+dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur
+ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein
+kannst."
+
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten,
+fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er
+zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen
+Musikalien auf. "Willst du etwas?"
+
+"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon
+welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt
+gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von
+meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld,
+die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem
+Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war
+auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!"
+
+
+
+
+7. Kapitel
+
+Immer noch nicht Weihnachten.
+
+
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der
+Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade
+das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das
+Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie
+zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die
+schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von
+Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß
+die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen
+redeten, die sie bekommen würden.
+
+Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß
+morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig
+und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es
+gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+
+"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel
+ist zurzeit noch keine eröffnet."
+
+"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch.
+Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag
+nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal
+nichts zu machen war.
+
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der
+letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie
+nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise
+geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer.
+Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es sich,
+daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die geringste
+Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl 4 war
+bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm
+sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß ein paar
+Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht doch auf den
+ersten Blick den Vierer."
+
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+
+"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"
+
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater
+darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es
+nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"
+
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren
+inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder
+auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt,
+ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie
+fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, und der
+Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon zufrieden sein."
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen
+soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und
+zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und
+dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz
+des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt
+sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen
+anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in
+einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter
+nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben
+werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte man
+nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das beste
+Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis
+gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte
+Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+
+"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur
+von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten
+bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft
+wieder, Karl?"
+
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."
+
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat
+sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.
+
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es
+übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht
+nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr
+Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das
+Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß er
+in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse
+bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was wir
+für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen ist?
+Magst du raten, Vater?"
+
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich
+es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis
+drei vielleicht?"
+
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+
+"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und
+Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will
+ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal
+unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling
+noch von der Treppe herauf.
+
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber
+sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da
+niemand in die Hände fallen.
+
+Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel,
+denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten
+und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal
+stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer
+waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels
+stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt
+seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling,
+nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit herrschte
+in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand
+ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der
+Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen
+wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm
+ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen
+feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den
+Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr
+artig und sagte: "Man hat seine Not mit den Leuten, heutzutage taugt das
+Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt Rudolf nicht auf seine Rede, ohne
+ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei, die Treppe hinauf.
+
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf
+seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den
+Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm,
+er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr
+Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die Brüder
+Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, sogar
+Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch empfinden, es
+mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter war! Der kleine
+Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie geringschätzig Herr
+Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten sich dann die
+Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er wohl. Ja,
+er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+
+Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe
+hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner
+Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert.
+
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm
+die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen
+Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein
+Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut
+selbst keine! Der Sohn wird nichts."
+
+Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und
+hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, über
+den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er
+wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen
+Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos
+an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte
+vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis,
+sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu
+kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen.
+
+"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere
+Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur
+Arbeit."
+
+Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater
+sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch
+wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war
+und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß
+ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie
+begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß.
+Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her
+sein."
+
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen
+anleiten?"
+
+Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar
+nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein
+gewöhnlicher Schuljunge war?
+
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien
+Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."
+
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich
+weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu
+geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger,
+feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen können und darf
+keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir
+dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen uns manche
+spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein
+Welthotel so mit sich."
+
+Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und
+der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er
+offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor
+der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen,
+die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand
+auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte
+Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen:
+
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft
+von den Gästen abgehalten wird."
+
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern
+kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem
+Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen
+Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der
+von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht
+merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in
+Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit
+gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit
+dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus
+eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du
+siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den
+schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von
+der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während
+sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins
+Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen
+Saal.
+
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die
+Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke,"
+sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber
+um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+
+Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach
+einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie
+Platz nehmen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er
+sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch
+begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+
+"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann
+sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr
+Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie
+ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der
+tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von
+beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den
+Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein
+Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er
+dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort
+von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus
+ihm werden, aber so nicht!"
+
+Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen
+nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und
+kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles
+sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur
+ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir,
+daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus
+vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie
+sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde
+für sein Wohl sorgen."
+
+Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie
+dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt
+habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen,
+was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es
+die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und
+wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das
+eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind
+ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn
+ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen Charakter?' Darin kann ich
+die Menschen nie verstehen!"
+
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein
+Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache
+gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht
+aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
+
+"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts
+erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch
+er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte
+nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen
+wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu
+überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht:
+"Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestüm wie
+vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz aller
+Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute
+einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+
+Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er
+sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen
+Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis
+zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon
+war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg
+lief, zurief:
+
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich
+will sie sehen!"
+
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse
+müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu.
+"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List
+mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck
+und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer.
+
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als
+sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."
+
+Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine
+List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend
+etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar
+fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er
+überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst
+Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein,
+nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften
+Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten.
+
+Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut
+brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte
+viele Sünden anderer gut machen.
+
+Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da
+war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie
+sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute
+Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie
+war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne
+Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die
+Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei diesen
+Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die
+Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und
+recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer zwei I,
+durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+
+Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes
+entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und
+staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben!
+Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung des Lehrers
+waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das
+nur? Es mußte wohl mit der Harmonika zusammenhängen, die ihm früher alle
+Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling
+hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien
+vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall
+gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte
+er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn
+das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er
+warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang
+ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr
+Pfäffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so
+schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie
+dumm, zu meinen, der Vater ließe sich auf diese Weise überlisten!
+Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen.
+
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis
+etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl
+nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis.
+
+Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an
+seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war
+Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend
+ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran,
+daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und folgte
+ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr,
+Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich
+erinnerst."
+
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden
+immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+
+"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor
+Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal
+alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!"
+
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre
+Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem
+Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng
+aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die
+Durchschnittsnote hervorgegangen.
+
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur
+gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und
+Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet
+man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als
+mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns
+darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+
+Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen
+Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um
+den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen
+wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht
+verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen,
+nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!"
+
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch
+Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann
+kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was
+machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden
+kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit
+meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie
+wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast
+das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen.
+Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem
+Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den
+Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her.
+Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch
+nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß
+sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht
+das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es
+keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her, suchten die
+geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und
+Schüler zu sein.
+
+"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit
+den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie
+in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?"
+Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens
+fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien
+und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal
+geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht 'herein' gerufen."
+
+Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch
+immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie
+nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte
+Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie
+langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon
+verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen
+geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"
+
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als
+aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein,
+machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf
+hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll
+aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt
+beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem
+Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige
+Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+
+"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur
+so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_
+Noten spielen, die da stehen."
+
+"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch
+nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch
+nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich
+weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich
+auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit
+zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling."
+
+"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie
+ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht,
+denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird."
+
+"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"
+
+"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer
+sein?"
+
+Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in
+rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte
+zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8.
+Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und
+diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu
+haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer
+und seiner Schülerin.
+
+In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt
+hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das
+über einen Meter lang herunter hing.
+
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein?
+Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden,
+Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine
+Tastendecke für das Klavier erkannt.
+
+"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein
+Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich
+bitte dich, nimm mir das Ding da ab!"
+
+Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden,
+seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen.
+Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den
+Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge
+im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht,
+aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines
+Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig
+Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige,
+die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd
+hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glückliches Paar, nicht wahr?"
+
+Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater
+zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu,
+Cäcilie?"
+
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"
+
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein
+Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine
+Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich
+vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es
+war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte den
+Regenschirm bei mir."
+
+"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein,
+"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man
+sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm
+trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes
+Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als
+mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu
+Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges,
+dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe
+hatte, mein Lachen zu unterdrücken."
+
+"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können,
+sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und
+um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine
+Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein
+gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich
+warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst
+dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich
+wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz
+Besuch machen wollte."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter
+hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete.
+Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm
+in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum
+Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich
+sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und ungeschickt."
+
+"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling
+ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an,
+wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht
+lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich,
+was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt,
+meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du
+lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn
+Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort
+und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei,
+im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der
+Lachlust."
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie
+haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht
+gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr
+Pfäffling.
+
+
+
+
+8. Kapitel
+
+Endlich Weihnachten.
+
+
+Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute
+ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an
+keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht
+und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so
+dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der
+Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6
+Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne
+eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt
+wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke
+ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet
+werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Großmutter
+Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche befriedigt
+wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte.
+
+Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der
+etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus
+dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die
+allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit
+war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt
+ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich
+sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie
+hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was
+sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir einen Puppenwagen
+und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die Frau,
+"darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's
+kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch
+dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen
+den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles
+aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß
+es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr
+schön am heiligen Abend."
+
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch
+noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen
+Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen
+auch nicht viel--das können Sie sich denken bei sieben--aber weil keines
+vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung doch groß.
+Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas
+von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen Abend? Das
+käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf
+keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet ist und
+alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann
+sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn
+auch gar keine großen Geschenke daliegen."
+
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen
+Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."
+
+"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.
+
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht
+und Lichter dazu."
+
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den
+Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier
+zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke
+mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas
+bekommen, oder nicht?"
+
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein
+kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder."
+
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr
+tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel
+gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon
+auch daran freuen."
+
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag
+gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der
+Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie
+haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan
+habe."
+
+"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will,
+als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine
+Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein
+Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir
+versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau
+Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schöne
+Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie
+herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem
+Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule?
+Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn
+ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen
+Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir,
+Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen
+Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war."
+
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen
+Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben."
+
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen
+allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das
+können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die
+Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die
+Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht selbst
+wollen."
+
+Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als
+diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der
+Schlüssel abgezogen.
+
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an,
+darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie
+gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt
+nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus
+hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr
+dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so."
+
+Da ergaben sich die Kinder.
+
+Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher
+Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling
+und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen.
+
+"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche,"
+sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben
+besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien
+Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge
+Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und pflegte
+das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen Klammern
+nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren. "Einen Stuhl
+holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das
+unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," so
+war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto
+gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab
+es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs
+Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren
+Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den plötzlichen
+Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?"
+
+"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht,
+wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben
+darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und
+mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der
+Strumpf fiel herunter.
+
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+
+"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher
+grau und schwarz, denen schadet das nichts."
+
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre
+Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle
+Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten
+sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten
+Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob
+es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen?
+
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid
+herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine,
+sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der
+Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen
+den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und
+ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es
+sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das
+Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch
+eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein
+kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den
+Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel
+nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam
+von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch
+nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen.
+Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling,
+"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch knapp
+sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den
+Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom
+gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr
+Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf
+dabei an ein großes Stück Braten denken!"
+
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder
+herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd
+davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es
+Ernst!
+
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die
+kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte,
+wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck
+da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und
+oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern
+Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen,
+es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen
+und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des Baumes kaum mehr
+zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch
+ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind vor dreißig
+Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten
+Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran
+ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es
+anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen
+nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten
+deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch
+jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen
+Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders
+aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten des
+Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die
+mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen
+begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm
+die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in
+Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr,
+als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes
+Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so
+feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das
+Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch
+des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten
+Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+
+Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus
+dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine
+Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die
+Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen
+aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht
+frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich bereit macht,
+nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht leuchtete
+verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen
+hervor.
+
+Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten
+Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den
+Baum anzünden?"
+
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich
+bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen
+Jubel Kraft zu sammeln."
+
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl
+noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und
+schließe die Augen."
+
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur
+drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder
+frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache
+Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen
+anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in
+den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen
+Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die
+Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter
+ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange
+er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen
+und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu,
+nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird
+das Kinderglück.
+
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht
+dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war
+sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen
+kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen
+Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe
+und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte dies
+in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des Tannenbaums--ja
+die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
+
+Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den
+Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war,
+stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden,
+zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm
+er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das
+Verschen:
+
+ Fideln darfst du, kleiner Mann,
+ Vater will dir's zeigen.
+ Aber merk's und denk daran:
+ Immerfort zu geigen
+ Tut nicht gut und darf nicht sein.
+ Halte fest die Ordnung ein:
+ Eine Stund' am Tag, auch zwei,
+ Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er
+drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich
+sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die
+Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den
+Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen
+und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von dem,
+was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte _reine_
+Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit glücklichem
+Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem Leben," sagte
+Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen kleinen
+Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+
+"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding
+geschickt!"
+
+"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?"
+
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche."
+
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"
+
+Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre
+neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch
+gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe.
+"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz
+außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau.
+"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den
+Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es
+wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles
+gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+
+In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie
+war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht
+worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren
+großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute
+morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte,
+aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen. Wenn
+jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen
+Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während
+Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern
+in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs
+Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Mädchen.
+Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch
+nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber
+unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu
+stehen?
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde
+zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der
+Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo
+ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam
+zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg
+rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur
+ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh
+sein."
+
+Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen
+Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im
+Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise:
+"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten
+sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht
+man so gut an, daß heute Weihnachten ist."
+
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie
+wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis
+endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch
+der Ruhe bedürftig sein," sagte er.
+
+"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut
+hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem
+Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem
+Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem
+kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und
+weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er
+wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel.
+Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal
+herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit
+festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg
+kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz
+entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das
+freut für Walburg!"
+
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem
+Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?"
+
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht
+kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es
+rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten
+Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da
+draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden."
+
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person,
+wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz
+finden."
+
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten
+Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den
+Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg
+zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist."
+
+Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in
+ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen
+kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor
+der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam
+geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer
+getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie
+hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen gehören.
+Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die breite
+blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu
+Ehren kommen!
+
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste
+sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
+
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es
+war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen.
+Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön
+aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht
+und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen
+und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe
+lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht
+bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon
+erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle
+sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte,
+war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling
+nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er
+wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben
+beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine Schulfreundin und
+lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und
+wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen übrig,
+die begleiteten ein wenig traurig die Großen hinunter, kamen dann aber
+um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie
+eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen.
+
+So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war;
+ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der
+Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie
+viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man
+sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was
+_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf und
+hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte
+sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie tun
+wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme zu
+dir!"
+
+Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen
+Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80
+jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ nicht
+die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim.
+Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn
+auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze,
+eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten Mitteilungen schicken
+können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich
+einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und es gab einen langen,
+langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in
+dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau
+Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief
+viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und
+davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch
+festhielten: Ein jeder trage des andern Last.
+
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen
+Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und
+zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und
+große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des
+Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau
+Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich
+zu euch.
+
+Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und
+Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau
+Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen,
+fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich
+nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, ihm
+und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt
+hatten, Walburg stand vor der Türe.
+
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst
+mit dem letzten Zug erwartet."
+
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln
+zusetzen?"
+
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst,
+wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich
+bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's
+nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser,
+die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe
+hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam
+faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe und
+legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte. Dann
+schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die alte
+Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen Wände
+ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so öde und
+leer in ihrem Herzen.
+
+Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet
+neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du
+tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer.
+Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen
+Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir
+geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die
+Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl
+recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat
+er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die
+Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie
+sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch
+auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?"
+
+"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir
+verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's
+lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da
+wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll
+Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der
+Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie
+freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie
+nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt
+und das Essen nicht gerichtet ist!"
+
+Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so
+traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch
+Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei
+uns recht heimisch fühlt."
+
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört
+sie."
+
+Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen
+noch geigen? Wie heißt dein Vers?
+
+ "'Eine Stund am Tag, auch zwei,
+ Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+
+Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden
+gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben
+Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem
+traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit
+des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit
+auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den
+Mitmenschen.
+
+
+
+
+9. Kapitel
+
+Bei grimmiger Kälte.
+
+
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man
+die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus
+den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war
+das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke
+einschlagen, ehe man es benützen konnte.
+
+Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch
+zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem
+Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen.
+"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie
+erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über
+Nacht eingefroren.'"
+
+Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb
+daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz
+besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern
+stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches
+teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse
+warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen
+Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war
+einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf
+Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende
+Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar
+gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der
+Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der
+alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach
+sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen
+ein eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten
+Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem
+Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar
+nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für
+einige Tage würde sich die große Reise gar nicht lohnen."
+
+Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch
+äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck
+machte, wenn es doch einmal geschah.
+
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+
+"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr
+Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder
+groß sind und Walburg so zuverlässig ist."
+
+Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte
+dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und
+versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich
+zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den
+Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte
+mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar
+bringt!"
+
+Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen
+wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den
+Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei
+Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute
+hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem
+er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und
+Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg
+frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl er
+nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im
+Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß
+doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es
+sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+
+"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen
+Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So
+ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als
+fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede
+wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?"
+
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ
+den Mantel fahren und rannte davon.
+
+Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den
+Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten
+bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von
+Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den
+Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.
+
+So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit
+wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf
+das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder
+angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen
+würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach
+Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln
+versehen waren, weinten vor Kälte und die Fingerspitzen wurden in der
+Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie noch klagend im Zimmer
+herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. "Habt ihr
+denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau Pfäffling. Da
+kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man sich den
+Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen
+habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt
+hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.
+
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
+Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast.
+Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist
+gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt,
+ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben
+uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzählt.
+Kommt, wir wollen beten:
+
+ "Herr wie schon vor tausend Jahren
+ Unsre Väter eifrig waren,
+ Dich als Gast zu Tisch zu bitten,
+ So verlangt uns noch heute,
+ Daß Du teilest unsre Freude.
+ Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei
+Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie
+vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man
+wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der
+Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert
+ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das
+vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen
+hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen
+Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise
+zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler
+Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen
+des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar
+begabten Knaben mache.
+
+Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß
+unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares
+Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule
+gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer
+der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude
+auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb
+dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine
+Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum
+80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur
+Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem
+Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer
+war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu
+eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit
+halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr,
+der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier
+erzählt?" fragte er Otto.
+
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+
+"Hast du nichts näheres darüber gehört?"
+
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich
+weiß nicht mehr."
+
+Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand.
+Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres
+erfahren.
+
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel,
+im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt,
+und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen
+Winter.
+
+"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?"
+meinte Herr Pfäffling.
+
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen.
+Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie
+sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie
+keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen
+Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen
+Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere
+anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er,
+"ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände
+sind nicht steif, wir können gleich spielen."
+
+Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel.
+"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des
+Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist
+übrigens jetzt nicht mehr hier."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich
+gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der
+Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges
+Familienleben hinein.'"
+
+Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat
+recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig
+sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land
+ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser,
+die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland haben
+wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen
+nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon
+in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von dieser verdorbenen Luft
+schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns
+entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurückzulassen,
+wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl in der nächsten Zeit sein
+muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit in Briefwechsel mit
+einer Berliner Anstalt."
+
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne
+standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte,
+daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren
+schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer
+Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme
+Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland
+bessere Zustände bringen!"
+
+Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er
+unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen
+Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über
+das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die
+Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht.
+Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber,
+gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!"
+
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie
+auseinander.
+
+Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine
+Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler,
+ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn
+das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf
+den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem
+ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche erklang es.
+Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein
+herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich dadurch nicht
+bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" fragte er.
+
+"Nicht lange, Vater."
+
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast?
+Sage mir das genau?"
+
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu:
+"Aber das ist doch noch nicht lang her?"
+
+"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon
+heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei,
+Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht,
+sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche
+bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der
+Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen.
+Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem
+Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann
+reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab
+sich.
+
+Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht
+verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie
+sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen
+füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und
+fragte: "Darfst du denn nicht spielen?"
+
+"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.
+
+"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die
+Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner
+Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen!
+
+Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen
+Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie
+zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme
+fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im
+Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet
+und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das
+Familienzimmer zu seiner Frau.
+
+"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein
+fand, fragte er ungeduldig:
+
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+
+"Sie ist draußen und bügelt."
+
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+
+Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir."
+Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme
+gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben."
+
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und
+in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".
+
+Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau
+Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der
+Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen
+Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich
+in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete Frau
+Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die Doktorsrechnung? Sie
+kann doch nicht sehr hoch sein?"
+
+"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"
+
+"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von
+Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle
+Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen
+besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still,
+du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel
+Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber
+sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh
+sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt
+wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+
+"Ja," schluchzte das Kind.
+
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja
+noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere
+Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es
+ist doch immer alles gleich bezahlt worden?"
+
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß
+diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet
+wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt
+gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die
+Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!"
+
+Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr
+der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling
+schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte:
+"Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die
+einzige an Neujahr ist."
+
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen,
+als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und
+die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten
+bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung
+sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief
+hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater
+geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den
+Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie
+und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte
+Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das
+anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche
+Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch
+warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen
+herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter Miene,
+suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den
+Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte
+sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht
+gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen
+nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad
+Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch
+zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es
+sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus
+und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn
+man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!"
+
+Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt,
+und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik
+geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte
+Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er
+schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem
+ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht,
+dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch
+vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr
+geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die
+alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater stammen?' So hat der
+Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen können?"
+
+"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."
+
+"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.
+
+"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."
+
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+
+"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter;
+wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht
+so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung
+nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man
+durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen
+es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen. Darum zahle
+du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt
+bekommen?"
+
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+
+"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die
+Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder
+eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich
+darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt
+mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr,
+Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag
+dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war.
+Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler
+tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke,
+eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater,
+auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn
+freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie
+nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!"
+
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte
+vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte.
+Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei
+zwanzig Grad Kälte!
+
+
+
+
+10. Kapitel
+
+Ein Künstlerkonzert.
+
+
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt
+hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende
+Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die
+Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische
+Wunderkind einen solchen Reiz ausübte.
+
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um
+seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal
+musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann
+nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen
+ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den
+Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden
+jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der
+jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten.
+Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den
+großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den
+beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und
+warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.
+
+"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General,
+"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu
+überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch
+anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!"
+
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz
+machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für
+das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und
+Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling
+verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig
+anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier
+herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers aufmachend. "Ich
+wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute wieder vollauf in
+Anspruch genommen?"
+
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken
+als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch
+und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach,
+was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es
+vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester
+ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den
+Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation."
+
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir
+sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen
+habe. Was schreibt Ihr Sohn?"
+
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben
+finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über
+seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er
+ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum,
+wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern
+schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner
+Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte
+ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl
+Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.
+
+"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre
+Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das
+Telephon."
+
+"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich
+alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie
+wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders
+auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen
+Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich
+im Konzertsaal abspielt."
+
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur
+Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt
+oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir
+ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit
+oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein für
+Ihren Rat, Herr Pfäffling."
+
+Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
+verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal
+einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie
+wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit
+zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte.
+Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte
+Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen.
+Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie
+sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer
+Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der
+Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war
+in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden
+Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die
+jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache
+aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit,
+daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben hätten,
+selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die Stunden
+beilegen wollten.
+
+Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen,
+wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in
+der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte
+Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling
+kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten fröhlichen Miene
+heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, daß reich oder arm
+nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der Direktor hatte
+mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte,
+auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben
+worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen.
+Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für
+Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte
+einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er,
+"ich säße nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch
+nicht einmal die 60 Mark beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute
+das Geld geschickt hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute
+sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich
+wäre, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht!
+Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr
+schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in
+das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch
+bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt,
+soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und
+warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei
+man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man
+nicht bitter werden!"
+
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+
+Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis
+Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu
+Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen
+Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling
+sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen,
+aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie für vier
+Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden."
+
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer
+waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt,
+alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das
+Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch
+langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den
+kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune
+erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.
+
+Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele
+Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der
+Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche
+Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen.
+"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht
+in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn
+das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde in dem
+Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein
+Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn aufzuheitern.
+Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder
+verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn
+zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie
+mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug
+wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!"
+
+"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und
+verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das
+stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also
+auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte
+er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser
+ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf
+doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr
+Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung:
+Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft,
+temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes sicherlich sein. Er
+ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer
+Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine
+Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich
+bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen,
+zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber
+rasch!"
+
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor,
+und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten
+um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie
+sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider
+sei."
+
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie
+waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu?
+Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur
+Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte,
+er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich
+genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich
+Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er kreuzfidel
+würde!"
+
+"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du
+es auch zustande bringen. Und Frieder?"
+
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten.
+Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem
+niedlichen Gestältchen."
+
+"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu
+schüchtern? Wir wollen sie fragen."
+
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer,
+hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und
+Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte
+bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen.
+Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges
+Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem
+wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt
+kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?"
+
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann
+ich schon fort."
+
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die
+ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.
+
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange,
+ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick
+von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er
+sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das
+entspricht, wird sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit
+Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen
+gerafft und war schon unter der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr
+Meier an. "Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink," dachte er
+und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst
+einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise,
+aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von
+Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur
+spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch."
+
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das
+"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber
+Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn
+sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte
+Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile
+haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen." Herr
+Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte, aber er hatte
+inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war erfolgt und durch
+die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum
+nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr
+einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte
+und sagte: "Wie macht man denn das?"
+
+Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in
+ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem
+nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte
+freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt
+entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte
+ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte,
+ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen
+Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu
+der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
+herein, bloß heute, weil er lustig sein will."
+
+"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist
+Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder
+nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein
+schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem
+Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen.
+
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas
+sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche,
+blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und
+wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen,
+die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele
+mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er
+kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher
+Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die ihn viel älter
+erscheinen ließen.
+
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich
+mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir
+möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+
+"Was willst du tanzen?"
+
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders,
+der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte.
+
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum
+Tanz führen.
+
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."
+
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken,
+für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu
+machen.
+
+"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen
+Walzer vorpfeifen."
+
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und
+sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter
+ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte.
+Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin.
+Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt
+hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den
+Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein
+rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter
+die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in
+unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner
+Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
+das Fräulein. Sie wußte es nicht.
+
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die
+Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das
+Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und
+sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand
+alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen
+möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle.
+Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der
+Mutter hatten nur Tränen zur Folge.
+
+Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt
+doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen
+sich schon so lange auf das Konzert!"
+
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte,
+sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das
+Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so
+langweilig, während du singst und Papa spielt."
+
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht
+kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich
+habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele
+Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er
+drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht
+kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch
+tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief
+den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint und
+jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verständig,
+aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute
+abend."
+
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand
+und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden
+Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden
+nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt.
+Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte
+er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den
+Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal
+bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl
+tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten dir
+dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt noch
+leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein
+Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja,"
+rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben
+darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch
+arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen
+zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei sein,
+wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut!
+Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen
+Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
+so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut
+lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn
+rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde
+redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute
+abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fräulein
+und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der
+Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so
+lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer fragen."
+
+"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt
+es."
+
+Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er,
+"woher weißt du das Zimmer?"
+
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser
+Konzert?"
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich
+mehr darüber freuen, als mein Vater!"
+
+Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei
+schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern
+war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte
+wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest
+versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und
+Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm
+zu machen, wurden die Kinder entlassen.
+
+Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell,
+schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist
+schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+
+So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr
+erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die
+Freitreppe vor dem Hotel.
+
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren."
+Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und
+kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber
+die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des
+Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine
+Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter
+Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so
+kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen
+holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im
+Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen
+Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.
+
+"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen
+bis nach Rußland."
+
+"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten
+Woche nach Berlin reist."
+
+"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."
+
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah
+erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das
+gesagt?"
+
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General
+selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen
+vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+
+Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung
+zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der
+Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und
+sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht
+ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen, dann
+durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die
+Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle
+auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und
+Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu
+rechter Zeit bekommen!"
+
+In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau
+Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie
+kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und
+her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den
+Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend Musik,
+Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr Pfäffling
+hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder sein, ob
+_sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie, singen,
+Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also: die Treppe
+hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: "Es hält
+eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt
+ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand
+inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber
+so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen
+seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja
+ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler
+selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den Freudensprung
+machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte, enttäuscht wäre
+dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf der
+Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst schnell
+die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der durch
+die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.
+
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es
+diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag
+herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht
+überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die
+Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so
+pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen
+hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß
+für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden
+verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie
+gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und
+sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie
+du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont
+wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel
+und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!"
+
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+
+Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet
+hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die
+Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die
+Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling und
+Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau
+Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem
+kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu
+Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter
+Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu
+vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit
+dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso
+strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten
+und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der
+Familie für das Konzert richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder
+nicht mehr spielen will," sagte Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn
+sich zu dir setzen und erzähle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika
+und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn
+du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist,
+mag man gar nicht lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder
+ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht
+krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte
+Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm."
+
+So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem
+schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet
+nachträglich zu verdienen.
+
+Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn
+begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin
+allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand
+in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter,
+die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt
+dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes
+Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine Purzelbäume,"
+entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+
+"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im
+Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben
+hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt
+hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für
+Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?"
+"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das
+Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später
+kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr
+Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre
+Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide
+der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand
+des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm,"
+die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der
+sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann
+eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem erhöhten Teil des
+Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm
+konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen,
+aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar
+empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe und von den
+wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge entzückten, drangen
+nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer.
+
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat
+unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine
+deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund
+antwortete nicht.
+
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat
+vorhin darnach gesehen."
+
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen
+sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht
+ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn
+dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu
+weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden,
+Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall
+klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die
+Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm
+ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte
+er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er
+vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm
+dröhnte aus dem Saal.
+
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß
+noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens
+hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch
+manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß."
+
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so
+etwas habe ich noch gar nicht gehört."
+
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es
+nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem
+Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl
+geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer
+zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die
+Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und
+ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.
+
+Im Saal erklang der Konzertflügel.
+
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an
+das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist,
+wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir
+bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich
+spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie
+anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So
+sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist
+von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre
+eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine
+Sache immer gut gemacht."
+
+"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht
+auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen
+Sie, Fräulein!"
+
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen
+lassen."
+
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen
+nicht müde sein vor dem Violinspiel."
+
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen.
+Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber
+ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem
+Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also
+_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und
+sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in
+der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er
+Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.
+
+"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,"
+sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr
+war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den
+Türspalt, wie er seine Sache macht!"
+
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie
+der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in
+kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem
+Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen
+Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung
+nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben
+träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte
+Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser
+Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die
+Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich
+eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken
+und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den
+Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft
+verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen
+flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Künstler
+ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet
+war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren unter den
+Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die
+Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes,
+freundliches "Danke!" rufen.
+
+In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu
+gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte:
+die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg
+glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das
+Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein
+schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie
+war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten
+Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und
+von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß
+trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück
+bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.
+
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine
+weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte
+sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte
+er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm
+zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte gar nicht
+lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie ließen ihn
+ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein Vater
+allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds
+Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat es
+mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr
+grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie
+das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten
+ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus
+dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen
+vermocht, daß er noch einmal vorspiele.
+
+Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große
+Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der
+Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+
+"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner
+Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund
+reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die
+Augen.
+
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu
+Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe
+doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur
+ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht:
+Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen
+dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das
+deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines
+will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich tapfer
+hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen
+Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so
+gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht
+schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer
+Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann
+verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm
+das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm
+verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die
+Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater,"
+fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der
+Vater.
+
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte
+sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des
+Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er
+möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von
+Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die
+Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die
+Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater
+noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten
+hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem
+Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.
+
+Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit
+erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter,
+die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing.
+
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,"
+sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum
+Droschkenplatz, nicht wahr?"
+
+Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor
+dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu
+sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom
+Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen.
+
+Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des
+Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine
+Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.
+
+Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank
+darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie
+manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich
+auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+
+Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+
+
+
+
+11. Kapitel
+
+Geld- und Geigennot.
+
+
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte
+täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß
+des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden
+beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische
+Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte
+sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder
+aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr
+Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit
+Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach
+Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.
+
+Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar
+zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich
+handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle
+geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig
+jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so
+werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+
+"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt,
+seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie
+das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne
+Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern
+würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es
+von Berlin aus geschehen werde?"
+
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab,
+ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas
+anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede,
+das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld
+ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus allem
+hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Söhne,
+und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint
+mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich
+mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt übergeben
+wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise sei
+verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon
+über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein
+paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in
+Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch
+mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie
+unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen
+Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang erzählen, der
+General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen
+sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut."
+
+In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem
+offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er
+dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich
+schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und
+Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen."
+
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter
+Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie,"
+sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich
+ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich
+auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt
+doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner
+Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er hätte
+ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren müssen,
+unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose
+Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von
+seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für
+Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu
+retten, was sagst du, Cäcilie?"
+
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich
+bringst," entgegnete Frau Pfäffling.
+
+"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz
+all dem Leid, was daraus entstehen muß?"
+
+"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es
+heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies
+ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben
+und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die
+unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären
+könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig."
+
+"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"
+
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich
+würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine
+Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm
+mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater
+begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber
+sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor
+der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich
+verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere
+Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den
+Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen
+General ungeschrieben.
+
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto
+beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über
+die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den
+Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die
+Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten,
+schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen
+mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß mit
+volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der
+Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner schönen,
+schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten
+alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den
+älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es
+fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er
+in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten
+sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld
+zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche
+Überraschung, welche Freude mußte das geben!
+
+Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz
+anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am
+nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum
+lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?"
+Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung
+mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht
+äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der
+Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil dann
+wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
+wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken,
+nicht lange vorher fragen."
+
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf
+er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber
+die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht
+werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich,
+was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt
+er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst sagen." Karl
+wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus
+auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. "Die Eltern sind
+immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte er, "und es ist wahr, daß
+schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben.
+Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es doch: Karl, du
+bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen." Allmählich
+brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb
+dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem
+dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen.
+Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte
+die Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben
+war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser
+schon abgeschickt wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte
+man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn
+vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch
+einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei
+Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief
+erzählten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen
+Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten.
+Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der
+jungen Russen und die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden
+fast wörtlich angeführt.
+
+Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
+veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast
+entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über
+diese Wirkung und verstummten.
+
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr
+auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in
+die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern
+in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt
+keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen.
+Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der
+Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so
+einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins
+Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht
+begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht
+erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief:
+"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch
+nicht so!"
+
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei
+schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich
+gewesen für den Vater, für den General und auch für euch, denn wir
+hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten alles
+Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge
+mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe daran
+gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+
+"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau
+Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen
+Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie
+wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten
+Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht
+gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er unschuldig
+war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein."
+
+Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber.
+"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau,
+"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die
+Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch
+unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser
+Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte an sie
+schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der
+Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der
+General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung
+einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne
+schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung
+unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu
+bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen."
+
+Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen
+Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler
+willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor
+ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief vergnügt: "Das
+Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden.
+
+Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief
+der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines
+Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken
+gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch
+gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen,
+einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie die Sache
+zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil entstanden ist
+aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat
+nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer
+Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß
+es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe
+zusammenzubringen.
+
+Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der
+Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball
+gegeben hat?"
+
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die
+sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja
+bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß
+er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand
+die große Familie aufnehmen wollte."
+
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich
+keine so gesalzene Rechnung geschickt!"
+
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+
+"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."
+
+"Gar nicht ähnlich."
+
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"
+
+"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."
+
+"Doch!"
+
+"Nein!"
+
+Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten
+hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit
+einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."
+
+Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer
+Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich
+über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei
+waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in
+der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und
+mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig.
+Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du hast schon zu lang
+gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er endlich nach, und
+Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren
+Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu Hause war,
+nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!"
+rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die
+Augen. Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man
+ihr schon wieder die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief
+sie und sah gespannt nach der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder
+mit seiner Violine durch die andere Türe hinausgegangen und nun
+flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte
+sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. "Frieder," sagte er, "ich rate
+dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du hast gewiß schon drei
+Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres
+Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte,
+und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele
+bis ich fertig bin."
+
+In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen
+weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er
+tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!"
+
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch
+mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige
+sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.
+
+"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch
+weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir
+gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt,
+dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich
+will hören, was der Vater meint."
+
+Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was
+geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten,
+und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im
+Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht,
+denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid."
+
+"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du
+bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann
+könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du
+aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht
+tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem
+Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet,
+wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn bei dem
+Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder spielte, wann
+und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen folgen, mit deinem
+Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer, aber für Jahr
+und Tag. Gib sie her!"
+
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie
+nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen
+Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so
+bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+
+Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines
+gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und
+dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine
+langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in
+die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst
+du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er hinzu, als
+er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir gutwillig deine
+Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich nicht. Von allen
+Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: "Gib
+sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument
+leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist
+dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in
+seiner Stellung.
+
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du
+auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind
+bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum
+Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du
+fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer.
+
+Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen
+schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr
+Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er
+Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das
+Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier
+außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts
+ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Küchenschemel, daß
+es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine
+Mutter mehr hat."
+
+Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an
+sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte
+sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn
+jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die
+Violine bringen, dann ist alles wieder gut."
+
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für
+Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der
+zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als
+ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die
+ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch.
+"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr
+Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es
+tun und das Gewissen."
+
+So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging,
+kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen
+und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen
+wollte er spielen, immerzu spielen.
+
+Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der
+Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle.
+Drei Striche--dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder
+wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie
+mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er
+auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz
+bewegen kann.
+
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er
+mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den
+Schwestern.
+
+"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr
+Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd,
+wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick
+ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile
+später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein
+sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden
+Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen
+Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch
+der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend
+auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den
+Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an
+sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist
+wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen
+Schmerz aus.
+
+Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder
+seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst
+wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit
+so traurigen Augen angesehen!"
+
+Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie
+kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau
+Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich."
+
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte
+nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das
+wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich
+denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis
+jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben."
+
+"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln
+können, daß er einmal ein Musiker wird."
+
+Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."
+
+
+
+
+12. Kapitel
+
+Ein Haus ohne Mutter.
+
+
+So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau
+Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer
+ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag
+sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei.
+
+Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs,
+und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling
+sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid
+praktisch ist."
+
+"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu
+sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen,
+trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht
+reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten
+Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit
+gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten
+Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit
+herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
+Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen
+mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+
+Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große
+Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle
+und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen
+aufgeregten Schwarm hinausscheuchte.
+
+"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir
+entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling.
+
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der
+Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling
+heißt!"
+
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die
+Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf
+sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen,"
+sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten
+Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn
+die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht
+mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen, wenn es
+klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja nicht und
+sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt unsere
+Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim wärest,
+könnte ich gar nicht reisen."
+
+Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben
+mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen,
+denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust
+und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und
+Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen
+Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester,
+die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter
+gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es
+schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst
+hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie
+sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt
+sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und her im
+Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und Kammern,
+folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, überlegte oder
+anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so nahe wie
+möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes
+Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick,
+wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+
+"Was denn, Kind?"
+
+Es wollte nicht über seine Lippen.
+
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+
+"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater
+deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir
+ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu
+meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so
+lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir
+wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich werden!"
+
+So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.
+
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein
+Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig
+wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders
+schwer."
+
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es
+schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte,
+neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten,
+wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht
+man ihm gut an. Da tut er mir oft leid."
+
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die
+erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und
+wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am
+Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm
+Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm
+werden nimmer regelmäßig eingehalten."
+
+"O doch, Mutter."
+
+"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"
+
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."
+
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber
+nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm
+wieder eine so schlechte Note bekäme!"
+
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf
+verlassen!"
+
+Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in
+die Holzkammer.
+
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran
+dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in
+dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und
+Kohlen sorgen."
+
+Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie
+möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."
+
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die
+Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und
+anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag
+vom Kochen fortspringen muß."
+
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und
+am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch
+einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an
+einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja
+aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich
+der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache
+machte, daß Frau Pfäffling verreist war.
+
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine
+Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr
+selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts
+nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen
+der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten
+auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich bequem in dem
+Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein, daß sie nicht
+sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine wohltuende Ruhe, ein
+Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer Tätigkeit mit
+gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.
+
+Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann
+mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie
+machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten
+Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen
+Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei dem
+Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau
+Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren
+lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine
+so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben.
+Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu
+tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein,
+daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und
+so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem
+jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so
+friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg wunderte
+sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz leere
+Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger Verbrauch
+mehr wie bisher.
+
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden,
+wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten
+doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem
+Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu
+sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch
+Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein gemeinsames Interesse
+zwischen Vater und Sohn.
+
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes
+Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht
+ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges
+Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe
+von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war Frau
+Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die
+Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben!
+
+Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach
+einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden
+wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu
+trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu
+leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege
+der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die
+_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit
+solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift durch
+reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam, das
+Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht.
+
+Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde,
+die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte
+die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte
+Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun
+soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+
+"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts
+tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen
+und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das
+anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen."
+
+Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das
+nicht in _drei_ Wochen erreichen?"
+
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich
+vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an
+vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du
+mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen
+Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen.
+Es kommt so oft etwas vor bei uns!"
+
+"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"
+
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber
+es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen
+haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal
+anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche
+bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags immer allein
+die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich in einer
+großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist, Mathilde,
+dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann
+einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"
+
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde,
+wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der
+nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so
+lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein
+Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich einen
+Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!"
+
+Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches
+Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz
+jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus.
+
+Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei
+Wochen geeinigt.
+
+Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war
+für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der
+Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles
+Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch
+stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten Weg
+hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel,
+überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches
+anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt
+man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der
+konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau
+Pfäffling war von denen, die hören wollten.
+
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu
+diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings
+einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter,
+einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor
+an einer norddeutschen Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit
+vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus der Ferne hatte eines an des
+andern Schicksal und Entwicklung stets Anteil genommen, und so war es
+beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder ins Auge zu sehen.
+
+"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu
+seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte,
+eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in
+einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in
+diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht
+streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten
+zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist
+sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine Kinder
+daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor."
+
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als
+du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."
+
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird
+damit oft kaum fertig."
+
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel
+miteinander, wie ist das bei euch?"
+
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander.
+Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur
+sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können."
+
+"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel.
+Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist
+das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei
+Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht
+fertig."
+
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören
+über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er
+beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen,
+dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu
+besuchen.
+
+An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach
+dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein
+besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen
+wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der
+andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich
+versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der jungen
+Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde überlegt,
+und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit ihrem Mann
+darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der Bruder auf
+der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am
+besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf
+der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein
+baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und
+in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher.
+
+Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie
+erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die
+Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet,
+sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst
+mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene
+Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und
+Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der
+Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr
+Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an:
+"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen
+oder dergleichen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört."
+
+"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die
+zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der
+Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der
+Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in
+Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren
+können."
+
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf.
+Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die
+Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts
+verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings
+blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das war
+Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und machte
+sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die Mutter
+dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau Mitteilung.
+
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die
+Schwestern zurück.
+
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.
+
+"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr
+Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch
+auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in
+den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war.
+
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter
+nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun
+auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren
+bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das
+noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte
+alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern
+eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem
+Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt
+geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die große
+Neujahrsrechnung.
+
+Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des
+Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern
+vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn
+etwas versäumt würde.
+
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei
+Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so
+ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und
+doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide
+trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse
+Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das
+macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure
+Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe
+noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die
+gehört dazu."
+
+Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
+gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch,
+daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar
+nichts mehr?" fragte er.
+
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr
+sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer."
+
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz
+gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte.
+
+"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der
+Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt
+daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung."
+
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten
+sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen
+sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um
+sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere
+Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein."
+
+Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.
+
+Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum
+gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie
+volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war.
+
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen
+vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen,
+diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte
+einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn
+so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder,
+"ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum
+Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte
+es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den Kalenderzettel abzog
+und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt dann schneller der
+1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und wehrte dem kleinen Bruder
+nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er Heimweh hatte. Aber an diesem
+Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg mit den Geschwistern, die
+Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt.
+
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg;
+ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die
+jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat
+gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen.
+Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um
+aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen Frau
+und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien,
+bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an
+Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm, und
+er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
+Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den
+Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte
+der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann,
+den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das
+Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus.
+
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam
+keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die
+Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben
+heraufkam.
+
+"Wer war da?" fragte diese.
+
+"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins
+Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen
+zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim
+Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem
+Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er.
+Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn--ja,
+wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein
+seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen
+sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft
+schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in
+dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was
+die Familie Pfäffling am Leben erhielt.
+
+Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich
+eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen
+Pfennig fürs tägliche Brot!
+
+Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte
+ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die
+bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde
+kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?"
+
+Und nun flogen Vorwürfe hin und her.
+
+"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den
+Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja
+gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie
+nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz
+getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!"
+
+"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.
+
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder
+wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir
+wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal
+niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit
+solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise
+miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen
+haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein
+Gehalt. Wir sparen recht."
+
+"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe
+auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die
+Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel
+abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin
+und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort:
+Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht
+werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort
+Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte
+mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, schon
+waren viele Stunden verloren!
+
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie
+setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede
+knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die
+Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt,
+erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang
+ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit so
+langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an
+seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.
+
+Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger
+Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel
+betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn
+aufzufinden.
+
+Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling
+abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand
+schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in
+großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem
+ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll
+Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine
+Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau
+Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen umgeschlagen
+war.
+
+Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich
+zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker
+gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso
+am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien,
+wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm
+Nachricht zukommen.
+
+Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter
+mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die
+rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war
+unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich mitteilen
+sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme des Diebes
+und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß der Termin
+doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise seiner Frau
+ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der Heimkehrenden
+schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+
+Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich,"
+sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten
+Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?"
+
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die
+Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das
+Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in
+Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein
+hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert."
+
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag
+irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du
+daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht
+mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht
+beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und
+nicht gleich erklären: ich reise nie mehr."
+
+Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr
+fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich
+mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester,
+die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war
+ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise
+antrat.
+
+Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei
+Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein
+Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch
+schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist
+war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte
+sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude auf das
+Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben zu Lieben
+kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer kann sich
+reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim reist?
+
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes
+doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben
+können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis
+Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran,
+aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her
+gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war.
+
+Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als
+er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof
+eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in
+ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen
+sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen langen
+Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto auftauchen
+sah.
+
+Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof
+begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er,
+"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an
+den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der
+Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen,
+denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein."
+
+So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem
+Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch
+sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges
+Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter,
+während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus
+dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie
+sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte,
+der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher
+Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.
+
+Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen
+und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge
+hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein
+können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der Mutter frisches,
+rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so
+schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau Pfäfflings ängstlich
+klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die Kinder alle und auch
+Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung erhielt, daß sich alle
+frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam aus erleichtertem
+Herzen ein dankbares: Gottlob!
+
+"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch
+krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer
+geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete
+ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen
+ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand
+ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die
+Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf der Reise." So kamen
+sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo ganz brav, der
+Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und jetzt der
+überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der
+Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte
+Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem
+Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in
+anderer Richtung.
+
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o
+Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn
+zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines
+Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!"
+
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber
+die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu
+ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie,
+im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die
+Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon
+auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum
+Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und
+daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe.
+
+Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst.
+Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen
+können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was
+konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling
+verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie nicht die
+Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein Unglück
+geschehen.
+
+Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf
+dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis
+erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein
+Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort
+fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, das
+Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr und
+stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der
+Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: es
+ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment sagte
+sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie ernst,
+wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem Gruß die
+Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den
+freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht
+ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß
+mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."
+
+Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe
+sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern
+angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ
+ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein
+Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah begierig
+in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," rief er
+freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder nach
+Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die Großen
+ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie
+nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel
+verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber
+Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben,
+dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun
+kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön
+gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht."
+
+Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter
+wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet
+ist."
+
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau
+Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung:
+
+ "Von Dank bewegt, o Gott, wir heute
+ Hier vor dir stehen!
+ Du schenkest uns die schönste Freude,
+ Das Wiedersehen.
+ Nun gehn wir wieder eng verbunden
+ Durch Lust und Leid,
+ In guten und in bösen Stunden
+ Gib uns Geleit!"
+
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee
+machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu
+gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja,"
+sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein
+und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er
+nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an
+den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch das
+leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der Dinge
+war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe schon
+geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte sie,
+"aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich
+gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja
+gar nicht zustande!"
+
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich
+gespart; gestohlen ist es, gestohlen!"
+
+Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die
+Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien
+festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung
+mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf
+irgend eine Weise wieder hereingebracht werden.
+
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß
+derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es
+gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus:
+"Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+
+
+
+
+13. Kapitel
+
+Ein fremdes Element.
+
+
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag
+auch den Kindern mitgeteilt werden.
+
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.
+
+"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur
+gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen.
+"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch
+das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können
+uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!"
+
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne
+sein," schlug Karl vor.
+
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+
+"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen,"
+meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die
+Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in
+ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre
+blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden.
+
+"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
+Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn
+ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen
+etwas anderes."
+
+"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch
+mehr einbringt."
+
+Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich
+will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr
+Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an
+einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das
+nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die Mutter will alles
+Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten hineinstellen und
+im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben einrichten; in eurem
+Reich da oben redet euch niemand darein; aus den alten Kisten könnt ihr
+Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt."
+
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht,
+aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und
+betätigten: "Ja, es wird sein!"
+
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in
+Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in
+großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die
+Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein
+kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt
+ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer
+ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da
+hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das
+Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends
+kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen
+in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr
+Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und
+wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist?
+Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja,
+Kinder, da habt ihr es schon besser."
+
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der
+Kammer erfüllt.
+
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis
+zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese
+wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig
+wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon
+reichlich genug, wenn zehn Leute den obern Stock bewohnten und
+Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie welche gehabt und
+geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für die Familie
+Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann blieb
+bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses
+Frau Pfäffling mitteilen.
+
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann
+sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er
+dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht
+mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte."
+
+Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr
+Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich
+sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs
+Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft
+den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher
+'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre
+jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte
+er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist:
+Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber
+_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt
+hat."
+
+Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den
+Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling
+zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur
+zusammen.
+
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn
+nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge
+geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht
+plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht
+heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt
+entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen
+ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer und auch
+schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig behilflich
+sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären wir Ihnen
+recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung setzen?"
+
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie
+besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu
+wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte
+Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen.
+
+Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und
+sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und
+nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten,
+wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu
+zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren,
+daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede
+von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer
+vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch
+haben, kein fremdes Element in den vertrauten Familienkreis aufnehmen.
+Aber als auf wiederholte Ankündigung die Rechte sich nicht finden
+wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu ihrem Mann: "Mir
+scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand das Zimmer
+mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber niemand
+begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn
+haben."
+
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine
+anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann
+stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat.
+
+Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften
+sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete
+Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im
+Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt,
+daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit,
+zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie war gesund und
+frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich Privatstudien und
+Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis jetzt wenig Muße
+gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der Kinderreichtum der
+Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn in der
+Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle
+bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit
+dort ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß
+fände. Mit schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis,
+daß sie am Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe.
+
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
+seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den
+ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da
+ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird."
+
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für
+Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen,
+wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch
+auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war
+zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen
+fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn originelle
+Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit. Freilich
+waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin.
+Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen Kinder, und
+trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies flößten ihnen
+die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der ehemaligen
+Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und wäre auch
+wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort
+"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann
+es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte
+und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu
+sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben
+machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand bekümmert
+hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau Pfäffling war
+anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte doch nicht zum
+Ganzen.
+
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit
+in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte.
+"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu
+machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann
+hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit
+geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die
+Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden."
+
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch
+nicht genug für manche Besorgungen."
+
+"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte
+Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie
+möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."
+
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.
+
+"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet,"
+sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"
+
+"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue
+voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen
+überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere
+Fortschritte."
+
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar
+keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum
+lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die
+Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als
+es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann die
+Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?"
+
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie
+vollends ganz taub ist, muß sie doch fort."
+
+Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte
+Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie
+wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden,
+teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu
+ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag
+Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend:
+"Man muß froh sein, daß man sie hat."
+
+Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche
+Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im
+Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer
+mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden.
+
+"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen,"
+bemerkte Fräulein Bergmann.
+
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen
+Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit
+vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."
+
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an
+unserem Tisch."
+
+Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer
+regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit _einem_
+Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling.
+
+"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen,
+das würde sich sehr fein machen."
+
+"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich
+mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei
+reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn
+es nur immer zum täglichen Brot reicht."
+
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und
+ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles
+verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie
+aus fein gebildeter Familie stammen."
+
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
+schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein
+Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit
+gar nichts zu tun."
+
+Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu
+einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung
+wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder
+standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum
+Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es
+sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber
+über kurz oder lang müßten diese doch erneuert werden."
+
+Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die
+Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie
+mißliebig an.
+
+"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du
+solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen
+Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu
+unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr
+Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön
+genug sein, so wie sie sind."
+
+Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und
+sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten
+hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller
+gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller.
+
+"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die
+Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein
+Bergmann fragend an Frau Pfäffling.
+
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller
+mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft."
+
+"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das
+Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit."
+
+Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen,
+was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind,
+müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen."
+
+"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu
+sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich
+werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr."
+
+"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr
+Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles
+ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich
+noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird man
+sie überall gern sehen."
+
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte
+gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief
+in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich
+Fräulein Bergmann zurück.
+
+"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern
+zu.
+
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt
+sie sich ein!"
+
+"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"
+
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt
+und haltet gar nicht zur Mutter!"
+
+Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr
+Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins,"
+sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich
+jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und
+mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine Sache
+nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu erfahren, wie
+andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der Welt gesehen als
+ich."
+
+Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden
+Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann
+machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.
+
+"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man
+keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf
+diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht
+nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem
+ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+
+Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:
+
+"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger
+Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."
+
+"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar
+nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner
+veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle
+selbst, daß ich unausstehlich bin."
+
+Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß
+Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr
+Kritik und Einmischung gestattete.
+
+Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich
+kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und
+brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein
+Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst
+verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch
+sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.
+
+"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März,
+"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben
+ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber
+dieses Jahr ist es so kalt."
+
+"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein,
+schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen
+Familienkreis.
+
+Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr
+Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen
+lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+
+"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein
+feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus
+vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie
+eigentlich?"
+
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man
+leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es
+nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein
+Gebet gedankenlos gesprochen wird."
+
+"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche
+Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war
+es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau
+liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft,
+"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den
+Inhalt nicht zu horchen."
+
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre
+Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm
+gemeint!"
+
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend.
+Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber
+nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer.
+"Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist
+die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas
+kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende.
+Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin."
+
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch
+leid für sie, wie soll ich denn das machen?"
+
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken.
+Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und
+mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+
+"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April
+mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie
+ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend
+begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf
+ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch vorgehen.
+
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein
+Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem
+Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte
+das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen
+hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß
+ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich heute mittag
+erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den vielen Jahren,
+die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß ich unleidlich
+bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, bitte, lesen
+Sie!"
+
+Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele
+Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit
+war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt
+hervorgehoben.
+
+Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die
+Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann
+wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre.
+
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und
+das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen.
+Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn
+er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch
+sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft,
+und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes
+Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem
+Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und
+das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen unberufen
+eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen einen Rat
+geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und zwar eine
+solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+
+Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt,
+"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie
+mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur
+schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen
+Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine
+verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+
+"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später
+erfolgen."
+
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich
+keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+
+"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."
+
+Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen,
+elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+
+"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam,
+"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt;
+warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?"
+
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit.
+Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte
+gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im
+Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit
+der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch
+mit Herrn Pfäffling am Eßtisch.
+
+"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann,
+"dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus.
+Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen
+möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern.
+Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor meiner kritischen Art."
+Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um den Tisch gewandelt war,
+machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist ja sehr viel wert, wenn sie
+nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. Solange Sie _alles_
+tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir in friedlicher
+Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel geben.
+Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns--"
+
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies
+wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen
+war."
+
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie
+mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen,
+unseren Gewohnheiten?"
+
+Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht
+aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig
+spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur
+_eines_."
+
+"Und zwar?"
+
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie
+jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+
+Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+
+"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie
+es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter
+Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen
+Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck
+stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig
+dabei."
+
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle
+Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich
+werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu
+solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber--und
+nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf.
+
+Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.
+
+Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an
+Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage
+ihn _gern_ fort."
+
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein
+Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert
+und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie
+nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand
+unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die würde
+sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern
+finden.
+
+Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit
+zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als
+Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere
+abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe
+kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut
+verwenden!"
+
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig
+darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das
+offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach
+den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder
+herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst
+herauf!"
+
+"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den
+schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch
+schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben."
+Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell
+rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich
+schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts
+gesehen und eilte davon.
+
+"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr
+Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb
+unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können
+bis morgen."
+
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald
+sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam
+nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling
+kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen,"
+berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch
+einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"
+
+Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er,
+"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu
+gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders
+frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!
+
+
+
+
+14. Kapitel
+
+Wir nehmen Abschied.
+
+
+Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet,
+und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der
+Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen
+lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit
+sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig
+geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den seltenen Gast.
+Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten Kindheit eine
+schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen waren und durch
+schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+
+Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt
+worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch,
+auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen
+Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen
+Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei
+Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des Elternhauses
+entfremdet würde.
+
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während
+desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen
+zeigen.
+
+In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes.
+Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht
+besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm,
+schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht
+Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich
+gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als
+die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der
+andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis
+hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon
+manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch
+zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die
+Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte
+er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine
+Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und war
+zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht, nach
+ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast du noch
+etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind
+wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so
+vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig,
+aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst
+gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal in der
+Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine,
+zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten sich die
+Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, im
+Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. Und
+übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder vergnügt
+und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern
+begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche
+Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten.
+
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie
+Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die
+geheimnisvollen Ziffern zu deuten.
+
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen
+Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a
+plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen
+Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es
+wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie
+sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag
+Mathematikstunden!"
+
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten
+sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug
+gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.
+
+Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in
+Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm
+wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine
+mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein
+gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe,
+die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die
+brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht
+dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob
+sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater hätte
+es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine
+Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an.
+
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir
+nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes
+Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete
+er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben."
+
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören
+kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht,
+Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du
+nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte
+nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde
+geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach
+Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als schon
+nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und die
+Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf den
+Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter unserem
+Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet
+hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und
+sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor
+den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich
+schämen!"
+
+"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim
+Geigen nicht."
+
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann
+mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir
+Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage
+es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige
+geben."
+
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank
+deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem
+Ton: "Da innen ist sie!"
+
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen
+Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind;
+Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern
+mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."
+
+Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei
+plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur
+Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte
+solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die
+Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß
+Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen,
+blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er
+leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der
+Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+
+"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner
+Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+
+"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht
+wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute
+Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das
+gibt zwei süße Brautfräulein!"
+
+"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die
+Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner
+Frau sprechen."--
+
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte.
+Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und
+zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren
+des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern
+und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die Frühlingssonne durfte die
+hintersten Winkel bestrahlen, Walburg brauchte die Prüfung nicht zu
+fürchten, alles war blank und rein. Eine mühevolle Zeit war das gewesen,
+aber nun war sie glücklich überstanden, Feststimmung breitete sich schon
+über das Haus und heute sollte der Gast ankommen.
+
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung,"
+sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja,
+Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in
+der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender
+sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben.
+
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle
+miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen,
+er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und
+nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe.
+
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und
+sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten
+auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen
+Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so
+schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er eine voll
+gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen besonders
+hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden sein, denn der
+Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar den Hut als
+Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen doch
+entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht
+so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom
+Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist
+frisch geölt," rief Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte
+schön bleibt!"
+
+Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die
+Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war,
+in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie
+ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen
+seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich.
+
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen
+den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den
+Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen
+Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der
+Mutter.
+
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück.
+"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"
+
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine
+stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die
+ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr
+habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen
+Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme
+Dienerin? Wie schade um das Mädchen!"
+
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie,
+"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser
+werden."
+
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal
+ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel
+gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht,
+welches ich meine?"
+
+Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:
+
+ In größerem Kreise stehen wir heute
+ Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.
+ Aber die richtige fröhliche Stimmung
+ Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.
+ Nahe dich freundlich jedem von uns.
+
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine
+Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich
+alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er,
+"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel,
+bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie
+machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit
+Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der
+Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei
+Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig
+verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm,
+der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen,
+sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.
+
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht
+immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus
+der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner
+Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch
+weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?"
+fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen, Frieder,"
+sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten sich auch
+diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling setzte sich ein
+wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist rührend,"
+sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich
+zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel
+aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?"
+
+"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die
+Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig
+werden, so helfen sie mit."
+
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und
+ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger
+hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie
+ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und
+widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt
+entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in
+Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so
+leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister.
+Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in
+ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+
+Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was
+kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des
+Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer
+Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören
+sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts
+anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich behalten.
+Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am Balkenplatz
+zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie vertraute ihnen an,
+was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht zusammengedrängt
+und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit, fortzukommen.
+Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer ungern?
+Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte:
+"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer,
+der doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß
+will er _mich_ mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht
+fort, für ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben,
+er fürchtete die fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will
+er mitnehmen, so glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das
+fremde Kind gewesen, vor die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher
+war er ein wenig allein gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an,
+daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die
+seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum andern blickten, und
+da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen
+mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle
+geben wir nicht her!"
+
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit
+Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah
+hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er,
+"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen schieben!
+Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!"
+
+"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."
+
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue
+Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im
+Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich
+nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest
+herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir
+doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann
+nirgends besser gedeihen als daheim!"
+
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft
+unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht.
+Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut
+ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist."
+
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau
+Pfäffling.
+
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von
+Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen
+Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er
+neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei
+meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch
+die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren
+einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen
+lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."
+
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+
+Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war
+von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten
+plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten
+herauf.
+
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr
+auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von
+euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für
+ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich
+tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut
+habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr
+lacht? Es ist mein Ernst."
+
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja
+wissen.
+
+Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du
+denn mitgenommen?" fragte sie.
+
+"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und
+deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!
+
+Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie
+stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder
+für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen
+mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen
+Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen,
+hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es
+brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang.
+
+Aber jetzt?
+
+Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie
+wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da
+stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+
+"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht
+fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es
+selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem
+gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer
+Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine
+Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu
+warten!
+
+Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern
+herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie
+die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und
+immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!"
+
+Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern
+widerstrahlte.
+
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er
+mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.
+
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch
+sagen!"
+
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem
+Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.
+
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+
+Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst
+du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten
+darin aufhören, ich habe es probiert."
+
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den
+Pfannenkuchen. Die andern wissen es."
+
+"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine
+Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling
+schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich,
+"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies
+Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine
+Violine, kleiner Direktorssohn!"
+
+Ja, das war ein seliger Tag!
+
+Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die
+Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so
+fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst,
+sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr
+Direktor will auch deinen Lohn erhöhen."
+
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder
+allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen
+Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+
+Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch
+Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen
+zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang
+herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann
+übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim:
+
+ "Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+ Es lebe die Direktorin!"
+
+Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe
+im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte
+er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und
+befestigte an der Haustüre die Aufschrift:
+
+ _Wohnung zu vermieten_.
+
+Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf
+die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir
+die Familie Pfäffling war!"
+
+
+
+***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFäFFLING***
+
+
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+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
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+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
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+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
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+*** END: FULL LICENSE ***
diff --git a/old/old/10917-8.zip b/old/old/10917-8.zip
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index 0000000..3b48d79
--- /dev/null
+++ b/old/old/10917-8.zip
Binary files differ
diff --git a/old/old/10917.txt b/old/old/10917.txt
new file mode 100644
index 0000000..1feccc6
--- /dev/null
+++ b/old/old/10917.txt
@@ -0,0 +1,7850 @@
+The Project Gutenberg eBook, Die Familie Pfaeffling, by Agnes Sapper
+
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+
+
+
+Title: Die Familie Pfaeffling
+
+Author: Agnes Sapper
+
+Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: US-ASCII
+
+
+***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING***
+
+
+E-text prepared by Olaf Voss, Michael Wymann-Boeni, and Project Gutenberg
+Distributed Proofreaders
+
+
+
+Die Familie Pfaeffling
+
+Eine deutsche Wintergeschichte
+
+von
+
+Agnes Sapper
+
+1909
+
+
+
+
+
+
+Meiner lieben Mutter
+
+zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
+
+
+Die Familie Pfaeffling muss *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was
+ich in diesem Buche zeigen moechte, das ist Deine eigene
+Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen gefuehrt, welcher Segen die
+Menschen durchs Leben begleitet, die im grossen Geschwisterkreis und in
+einfachen Verhaeltnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluss von Eltern,
+die mit Gottvertrauen und froehlichem Humor zu entbehren verstanden, was
+ihnen versagt war.
+
+Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die
+Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du
+die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger,
+anspruchsloser Gesinnung ertraegst so ist das nach deinem eigenen
+Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer
+entbehrungsreichen und dennoch glueckseligen Jugendzeit.
+
+Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte
+moechte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorfuehren.
+
+Herbst 1906.
+
+Die Verfasserin.
+
+ * * * * *
+
+
+Inhalt
+
+
+1 Wir schliessen Bekanntschaft
+2 Herr Direktor
+3 Der Leonidenschwarm
+4 Adventszeit
+5 Schnee am unrechten Platz
+6 Am kuerzesten Tag
+7 Immer noch nicht Weihnachten
+8 Endlich Weihnachten
+9 Bei grimmiger Kaelte
+10 Ein Kuenstlerkonzert
+11 Geld- und Geigennot
+12 Ein Haus ohne Mutter
+13 Ein fremdes Element
+14 Wir nehmen Abschied
+
+
+
+
+
+1. Kapitel
+
+Wir schliessen Bekanntschaft.
+
+
+Ihr wollt die Familie Pfaeffling kennen lernen? Da muss ich euch weit
+hinausfuehren bis ans Ende einer groesseren sueddeutschen Stadt, hinaus in
+die aeussere Fruehlingsstrasse. Wir kommen ganz nahe an die
+Infanteriekaserne, sehen den umzaeunten Kasernenhof und Exerzierplatz.
+Aber vor diesem, etwas zurueck von der Strasse, steht noch ein letztes
+Haus und dieses geht uns an. Es gehoert dem Schreiner Hartwig, bei dem
+der Musiklehrer Pfaeffling mit seiner grossen Familie in Miete wohnt.
+
+Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz
+fuer Balken und Bretter, auf denen Knaben und Maedchen froehlich
+herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfaefflinge,
+die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der
+eine Kleine, den man taeglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei
+die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder
+Pfaeffling.
+
+Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist uebrigens der Hof
+verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den
+langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer
+Pfaeffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht,
+war schon fruehzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der
+Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen
+sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Buecher und Hefte
+zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
+Fruehlingsstrasse mussten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich
+die Wege; die drei aeltesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte
+Gymnasiumsgebaeude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas naeher in
+die Toechterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, haette
+sein Ziel am schnellsten erreichen koennen, aber das kleine runde
+Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu
+lassen als die andern.
+
+Im Hause Pfaeffling war nach dem lauten Abgang der sieben
+Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch
+die Mutter zurueck, und Elschen, das juengste niedliche Toechterchen, sowie
+die treue Walburg, die in der Kueche wirtschaftete. Frau Pfaeffling atmete
+auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das fuer ein Sturm gewesen, bis der
+letzte die Tuere hinter sich zugemacht hatte, und was fuer eine Unruhe all
+die Ferienwochen hindurch! Waehrend sie ordnend und raeumend von einem
+Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtaeglich zu Mute. Sie war von
+Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken,
+aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen grossen Familienkreis
+gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende,
+musizierende Menschen um sie herum. Waehrend nun die Mutter sich der Ruhe
+freute, wusste Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen
+hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die grossen
+Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geaergert, wenn
+sie aengstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, dass die
+Brueder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte.
+Jetzt hatte sie alle die Baumstaemme allein zu ihrer Verfuegung, aber nun
+machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die
+uebereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett
+querueberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der
+Ziehharmonika sass. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete,
+war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die
+Harmonika sei eine alte Kroete. Aber jetzt, wo es ueberall ganz still war,
+haette sie auch die Harmonika gern gehoert. Sie setzte sich auf Frieders
+Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen--fast zum
+weinen!
+
+Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief:
+"Elschen, flink, Essig holen!"
+
+Einen Augenblick spaeter wanderte auch Else die Fruehlingsstrasse hinunter,
+zwar nicht mit den Buechern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum
+naechsten Kaufmann.
+
+Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau.
+Es waren schon aeltere Leute und er hatte das Geschaeft abgegeben. Sie war
+eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute
+Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfaefflinge nacheinander
+die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt:
+"Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo
+Pfaefflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden,
+dass mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird."
+"Verwehr's ihnen, dass sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der
+Hausherr.
+
+"Ich will gar nicht behaupten, dass sie poltern, sie sind ja
+ruecksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert
+ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie muessen immer
+springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die
+abgetretenen Stellen."
+
+"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewoehnen, springt
+doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewusst,
+was es um so eine neunkoepfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges
+Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und
+jetzt haben wir sie, und zu kuendigen braechtest du doch nicht uebers
+Herz."
+
+"Nein, nie! Aber du auch nicht."
+
+"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, dass er Bretter fuer neue
+Boeden bereit haelt," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand
+bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch ueber die
+Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.
+
+Die Vormittagsstunden waren endlich voruebergegangen, die kleine
+vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Strasse hinunter und
+erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das
+Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Maedchengestalten auf, das waren
+die Zwillingsschwestern, die elfjaehrigen, Marie und Anna, die der
+Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch
+Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe
+ich auch, aber sie stehen bei andern Maedchen und machen gar nicht voran.
+Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Grossen, jetzt muss ich
+entgegen laufen."
+
+Die Schwestern hatten sich den Bruedern zugesellt und so kamen sie alle
+zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnuegen
+entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu
+hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Haenden
+gefasst und alle draengten der Treppe zu, als die Tuere der untern Wohnung
+aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brueder ihre Muetzen,
+denn die Ruecksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht
+gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem
+Bewusstsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.
+
+So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet
+ein wenig, Kinder, ich muss euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe
+an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr
+war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"
+
+Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Koepfe. "Das habt ihr getan," fuhr
+die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal
+auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr
+mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle
+betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen
+diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau musste es ja wissen! In diesem
+kritischen Moment kam Karl, dem grossen, der Mutter Hauptregel ins
+Gedaechtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir
+leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erloesende Wort:
+"Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der grosse, an, langsam und
+behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und
+Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhoerbar Marie und Anna mit
+Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb
+den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen koennen, der verweilte
+noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich
+zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an
+den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das
+nicht denken? In der Mitte geht man wohl am oeftesten."
+
+"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und
+indem er dicht am Gelaender hinaufstieg, rief er noch freundlich
+herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schoen geschont?" "Ja, so ist's
+recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung
+zurueckkehrte, sprach sie so fuer sich hin: den guten Willen haben sie,
+was kann man mehr verlangen?
+
+Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn
+ins Zimmer und rief vergnuegt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"
+
+Den Esstisch hatte Frau Pfaeffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin
+und hergelaufen und hatte ihr erzaehlt, was Neues von der Musikschule zu
+berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so oefter lief ihm
+eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen
+grossen Haenden, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es
+schnell ein Schieben und Stuhlruecken und einen Augenblick lautloser
+Stille, waehrend die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage
+dasselbe, sie wusste viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die
+Kinder, welches sie gerne hoerten und richtete sich darnach. Heute sprach
+sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du goennst uns die
+Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."
+
+Das Essen, das die grosse Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen,
+aber das Tischgespraech wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie
+kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des
+Wintersemesters.
+
+"Wir muessen jetzt ein Physikbuch haben."
+
+"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf
+ich nimmer mitbringen."
+
+"Zum Naehtuch brauchen wir ein Stueck feine neue Leinwand."
+
+"Bis Donnerstag muessen wir richtige Turnanzuege haben."
+
+"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."
+
+"Mein Reisszeug sei ganz ungenuegend."
+
+So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war,
+umdraengten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der
+kleine Volksschueler, hatte keine derartigen Wuensche, er nahm seine
+Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den
+Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich
+noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.
+
+Herr Pfaeffling suchte sich dem Draengen seiner Grossen zu entziehen, indem
+er hinueberfluechtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer
+war. Dort wartete ein Stoss neuer Musikalien auf ihn, die er pruefen
+sollte. Aber es waehrte nicht lang, so folgten ihm seine drei
+Lateinschueler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor
+und suchte zu beweisen, dass es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte
+der Vater, "aber alles auf einmal koennen wir nicht anschaffen, ihr muesst
+eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so
+viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder
+Stundenschueler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
+Atlas, Reisszeug und die neuesten Ausgaben der Schulbuecher bekommen, aber
+jetzt reicht es nur fuer das dringendste." Herr Pfaeffling zog eine kleine
+Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut
+selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht
+viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und
+miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Fuer Marianne muss
+auch noch etwas uebrig bleiben," bemerkte der eine der Brueder, "bei ihr
+gibt es sonst gleich wieder Traenen. Leinwand zu einem Naehtuch wollen
+sie, ob das wohl recht viel kostet?"
+
+So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab
+und waren froh, dass das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte.
+Es blieb kein grosser Rest mehr in der kleinen Schublade.
+
+Als kurze Zeit darauf die Lateinschueler und die Toechterschuelerinnen sich
+wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfaeffling zu ihrem Mann
+in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen
+sassen.
+
+"Sieh nur, Caecilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist
+hoechste Zeit, dass wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue
+Schueler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt
+so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein koennten wir nicht
+leben."
+
+"Es werden gewiss welche kommen," sagte Frau Pfaeffling, aber sehr
+zuversichtlich klang es nicht und eines wusste von dem andern, dass es
+sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.
+
+In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der
+wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfaeffling trat ans offene Fenster
+und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist
+doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag
+keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben
+hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie
+sahen sich nur bestuerzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern
+herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug.
+
+"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfaeffling, "daran
+ist wieder nur das verwuenschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die
+Treppe heraufkam--ohne jegliche Ruecksicht auf abgetretene
+Stufen--streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die
+geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und
+vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darueber vergisst!"
+
+Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern
+schon fort? Ist's schon arg spaet?" fragte er, waehrend er ins Zimmer
+lief, um seine Buecher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd
+vor Aufregung dabei, waehrend er seine Hefte zusammenpackte, rief immer
+verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Muetze
+hin, bis er endlich ohne Gruss davoneilte. Auf halber Treppe blieb er
+aber noch einmal stehen und rief klaeglich herauf: "Mutter, was soll ich
+denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm
+nach. So rannte er die Fruehlingsstrasse hinunter und rief in seiner Angst
+immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Voruebergehenden sahen
+ihm mitleidig laechelnd nach--es war leicht zu erraten, was dem kleinen
+Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die
+Ecke der Fruehlingsstrasse bog.
+
+Herr Pfaeffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in
+seinen Schrank schloss. "Redlich abgenuetzt ist sie," sagte er sich, "sie
+wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in
+Versuchung fuehren. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten
+zwei Jahren, an dem er sie nicht benuetzt hat. Er ist ein kleiner
+Kuenstler auf dem Instrument, aber er weiss es nicht und das ist gut und
+von den Geschwistern hoert er auch keine Schmeicheleien, sie aergern sich
+ja nur ueber den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich haette auch nur
+_einen_ Schueler, der so begabt waere wie Frieder! Aber dass er seine
+Schule ueber der Musik versaeumt oder ganz vergisst wie heute, das ist doch
+ein starkes Stueck am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun
+wurde die Harmonika eingeschlossen.
+
+War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als
+letzter heraus. Die Geschwister daheim hoerten von der kleinen Schwester,
+was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen
+sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt,
+und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafuer, dass es glimpflich abgehen
+wuerde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht
+und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Juengste heimkam und
+ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig,
+zum Teil auch ein wenig spoettisch an. Aber das Spoettische verging ihnen
+bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so klaeglich verweint aus!
+Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht
+recht herausruecken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer
+und das war in Erinnerung an sein zuernendes Gesicht und die weggenommene
+Harmonika nicht aufmunternd fuer Frieder. Aber Herr Pfaeffling ging ans
+Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar
+nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder
+herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Muetterliches gegen die
+Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzaehlte denn Frieder, dass der
+Lehrer ihm zuerst nur gewinkt haette, sich auf seinen Platz zu setzen,
+aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen muessen, ja und dann--dann
+stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen
+seine Haende in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick.
+"Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der
+grosse. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzaehlte
+Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule
+vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen
+und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hoerte auf
+einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um
+und sagte: "Der war ein Luegner und das ist der Frieder nicht. Geh her,
+du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel
+gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine
+Harmonika wieder, aber--"
+
+Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb,
+denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfaeffling und
+sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im
+Buegelzimmer das Klingeln gehoert und ihr seid vornen und achtet nicht
+darauf!" Schuldbewusst liefen die der Tuere am naechsten Stehenden hinaus
+und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkuendend:
+"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fraeulein ist
+da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun
+fortgegangen waeren!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.
+
+"Manchmal ist's recht unbequem, dass Walburg taub ist," meinte Anne und
+Else fuegte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmaedchen, die hoeren ganz gut,
+die hoeren sogar das Klingeln, wenn wir so eine haetten!" "Seid ihr ganz
+zufrieden, dass wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfaeffling,
+"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, koennten wir gar keine nehmen,
+sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist traurig,
+zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muss sie sich mit halbem
+Lohn begnuegen. Wenn ich koennte, wuerde ich ihr den doppelten geben."
+Unvermutet ging die Tuere auf und die, von der man gesprochen hatte, trat
+ein. Unwillkuerlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie
+bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das grosse Brett voll
+geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Kueche hereintrug. Walburg
+war eine ungewoehnlich grosse, kraeftige Gestalt und ihr Gesicht hatte
+einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie
+aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden
+Schwerhoerigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie
+dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfaeffling
+ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen
+hoerte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewoehnt. So tat sie
+stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wusste viel von dem,
+was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der
+Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfaefflinge wach geworden
+und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den
+Bestecken, um sie einzuraeumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen,
+und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt ueber die
+ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte
+Frau Pfaeffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann--"
+"Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl.
+
+Unser Musiklehrer kam vergnuegt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter
+Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als
+Schuelerin angetragen. Zwei Stunden woechentlich in unserem Haus. Das
+Fraeulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als
+sei es noch ein dummes Gaenschen, aber ein freundliches, es lacht immer,
+wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama
+nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog
+auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zaehlte das Geld auf den
+Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt
+man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich,
+das Fraeulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da
+ist das Geld, wirst's noetig haben," schloss Herr Pfaeffling seinen Bericht
+und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drueckten sich an die
+Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen
+Kleid durch die Fruehlingsstrasse rauschte, begleitet von der Tochter, die
+mehr noch ein Kind als ein Fraeulein zu sein schien. "Hat je eines von
+euch schon diesen Namen gehoert?" fragte Herr Pfaeffling und hielt ihnen
+die Visitenkarte der Dame hin. Sie schuettelten alle verneinend, der Name
+war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere
+Vernagelding_.
+
+
+
+
+2. Kapitel
+
+Herr Direktor?
+
+
+November! Du duesterer, nebeliger, nasskalter Monat, wer kann dich leiden?
+Ich glaube, unter allen zwoelfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst
+den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch
+nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmaessigen Arbeit.
+
+Was wurde allein in der Familie Pfaeffling gearbeitet an dem grossen Tisch
+unter der Haengelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Bruedern
+schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte
+franzoesisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte
+nach geistreichen Gedanken fuer den Aufsatz, der andere blaetterte im
+Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwoertern, der vierte
+kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal
+geplaudert und gefragt, gestossen und aufbegehrt, auch gehustet und
+gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter sass mit dem
+Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschaeftigen
+sollte, was aber nicht immer gelang.
+
+Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, sassen selten dabei. Sie hatten
+ein Schlafzimmer fuer sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie
+ungestoert ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der
+Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wussten
+sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rueckten
+sie ihre Stuehle dicht zusammen, wickelten einen grossen alten Schal um
+sich und waermten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine
+Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es waere ihnen
+auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber
+im Vorplatz auf dem Schraenkchen stand eine Ganglampe. Sie musste immer
+brennen wegen der Stundenschueler, die den langen Gang hinunter gehen
+mussten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfaeffling seine Stunden gab.
+Hatte aber ein Schueler den Weg gefunden und hinter sich die Tuere des
+Musikzimmers geschlossen, so konnten die Maedchen wohl auf eine Stunde
+die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und
+manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es ueber den Gang ging und
+begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kuehl. Schlimmer
+war's, wenn sie etwa ueberhoerten, dass die Musikstunde vorbei war und die
+Schueler im Finstern tappen mussten. Dann erschraken sie sehr, stuerzten
+eilig hinaus, um zum Schluss noch zu leuchten, entschuldigten sich und
+waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte.
+
+Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fraeulein Vernagelding
+hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hoerten die Maedchen
+das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe.
+Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hoerten den Vater
+noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heisst denn diese Note?"
+
+"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen
+wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfaeffling sagte nur noch etwas rasch zu
+seiner Schuelerin: "Ich glaube, es ist genug fuer heute, besinnen Sie sich
+daheim, wie diese Note heisst," und gleich darauf kam Fraeulein
+Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere
+haette ihren Rueckweg im Dunkeln gesucht, aber das Fraeulein gehoerte nicht
+zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an
+und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfaeffling, mir
+graut so vor dem langen dunkeln Gang, wuerden Sie nicht Licht machen?"
+
+Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner aengstlichen
+Schuelerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die
+Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in
+Gegenwart von Fraeulein Vernagelding gezankt, so dass dieser ganz das
+Lachen verging und sie so schnell wie moeglich durch die Treppentuere
+verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer musste also mit mancher
+Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.
+
+So lernten denn die jungen Pfaefflinge an den langen Winterabenden, der
+eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in
+der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben
+schlechte Zeugnisse nach Hause.
+
+An einem solchen Novemberabend war es, dass Herr Pfaeffling in das Zimmer
+trat und seiner Frau zurief: "Caecilie, komme doch einen Augenblick zu
+mir herueber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Tuere
+zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie
+folgte ihm ueber den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie
+beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag
+auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies,
+lies nur!" und als er sah, dass sie mit der fremden Handschrift fuer seine
+Ungeduld nicht schnell genug vorwaerts kam, sprach er: "Die erste Seite
+ist nebensaechlich, die Hauptsache ist eben: Kraussold aus Marstadt
+schreibt, es solle dort eine Musikschule gegruendet werden, und er wolle
+mich, wenn ich Lust haette, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust haette,
+Caecilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust haette, in einer
+groesseren aufbluehenden Stadt eine Musikschule zu gruenden, alles nach
+meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor
+zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und aehnlichen zu plagen;
+Caecilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit
+froehlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust haette? Wie kann man
+nur so fragen!"
+
+Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und
+besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eroeffnete.
+Und sprachen so lang, bis Elschen heruebergesprungen kam und rief:
+"Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln
+kalt!"
+
+"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfaeffling neckend,
+folgte Mutter und Toechterchen und war den ganzen Abend voll
+Froehlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her,
+und die glueckliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller
+Uebereinkunft die Eltern zunaechst vor den Kindern noch nichts von dem
+unsicheren Zukunftsplan erwaehnten.
+
+Herr Kraussold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung
+hervorgebracht hatte, war Herrn Pfaeffling aus frueheren Jahren gut
+bekannt, doch hatte er die Familie Pfaeffling noch nie besucht. Bei
+diesem Anlass nun kuendigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit
+auf den naechsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen
+und mit dem fuenf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfaeffling war in einiger
+Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwoehnter Herr," sagte er
+zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn fuer Kinder hat, am
+wenigsten fuer sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund
+treten."
+
+"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stoeren die Kinder
+nicht," sagte Frau Pfaeffling.
+
+"Aber zum Tee moechte ich ihn herueber ins Esszimmer bringen. Die Kinder
+koennen ja irgendwo anders sein, dann richtest du fuer uns drei einen
+gemuetlichen Teetisch."
+
+Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, dass sie an diesem
+Nachmittag moeglichst unhoerbar und unsichtbar sein sollten wegen des
+erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater
+zu den Kleinen: "Lasst euch nur nicht blicken, wer weiss, wie es euch
+sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"
+
+Zunaechst mussten alle zusammen helfen, die schoenste Ordnung herzustellen,
+bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein kaeme. Das Wetter war
+leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.
+
+Am Fenster stand immer einer der Brueder als Posten und als nun der Vater
+in der Fruehlingsstrasse in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn
+auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und
+verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit
+dem zaeh an den Fusssohlen haftenden Lehm liess sich nicht gut auf den
+Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und
+weinte klaeglich, denn sie sah uebel aus. Die Schwestern bemuehten sich,
+mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu saeubern. Da tat sich ein
+Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht
+das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
+herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber
+hinauf!"
+
+"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen klaeglich.
+
+"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch
+ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Fuesse
+gut ab."
+
+Die Maedchen liessen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wusste nicht
+recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den
+Bruedern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch
+lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die
+Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die
+Tuere hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra fuer seine
+kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die
+Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den
+Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choraele eingeuebt, die wollte er
+auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und
+hatte kein Verlangen mehr nach den Bruedern, obwohl er sie von seinem
+hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der
+den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im
+Oktober waren neue Rekruten eingerueckt, die nun taeglich ihre Turnuebungen
+ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter
+Bekannter, ein frueherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich
+ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in
+Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von
+grossem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte
+freundschaftlich mit Karl.
+
+Aufmerksam sahen die jungen Pfaefflinge nach dem Turnplatz hinueber. Unter
+den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung ueber ein
+gespanntes Seil ueben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu
+anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen
+Anlauf, um ueber die Schnur zu kommen und wenn es ihm fuenfmal misslungen
+war, so kam er doch das sechste mal darueber und der Schweiss redlicher
+Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten
+machten gleichgueltige, stoerrische Gesichter und traege Bewegungen. Als
+die Abteilung zur Kaserne zurueck kommandiert wurde, mussten sie
+nachexerzieren. Das war nun kein schoener Anblick. Dazu fing es an zu
+regnen, grosse waesserige Schneeflocken mischten sich darunter, und die
+kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespraech ueber die
+unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie
+wollten all diese Uebungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da,
+zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an
+Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, dass Schnee und Regen herunter
+fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die
+Brueder ueber ihn. Er wuerde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter.
+Welche Schande, wenn ein Pfaeffling so schlecht auf dem Turnplatz
+bestuende. Es durfte nicht sein, dass er immer nur Harmonika spielte, sie
+wollten ihn auch springen lehren, er musste mittun, gleich morgen. Er
+sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht:
+drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten!
+
+Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben
+die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Maedchen,
+die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, dass sie
+erkundigen sollten, wie es oben stuende. Marie wagte sich hinauf,
+erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise
+nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte
+sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.
+
+"Er ist im Wohnzimmer," fluesterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer,
+da hoert man uns nicht."
+
+Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das
+Eckzimmer. Dort fuehlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was
+sie gerne gehabt haetten, von Buechern und Heften oder Spielen hier nichts
+zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in
+dem kuehlen Zimmer zu frieren, denn sie waren nass und durchkaeltet. "Wir
+wollen miteinander ringen, dass es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und
+Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen
+Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du
+Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stuehle aus dem
+Weg." Sie taten es und dann machten sie es den grossen Geschwistern nach.
+Das gab ein Gelaechter und Gekreisch und aber auch einen grossen Plumps,
+weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
+
+In diesem Augenblick ging die Tuere auf; Herr Pfaeffling hatte ahnungslos
+seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie
+miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch fuer einen Kinderfreund waere
+dieser Knaeuel sich balgender Knaben und ringender Maedchen kein schoener
+Anblick gewesen, und nun erst fuer den Kinder_feind_!
+
+Er prallte ordentlich zurueck. Elschen schrie beim Anblick des
+gefuerchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen
+Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Tuere
+besann sich Karl, kehrte zurueck, gruesste und sagte: "Entschuldige, Vater,
+wir wollten drueben nicht stoeren, deshalb sind wir alle hier gewesen,"
+dann stellte er rasch die Stuehle an ihren Platz und rettete dadurch noch
+einigermassen die Ehre der Pfaefflinge, die sich wohl noch nie so
+unguenstig praesentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenueber.
+
+Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfaeffling zur
+Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem grossen Tisch im
+Wohnzimmer und sassen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch
+war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und
+was er sagen wuerde bei seiner Rueckkehr von der Bahn; die Mutter war ja
+nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.
+
+Nun kam der Vater heim. Eine merkwuerdige Stille herrschte im Zimmer, als
+er ueber die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und
+betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie
+nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige
+Laemmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drueben!" Bei
+diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten,
+sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit
+weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schoen da, wo er hin gehoert?"
+
+"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er kaeme
+oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfaeffling hinzu, indem er sich
+an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Muehe mehr, unser
+Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in kuenstliches Licht zu
+stellen, denn so ein kuenstliches Licht verloescht doch ploetzlich und dann
+ist die Dunkelheit um so groesser."
+
+Ein paar Stunden spaeter, als Elschen laengst schlief, die Schwestern Gute
+Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten
+Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, sass Karl noch allein mit den Eltern
+am Tisch. Seit seinem fuenfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es
+wurde allmaehlich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewuenscht;
+manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute
+Nacht".
+
+Die drei, die nun noch am Tische sassen, waren ganz schweigsam und
+bewegten doch ungefaehr denselben Gedanken.
+
+Herr Pfaeffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, dass ich mit
+meiner Frau von Marstadt reden koennte. Die Kinder sollen ja noch nichts
+davon wissen. Er zog seine Taschenuhr--es war noch nicht spaet. Dann ging
+er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
+
+Frau Pfaeffling dachte: Meinem Mann ist es laestig, dass wir nicht allein
+sind, aber er moechte Karl doch nicht so frueh zu Bett schicken. Nein,
+diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und
+nicht ahnt, dass er stoert.
+
+Darin taeuschte sich aber Frau Pfaeffling, denn Karl dachte: Der Vater
+schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Tuere hinausginge, wuerden
+sie reden, ueber Herrn Kraussold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine
+besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fuenf Minuten
+seine Uhr. Er moechte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und
+die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, dass ich freiwillig gehe. Er
+klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute
+Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."
+
+"Gute Nacht, Karl."
+
+Sie waren ueberrascht, dass er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte
+Herr Pfaeffling. "Oder hat er gemerkt, dass er uns stoert," meinte die
+Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und
+er hat gelesen."
+
+"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfaeffling
+laechelnd.
+
+"Das muss ich noch erfahren," sagte Herr Pfaeffling lebhaft und rief
+seinen Jungen noch einmal zurueck: "Sage offen, warum du so bald zu Bett
+gehst?" Einen Augenblick zoegerte Karl, dann erwiderte er schelmisch:
+"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."
+
+"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, dass
+du Takt hast--uebrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier
+bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir
+besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfaeffling, "er wird nun
+bald sechzehn Jahre. Komm, Grosser, setze dich noch einmal zu uns."
+
+Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fuehlte er sich wie ein
+Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde
+erfuhr er, was seine Eltern gegenwaertig freudig bewegte.
+
+Als er sich aber eine Stunde spaeter leise neben seine Brueder zu Bette
+legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen
+koennte, das Vertrauen der Eltern zu taeuschen, und er fuehlte, dass keine
+Lockung noch Drohung stark genug waere, ihm das anvertraute Geheimnis zu
+entreissen.
+
+In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach
+Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die ueber die Ernennung
+des Direktors fuer die neu zu gruendende Musikschule zu entscheiden
+hatten. Es kam noch ein anderer, juengerer Mann aus Marstadt fuer die
+Stelle in Betracht, und nun musste sich's zeigen, ob Herr Pfaeffling
+wirklich, wie sein Freund Kraussold meinte, die besseren Aussichten habe.
+Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfaeffling immer
+kleinmuetiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, waehlen, statt
+dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich
+seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen
+Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen wuerden!
+
+In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein
+Freund Kraussold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs
+seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ Munde
+lautete das Urteil ueber seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum
+Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes ueber die
+Strasse ging, sah er selbst den Juengling, der sein Mitbewerber war, und
+von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann fuer solch eine Stelle,
+der sollte nur noch zehn Jahre warten!
+
+In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am
+Bahnhof von Marstadt bot ein Maedchen Blumen an. In seiner
+hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz
+unerhoerten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraussold sah ihn gross
+an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?"
+
+"Fuer die zukuenftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfaeffling froehlich,
+und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu:
+"Weisst du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren
+knappen Verhaeltnissen."
+
+Sie verabschiedeten sich und Kraussold versprach, am naechsten Donnerstag
+gleich nach Schluss der Sitzung ihm den Entscheid ueber die Besetzung der
+Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfaeffling seiner
+Frau die Rose reichte, wusste sie alles, auch ohne Worte: seine
+glueckselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, dass er auch ihr ein
+schoeneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhoert
+verschwenderischen Gabe einer Rose im November!
+
+Die Sache blieb nicht laenger Geheimnis. Herr Pfaeffling besprach sie mit
+seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt ueber die
+geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch
+die Kinder hoerten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde
+es ins Ohr gerufen.
+
+Je naeher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den
+Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraussold ein, der keinen
+Zweifel mehr darueber liess, dass Pfaeffling einstimmig gewaehlt wuerde.
+
+Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als
+Herr Pfaeffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu
+Tisch wie gewoehnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen
+duerfte, wenn der Telegraphenbote klingeln wuerde. Die Mutter hatte das
+aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Loeffel aus der Hand und
+sagte: "Er kommt." Einen Augenblick spaeter klingelte es, und von den
+dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem
+Vater, der rasch den Umschlag zerriss. Es war ein langes, ein bedenklich
+langes Telegramm. Es besagte, dass noch in der letzten Stunde der
+Beschluss, im naechsten Jahre schon eine Musikschule zu gruenden,
+umgestossen worden sei und man eines guenstigen Bauplatzes wegen noch ein
+paar Jahre warten wolle!
+
+Herrn Pfaeffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Fuessen
+weggezogen haette, als er las, dass die ganze Musikschule, die er
+dirigieren wollte, wie ein Luftschloss zusammenbrach.
+
+O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestuerzt sahen die Eltern aus,
+wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den
+Maedchen die Traenen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von
+einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
+
+Frieder, der neben der Mutter sass, wandte sich halblaut an sie: "Es waere
+viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher
+ausgemacht haetten, und das mit dem Vater erst nachher."
+
+"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, dass alle
+erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug waeren wie du, aber die sind
+so--ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man ueberhaupt gar nicht
+sagen, dafuer gibt es keinen Ausdruck!"
+
+Frau Pfaeffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre
+wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann waere es
+ja nicht so sehr ferne gerueckt!"
+
+"Es koennen auch fuenf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfaeffling,
+"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter
+und ich komme darueber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen,
+Direktor bin ich _gewesen_."
+
+Mit diesen Worten verliess er das Zimmer, und man hoerte ihn ueber den Gang
+in das Musikzimmer gehen. Die Kinder assen, was auf ihren Tellern fast
+erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraussold waere gar nie in unser Haus
+gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud
+sich ueber ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraussold hat es nur gut
+gemeint. Ihr Kinder habt ueberdies allen Grund, froh zu sein, dass wir
+hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier aussen in der
+Fruehlingsstrasse. Fuer euch waere es kein Gewinn gewesen."
+
+"Aber fuer den Vater und fuer dich," sagte Karl, und er dachte an den
+schoenen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht
+anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich
+kommen darueber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen,
+aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehoert
+auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen muessen, wie alles, was
+Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muss ich's anpacken, damit
+es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.
+
+"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann
+deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinuebergehen. Nehmt
+auch die Rose mit hinaus, die Blaetter fallen ab."
+
+Im Eckzimmer wanderte Herr Pfaeffling auf und ab und wartete auf seine
+Frau, denn er wusste ganz gewiss, dass sie zu ihm kommen wuerde. Sie hatten
+schon manches Schwere miteinander getragen, und nun musste auch diese
+Enttaeuschung gemeinsam durchgekaempft werden.
+
+Als Frau Pfaeffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand
+und reichte es ihr mit schmerzlichem Laecheln: "Da sieh, gestern abend
+war ich so zuversichtlich, da habe ich fuer dich ein kleines Lied
+komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die
+Kinder haetten im Chor den Schlussreim mitsingen duerfen, auf den jeder
+Vers ausgeht:
+
+ "'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+ Es lebe die Direktorin!'
+
+"Nun muss es heissen:
+
+ "'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
+ Du wirst niemals Direktorin.'"
+
+"Nein, nein," wehrte Frau Pfaeffling, "du musst es anders umaendern, es
+muss ausgedrueckt sein, dass wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."
+
+"Fuer den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er truebselig,
+"ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen."
+
+Sie sprachen noch lange von der grossen Enttaeuschung, und dann kamen sie
+auf den beginnenden Winter zu sprechen, fuer den noch nicht so viel
+Stunden angesagt waren als noetig erschien, um gut durchzukommen. So
+erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.
+
+Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Tuere
+eine Kinderstimme: "Duerfen wir herein?"
+
+"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter
+der Tuere erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit
+strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen,
+Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch.
+Die zwei Grossen sahen zaghaft aus, wussten nicht recht, wie die
+Ueberraschung wohl aufgenommen wuerde. "Was faellt euch denn ein, Kinder?"
+fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
+Traenen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil
+ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne fluesterte der Mutter zu: "Von
+unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus
+und hoerten eben unter der Tuere, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann
+kann ich freilich nicht zanken," so war also die Ueberraschung gut
+aufgenommen worden.
+
+Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfaeffling,
+die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich
+vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er
+war sich keiner festtaeglichen Stimmung bewusst! Aber man musste es doch
+schon den Kindern zuliebe tun, sicher wuerde Marie, das Hausmuetterchen,
+gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem
+festtaeglichen Kaffee gegenueber wich die graue Novemberstimmung
+unwillkuerlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu
+seiner Frau: "Man muesste eben den Schlussreim so veraendern:
+
+ "'Direktor her, Direktor hin,
+ Wir haben dennoch frohen Sinn.'"
+
+Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau
+Pfaeffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fraeulein Vernagelding
+sein?"
+
+"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglueckselige Stunde, die
+hatte ich total vergessen, muss die auch gerade heute sein! Wenn ich die
+jetzt vertrage, Caecilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst
+nicht, wie unmusikalisch das Fraeulein ist!" Frau Pfaeffling hatte das
+Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war laengst damit
+verschwunden, bis Fraeulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und
+Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Loeckchen zurechtgesteckt
+hatte. Herr Pfaeffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese
+unbegabteste aller Schuelerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und
+mit holdem Laecheln sagte: "Heute duerfen Sie es nicht so streng mit mir
+nehmen, Herr Pfaeffling, ich konnte nicht so viel ueben, denken Sie, ich
+war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in
+Rosa."
+
+"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfaeffling und trippelte bereits
+etwas nervoes mit seinem rechten Fuss. "Aber jetzt wollen wir gar nicht
+mehr an den Ball denken, sondern bloss an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht
+immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich fuer mich. Schon
+wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an
+den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfaeffling," entgegnete sie und sah ihn
+strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu,
+dass ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergruen. Ist das nicht
+suess?" Herr Pfaeffling sprang vom Stuhl auf. "Suess, ja suess!"
+wiederholte er, "aber zwischen zwei Baellen Sie mit der G-dur Tonleiter
+zu plagen, das waere grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie
+lieber heim fuer heute."
+
+"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schuelerin
+empfahl sich mit dankbarem Laecheln und Knix.
+
+Als Frau Pfaeffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, dass
+Fraeulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal
+entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.
+
+Herr Pfaeffling erzaehlte, dass ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube
+aber nicht, dass es das Fraeulein uebelgenommen habe.
+
+"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekraenkt sein," sagte
+Frau Pfaeffling besorgt.
+
+Unnoetige Sorge! Als das tanzlustige Fraeulein daheim von der abgekuerzten
+Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr.
+Er goennt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnuegen. Wir muessen ihm
+gelegentlich ein Praesent machen, Agathe."
+
+
+
+
+3. Kapitel
+
+Der Leonidenschwarm.
+
+
+Samstag nachmittag war's und eifrige Taetigkeit in Haus und Hof. Frau
+Pfaeffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die
+Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob
+sie gerne das Geschirr in der Kueche abtrockneten und mit Vorliebe den
+Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die
+Lampen, das wusste niemand, aber das wussten alle, dass diese Arbeiten
+geschehen mussten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden
+konnte.
+
+Die Brueder hatten auch fuer etwas einzustehen im Haus: Sie mussten sorgen,
+dass in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorraetig war. Das
+hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in froehlicher
+Taetigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als
+Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen
+Pfaefflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich muehsam ein Sprungseil zu
+spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen
+versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er
+heruebergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei
+Pfaehle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Hoehe
+spannen liess, ganz wie drueben auf dem Militaerturnplatz, nur dass auf
+kleinere Turner gerechnet werden musste. Frieder wurde herbeigeholt. Er
+war fuer einen Achtjaehrigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt
+wie seine leichtfuessigen Brueder. Es zeigte sich, dass man das Seil noch
+viel naeher am Boden spannen musste, und als er seine ersten
+Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darueber sprang,
+lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen frueheren Kinderjahren,
+das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht uebel, um so weniger als
+Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst
+probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte:
+"Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem grossen Instrument, gestern
+haben ihm viele Soldaten zugehoert, da hat's geklungen wie das Lied:
+'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das
+lernen wir jetzt in der Schule."
+
+"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"
+
+"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder
+ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da
+wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine
+Mitschueler." Frieder machte grosse Augen. Daheim war eigentlich immer nur
+eine Stimme des Aergers ueber sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er
+sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie
+hoeren wuerden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher
+hatten sie sich immer moeglichst miteinander entfernt von allen Menschen,
+und nun sollten sie sich vordraengen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber
+doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, waehrend seine
+Brueder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzaehlte gern von
+seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte
+er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er,
+"vor dem Kasernentor. Da blaest einem der Wind eisig um die Ohren und die
+Fuesse werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her laeuft. Man hoert
+auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man
+sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein
+Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten
+war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere
+Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz
+unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind
+gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue,
+wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in grossem Bogen ueber
+den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und
+zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir
+zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet waere, denn, dachte
+ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich
+zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzaehlst du das nicht, sie
+meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer
+naechtlichen Felddienstuebung heim und die hatten es auch beobachtet und
+fingen gleich davon an zu erzaehlen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklaert, dass
+alle Jahre in den Naechten um den 12. bis 15. November herum so ein
+Sternschnuppenschwarm sei, der heisse der Leonidenschwarm. In manchen
+Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach
+Mitternacht und man sehe es nur selten so schoen wie in der vergangenen
+Nacht, weil die Novembernaechte meistens trueb seien. Wenn's heute nacht
+hell waere, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis."
+
+Karl, der grosse, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle
+mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mussten sie
+sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und
+von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis
+der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es
+war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen
+dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das
+praktische Hausmuetterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht
+ohne Hausschluessel geht, die Haustuere wird nachts geschlossen." Also
+musste man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der
+Jugend den Hausschluessel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett
+in die Novembernacht hinaus wuerden sie sich erkaelten. Und alle beide
+fuerchteten sie, die Hausleute moechten bei Nacht gestoert werden. Dagegen
+sagte der Vater, seine Buben duerften nicht so zimperlich sein, dass sie
+nicht eine Stunde draussen in der Winternacht aushalten koennten, und die
+Mutter erzaehlte, dass sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt
+haette, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brueder
+versicherten, dass sie lautlos die Treppe hinunterschleichen wuerden. Da
+machte die kleine Else, die gespannt zugehoert hatte, ob die Brueder mit
+ihrer Bitte wohl durchdringen wuerden, den Schluss, indem sie erklaerte:
+"Also dann duerft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber
+doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brueder hielten es fuer
+klug, nimmer auf das Gespraech zurueckzukommen. Ueberdies fing es am Abend
+an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand
+dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu
+Bett ging, bemerkte er, dass am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren.
+Wenn es nun doch moeglich wuerde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und
+konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Waehrend nun Stille im ganzen Haus
+wurde und die Nacht weiter vorrueckte, loesten und verteilten sich am
+Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern
+leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster
+huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen waere, strahlte ihm der klarste
+Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer
+fliegenden Kugel gesehen zu haben.
+
+Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei
+das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glueck lag das Bubenzimmer nicht neben
+dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brueder hatten nicht
+einmal mehr Lust zu dem naechtlichen Unternehmen, aber die stellte sich
+wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei
+in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Ploetzlich ging die
+Tuere leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles:
+"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde gefluestert; das grosse
+warme Tuch flog herein, die Tuere ging leise wieder zu. Mit klopfendem
+Herzen nahm Karl den Hausschluessel vom Nagel, in Struempfen, die Stiefel
+in der Hand, schlichen sie alle Drei ueber den Gang, und die Treppe
+hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mussten doch die
+Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches
+Geraeusch, nicht ohne Gefluester. Auch der Schluessel bewegte sich nicht
+ohne metallenen Klang im Schloss und die Tuere nicht ohne Knarren in den
+Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem
+Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun
+waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.
+
+Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas
+gehoert. Sie wusste zunaechst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber
+sie hatte das Gefuehl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich
+im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton
+der sich schliessenden Haustuere und dann ein Fluestern ausserhalb
+derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat
+nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr
+unerklaerlich. "Es ist ungehoerig," sagte sie sich, "wer solch naechtliche
+Spaziergaenge macht, der soll nur draussen bleiben," und rasch
+entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustuere
+vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus
+herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon
+herausbringen, wer hinausgeschluepft war. War es jemand mit gutem
+Gewissen, der mochte klingeln.
+
+Auf Frieders hohem Brettersitz sassen die drei Brueder in der Stille der
+Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In
+wunderbarer Klarheit woelbte er sich ueber ihnen. Das war ein Schimmern
+und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so
+schoen gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen waere," sagte Karl,
+"so wuerde mich's doch nicht reuen, dass ich aufgestanden bin." "Mich
+reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, dass
+einer von den Sternen auf einmal anfaengt zu fliegen. Die stehen da
+droben alle so fest!"
+
+"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten.
+Ein heller, weissglaenzender Stern schoss am Firmament in weitem Bogen
+dahin und war dann ploetzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die
+riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine
+Strecke gewesen sein, groesser als das ganze Deutsche Reich. Staunend
+sahen die Kinder hinauf: da--schon wieder eine Sternschnuppe, groesser als
+die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder
+eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in
+gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zaehlen, aber als die Zeit
+vorrueckte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
+Sternschnuppen immer haeufiger, oft waren zwei oder drei zugleich
+sichtbar, es war ueber alles Erwarten schoen. Allmaehlich schoben sich aber
+von Westen herauf immer groessere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne
+zu verdunkeln. Endlich kam das Gewoelk bis an die Himmelsgegend, von der
+die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden
+Blicken nicht laenger das schoene Schauspiel vergoennt sein sollte, zog
+sich eine dichte Decke ueber die ganze Herrlichkeit.
+
+Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken wuerden
+sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein
+einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto,
+"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollstaendig Nacht, und die
+Brueder empfanden auf einmal, dass es kalt war und sie selbst mued und
+schlaefrig. Jetzt ins warme Bett zu schluepfen, musste koestlich sein! Also
+kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.
+
+"Hast du doch den Schluessel, Karl?" "Jawohl, da ist er."
+
+"Das waere kein Spass, wenn du den verloren haettest und wir muessten da
+draussen bleiben in der Kaelte!"
+
+Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an
+die Tuere. Karl schloss auf und klinkte an der Schnalle, aber die von
+innen verriegelte Tuere ging nicht auf. "Was ist denn das?" fluesterte
+Karl, drehte den Schluessel noch einmal im Schloss auf und zu und klinkte
+und drueckte gegen die Tuere, aber die gab nicht nach.
+
+"Lass doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
+herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.
+
+"Lasst doch, ihr verdreht das Schloss noch," sagte Karl, "ihr seht doch,
+es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloss ist doch in
+Ordnung, was haelt die Tuere zu?"
+
+In leisem Fluesterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat
+etwas vor die Tuere gestellt, damit wir nicht hereinkoennen." "Oder den
+Riegel vorgeschoben."
+
+"Ja, ja, den Riegel. Natuerlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das
+getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen:
+"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"
+
+"Aber er hat es doch erlaubt!"
+
+"Ich weiss nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"
+
+"Wir haetten vielleicht um den Hausschluessel bitten sollen."
+
+"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehoert, hat gemerkt, dass wir
+ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muss ja so sein,
+wer haette es sonst tun sollen?"
+
+Nach einigem Nachdenken ueber diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln
+duerfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in
+den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon
+schlafen."
+
+So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Suender ums Haus herum und
+suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so
+stockfinster gewesen waere und die Bretter so nass und so hart und so
+unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen waere!
+Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal
+reicht doch nicht fuer drei, ihr koennt ihn haben und ich laufe lieber hin
+und her, wie wenn ich Wache haette. Wer weiss, in drei Jahren muss ich's
+ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brueder in das Tuch, wanderte stramm
+hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber
+nach einer kleinen Weile hoerte er einen seltsamen Ton. Was war denn das?
+Er kam naeher zu den Bruedern her--wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte
+ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und
+klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner
+unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fuehlte sich Karl
+als Aeltester verantwortlich: "Die muessen ins Bett," sagte er sich,
+"sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die
+Marianne wach rufen koennen, damit sie uns ausriegelt." Da waren die
+Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des
+Hauses, wo das Schlafzimmer der Maedchen lag, und nun galt es so laut zu
+rufen, dass diese aufwachten, und zugleich so leise, dass Hartwigs, die
+unter ihnen schliefen, nichts hoerten. "Marianne, Marianne," klang es
+zuerst leise und allmaehlich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es haette
+gehen sollen, die Schwestern hoerten nichts und die Hausleute wachten
+auf.
+
+Die Hausfrau laechelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun
+moechte man wieder herein." Sie erzaehlte ihrem Mann von der verriegelten
+Tuere. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brueder
+erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hoerten. Keiner ruehrte sich,
+keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus,
+lauschte--sah nichts, hoerte nichts und schloss das Fenster. Eine gute
+Weile blieben unsere drei Ausgestossenen wie angewurzelt stehen. "Wir
+wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie
+tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der
+Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es
+unbegreiflich, dass die Schwestern so fest schliefen.
+
+"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfaeffling erkannt," sagte
+die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draussen
+sein in der kalten Nacht? Lass mich mal rufen, mich kennen sie besser!"
+und leise oeffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es,
+Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie
+dreistimmig, naeherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur
+Marianne rufen, damit sie uns hereinlaesst." Die Hausfrau erschrak. So
+hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Boesen hatte sie gedacht,
+denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln wuerden, aber nicht an
+die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.
+
+"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur
+hinaus?"
+
+"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie
+vorwurfsvoll und schloss das Fenster.
+
+"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr,
+"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da
+schwaermen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen
+Morgen?"
+
+Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu
+seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was noetig ist.
+Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiss, ob das Haus nachts
+geschlossen bleibt, dann hoert ja alles auf. Fuer solche Mietsleute
+bedanke ich mich!"
+
+Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob
+den Riegel der Haustuere zurueck. Die drei frierenden, uebernaechtigen
+Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig mass sie mit
+so veraechtlichem Blick, dass ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung
+entfiel, sie standen vor ihm wie das boese Gewissen. Er schob sie von der
+Tuere weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig
+und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei
+ihm die Wohnung gekuendigt."
+
+Ach, auf den nassen, harten Brettern draussen in der Winterkaelte war es
+den drei Bruedern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen
+Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der
+Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr
+Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie musste er erst zuernen, wenn
+er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie
+sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum
+andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen
+der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kuendigung herausbeschworen,
+in ihren Augen das groesste Familienunglueck!
+
+Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fuehlten sich
+ein wenig gedeckt dadurch, dass Karl, der grosse, der Anfuehrer gewesen
+war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht
+vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte.
+Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf.
+
+Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine
+Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, dass sie alle schwer aus dem
+Bett kamen, bedrueckt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr,
+als die Schwestern durch die Tuerspalte hereinriefen: "War's recht schoen
+heute nacht?" Als er aber gern erfahren haette, von was die Rede sei,
+bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon
+hoeren." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser
+zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim
+Fruehstueck waren und von Marie und Anne wussten, dass die Brueder in der
+Nacht fort gewesen waren. Diese zoegerten aber immer noch, zu kommen.
+Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muss es gesagt
+werden, kommt!"
+
+Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
+Wohnzimmer, wo Herr Pfaeffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte.
+"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglueckt? Heute nacht um 11 Uhr
+hat sich der Himmel so schoen aufgeklaert, da dachte ich an euch, war aber
+der Meinung, ihr wuerdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schoen?"
+
+Die drei waren so betroffen ueber die unerwartet freundliche Anrede, dass
+sie zunaechst gar keiner Antwort faehig waren. Frau Pfaeffling ahnte gleich
+Boeses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht
+gut? Oder habt ihr den Hausschluessel verloren?"
+
+"Das nicht."
+
+"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl naeher und
+sagte: "Ich will es ganz erzaehlen wie es war. Um ein Uhr sind wir
+hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken
+gewesen--wie schoen es da war, sage ich spaeter. Um halb drei Uhr etwa
+wollen wir wieder ins Haus, da ist die Tuere von innen zugeriegelt."
+
+"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus
+einem Mund.
+
+"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurueck, wollten auf
+den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter
+Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das
+hoerte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir
+sagten, wo wir herkaemen und dass wir nicht hereinkoennten. Da riegelte
+Herr Hartwig die Haustuere auf und liess uns herein." Karl hielt inne.
+
+"So habt ihr richtig die Hausleute gestoert!" sagte Frau Pfaeffling.
+"Haettet ihr mir doch gesagt, dass ihr in dieser Nacht fort wollt, ich
+wuerde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So
+aber waren sie wohl aengstlich, als sie etwas hoerten und haben deshalb
+geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?"
+
+"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Koepfe. Herr
+Pfaeffling sah seine Soehne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht
+alles gesagt."
+
+"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die
+schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr laesst dir sagen, auf
+1. Januar sei gekuendigt."
+
+Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
+Jammerschrei: "O haetten wir doch das Rufen gehoert, waeren wir doch
+aufgewacht!" Herr Pfaeffling aber straeubte sich, die Nachricht zu
+glauben. "Es ist doch gar nicht moeglich, dass das sein Ernst ist, glaubst
+du das, Caecilie? Kann das wirklich sein? Kuendigt man, weil man einmal im
+Schlaf gestoert wird? Taeten wir das? Mich duerfte man zehnmal wecken und
+ich daechte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er
+denn sonst noch gesagt?"
+
+"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's
+schon vorher ausgedacht haette."
+
+"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
+beguetigen? Ihr Stoepsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt?
+Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Laeuten? Die Marianne
+rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"
+
+Frau Pfaeffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes:
+"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht
+verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie
+in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen."
+
+"Wie die Leintuecher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch,
+fruehstueckt!"
+
+So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
+wirklich ihr Fruehstueck brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
+verschlangen ihr Teil mit wahrem Heisshunger, und als sie damit fertig
+waren, griffen sie noch ueber zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen
+und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht
+wehrte gegen den Uebergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fuehlte
+er, dass es so sein muesse.
+
+Herr Pfaeffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung,
+so dass es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf,
+seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verliess das Zimmer, um sich zum
+taeglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst
+eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn
+zu begegnen. Aber da waere gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner
+wuenschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie
+Pfaeffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verliess.
+
+So gab es zwei Maenner im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei
+Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken
+an die Sorge, die der Familie Pfaeffling auferlegt wurde, jetzt bei
+Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttaeuschung durch die
+Direktorsstelle. Und es kraenkte sie, dass ihr Mann mit Recht von der
+leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel
+von der Familie gehalten, ja, sie spuerte es erst jetzt recht deutlich,
+eine wahre Liebe hatte sie fuer sie alle empfunden, ganz anders als je
+fuer fruehere Mietsleute. Sie musste das alles mit Frau Pfaeffling
+besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, dass sie hinaufging.
+
+Frau Pfaeffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie
+hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des
+echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewaehrt hatten. Wie
+stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht
+hinauszuschliessen und dann noch zu kuendigen, und das alles bloss wegen
+einer gestoerten Nachtruhe! Sie musste sich das erklaeren lassen von Frau
+Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die
+beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.
+
+Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien
+benuetzten. Das war der grosse Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum
+Waeschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weisszeugs.
+Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Waesche hinaufgegangen, fing an,
+das Rad zu drehen und zu mangen.
+
+Frau Pfaeffling konnte das unten gut hoeren. Nicht lange, so stieg auch
+sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hoeren.
+
+Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen froehlichen Sinnes
+miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Missverstaendnis mehr und
+sie waren der guten Zuversicht, dass sich auch die beiden Maenner
+miteinander verstaendigen wuerden.
+
+Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht
+gestern Remboldt erzaehlt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der
+Wache gesehen hat?"
+
+"Ja, du warst ja dabei."
+
+"Weisst du, wie man diese Sternschnuppen heisst? Ich habe es heute zum
+erstenmal gehoert, die heisst man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte
+Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem
+Mann zu denken gab. Sie wusste ja, dass mit dem richtigen Verstaendnis des
+Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfaeffling schwinden musste. Sie
+wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefuehl wuerde ihn treiben, zu
+tun, was recht war.
+
+Am Nachmittag fasste er die drei Lateinschueler ab, als sie heimkamen. Er
+liess sich von ihnen genau erzaehlen, wie herrlich der Sternenhimmel
+gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der
+Leonidenschwarm hiessen. Das wusste Karl: weil diese Sternschnuppen, die
+da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Loewen
+ausgingen.
+
+Waehrend sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, dass der
+Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und
+fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit
+all seiner frueheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiss eben gar nichts von
+der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm fuer einen Verein oder
+dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas
+dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht boes sein,
+wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde.
+Sagt nur eurem Vater: die Kuendigung gilt nicht!"
+
+Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
+Freundschaft und Froehlichkeit im ganzen Haus.
+
+Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnuebungen zurueckkehrten, trafen
+sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller
+einen Vorrat Aepfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht,"
+sagte sie und gab jedem einen Apfel.
+
+"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht,
+damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen
+jetzt immer ganz nahe am Gelaender und wir Buben muessen ganz dicht an der
+Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so
+hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu gehen,
+setzte er einen Fuss vor den andern, verlor das Gleichgewicht und
+kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Fuesse der
+erschrockenen Hausfrau.
+
+Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
+zurueckkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser
+sie's meinen, um so aerger poltert's."
+
+
+
+
+4. Kapitel
+
+Adventszeit.
+
+
+"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reissen, das duenne
+Blaettchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhuellt?" Die jungen
+Pfaefflinge standen alle in die eine Ecke gedraengt, wo der Kalender hing,
+und stritten sich, halb im Spass, halb im Ernst darum, wer den Dezember
+aufdecken duerfe. Die Eltern, am Fruehstueckstisch, sahen auf. "Buben,
+galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brueder vom Kampfplatz
+zurueck. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das
+Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es miteinander," sagten
+sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es
+war Sonntag, und kein gewoehnlicher Sonntag, sondern der erste Advent.
+Die schoenste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur
+bei den Kindern. Herr Pfaeffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung
+an: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt
+Verlangen, o meiner Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme,
+zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise,
+denn sie allein von der ganzen Familie war vollstaendig unmusikalisch und
+sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.
+
+Bald darauf war es fuer diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit
+sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige
+nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfaeffling wollte heute
+mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Fluestern.
+Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe
+standen und sich von den Zurueckbleibenden verabschieden wollten, fand
+sich's, dass es heute gar keine solchen gab, dass alle sieben bereit
+standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll dann
+aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfaeffling bedenklich.
+
+"Es klingelt fast nie waehrend der Kirchenzeit," versicherte der
+Kinderchor.
+
+"Aber wir koennen doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
+Prozession!" wandte Herr Pfaeffling ein.
+
+"Wir gehen drueben, auf der anderen Seite der Strasse," sagten die Buben.
+
+"Aber Walburg muss wenigstens wissen, dass sie ganz allein zu Hause ist,
+hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfaeffling. Als das Maedchen die
+ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wusste sie schon, was man von
+ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wuensche gesegnete
+Andacht".
+
+Draussen schien die Wintersonne auf bereifte Daecher, Sonntagsruhe
+herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche
+einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben
+liessen aber, ihrem Versprechen gemaess, die ganze Breite der
+Fruehlingsstrasse zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach
+einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er
+nicht laenger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.
+
+Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs
+Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest
+sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das
+dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden
+die Kleinen ungeduldig." So haette sie auch gestern noch gesagt, aber
+heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war
+ueber Nacht ganz nahe gerueckt. Im Daemmerstuendchen zog Frau Pfaeffling
+Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weisst du denn noch, wie schoen
+der Christbaum war?"
+
+Sie wusste es wohl noch, und als nun die Geschwister ueber Weihnachten
+plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand
+sie nicht hinter den Grossen zurueck, im Gegenteil, wenn sie mit
+leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine
+Hauptperson, die allen die Freude erhoehte.
+
+Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten
+fluesternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken koennten. Es durfte
+kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld
+kosteten, sprachen sie ganz veraechtlich. "Es ist keine Kunst, in einen
+Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht
+Eigenartiges, Schoenes und Nuetzliches zu bescheren, das ist eine Kunst!"
+Ja, eine so schwere Kunst ist das, dass sich die Beratung sehr in die
+Laenge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer
+der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er musste ihn
+ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, dass ungnaedige
+Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Kueche,
+wo Walburg sass und in ihrem Gesangbuch las. Sie hoerte diese Toene, und da
+sie sich in ihrer Taubheit ueber alles freute, was bis an ihr Ohr drang,
+schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, dass er sich bei ihr
+niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Kueche.
+
+Am naechsten Tag mussten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
+Hintergrund treten, denn in die Schule passten sie nicht. Nur Frieder
+wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte
+er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen
+und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hoerte es und wunderte
+sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordraengen wollen mit seiner
+Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hoeren zu lassen. Sie mochte es
+ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen,
+bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner grossen Harmonika in der Hand,
+den Schulranzen auf dem Ruecken, durch die Fruehlingsstrasse.
+
+Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte,
+bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der
+grossen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verliessen und
+die Schueler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht
+so.
+
+Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch
+schon ein paar kecke Buerschchen zu: "Der Pfaeffling hat seine
+Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob
+Frieder denn mit dem grossen Instrument zurechtkaeme. Nun stiessen ihn die
+Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel
+doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergass
+seine vielen Zuhoerer, vergass die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig
+war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."
+
+Der Lehrer liess ihn gewaehren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhoerten
+und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du
+das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte
+Frieder, "Harmonika muss man nicht lernen, das geht von selbst."
+
+"Das geht vielleicht bei euch Pfaefflingen von selbst, aber bei anderen
+nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am naechsten stand, "koenntest
+du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen."
+"Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer,
+"aber jetzt: auf eure Plaetze."
+
+Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und musste
+spielen. Es kamen auch groessere Schueler von anderen Klassen herbei und
+die wollten nicht nur hoeren, die wollten es auch probieren. Die
+Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer
+riss sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie
+geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder
+zurueck und als er sie ansah, wurde er blass und als er sie zog, gab sie
+keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen
+auf den kleinen Musikanten.
+
+"Wer hat's getan?" hiess es nun. Die Frage ging von einem zum andern und
+wurde zum Streit, aber Frieder kuemmerte sich nicht darum, er verwandte
+keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand ueber sie, er
+drueckte sie zaertlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber
+er wusste es ja schon vorher, dass ihre Stimme erloschen war und nimmer
+zum Leben zu erwecken.
+
+Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
+neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hoeren und nichts sehen von
+ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange
+Fruehlingsstrasse nach Hause, rief die Mutter und drueckte sich bitterlich
+weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!"
+
+Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein
+Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Haende,
+bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und liess sie dann ganz
+enttaeuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er
+selbst hatte ja seine Freundin den boesen Buben ausgeliefert. Haette er
+sie in der Stille fuer sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten
+wollen, so waere sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein
+Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, dass er vielleicht
+eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen wuerde.
+
+Aber etwas anderes half ganz unvermutet.
+
+Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die
+Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks fuer
+die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen
+getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr ueben, so zog ihn nichts
+ab. Er hatte still zugehoert, wie allerlei Vorschlaege gemacht und wieder
+verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf
+den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht."
+
+"So geh du hinunter und denke dir etwas fuer mich aus," sagte eines der
+Geschwister. "Fuer mich auch!" "Und fuer mich," hiess es nun von allen
+Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren grossen
+Schal mit hinunter. Er ging auf das Plaetzchen, das er so gern mit seiner
+Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz
+in das grosse Tuch, sass da allein, war vollstaendig erfuellt von seiner
+Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, dass er sie loesen wuerde. Auf der
+Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte.
+Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.
+
+Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister
+um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das grosse Wort gefuehrt hatte,
+streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da
+nun gar kein Zweifel mehr sein koennte: "Du, Karl, musst ein Gedicht
+erdichten und du, Wilhelm, auf einen so grossen Bogen Papier schoene
+Sachen abzeichnen und Otto muss so laut, wie es der Rudolf Meier beim
+Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das
+schoenste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei koennen
+nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum muessen wir
+solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt,
+Nussschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zuendhoelzer, einen
+rechten Sack voll."
+
+Jedes der Kinder dachte nach ueber den Befehl, den es erhalten hatte, und
+fand ihn ausfuehrbar. "Ich weiss, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich
+zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden
+bist."
+
+"Und ich mache ein Gedicht ueber unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga
+darin vorkommt, dann gefaellt es dem Vater." Sie waren alle vergnuegt.
+"Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid fuer dich, dass du deine
+Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die andern
+stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man
+die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fuehlte er sich
+gluecklich auch ohne Harmonika.
+
+Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es,
+viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis
+abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.
+
+Unter den jungen Pfaefflingen war Otto der beste Schueler, und er galt
+viel in seiner Klasse. Nun sass hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der
+machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte.
+Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte
+sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mussten es
+erfahren, wenn hohe Persoenlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und
+wenn gar Fuerstlichkeiten erwartet wurden, fuehlte er sich so stolz, dass
+sich's die andern zur Ehre rechnen mussten, wenn er sich an solchen Tagen
+von ihnen die Aufgaben machen liess. Er war aelter und groesser als alle
+andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen
+schaemte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben
+herab: "In solch einem Welthotel muesse selbstverstaendlich die
+gewoehnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurueckstehen."
+
+Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gruende, warum er heute ein ganzes
+Stueck Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Fruehlingsstrasse
+entgegengesetzt lag.
+
+Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in
+kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier
+ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestaerkten Manschetten und
+Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf
+Groessere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in
+Verlegenheit, Pfaeffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen
+abliefern sollen. Es ist gegenwaertig keine Moeglichkeit bei uns, all dies
+Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Wuerdest du mir
+nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, dass ich einige Stellen
+vergleichen koennte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder
+einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
+deine Unterschrift unter den Klex."
+
+Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen.
+"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?"
+sagte Otto aergerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles
+abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, dass du das magst."
+
+"Weil du nicht weisst, wie es bei uns zugeht, Pfaeffling, anders als bei
+euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als
+ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen,
+Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehoeren zur feinsten
+Aristokratie. Haben fuenf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet.
+Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer.
+Werden wohl die Revolution fuerchten, haben ihr Geld gluecklich noch aus
+Russland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die
+Dinge in Russland gestalten. Gegen solche Gaeste ist man artig, das
+begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie moechte
+ihren beiden Soehnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen
+er wohl empfehlen koennte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft,
+kommt natuerlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heisst es:
+'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfaecher,
+gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswuerdigen
+Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den
+Unterricht in Gang zu bringen.'
+
+"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
+Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spuerst gleich, dass du mit
+wirklich Adeligen zu tun hast, und der grosse Herr mit seiner
+militaerischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem
+Seidenkostuem imponieren dir, du musst dich schon zusammennehmen. Die zwei
+jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein
+Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?
+
+"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblueffen. Es
+hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen
+Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, dass ich genug zu
+laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl
+noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine
+Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln."
+
+Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht--wenn das ein Pfaeffling
+hoert, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den
+Musikunterricht geben?" fragte er.
+
+"Weiss ich nicht."
+
+"Meier, da koenntest du meinen Vater empfehlen."
+
+"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heisst, fuer solche
+Herrschaften muss man immer das feinste waehlen."
+
+"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."
+
+"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so
+etwas, das hoeren sie gern."
+
+"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als
+Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen
+ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren
+fuer ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muss."
+
+"Dann kann ich wohl etwas fuer ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend,
+"vorausgesetzt, dass sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und
+nicht bei den Professoren."
+
+"Dem musst du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, musst du
+mit den Russen sprechen."
+
+"Meinst du, da koennte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast
+keinen Begriff von Umgangsformen."
+
+"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muss, weiss ich freilich nicht,
+aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann moechte ich wohl wissen,
+was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar
+nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal
+in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein
+Schwindel."
+
+"Ich vermag viel im Hotel."
+
+"So beweise es!"
+
+"Werde ich auch. Vergiss nicht, dass du mir deine Hefte versprochen hast."
+
+So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnuegt heim, rief die
+Geschwister zusammen und erzaehlte von der schoenen Moeglichkeit, die sich
+fuer den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum
+Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel
+zu und kamen ueberein, dass sie den Eltern zunaechst kein Wort sagen
+wollten, es sollte nicht wieder eine Enttaeuschung geben.
+
+Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am naechsten Tag, in
+einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater
+empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"
+
+"_Zehn_ Aufsaetze," sagte Otto, "mach aber, dass es _bald_ so weit kommt."
+
+Einen Augenblick spaeter traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und
+erzaehlte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause
+vorueber war, fasste er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest
+das zuruecknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So
+moechte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er
+soll seine Aufsaetze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater
+viel zu vornehm."
+
+Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern
+der Aerger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler."
+So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, dass sie darueber
+geschwiegen hatten. Sie dachten laengst nicht mehr daran, als eines
+Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom Zentralhotel hat
+diesen Brief fuer dich abgegeben, er soll auf Antwort warten."
+
+Frau Pfaeffling begriff nicht die Blicke gluecklichen Einverstaendnisses,
+die die Kinder wechselten, waehrend ihr Mann die Karte las, auf der
+hoeflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und
+Klavierstunden vorstellen moechte. Die Karte war an Herrn Direktor
+Pfaeffling adressiert, und als die Brueder diese Aufschrift bemerkten,
+fluesterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der
+Rudolf Meier!
+
+Der Diener des Zentralhotels bekam fuer die Ueberbringung einer so
+erwuenschten Botschaft ein so schoenes Trinkgeld, wie er es von dem
+schlichten Musiklehrer nie erwartet haette, und als er Herrn Meier senior
+ausrichtete, dass Herr Direktor Pfaeffling noch diesen Nachmittag
+erscheinen werde, fuegte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr."
+
+Bei Pfaefflings war grosse Freude. Otto erzaehlte alles, was Rudolf Meier
+von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hoerten ihm
+zu, er war stolz und gluecklich und konnte gar nicht erwarten, bis der
+Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell
+ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr
+Pfaeffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in
+Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttaeuschung
+gibt," sagte er, waehrend er sich eine seine Krawatte knuepfte, "wer weiss,
+wie die hohen Aristokraten sich in der Naehe ausnehmen, mit denen dieser
+Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfaeffling hatte aber gute Zuversicht: "Das
+erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten fuer
+ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schueler
+bekommen als Fraeulein Vernagelding."
+
+"Ach, die Unglueckselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr
+Pfaeffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurueck sein, fuer meine
+Marterstunde."
+
+Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die
+andern, er fuehlte sich doch als der Anstifter des ganzen.
+
+Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war
+schon der Abenddaemmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die
+Ganglampe war schon angezuendet und von Marie und Anne in ihr Stuebchen
+geholt worden. Um fuenf Uhr war Fraeulein Vernageldings Zeit. Frau
+Pfaeffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute
+schien er sich doch zu verspaeten. Nun schlug es fuenf Uhr, es klingelte,
+Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.
+
+Zwischen Fraeulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmaehlich
+eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig
+herbeikamen mit der Lampe und gefaellig Hilfe leisteten bei dem Anziehen
+der Gummischuhe, dem Zuknoepfen der Handschuhe und dem Aufstecken des
+Schleiers, so freute dies das Fraeulein und es plauderte mit den viel
+juengern Maedchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hoerte, dass
+Herr Pfaeffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnuegt darueber,
+lachte und spasste mit den Schwestern.
+
+"Herr Pfaeffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen
+heisst so?"
+
+"So heissen wir bloss miteinander," antworteten sie, "wir koennen es
+eigentlich nicht leiden, jede moechte lieber ihren eigenen Namen, Marie
+und Anne, aber so ist's eben bei uns."
+
+Das fand nun Fraeulein Vernagelding so komisch, dass ihr etwas albernes
+Lachen ueber den ganzen Gang toente. Sie hatte inzwischen abgelegt.
+
+"Mutter sagte, Sie moechten nur einstweilen anfangen, Klavier zu
+spielen," richtete Marie aus.
+
+"Ach nein," entgegnete das Fraeulein, "ich moechte viel lieber mit Ihnen
+plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muss doch sein. Es
+lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnaediges Fraeulein spielen
+Klavier? und man muss antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint
+Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer,
+ich sei unmusikalisch. Herr Pfaeffling ist schon mein vierter Lehrer. Die
+Herrn wollen immer nur musikalische Schuelerinnen, es kann aber doch
+nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muss es doch auch den
+Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"
+
+"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da waere es doch
+zuviel fuer den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloss
+die, die recht musikalisch sind."
+
+Die drei Maedchen, an der Tuere stehend, fuhren ordentlich zusammen, so
+ploetzlich stand Herr Pfaeffling bei ihnen. Im Bewusstsein seiner
+Verspaetung war er mit wenigen grossen Saetzen die Treppe heraufgekommen.
+Fraeulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie
+mich erschreckt, Herr Pfaeffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so
+elegant." Herr Pfaeffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit mehr
+verlieren, bitte um Entschuldigung, dass ich Sie warten liess."
+
+"O, es war ein so reizendes Viertelstuendchen," hoerte man sie noch sagen,
+ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick
+nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres
+Zeichen war, dass Fraeulein Vernagelding am Klavier sass.
+
+"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen
+ist?" wurden Marie und Anne von den Bruedern gefragt. Sie wussten nichts
+zu sagen, man musste sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am
+schwersten, und er passte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und
+im selben Augenblick, wo Fraeulein Vernagelding durch die eine Tuere das
+Zimmer verliess, schluepfte er schon durch den andern Eingang hinein und
+fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfaeffling lachte
+vergnuegt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzaehle es euch im
+Wohnzimmer," und schon unter der Tuer rief er: "Caecilie, Caecilie," und
+seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Kueche herbeigeholt werden.
+Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum meine Tassen
+abstellen darf, dann muss es auch im Zentralhotel gut ausgefallen sein!"
+
+"Ueber alles Erwarten," rief Herr Pfaeffling, "eine durch und durch
+musikalische Familie, die beiden Soehne feine Violinspieler, ich glaube
+kaum, dass wir _einen_ solchen Schueler in der Musikschule haben, und ihre
+Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, dass es ein Hochgenuss sein
+wird, mit ihr zusammen vierhaendig zu spielen. Aber nun will ich euch
+erzaehlen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen
+empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf
+Meier erkannt habe. Der fuehrt mich nun in einen kleinen Salon, spricht
+mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, kein
+Mensch denkt, dass man einen Schuljungen vor sich hat, der von so einem
+Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte mir
+nun, er habe es fuer besser gehalten, mich als Herr Direktor einzufuehren,
+und ich moechte nur auch meine Honoraransprueche darnach richten, die
+Familie wuerde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen
+Leuten gegenueber muesse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich
+die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier
+fuehlte sich ganz als mein Fuehrer, klopfte fuer mich an und stellte mich
+dem russischen General als Herrn Direktor Pfaeffling vor. Eine Weile
+blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz nahm, empfahl er
+sich.
+
+"Der General ist schon ein aelterer Herr mit grauem Bart und ist nicht
+mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen
+durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei
+jungen Soehnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle
+ziemlich zurueckhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in
+die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt davon,
+dass die Soehne spaeter vielleicht einige Violinstunden nehmen sollten, und
+ich hatte das Gefuehl: es wird nichts daraus werden. Die Unterhaltung war
+auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht gelaeufig Deutsch,
+versuchten es mit Franzoesisch, als sie aber mein Franzoesisch hoerten, da
+meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch.
+
+"Mir wurde die Sache ungemuetlich, es beengten mich auch die ungewohnten
+Glacehandschuhe, dazu musste ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
+Lehnsessel ruhig sitzen und wusste gar nicht, wohin mit meinen langen
+Beinen, dabei war es mir immer, als muessten sie mir ansehen, dass ich kein
+Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worueber
+allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter
+und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei
+lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, fuer
+welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas
+ueberrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich
+ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher
+Oper sie etwas hoeren wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr
+Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach ihr
+um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfaeffling; ich waere
+allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, aber
+zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich.
+
+"Es war ein praechtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer
+naeher heran und hoerten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, dass
+wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann
+Violine, und die Dame versicherte mich, dass vierhaendiges Klavierspiel
+ihre groesste Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag
+ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach dem
+Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung mochte ich
+nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine Hotelrechnung
+stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, begleiteten die
+Herren mich ganz freundlich an die Tuere, alle Steifheit war vorbei und
+die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich vergessen hatte.
+
+"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er
+hat offenbar die Verhandlungen von aussen beobachtet und wird morgen in
+der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er
+ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmuetiger Mensch, schien sich
+wirklich zu freuen, dass die Sache gut abgelaufen war, und fluesterte mir
+zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Tuere begleitet worden, diese
+Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich habe ihm auch
+gedankt fuer seine Vermittlung, und wenn ich ihn oefter sehe, werde ich
+ihm einmal sagen: Sei doch froh, dass du noch ein junger Bursch bist, gib
+dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du bist! Er
+macht sich ja nur laecherlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines
+Geschaeftsmannes? Der General hat ihn natuerlich laengst durchschaut."
+
+"Ja, ja," stimmte Frau Pfaeffling zu, "er soll von dir lernen, dass man
+sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhoeht haben."
+
+"Ja," sagte Pfaeffling vergnuegt, "und dass man trotz allem Stunden
+bekommt. Kinder, kommt mit herueber, jetzt muss noch ein gehoeriges
+Jubellied gesungen werden!"
+
+Waehrend im Haus Pfaeffling in froehlichem Chor gesungen wurde, sagte der
+General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher
+Deutscher."
+
+Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfaeffling wird mir morgen meinen
+Aufsatz machen."
+
+Und Fraeulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die
+Marianne ist suess, ich moechte ihr etwas schenken." Da ueberlegte Frau
+Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer
+Glacehandschuhe."
+
+
+
+
+5. Kapitel
+
+Schnee am unrechten Platz.
+
+
+Der Dezember war schon zur Haelfte vorueber, bis endlich, endlich der
+erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Floeckchen
+stundenlang gleichmaessig zur Erde faellt und in einem einzigen Tag das
+ganze Land ueberzieht mit seiner weichen, weissen Decke; der alles
+verhuellt, was vorher braun und haesslich war, der alles rundet und
+glaettet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schoen, die
+Schneelandschaft, aber am allerschoensten doch, wenn das lautlose Fallen
+des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
+Weihnacht.
+
+Dezember--Schnee--Tannenbaum--Weihnacht, ihr gehoert zusammen bei uns in
+Deutschland. In manchen Laendern hat man versucht, unsere Feier
+nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude goennen, aber solch
+eine Sitte muss aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie kuenstlich
+verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.
+
+Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
+Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden
+Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie
+wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen
+Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde,
+klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke
+herunter, die man fuer sie hinaufgehaengt hatte. Dann wurden die Lichter
+ausgeblasen, damit kein Aestchen anbrenne und der Diener gerufen, dass er
+sogleich den Baum, der in einem Kuebel voll Erde steckte, zuruecktrage zu
+dem Gaertner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im
+Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.
+
+"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge
+Deutsche und sah ihm wehmuetig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch
+unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.
+
+Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie goennt dem
+Christbaum nicht den Platz?
+
+ * * * * *
+
+Im Dunkel des fruehen Dezembermorgens waren die jungen Pfaefflinge durch
+den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit
+dickbeschneiten Maenteln und Muetzen angekommen. Im Schulhof flogen die
+Schneeballen hin und her, und bis zu der grossen Pause um 10 Uhr waren
+die zahllosen Spuren der Kinderfuesse schon wieder von frischem Schnee
+bedeckt und die groessten Schneeballenschlachten konnten ausgefuehrt
+werden.
+
+Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerueckt, kniete da und
+sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein
+grosser weisser Wall vor dem Kasernenzaun aufgetuermt lagen. Und von diesem
+Zaun hatte jeder Stecken sein Kaeppchen, jeder Pfosten seine hohe Muetze
+auf.
+
+Frau Pfaeffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas
+sehen," und schnell fuehrte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und
+oeffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus
+vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle
+beladen mit Christbaeumen.
+
+"Christbaeume, Christbaeume," jubelte Elschen so laut, dass einer der
+Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als
+er das glueckselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Fuer dich ist auch
+einer dabei!" Die Kleine ergluehte vor Freude und winkte dem Schneemann
+nach.
+
+Aber alles auf der Welt ist nur dann schoen und gut, wenn es an seinem
+richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand
+voll von diesem schoenen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und
+richtete dadurch Unheil an.
+
+Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Strassenecke, wo
+einige Lateinschueler mit Realschuelern zusammentrafen, gab es ein
+hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfaeffling war auch dabei. Einer
+der Realschueler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen,
+indem er sich hinter der Strassenecke verbarg, dann rasch hervortrat,
+seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die
+anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn
+nehmen. Es waren ihm einige tuechtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit
+warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken liesse. Jetzt wurde
+eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht
+der Realschueler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
+flogen dicht an seinem Kopf vorueber, zwei trafen ihn ganz gleichmaessig
+auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz
+fuer den Schnee!
+
+Herr Sekretaer Flossmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so
+schlecht empfangen wurde, stand still, warf boese Blicke und kraeftige
+Worte nach den Jungen. Dass sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus
+Ungeschick geschehen, dass nun aber einige laut darueber lachten und dicht
+an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.
+
+Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehoert, zu den frechen nicht.
+Nach Pfaefflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und
+erklaerte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees
+abschuetteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und
+Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, dass Herr
+Sekretaer Flossmann, als er ein paar Haeuser weit gegangen war, einem
+Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle
+die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun
+freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen
+sahen, liefen auf und davon.
+
+Aber einen von Wilhelms Kameraden fasste er doch noch ab und fragte nach
+seinem Namen. Der zoegerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der
+Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hoeren.
+
+"Also, dein Name," draengte der Schutzmann. "Wilhelm Pfaeffling," lautete
+die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.
+
+"Die Wohnung?"
+
+"Fruehlingsstrasse."
+
+"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir
+auf die Polizei willst." Er liess sich's nicht zweimal sagen. Ein
+"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfaeffling. Baumann war sein
+Name.
+
+"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfaeffling
+schadet das nichts, der ist ueberall gut angeschrieben, aber bei mir ist
+das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heisst's:
+fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich
+aufgeschrieben werden sollte, der Pfaeffling hat ebensogut geworfen wie
+ich."
+
+Ahnungslos und mit dem besten Gewissen sass am naechsten Abend unser
+Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig
+zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemueht, seinen Frieder,
+mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht
+so ausgefallen, dass allen davor graute. Nun musste er unwillkuerlich auf
+seinem Fliessblatt Studien machen ueber des kleinen Bruders gutmuetiges
+Gesichtchen, das sich ueber die biblische Geschichte beugte, die vor ihm
+lag. Dazu kam, dass die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken
+sassen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu
+dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren
+Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er
+achtete gar nicht darauf, dass Herr Pfaeffling eintrat und gerade hinter
+seinen Stuhl kam.
+
+"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah
+ueberrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was
+ist's, Vater?" fragte er.
+
+"Das frage ich dich," sagte Herr Pfaeffling, "ein Polizeidiener war da
+und hat dich vorgeladen, fuer morgen, auf die Polizei. Was hast du
+angestellt?"
+
+"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann
+doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn
+getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"
+
+"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
+ungeschickt geworfen haben. Koennt ihr nicht aufpassen?" rief Herr
+Pfaeffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an
+des Vaters Hand, dass es klatschte.
+
+"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschaeft
+beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf
+diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein
+Moeglichstes getan, dass man ihm glauben musste. Die ganze Geschwisterschar
+fing nun an, aufzubegehren ueber den unguten Mann, der trotzdem auf der
+Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch
+genau hoeren, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen
+gewusst habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklaeren. "Muss ich
+denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?"
+
+"Um 11 Uhr."
+
+"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muss ich es dem
+Professor sagen, dann erfaehrt es der Rektor und schliesslich kommt die
+Sache noch ins Zeugnis!"
+
+"Natuerlich erfaehrt das der Rektor," sagte Herr Pfaeffling, "die anderen
+sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"
+
+Es war eine Weile still, jedes dachte ueber den Fall nach. "Koenntest du
+nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfaeffling zu ihrem
+Mann, "und ein gutes Wort fuer ihn einlegen?"
+
+Herr Pfaeffling ueberlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der
+Musikschule, da kann ich unmoeglich fort. Das muss er schon allein
+ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um
+einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiss sonst gar
+nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!"
+
+"Gar nichts, als dass die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen
+haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geaergert.
+Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."
+
+"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heisst es mitgefangen,
+mitgehangen." Elschen drueckte sich an die Mutter und sagte klaeglich:
+"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schoen." Und es widersprach ihr
+niemand, fuer diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude
+aus dem Hause gewichen.
+
+Noch spaet abends, im Bett, fluesterten die beiden Schwestern zusammen,
+berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt wuerde,
+und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und
+sagte: "Das aergste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der
+Polizei hoert, dann kuendigt er uns!"
+
+Da war es denn schon wieder in der Familie Pfaeffling, das
+Schreckgespenst, die Kuendigung!
+
+So bangen Herzens, wie am naechsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie
+auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein
+Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine
+Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr
+doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte
+zufaellig gehoert, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von
+vier Buben muss sich auf allerlei gefasst machen."
+
+In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Uebeltaetern zu
+erkundigen. "Muesst ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die
+uebrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!
+
+"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu
+Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."
+
+"Es ist nicht wahr."
+
+"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Naehe und habe es
+deutlich gesehen."
+
+Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als
+der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner
+Schueler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn
+Pfaefflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte
+er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hoerte, dass
+Pfaeffling der einzige sei, sagte er: "Dann moechte ich mir auch
+ausbitten, dass die anderen sich nicht darum kuemmern. Es ist schon
+stoerend genug, dass einer vor Schluss der Stunde fort muss, gerade heute,
+wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich
+sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
+zusammen!"
+
+So wurde aeusserlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht
+zu bemerken, wie dem einen Schueler das Herz klopfte vor innerer
+Entruestung, dass er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen
+vor Angst darueber, dass sein Betrug an den Tag kommen wuerde.
+
+Kurz vor elf Uhr verliess Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors
+das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten
+Gaengen und auf der breiten Treppe, die nicht fuer so ein einzelnes
+Buerschlein berechnet war, sondern fuer einen Trupp froehlicher Kameraden.
+Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei musste er
+ganz allein tun. Und nun betrat er das grosse Gebaeude, in dem er ganz
+fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster
+Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kuemmerte sich um
+ihn; vor mancher Zimmertuere standen Maenner und Frauen und warteten. Nun
+war er bei Nr. 10, die uebernaechste Tuere musste die richtige sein,
+Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann--und das war Herr Pfaeffling.
+
+"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze
+Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erloesung. Herr Pfaeffling fasste
+ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,"
+sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, dass wir bald fertig werden!"
+
+Im Zimmer Nr. 12 sass ein Polizeiamtmann.
+
+Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache:
+Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretaer Flossmann mit
+Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das
+Schneeballenwerfen in unmittelbarer Naehe fortgesetzt habe.
+
+"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.
+
+"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber
+weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfaeffling ins Gespraech: "Du hast
+mir erzaehlt, dass du dich ausdruecklich entschuldigt habest und sofort
+heimgegangen seiest." Da laechelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte
+wohl der Vater besaenftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach
+der Aussage des Herrn Sekretaers und des Schutzmanns ganz anders, und Sie
+werden begreifen, dass ich diesen mehr Glauben schenke als dem
+Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretaer
+Flossmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines
+Vergehens entschuldigt hat."
+
+"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfaeffling, "dass sowohl Frechheit
+als Luege auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich waere sonst nicht
+mit ihm gekommen, sondern haette mich seiner geschaemt. Waere es nicht
+moeglich, den Herrn Sekretaer oder den Schutzmann zu sprechen?"
+
+"Gewiss," sagte der Amtmann, "Herr Sekretaer hat seine Kanzlei oben und
+der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen
+Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretaer Flossmann, einen Augenblick zu
+kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein."
+
+"Wir machen zwar gewoehnlich nicht so viel Umstaende, wenn es sich um
+solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie
+es wuenschen, koennen Sie von den beiden selbst hoeren, wie der Verlauf der
+Sache war."
+
+Ein paar Minuten spaeter trat der Sekretaer Flossmann und gleich darnach
+der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen
+der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte
+noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretaer Flossmann ins Wort,
+indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn
+gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort
+aufgehoert hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat,
+der mir selbst noch den Schnee abgeschuettelt hat?" und indem er auf
+Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in
+aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich
+nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann aergerlich an den Schutzmann:
+"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie moeglich gemacht?" Der
+rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfaeffling, den ich
+aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes
+Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"
+
+"Nein, aber es heisst keiner Wilhelm Pfaeffling ausser mir."
+
+"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe
+hinaus, das muss ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir
+den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht
+lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer
+Klasse."
+
+"Wie heisst er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zoegernd: "Ich
+kann ihn doch nicht angeben?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "du weisst es ja doch nicht gewiss, und
+deine Menschenkenntnis ist nicht gross."
+
+"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,"
+sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus
+ist."
+
+Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfaeffling: "Ich bedaure das
+Versehen," sagte er, und Wilhelm entliess er mit den Worten: "Du kannst
+nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und pass auf mit dem
+Schneeballenwerfen, in den Strassen ist das verboten, dazu habt ihr euren
+Schulhof!"
+
+Vater und Sohn verliessen miteinander das Polizeigebaeude. "O Vater," rief
+Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, dass du gekommen
+bist! Mir allein haette der Polizeiamtmann nicht geglaubt."
+
+"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal
+erzaehlt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel
+besser vorgebracht."
+
+"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spuere, dass man mir doch nicht
+glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft
+moechte ich etwas erzaehlen oder erklaeren, wie es gemeint war, dann denke
+ich: ihr haltet das doch nur fuer Schwindel und Ausreden, und dann
+schweige ich lieber."
+
+"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau
+mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge
+Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschuechtern lassen. Wer
+recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafuer fordern. Halte
+du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu
+demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber freilich musst
+du sicher sein, dass er darauf 'nein' sagt."
+
+Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
+auseinandergingen.
+
+"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte
+Wilhelm. "Hoellisch ungeschickt!" sagte Herr Pfaeffling, "ich mochte den
+Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Naechstsitzenden etwas von
+Familienverhaeltnissen und lief davon; wer weiss, was sie sich gedacht
+haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er
+es eben versteht."
+
+"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz
+gegen die Gewohnheit der Familie Pfaeffling griff er rasch nach des
+Vaters Hand, kuesste sie und lief davon.
+
+Als Herr Pfaeffling zu der musikalischen Jugend zurueckkam, sah er viele
+freundlich laechelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
+erfahren, dass du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt
+nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine
+Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut
+voruebergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der
+Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen
+Schriftsteller.
+
+"Dir ist es offenbar gnaedig gegangen auf der Polizei," sagte der
+Professor nach der Stunde zu Wilhelm.
+
+"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht
+aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem
+angegeben."
+
+"Wer? Einer aus meiner Klasse?"
+
+"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete
+Wilhelm.
+
+Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden
+sich um Wilhelm draengten und naeheres erfahren wollten, auch Baumann war
+unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, dass Baumann
+aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den
+falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern
+fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfaeffling hat das doch nichts
+geschadet, fuer mich waere es viel schlimmer gewesen. Du musst mir's nicht
+uebelnehmen, Pfaeffling, ich habe ja vorher gewusst, dass dir das nichts
+macht."
+
+"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief
+Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Luegner, das sage ich dir; aber dem
+Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann
+nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, dass du dich
+durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe
+hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es
+so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Groessere
+um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis
+um die naechste Strassenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen
+des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd
+am Tor. Da, ploetzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoss an ihm
+vorbei, in solcher Geschwindigkeit, dass er auch nicht _ein_ Gesicht
+erkannt hatte. Aergerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den
+Uebeltaeter auch noch nicht fassen koennen, das war ihm jetzt sicher, dass
+er zu dieser Klasse gehoerte, und er sollte ihm nicht entgehen.
+
+Wie war fuer Frau Pfaeffling dieser Vormittag daheim so lang und so
+peinlich! Immer musste sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiss nichts getan,
+was strafwuerdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder:
+'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in froehlicher Stimmung
+alles vorbereitet fuer das Weihnachtsgebaeck, heute haette sie es am
+liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie muehte sich
+sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: 'Wenn
+Mann und Kinder heimkommen von fleissiger Arbeit, sollen sie es zu Hause
+gemuetlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten,
+wenn sie draussen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld fuer
+sie verwenden?
+
+In dieser Stimmung sah Frau Pfaeffling diesen Morgen manches, was ihr
+nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter
+das Bett geschleudert; haesslich niedergetreten waren sie auch, wie oft
+hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den haetten
+die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn
+sehen muessen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die
+doch als Maedchen allmaehlich ein wenig selbst daran denken sollten, ob
+nichts zu besorgen waere! Das waren lauter Pflichtversaeumnisse, und wer
+daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draussen
+gegen die Ordnung verstossen. Aber freilich muesste die Mutter ihre Kinder
+fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war
+schuld.
+
+Elschen, die nicht wusste oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
+bedrueckte, kam in der froehlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen.
+Walburg hatte ihr die Teigschuessel ausscharren lassen. "Mutter," rief
+die Kleine, "die Backroehre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte
+heute einen unglueckseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie
+nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schuerze.
+
+"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter
+Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Haende
+waschen, und nicht an die Schuerze wischen," und sie patschte fest auf
+die kleinen Haende. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte
+sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie
+aber doch zum Backen in die Kueche, das angefangene musste trotz allem
+vollendet werden. Sie wollte den Schluessel zum Kuechenschrank mit
+hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekuemmert: 'Wo die
+Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhaelt, muss freilich die ganze
+Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung
+vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in
+aengstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf
+dem Heimweg zusammengefunden und in der Fruehlingsstrasse holte auch Herr
+Pfaeffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, sie
+allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles geloest
+hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!"
+
+Aber nicht nur Frau Pfaeffling passte auf die eilig Heimkehrenden, auch
+Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz
+andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustuere einen grossen Bogen
+Papier genagelt, auf dem mit handgrossen roten Buchstaben geschrieben
+stand:
+
+ Man bittet die Tuere zu schliessen!
+
+Darueber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es wuerde gar nichts
+helfen, die Pfaefflinge wuerden die Tuere offen stehen lassen.
+
+Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel
+ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig
+fluechtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Maedchen sind
+manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hoert, dass es
+mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustuere wird geschlossen."
+
+Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die
+Familie Pfaeffling sieben Mann hoch heim kam--eifriger sprechend als
+sonst, hoerte sie die Treppe hinauf gehen--noch flinker als gewoehnlich,
+ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustuere offen stehend, so
+weit sie nur aufging.
+
+Kopfschuettelnd schloss sie selbst die Tuere. Aber sie verlor nicht den
+guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, dass
+heute etwas besonderes los war.
+
+Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas
+kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."
+
+Droben herrschte nach ueberstandener Angst grosse Freude; auch Frau
+Pfaeffling war es wieder leicht ums Herz, gluecklich und dankbar sass die
+ganze Familie am Essen. Aber doch--zwischen Suppe und Fleisch--sagte die
+Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter
+geworfen?"
+
+"Vergessen!"
+
+"So geht jetzt und besorgt ihn."
+
+"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.
+
+"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch
+nicht helfen, ich haette gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht
+verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich
+nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Maedchen gingen mit dem
+Brief, Herr Pfaeffling sah seine Frau verwundert an.
+
+Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer
+es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast
+jetzt noch die Traenen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr
+Pfaeffling in das Wohnzimmer zurueck, wo die Grossen noch beisammen waren.
+
+"Hoert, ich moechte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, dass vor
+Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiss,
+wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders
+fuer die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn
+Sekretaer Flossmann entschuldigen, sonst werde es schlimm fuer ihn
+ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee fuer die Mutter
+machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen."
+
+Einer von Herrn Pfaefflings guten Ratschlaegen konnte nicht ausgefuehrt
+werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der
+Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem
+Gymnasium ausgewiesen.
+
+Am Abend ueberbrachte ein Dienstmaedchen einen schoenen Blumenstock--eine
+Musikschuelerin liess Frau Pfaeffling gratulieren.
+
+"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," liess Herr Pfaeffling
+sagen.
+
+Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht
+auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas
+anderes gemeint?
+
+
+
+
+6. Kapitel
+
+Am kuerzesten Tag.
+
+
+Es war der 21. Dezember, der kuerzeste Tag des Jahres. Um dieselbe
+Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fuenf Stunden am Himmel
+steht, sass man heute noch bei der Lampe am Fruehstueckstisch, und als
+diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trueb und daemmerig in den
+Haeusern. Allmaehlich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie
+gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schraegen Strahlen
+den Menschenkindern, die heute so besonders geschaeftig durcheinander
+wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der
+Thomastag, ein Feiertag fuer die Schuljugend. Jedermann wollte die
+wenigen hellen Stunden benuetzen, um Einkaeufe zu machen. Wieviel Gaense
+und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbaeume!
+Auf den Plaetzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und
+Tannen, von den kleinsten bis zu den grossen stattlichen, die bestimmt
+waren, Kirchen oder Saele zu beleuchten.
+
+Mitten zwischen diesen Baeumen, von ihrem weihnaechtlichen Duft und
+Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner
+Frieder. Er hatte fuer den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt,
+kam nun heimwaerts ueber den Christbaummarkt und konnte sich nicht
+trennen. Nun stand er vor einem Baeumchen, nicht groesser als er selbst,
+saftig gruen und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser
+Bub und dies Baeumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie
+standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen
+gehoerten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.
+
+"Du! dich meine ich, hoerst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel
+verdienen!" sagte ploetzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand
+legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem
+Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenueber. Die ihn angerufen
+hatte, war eine grosse, derbe Person, eine Verkaeuferin. Die andere eine
+Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den
+Baum heimtragen, du weisst doch die Luisenstrasse?" sagte die Frau und
+legte ihm den Baum ueber die Schulter.
+
+"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte
+die Dame.
+
+"O bewahre," meinte die Haendlerin, "der hat schon ganz andere Baeume
+geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm
+heim gehen." "Luisenstrasse 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame.
+"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur
+nicht auf, dass dich's nicht in die Haende friert." Da Frieder immer noch
+unbeweglich stand, gab ihm die Verkaeuferin einen kleinen Anstoss in der
+Richtung, die er einzuschlagen hatte.
+
+Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der
+andern, trabte der Luisenstrasse zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, dass
+er mehr aus Missverstaendnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wusste es
+aber nicht gewiss. Die Damen konnten die Baeume nicht selbst tragen, so
+mussten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbaeumen laufen,
+freilich meist groessere. Er war eigentlich stolz, dass man ihm einen
+Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brueder begegnet
+waeren oder gar der Vater!
+
+Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die
+Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmaehlich drueckte der Baum,
+obwohl er nicht gross war, unbarmherzig auf die Schulter, man musste ihn
+oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel
+entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne
+dass die steife, von der Kaelte erstarrte Hand es empfunden haette. Nun
+schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden
+Haenden. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm
+entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch
+deinen Baum hinter dich, so!" und der Voruebergehende schob ihm den Baum
+unter den Arm. Nach kuerzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du,
+Kleiner, du kehrst ja die Strasse mit deinem Christbaum, halte doch
+deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch
+die Luisenstrasse gluecklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden
+gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43
+und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das musste nicht schwer
+zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen,
+aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmaedchen wusste es
+ganz gewiss, der Baum gehoerte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr
+auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47.
+Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die
+Traenen, und eine mitleidige Frau hiess ihn sich ein wenig auf die Treppe
+setzen, um auszuruhen.
+
+"In der Luisenstrasse wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist
+Dr. Weber in Nr. 24, bei dem musst du fragen." Unser Frieder haette nun
+lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die
+richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich
+selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43
+vorbei bis an Nr. 24 und hoerte dort von dem Dienstmaedchen der Frau Dr.
+Weber, sie haetten laengst einen Baum und einen viel schoeneren und
+groesseren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Traenen herunter, und als er
+wieder auf der Strasse stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt
+hingehen wollte--heim zur Mutter. Es musste ja schon spaet sein,
+vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die
+Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es duerfe nichts, gar nichts
+mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!
+
+Und es war wirklich hoechste Zeit.
+
+Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber
+Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder
+hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag
+weggeblieben!"
+
+"Er ist gewiss schon laengst bei den Bruedern, im Hof, auf der Schleife.
+Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern.
+
+Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu
+aengstigen, nicht sowohl fuer den kleinen Bruder--was sollte dem
+zugestossen sein--, aber wenn er nicht zu Mittag kaeme, wuerden sich die
+Eltern sorgen und darueber aergern, dass doch wieder etwas vorgekommen sei.
+"Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, als nun
+die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von
+Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, froehlich
+und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?"
+
+"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehoert
+hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch
+in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man
+nur das Essen ein wenig verzoegern koennte," sagte Karl.
+
+"Das will ich machen," fluesterte Marie, ging in die Kueche, zog Walburg
+zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der
+Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht
+machen, dass man spaeter isst?" Walburg nickte freundlich, ging an den
+Herd, deckte ihre Toepfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen,
+den Linsen taete es gut, wenn sie noch eine Weile kochen duerften." Da
+sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu
+Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart.
+
+"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir koennen ja
+noch ein wenig mit dem Essen warten."
+
+"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die
+Kinder.
+
+So vergingen fuenf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er
+es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und
+bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfaeffling
+merkte jetzt, dass etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da
+stand Frieder ganz ausser Atem, mit gluehenden Backen, den Christbaum auf
+der Schulter und fragte aengstlich: "Isst man schon?"
+
+Als er aber hoerte, dass die Mutter ihn nicht vermisst hatte, und sah, wie
+man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn
+nur ab, du gluehst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie
+meinten alle, der Christbaum gehoere Frieder. "Nein, nein," sagte dieser,
+"ich muss ihn einer Frau bringen, ich weiss nur nimmer, wie sie heisst und
+wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hoeren,
+auch Herr Pfaeffling war hinzu gekommen und hoerte von Frieders
+Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du
+kleines Dummerle, du!"
+
+Die Linsen waren nun ploetzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, laesst
+sich denken.
+
+Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner
+rechtmaessigen Besitzerin bringen koenne. "Einer von euch Grossen muss mit
+Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfaeffling.
+
+"Aber wir Lateinschueler koennen doch nicht in der Luisenstrasse von Haus
+zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbaeume austragen,"
+entgegnete Karl.
+
+"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem wuerde
+ich mich schaemen."
+
+"So, so," sagte Herr Pfaeffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muss wohl
+ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke
+stand, hob ihn frei hinaus, dass er die Decke streifte und sagte
+spassend: "So werde ich durch die Luisenstrasse ziehen, eine Schelle
+nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehoert, der soll sich melden.'"
+
+"Ich denke doch," sagte Frau Pfaeffling, "einer von unseren dreien wird
+so gescheit sein und sich nicht darum bekuemmern, wenn auch je ein
+Kamerad denken sollte, dass er fuer andere Leute Gaenge macht." Sie
+schwiegen aber. Da setzte Herr Pfaeffling den Baum wieder ab und sagte
+sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, dass ihr meint: dies
+oder jenes passt sich nicht, das koennten die Kameraden schlecht auslegen.
+Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs Leben, fuehlt
+sich immer gebunden und haengt schliesslich von jedem Rudolf Meier ab."
+
+Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adressbuch gebeten und mit Hilfe
+dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, dass der Baum in
+die Luisenstrasse Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehoerte.
+
+Die drei grossen Brueder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir
+nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich haette gar nicht
+gedacht, dass es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt haettet."
+
+"Aber wenn du hinkommst, musst du dich darauf gefasst machen, dass man dir
+ein Trinkgeld gibt," sagte Karl.
+
+"Um so besser, wenn's nur recht gross ist, ich habe ohnedies keinen
+Pfennig mehr."
+
+Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins
+Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so
+lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem
+alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."
+
+Diesem bestimmten Befehl gegenueber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto
+musste sich bequemen, Frieder zu begleiten.
+
+Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstrasse gekommen, als
+Otto ploetzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte:
+"Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn
+sie meinen, ich muesse den Dienstmann machen. Das letzte Stueck kannst du
+doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen,
+nicht?"
+
+"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach
+war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller",
+das stimmte alles ganz gut mit dem Adressbuch und oben im zweiten Stock
+stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Tuere.
+
+Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein
+wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht frueher als
+Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloss, heim zu gehen,
+war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, dass er den Kleinen
+zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Fruehlingsstrasse wollte er
+mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich
+auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war Frieder schon
+laengst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war nicht so, das
+konnte er gleich daran merken, dass er von allen Seiten gefragt wurde:
+wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun musste er freilich erzaehlen, dass er
+nur bis in die Naehe des Hauses Nr. 43 den Baum getragen, und dann mit
+einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hoerte man auch schon wieder
+jemand vor der Glastuere, das konnte Frieder sein, und dann war ja die
+Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Ungluecksmensch
+und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum.
+"Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast
+alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er wuergte an den Traenen, die
+kommen wollten, und presste hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu
+Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht
+verstehen, warum er nicht oben oder unten bei anderen Hausbewohnern
+angefragt haette. Daran hatte er eben gar nicht gedacht. "Deshalb gibt
+man solch einem kleinen Dummerle einen groesseren Bruder mit," sagte Frau
+Pfaeffling, "aber wenn der freilich so treulos ist und vorher umkehrt,
+dann ist der Kleine schlecht beraten."
+
+"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem
+Baum und das duerft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurueck,"
+und flink fasste er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von
+seiner Schoenheit eingebuesst hatte, und sprang leichtfuessig davon.
+
+In der Luisenstrasse Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und
+sofort rief das Dienstmaedchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch
+noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo
+bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar
+nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehoert nicht
+mir."
+
+Wilhelm erzaehlte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen
+jungen Pfaefflingen gemacht hatte.
+
+"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er
+kam, war ich wohl mit meinem Maedchen wieder auf dem Markt, ich habe
+naemlich nicht gedacht, dass er noch kommt, und habe einen andern geholt,
+ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da
+konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr
+wohl schon einen zu Haus? Ich wuerde euch den gern schenken."
+
+"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.
+
+"Also, das ist ja schoen, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten
+kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, moechte ich noch einen
+Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?"
+
+Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnuegt mit
+seinem Baum heimwaerts.
+
+Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter
+angezuendet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe
+geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte,
+und liessen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie den Baum
+sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Maedchen ins Zimmer.
+"Unmoeglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, der
+unglueckselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht aufgemacht,
+wenn man noch so oft klingelt!"
+
+Aber Wilhelm lachte, zog vergnuegt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab
+ihn Frieder: "Der ist fuer dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum,
+Mutter, der gehoert uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfaeffling heim kam,
+ergoetzte er sich an der Kinder Erzaehlung von dem Christbaum, aber er
+merkte, dass es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte sie
+eben deshalb genauer hoeren. "Also so hat sich's verhalten," sagte er
+schliesslich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so gefuerchtet,
+dass du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann heisse ich
+dich einen Feigling!"
+
+Weiter wurde nichts mehr ueber die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
+"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte
+und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu
+vergessen. Es war auch am naechsten Morgen, an dem vierten
+Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem
+Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der
+Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, dass er ihr nachging, und
+liess sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich
+kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn
+um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er haelt mich doch fuer
+feig."
+
+"Ja, Otto, er muss dich dafuer halten, denn du bist es gewesen und zwar
+schon manchmal in dieser Art. Immer abhaengig davon, wie die anderen ueber
+dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur
+ankaempfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, dass du auch tapfer sein
+kannst."
+
+Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurueckkehrten,
+fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde spaeter heim und dann suchte er
+zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfaeffling sah von seinen
+Musikalien auf. "Willst du etwas?"
+
+"Ja, dich bitten, Vater, dass du das Wort zuruecknimmst. Du weisst schon
+welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt
+gestanden und habe dann fuer jemand einen Baum heimgetragen. Drei von
+meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld,
+die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfaeffling mit froehlichem, warmem
+Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war
+auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!"
+
+
+
+
+7. Kapitel
+
+Immer noch nicht Weihnachten.
+
+
+Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der
+Familie Pfaeffling am meisten freute auf den Schulschluss, das war gerade
+das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das
+Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie
+zurueckdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die
+schoensten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von
+Aufgaben ueber die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, dass
+die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen
+redeten, die sie bekommen wuerden.
+
+Sie sassen jetzt beim Fruehstueck, aber es wurde hastig eingenommen, die
+Schulbuecher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, dass
+morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig
+und missmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es
+gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?"
+
+"O doch," antwortete Herr Pfaeffling, "in der Wueste Sahara zum Beispiel
+ist zurzeit noch keine eroeffnet."
+
+"Da musst du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch.
+Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, dass der Vorschlag
+nichts taugte, und sie sah wieder, dass gegen die Schule ein fuer allemal
+nichts zu machen war.
+
+Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der
+letzten Schulstunde den grossen Bruedern froehlich entgegenkam, wurde sie
+nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise
+gefuehrtem Gespraech und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer.
+Es waren naemlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es sich,
+dass Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die geringste
+Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl 4 war
+bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfaefflinge vorgekommen. "So dumm
+sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, dass ein paar
+Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht doch auf den
+ersten Blick den Vierer."
+
+"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schoensten
+Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."
+
+"Wenn wir es nur einrichten koennten, dass wir die Zeugnishefte erst nach
+Weihnachten zeigen muessten. Meint ihr, das geht?"
+
+"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, dass der Vater
+darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; haettest du es
+nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen koennen?"
+
+Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren
+inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brueder
+auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt,
+ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie
+fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, und der
+Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon zufrieden sein."
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."
+
+"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.
+
+"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen
+soll, dass der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"
+
+Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und
+zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezaehlt und
+dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese musste, trotz
+des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so dass die Eltern wohl befriedigt
+sein konnten. Die Mutter hatte ueberdies selten Zeit, die Heftchen
+anzusehen, und dem Vater wollte man die schoene Durchschnittsnote in
+einem geschickten Augenblick mitteilen, dann wuerde er nicht weiter
+nachfragen; erst nach Neujahr mussten die Zeugnisse unterschrieben
+werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte man
+nicht. Wilhelm war sehr vergnuegt ueber den Gedanken, Otto, der das beste
+Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
+ueberstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.
+
+Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis
+gezeigt, nun wurde es ihm von den Bruedern abgenommen. "Seht nur," sagte
+Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!"
+
+"Dafuer kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur
+von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten
+bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft
+wieder, Karl?"
+
+"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, dass ich rechnen kann."
+
+"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie muetterlich, "das Elschen hat
+sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Tuere hinaus.
+
+Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es
+uebernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, dass er gewiss nicht
+nach den Heften fragen wuerde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr
+Pfaeffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das
+Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, dass er
+in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse
+bekommen und die Noten zusammengezaehlt. Dann hat Karl berechnet, was wir
+fuer eine Durchschnittsnote haben, weisst du, was da herausgekommen ist?
+Magst du raten, Vater?"
+
+"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muss fort, aber hoeren moechte ich
+es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis
+drei vielleicht?"
+
+"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"
+
+"Recht gut," sagte Herr Pfaeffling; er hatte nun schon den Hut auf und
+Marie bemerkte noch schnell unter der Tuere: "Die Zeugnisheftchen will
+ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, dass du sie dann einmal
+unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfaeffling
+noch von der Treppe herauf.
+
+Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfaeltig, aber
+sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht wuerden sie da
+niemand in die Haende fallen.
+
+Herr Pfaeffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel,
+denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten
+und so betrat er auch heute in froehlicher Stimmung das Hotel. Diesmal
+stand die grosse Fluegeltuere des untern Saales weit offen, Tapezierer
+waren beschaeftigt, die Waende zu dekorieren, der Besitzer des Hotels
+stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt
+seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfaeffling,
+nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Grosse Taetigkeit herrschte
+in den untern Raeumen. An der angelehnten Tuere des Speisezimmers stand
+ein kleiner Kellner, die Serviette ueber dem Arm, einige Flaschen in der
+Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbaeume in den Saal getragen
+wurden. Aber ploetzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm
+ertoente eine scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen
+feil, mach dass du an dein Geschaeft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den
+Saeumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfaeffling gewahrte, gruesste er sehr
+artig und sagte: "Man hat seine Not mit den Leuten, heutzutage taugt das
+Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt Rudolf nicht auf seine Rede, ohne
+ein Wort ging Herr Pfaeffling an ihm vorbei, die Treppe hinauf.
+
+Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm oefters vor, dass er auf
+seine verstaendigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den
+Leuten, die er hoch stellte. Andere ruehmten ihn ja oft und sagten ihm,
+er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr
+Pfaeffling noch groessere Ansprueche machten? Rudolf stellte sich die
+Brueder Pfaeffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm,
+sogar Karl, der aelteste; diesen Unterschied musste ihr Vater doch
+empfinden, es musste ihm doch imponieren, dass er schon so viel weiter
+war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
+geringschaetzig Herr Pfaeffling an ihm voruebergegangen war: so etwas
+erzaehlten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten ueber
+ihn, das wusste er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.
+
+Indessen war Herr Pfaeffling die ihm laengst vertraute Treppe
+hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner
+Schueler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert.
+
+"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzaehlte ihm
+die Generalin am Schluss der Stunde, "es soll sehr schoen werden."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Muehe, seinen
+Gaesten viel zu bieten, er ist ein tuechtiger Mann und versteht sein
+Geschaeft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut
+selbst keine! Der Sohn wird nichts."
+
+Als Herr Pfaeffling sich fuer die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und
+hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, ueber
+den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefaellt war: "Er
+wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen
+Menschenkind gegenueber? Herr Pfaeffling konnte diesmal nicht teilnahmslos
+an ihm voruebergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufaellig da. Er wusste
+vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Beduerfnis,
+sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu
+kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen.
+
+"Wuensche froehliche Feiertage," redete er Herrn Pfaeffling an. "Fuer
+andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, fuer uns bringt so ein Fest
+nur Arbeit."
+
+Herr Pfaeffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, dass Ihr Vater
+sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gaeste versorgt sind, haben Sie doch
+wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"
+
+"Ne, das gibt es bei uns nicht. Frueher war das ja so, als ich klein war
+und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, dass
+ich jetzt so etwas fuer mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie
+begreifen, dass ich als einziger Sohn des Hauses ueberall nachsehen muss.
+Die Dienstboten sind so unzuverlaessig, man muss immer hinter ihnen her
+sein."
+
+"Lassen sich die Dienstboten von einem fuenfzehnjaehrigen Schuljungen
+anleiten?"
+
+Rudolf Meier war ueber diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar
+nicht gelingen, diesem Manne verstaendlich zu machen, dass er eben kein
+gewoehnlicher Schuljunge war?
+
+"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien
+Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschaeftigt."
+
+"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"
+
+"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut ueber alle Gottesdienste
+unterrichtet. Wir haben oft Gaeste, die sich dafuer interessieren, und ich
+weiss auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu
+geben ueber Zeit und Ort des Gottesdienstes, ueber beliebte Prediger,
+feierliche Messen und dergleichen. Man muss allen dienen koennen und darf
+keine Vorliebe fuer die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir
+duerfen ja auch Auslaender nicht verletzen und muessen uns manche
+spoettische Aeusserung ueber die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein
+Welthotel so mit sich."
+
+Herr Pfaeffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
+"Welthotel" war immer der hoechste Trumpf, den er ausspielen konnte, und
+der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfaeffling hatte er
+offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschaetzige Blick, den er vor
+der Stunde fuer ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.
+
+Unten, im Hausflur, stand noch immer die Tuere zu dem grossen Saal offen,
+die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand
+auf der Schwelle und ueberblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hoerte
+Herr Pfaeffling ihn zu einem Tapezierer sagen:
+
+"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft
+von den Gaesten abgehalten wird."
+
+Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schuelern
+kam, die schoensten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem
+Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tuechtigen
+Geschaeftsmann, der in unermuedlicher Taetigkeit sein Hotel bestellte, der
+von seinen Gaesten jeden schaedlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht
+merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehoeren sollte, in
+Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfaeffling war eine Strasse weit
+gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rueckwaerts. "Sprich mit
+dem Mann ein Wort ueber seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus
+eine Gefahr drohte, wuerdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du
+siehst, dass sein Kind Schaden nimmt, dass es hoechste Zeit waere, es den
+schlimmen Einfluessen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von
+der grossen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhaeltnisse!" Waehrend
+sich Herr Pfaeffling dies ueberlegte, ging er raschen Schritts ins
+Zentralhotel zurueck, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem grossen
+Saal.
+
+Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich fuer die
+Dekoration und forderte ihn hoeflich auf, alles zu besehen. "Ich danke,"
+sagte Herr Pfaeffling, "ich sah schon vorhin, wie huebsch das wird, aber
+um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"
+
+Aeusserst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach
+einem anstossenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestoert. Wollen Sie
+Platz nehmen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich stehe lieber," eigentlich haette er
+sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespraech
+begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.
+
+"Ich meine," sagte er, "ueber all Ihren Leistungen als Geschaeftsmann
+sehen Sie gar nicht, was fuer ein schlechtes Geschaeft bei all dem Ihr
+Kind macht. Ist's denn ueberhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie
+ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der
+tuechtig arbeitet und dann froehlich spielt. Er aber tut keines von
+beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den
+Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein
+Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er
+duenkt sich ueber alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort
+von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da koennte noch etwas aus
+ihm werden, aber so nicht!"
+
+Herr Pfaeffling hatte so eifrig gesprochen, dass sein Zuhoerer dazwischen
+nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und
+kuehl: "Ich muss mich wundern, Herr Pfaeffling, dass Sie mir das alles
+sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur
+ganz fluechtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir,
+dass mein Sohn der geborene Geschaeftsmann ist und schon jetzt einem Haus
+vorstehen koennte. Wenn er Ihnen so wenig gefaellt, dann bitte kuemmern Sie
+sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde
+fuer sein Wohl sorgen."
+
+Herr Pfaeffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie
+dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, dass ich Sie gekraenkt
+habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen,
+was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schueler erfahren habe, dass es
+die Menschen nicht ertragen, wenn man offen ueber ihre Kinder spricht und
+wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das
+eine, warum wuerden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind
+ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum sind Sie gekraenkt, wenn
+ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr fuer seinen Charakter?' Darin kann ich
+die Menschen nie verstehen!"
+
+Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
+verlangten Bescheid, und Herr Pfaeffling machte rasch der Unterredung ein
+Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache
+gekommen, ich sehe, Sie sind draussen unentbehrlich und will Sie nicht
+aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurueck.
+
+"Diese Sache ist misslungen," sagte sich Herr Pfaeffling, "ich habe nichts
+erreicht, als dass sich der Mann ueber mich aergert." Und nun aergerte auch
+er sich, aber nur ueber sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte
+nicht erst in Ruhe ueberlegt und schonend vorgebracht, was er sagen
+wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwuerfen zu
+ueberschuetten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht:
+"Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestuem wie
+vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz aller
+Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute
+einzuwirken, so lass die Hand davon; kuemmere dich um deine eigenen
+Kinder, wer weiss, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."
+
+Nachdem sich Herr Pfaeffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er
+sich ueber Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen
+Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfaefflingsche Note in den Sinn: eins bis
+zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon
+war, dass er nach seiner Rueckkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg
+lief, zurief:
+
+"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich
+will sie sehen!"
+
+Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse
+muessen her, der Vater will sie sehen!" fluesterte eines dem andern zu.
+"Warum denn, warum?" Niemand wusste Antwort, aber jetzt half keine List
+mehr, Marie musste die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck
+und sie hinuebertragen in des Vaters Zimmer.
+
+"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als
+sie wieder herueberkam, "vielleicht uebersieht es der Vater."
+
+Herr Pfaeffling kannte seine Kinder viel zu gut, als dass er ihre kleine
+List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut haette. "Irgend
+etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiss sind ein paar
+fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung ueber das Betragen." Er
+ueberblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst
+Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein,
+nie vorzueglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften
+Schuelers, aber nicht eines grossen Sprachgelehrten.
+
+Dann Otto. In den meisten Faechern I. So einen konnte man freilich gut
+brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte
+viele Suenden anderer gut machen.
+
+Maries Heftchen zeigte die groesste Verschiedenheit in den Noten. Wo die
+Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da
+war sie vorzueglich, in Handarbeit, Schoenschreiben, Zeichnen, da tat sie
+sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute
+Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie
+war von der Natur ein wenig verkuerzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne
+Maries Hilfe waere sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die
+Lehrer und Lehrerinnen hatten sich laengst darein gefunden, bei diesen
+Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die
+Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und
+recht miteinander durch und unter Annes Noten glaenzten doch immer zwei I,
+durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
+
+Bis jetzt hatte Herr Pfaeffling noch nichts Neues oder Besonderes
+entdecken koennen und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und
+staunte. Was fuer gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben!
+Fast in jedem Fach besser als frueher und in einer Bemerkung des Lehrers
+waren seine Fortschritte und sein Fleiss besonders anerkannt! Wie kam das
+nur? Es musste wohl mit der Harmonika zusammenhaengen, die ihm frueher alle
+Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfaeffling
+hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien
+vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall
+gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte
+er schon gesehen? Fuenf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn
+das? Ah, hinter den Buechern, hatte es sich wohl zufaellig verschoben? Er
+warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang
+ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr
+Pfaeffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so
+schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie
+dumm, zu meinen, der Vater liesse sich auf diese Weise ueberlisten!
+Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen.
+
+Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis
+etwas besser als die frueheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl
+nicht, aber fuer die Mathematik fehlte das Verstaendnis.
+
+Eine Weile war Herr Pfaeffling auf und ab gegangen, da hoerte er jemand an
+seiner Tuere vorbeigehen und oeffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war
+Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend
+ins Gesicht und sagte dann betruebt: "Vater, du denkst gar nicht daran,
+dass morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und folgte
+ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr,
+Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, dass du mich
+erinnerst."
+
+"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden
+immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."
+
+"So?" sagte Herr Pfaeffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor
+Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal
+alle sechs herueber, ich will machen, dass sie sich freuen!"
+
+Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre
+Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig aengstlich auf einem
+Trueppchen dem Vater gegenueber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng
+aneinander drueckten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die
+Durchschnittsnote hervorgegangen.
+
+"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur
+gegen mich duerft ihr euch nicht verbinden, mit List und
+Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet
+man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als
+mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehoeren zusammen, zwischen uns
+darf nichts treten, auch kein Vierer!"
+
+Da loeste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen
+Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um
+den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen
+wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht
+verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen,
+nein, vor dir moechte ich nie etwas verheimlichen!"
+
+"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfaeffling, "was kaeme denn auch
+Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann
+kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was
+machen wir, dass sie das naechste Mal besser ausfaellt? Nachhilfstunden
+kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit
+meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie
+waere es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast
+das alles erst voriges Jahr gelernt, du koenntest dich darum annehmen.
+Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem
+Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.
+
+"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den
+Vierer muessen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her.
+Von jetzt bis Ostern streichen wir fuenfundzwanzig oder meinetwegen auch
+nur zwanzig Tage an fuer eine Mathematikstunde. Faellt eine aus, so muss
+sie am naechsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht
+das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es
+keinen Vierer mehr." Die Brueder nahmen den Kalender her, suchten die
+geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und
+Schueler zu sein.
+
+"So," sagte Herr Pfaeffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit
+den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schoen wie
+in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?"
+Waehrend des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens
+froehlichem Jauchzen ging leise die Tuere auf, ein Lockenkoepfchen erschien
+und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal
+geklopft, Herr Pfaeffling, aber Sie haben gar nicht 'herein' gerufen."
+
+Es war Fraeulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch
+immer hatte sie Herrn Pfaeffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie
+nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie grosse, erstaunte
+Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie
+langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon
+verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen
+geht, Herr Pfaeffling, ich finde das so reizend!"
+
+Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Kueche. Als
+aber Frau Pfaeffling die Kinder kommen hoerte, liess sie sie nicht ein,
+machte nur einen Spalt der Tuere auf und rief: "Niemand darf
+hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheissungsvoll
+aus, dass das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt
+beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem
+Musikzimmer ertoente nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige
+Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
+
+"Fraeulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur
+so auf gut Glueck, aber Sie haben einmal kein Glueck, Sie muessen _die_
+Noten spielen, die da stehen."
+
+"Ach Herr Pfaeffling," bat das Fraeulein schmeichelnd, "seien Sie doch
+nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch
+nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie froehlich
+weiter und nun, als der Schlussakkord kommen sollte, hoerte sie ploetzlich
+auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit
+zu machen zum taeglichen Gebrauch, Herr Pfaeffling."
+
+"Den Schlussakkord, Fraeulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie
+ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht,
+denn Sie werden immer am meisten boese, wenn der letzte Ton falsch wird."
+
+"Aber Sie koennen ihn doch nicht einfach weglassen?"
+
+"Nicht? Das Lied koennte doch auch um so ein kleines Stueckchen kuerzer
+sein?"
+
+Darauf wusste Herr Pfaeffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in
+rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Paeckchen in Empfang und sagte
+zuletzt zu Fraeulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8.
+Januar wieder zu kommen. Darueber hatte sie eine kindliche Freude, und
+diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu
+haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer
+und seiner Schuelerin.
+
+In vergnuegter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herueber. Er hielt
+hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das
+ueber einen Meter lang herunter hing.
+
+"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein?
+Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schoen, kannst du es verwenden,
+Caecilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine
+Tastendecke fuer das Klavier erkannt.
+
+"Und das soll ich in taeglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tuechlein
+ausbreiten?" rief Herr Pfaeffling erschreckt; "nein, Fraeulein
+Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Caecilie, ich
+bitte dich, nimm mir das Ding da ab!"
+
+Herr Pfaeffling hatte bis zum spaeten Abend keine Gelegenheit gefunden,
+seiner Frau von dem Gespraech mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzaehlen.
+Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein sass noch mit den
+Eltern am Tisch, und Herr Pfaeffling berichtete getreulich die Vorgaenge
+im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht,
+aber Frau Pfaeffling war der Ansicht, dass Herr Meier die Kritik seines
+Sohnes wohl auch in milderer Form uebelgenommen haette. "Es gibt so wenig
+Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige,
+die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfaeffling und fuegte laechelnd
+hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
+glueckliches Paar, nicht wahr?"
+
+Frau Pfaeffling wusste, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
+verstaendnislos darein. "Du weisst nicht, was wir meinen," sagte der Vater
+zu ihm, "soll ich es dir erzaehlen, oder ist er noch zu jung dazu,
+Caecilie?"
+
+"O nein," rief Karl, "bitte, erzaehle es!"
+
+"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Maedchen war und dein
+Grossvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine
+Universitaetsstadt und machte ueberall meine Aufwartung, um mich
+vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Grosseltern Besuch. Es
+war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Ueberrock und hatte den
+Regenschirm bei mir."
+
+"Du musst auch sagen, was fuer einen Schirm," fiel Frau Pfaeffling ein,
+"einen dicken baumwollenen gruenen, so ein rechtes Familiendach, wie man
+sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Ueberrock und diesem Schirm
+trat dein Vater in unser huebsches, mit Teppichen belegtes
+Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als
+mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu
+Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges,
+dummes Maedchen war, kam das so furchtbar komisch vor, dass ich alle Muehe
+hatte, mein Lachen zu unterdruecken."
+
+"Ja," sagte Herr Pfaeffling, "du hast es auch nicht verbergen koennen,
+sondern hast mich fortwaehrend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und
+um deine Mundwinkel hat es immerwaehrend gezuckt. Ich aber hatte keine
+Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein
+gelehrtes Gespraech, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich
+warf, so kam es mir wunderlich vor, dass du wie die Heiterkeit selbst
+dabei warst. Aber nun pass auf, Karl, nun kommt das Grossartige. Als ich
+wieder aufstand, aeusserte ich, dass ich im Nebenhaus bei Professer Lenz
+Besuch machen wollte."
+
+"Ja," sagte Frau Pfaeffling "und ich wusste, dass Lenzens zwei Toechter
+hatten, so kleinlich lieblos und spoettisch, dass jedermann sie fuerchtete.
+Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Ueberrock und mit dem Schirm
+in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum
+Gespoett fuer den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich
+sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schuechtern und ungeschickt."
+
+"Du hast mich auch bis an die Tuere gehen lassen," fiel Herr Pfaeffling
+ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an,
+wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfaeffling, wollen Sie nicht
+lieber ihren Ueberrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich,
+was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt,
+meinen Ueberrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du
+lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn
+Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort
+und setzte mir hoeflich auseinander, dass es allerdings gebraeuchlich sei,
+im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der
+Lachlust."
+
+"Ja," sagte Frau Pfaeffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
+Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin ueber den Ruepel, Sie
+haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst haetten Sie ihm das nicht
+gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam."
+
+"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloss Herr
+Pfaeffling.
+
+
+
+
+8. Kapitel
+
+Endlich Weihnachten.
+
+
+Gibt es ein schoeneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute
+ist Weihnachten? Die jungen Pfaefflinge kannten kein schoeneres, und an
+keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schluepften sie so leicht
+und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so
+dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man musste doch der
+Mutter helfen aus Leibeskraeften, damit sie ganz gewiss bis abends um 6
+Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewoehnlichen Tagen schob gerne
+eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt
+wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke
+ertoente, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet
+werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Grossmutter
+Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswuensche befriedigt
+wurden, zu deren Erfuellung die Kasse der Eltern nie gereicht haette.
+
+Zunaechst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der
+etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus
+dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und fuer die
+allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit
+war Frau Pfaeffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, "fuehrt
+ihr die Kleinen in euer Stuebchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich
+sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfaeffling: "Sie
+haetten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was
+sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, dass wir einen Puppenwagen
+und allerlei Spielzeug fuer sie haben?" "Ach," entgegnete die Frau,
+"darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's
+kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch
+dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen
+den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles
+aufgegessen, was man etwa Gutes fuer sie bekommen hat. Ich weiss wohl, dass
+es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr
+schoen am heiligen Abend."
+
+"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch
+noch viel aermer waere, das weiss ich doch ganz gewiss, dass ich meinen
+Kindern einen schoenen heiligen Abend machen wuerde. Meine Kinder bekommen
+auch nicht viel--das koennen Sie sich denken bei sieben--aber weil keines
+vorher ein Stueckchen sieht, so ist dann die Ueberraschung doch gross.
+Glauben Sie, dass irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas
+von dem Weihnachtsgebaeck versuchen wuerde vor dem heiligen Abend? Das
+kaeme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf
+keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezuendet ist und
+alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann
+sind sie so ueberrascht, dass sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn
+auch gar keine grossen Geschenke daliegen."
+
+"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfaeffling, mein Mann hat keinen
+Sinn fuer so etwas und will kein Geld ausgeben fuer Weihnachten."
+
+"Haben Sie kein Baeumchen kaufen duerfen?" fragte Frau Pfaeffling.
+
+"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht
+und Lichter dazu."
+
+"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den
+Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier
+zusammen gerichtet habe, das waere schon genug fuer Kinder, aber ich denke
+mir, dass Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas
+bekommen, oder nicht?"
+
+"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein
+kommen, sie habe etwas fuer mich und die Kinder."
+
+"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr
+tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel
+gerade so gross wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon
+auch daran freuen."
+
+"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag
+gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der
+Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie
+haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan
+habe."
+
+"Aber Schmidtmeierin, da wuerde ich doch lieber tun, was der Mann will,
+als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was waere das jetzt fuer eine
+Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch laegen! So wuerde mein
+Mann auch den Sinn fuer Weihnachten verlieren. Das muessen Sie mir
+versprechen, Schmidtmeierin, dass Sie meine Sachen, und die von Frau
+Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schoene
+Bescherung halten. Wo koennen denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie
+herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"
+
+"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"
+
+"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: koennen die Kinder nicht unter dem
+Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule?
+Das gehoert auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn
+ein paar Pfennige uebrig haetten, dann sollten Sie fuer den Mann noch einen
+Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzaehlen Sie mir,
+Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen
+Abend, und ob es nicht schoen bei Ihnen war."
+
+"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfaeffling, und ich danke fuer die vielen
+Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben."
+
+"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen
+allein, und wenn es noch viel mehr waeren, machen kein schoenes Fest, das
+koennen nur Sie machen fuer Ihre Familie; fremde Leute koennen die
+Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muss die Mutter tun, und die
+Reichen koennen die Armen nicht gluecklich machen, wenn die nicht selbst
+wollen."
+
+Frau Pfaeffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurueck; als
+diese endlich heimkamen, waren alle Schaetze im Schrank verborgen und der
+Schluessel abgezogen.
+
+Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an,
+darum zu betteln und schliesslich laut zu heulen. Damit setzten sie
+gewoehnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "bruellt
+nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus
+hoert. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schoenes, erst am Abend, wenn ihr
+dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfaefflings ist's auch so."
+
+Da ergaben sich die Kinder.
+
+Frau Pfaeffling und Walburg hatten noch alle Haende voll zu tun mit
+Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in froehlicher
+Stimmung. "Man muss sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfaeffling
+und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Maedchen.
+
+"Oben auf dem Boden haengen noch die Struempfe von der letzten Waesche,"
+sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das koennt ihr Buben
+besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien
+Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezaehlte Menge
+Pfaeffling'scher Struempfe hing. Walburg war eine grosse Person und pflegte
+das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hoelzernen Klammern
+nicht erreichen, mit denen die Struempfe angeklemmt waren. "Einen Stuhl
+holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das
+unnoetig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," so
+war es lustiger. Er probierte das Kunststueck und brachte es fertig, Otto
+gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab
+es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, dass die Tuere von Frau Hartwigs
+Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren
+Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken ueber den ploetzlichen
+Laerm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?"
+
+"Wir nehmen bloss die Struempfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht,
+wenn man Struempfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir muessen eben
+darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und
+mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer gluecklich erfasst, der
+Strumpf fiel herunter.
+
+"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.
+
+"Es sind ja nur Struempfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher
+grau und schwarz, denen schadet das nichts."
+
+Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre
+Gedanken. Welche Arbeit, fuer soviel Fuesse sorgen zu muessen! Fast alle
+Struempfe schienen zerrissen! Und welche Koerbe voll Flickwaesche mochten
+sonst noch da unten stehen und auf die Haende der vielbeschaeftigten
+Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte fuer Flickerinnen! Ob
+es nicht Christenpflicht waere, da ein wenig zu helfen?
+
+Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brueder mit dem Bescheid
+herunter: Die meisten Struempfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine,
+sie muessten noch haengen bleiben. Frau Pfaeffling achtete im Drang der
+Arbeit kaum darauf und dachte nicht, dass Frau Hartwig kurz entschlossen
+den ganzen Schatz Pfaeffling'scher Struempfe heruntergenommen hatte, und
+ihnen nun mit Trocknen und Buegeln viel mehr Ehre erwies, als diese es
+sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das
+Noetige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch
+eine Weihnachtsueberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
+Feiertags-Entheiligung sein.
+
+Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfaefflings ein
+kaergliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den
+Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel
+nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam
+von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weisst du das noch
+nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen.
+Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfaeffling,
+"und selbst wenn sie Zeit haette, heute Mittag muesste das Essen doch knapp
+sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den
+Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewaermte Reste vom
+gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr
+Pfaeffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf
+dabei an ein grosses Stueck Braten denken!"
+
+"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder
+herein duerft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd
+davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es
+Ernst!
+
+Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die
+kleinen Schaeden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte,
+wurden sorgfaeltig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck
+da, mit goldenen Nuessen und rotbackigen Aepfeln, mit bunten Lichtern und
+oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern
+Haeusern feiner geschmueckte Tannenbaeume mit Winterschnee und Eiszapfen,
+es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen
+und Flittergold so ueberladen waren, dass das Gruen des Baumes kaum mehr
+zur Geltung kam. Pfaefflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch
+ebenso, wie ihn Grossvater Pfaeffling und Grossmutter Wedekind vor dreissig
+Jahren ihren Kindern geschmueckt hatten, und weil ihre seligsten
+Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran
+aendern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es
+anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehoerten, standen
+nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten
+deutschen Kuenstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch
+jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen
+Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders
+aufgestellt, das war Herrn Pfaefflings Anteil an dem Herrichten des
+Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die
+muehsame Arbeit des Einraeumens von Puppenzimmer, Kueche und Kaufladen
+begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und uebernahm
+die Aufsicht ueber die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in
+Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr,
+als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes
+Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so
+feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das
+Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch
+des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten
+Zuhoerer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
+
+Frau Pfaeffling hoerte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus
+dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Tuerspalt, es war eine
+Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die
+Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen
+aus der Grossmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht
+frische Schuerzen an und sagt auch Walburg, dass sie sich bereit macht,
+nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht leuchtete
+verheissungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen
+hervor.
+
+Herr Pfaeffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten
+Vorbereitungen. "Jetzt waeren wir so weit," sagte er, "koennen wir den
+Baum anzuenden?"
+
+"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich
+bin so mued und moechte nur ein ganz klein wenig ruhen, um fuer den grossen
+Jubel Kraft zu sammeln."
+
+"Freilich, freilich," sagte Herr Pfaeffling, "die Kinder koennen sich wohl
+noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und
+schliesse die Augen."
+
+"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurueck. Aber nur
+drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder
+frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spuere die siebenfache
+Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draussen, wir wollen
+anzuenden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die grossen Kerzen in
+den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen
+Lichtchen in Puppenstube und Kueche. Und nun ein Glockenzeichen und die
+Tuere weit auf! Sie draengen alle herein, die Kinder und Walburg hinter
+ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange
+er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen
+und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu,
+nun geht die beschauliche Freude ueber, immer lauter und jubelnder wird
+das Kinderglueck.
+
+War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht
+dabei, aber es war alles ueberraschend und jedes kleine Geschenk war
+sinnig auf den Empfaenger berechnet und manches erhielt durch einen
+kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen
+Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe
+und Guete, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glaenzte dies
+in Glueck und Freude, und ueber all dem lag der Duft des Tannenbaums--ja
+die Fuelle des Glueckes bringt der Weihnachtsabend!
+
+Frau Pfaeffling beruehrte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den
+Frieder!" An dem Plaetzchen des grossen Tisches, das ihm angewiesen war,
+stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden,
+zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm
+er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das
+Verschen:
+
+ Fideln darfst du, kleiner Mann,
+ Vater will dir's zeigen.
+ Aber merk's und denk daran:
+ Immerfort zu geigen
+ Tut nicht gut und darf nicht sein.
+ Halte fest die Ordnung ein:
+ Eine Stund' am Tag, auch zwei,
+ Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
+
+"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er
+draengte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich
+sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die
+Geschwister ihm nicht viel Platz liessen, drueckte er sich hinter den
+Christbaum und fing ganz sachte an, leise ueber die Saiten zu streichen
+und zarte Toene hervorzulocken. Und er sah und hoerte nichts mehr von dem,
+was um ihn vorging, und muehte und muehte sich, denn er wollte _reine_
+Toene, dieser kleine Pfaeffling. Die Eltern sahen sich mit gluecklichem
+Laecheln an: "Dies Weihnachten vergisst er nicht in seinem Leben," sagte
+Frau Pfaeffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen kleinen
+Schueler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"
+
+"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
+Marianne?"
+
+"Ein Paeckchen feinste Glacehandschuhe hat uns Fraeulein Vernagelding
+geschickt!"
+
+"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?"
+
+"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche."
+
+"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muss!"
+
+Es gab jetzt ein grosses Durcheinander, denn die Brueder probierten ihre
+neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch
+gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Haengelampe.
+"Man koennte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz
+ausser Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau.
+"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den
+Hausherrn. Auch hoerte das Getrampel der Kinderfuesse ploetzlich auf, es
+wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
+untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
+Ueberraschungen fuer die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
+Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles
+gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
+
+In ihrer Kueche stand Walburg und sorgte fuer das Abendessen. Auch fuer sie
+war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht
+worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren
+grossen, ernsten Zuegen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute
+morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen haette,
+aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstuendchen finden lassen. Wenn
+jetzt Frau Pfaeffling herauskaeme, jetzt haette sie vielleicht einen
+Augenblick Zeit fuer sie, aber sie wuerde wohl schwerlich kommen. Waehrend
+Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfaeffling ganz von ihren Kindern
+in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufaellig auf Walburgs
+Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Maedchen.
+Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch
+nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber
+unter den gluecklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Kueche zu
+stehen?
+
+Frau Pfaeffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde
+zuerst nicht vermisst, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der
+Vater war ja da, aber allmaehlich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo
+ist denn die Mutter?" Herr Pfaeffling schickte Frieder hinaus. Er kam
+zurueck mit dem Bescheid, die Kuechentuere sei ganz fest zu und Walburg
+rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann lasst sie nur
+ungestoert," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muss man froh
+sein."
+
+Frau Pfaeffling brachte aus der kalten Kueche einen warmen, sonnigen
+Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im
+Vorbeigehen drueckte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise:
+"Ich erzaehle dir spaeter!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten
+sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht
+man so gut an, dass heute Weihnachten ist."
+
+An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie
+wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spaet, bis
+endlich Herr Pfaeffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch
+der Ruhe beduerftig sein," sagte er.
+
+"Ja, aber eines muss ich dir noch erzaehlen, was mir Walburg anvertraut
+hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem
+Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, dass vor einem
+Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem
+kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er muesse wieder eine Frau haben, und
+weil er Walburg von klein an kenne, moechte er am liebsten sie haben. Er
+wisse wohl, dass sie nicht gut hoere, aber das mache weiter nicht viel.
+Wenn sie einverstanden sei, moege sie in den Feiertagen einmal
+herausfahren, dass man die Verlobung feiern koenne und die Hochzeit
+festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
+hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Haelfte bezahlen. Walburg
+kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz
+entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das
+freut fuer Walburg!"
+
+"Das ist freilich ein unerhofftes Glueck, aber wird sie denn einem
+Haushalt vorstehen koennen bei ihrer Taubheit?"
+
+"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht
+kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich fuer sie, aber ich finde es
+ruehrend, dass der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten
+Eigenschaften willen. Uebrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da
+draussen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden."
+
+"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es fuer die treue Person,
+wenn auch nicht fuer uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz
+finden."
+
+"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten
+Feiertag moechte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den
+Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg
+zurueckkommt, sagen, dass sie Braut ist."
+
+Waehrend unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in
+ihrer Kammer noch taetig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen
+kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor
+der hoelzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten saeuberlich und sorgsam
+geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer
+getragen, die in ihrem Dorf gebraeuchlich war, jetzt wollte sie sie
+hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draussen gehoeren.
+Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Haeubchen und die breite
+blauseidene Schuerze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu
+Ehren kommen!
+
+Am zweiten Weihnachtsfeiertag, frueh morgens, noch ehe es tagte, reiste
+sie in ihrem laendlichen Staat in ihre Heimat.
+
+Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es
+war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen.
+Wenn Frau Pfaeffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schoen
+aufzuraeumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht
+und auf dem grossen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nussschalen
+und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlaerm. Die Schlittschuhe
+lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kaelte nicht
+bilden, und Frau Pfaeffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon
+erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle
+sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
+warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte,
+war sie fast zu muede, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfaeffling
+nach den Wolken am Himmel, erklaerte, das Wetter helle sich auf und er
+wolle einen weiten Marsch mit den grossen Kindern machen. Als eben
+beraten wurde, ob Marianne auch mittun koenne, kam eine Schulfreundin und
+lud die beiden Maedchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und
+wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen uebrig,
+die begleiteten ein wenig traurig die Grossen hinunter, kamen dann aber
+um so vergnuegter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie
+eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen.
+
+So geschah es, dass Frau Pfaeffling an diesem Nachmittag ganz allein war;
+ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so dass nicht einmal aus der
+Kueche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie
+viel liess sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man
+sonst nicht kam! Es war schon ein Genuss, sich sagen zu duerfen: was
+_willst_ du tun? Meistens draengten sich die Geschaefte von selbst auf und
+haetten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte
+sie in traeumerischem Sinnen und ueber dem wurde ihr klar, was sie tun
+wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme zu
+dir!"
+
+Frau Pfaefflings Mutter lebte im fernen Ostpreussen, und seit vielen
+Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80
+jaehrige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ nicht
+die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim.
+Aber es war doch koestlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn
+auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze,
+eilig geschriebene Briefe mit den noetigsten Mitteilungen schicken
+koennen, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich
+einmal wieder bei der geliebten Mutter waere. Und es gab einen langen,
+langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in
+dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau
+Pfaeffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief
+viel von Glueck und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und
+davon, dass ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch
+festhielten: Ein jeder trage des andern Last.
+
+Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen
+Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und
+zuendete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und
+grosse breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des
+Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau
+Pfaeffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich
+zu euch.
+
+Eine Viertelstunde spaeter mahnte die Glocke, dass wieder Leben und
+Bewegung Einlass begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau
+Pfaeffling. Sie fuehlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen,
+froehlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich
+nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, ihm
+und den Kindern zu oeffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt
+hatten, Walburg stand vor der Tuere.
+
+"Du kommst schon?" rief Frau Pfaeffling erstaunt, "wir haben dich erst
+mit dem letzten Zug erwartet."
+
+"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Maedchen. "Kartoffeln
+zusetzen?"
+
+"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst,
+wie alles gegangen ist," und da Walburg zoegerte, fuegte sie hinzu, "ich
+bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's
+nicht so arg gedacht, er meint, fuer die Kinder waere doch eine besser,
+die hoert." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe
+hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den braeutlichen Putz ablegen. Sorgsam
+faltete sie die blauseidene Schuerze, versenkte sie in die Truhe und
+legte den Brief dazu, der sie zwei Tage gluecklich gemacht hatte. Dann
+schluepfte sie in ihre alltaeglichen Kleider, setzte sich auf die alte
+Truhe und sah mit traurigen, aber traenenlosen Augen auf die kahlen Waende
+ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so oede und
+leer in ihrem Herzen.
+
+Da ging die Tuere auf, Frau Pfaeffling kam herein und stand unvermutet
+neben dem Maedchen, das ihren Schritt nicht gehoert hatte. "Walburg, du
+tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht traenenleer.
+Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen
+Art: "Draussen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir
+geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die
+Tafel schreiben muessen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl
+recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat
+er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
+mitgegeben. Sonst waere alles recht gewesen, nur gerade eben die
+Taubheit. Und sie sagen auch, ich koennte gar nicht mehr so reden wie
+sich's gehoert. Ich weiss nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch
+auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie frueher auch?"
+
+"Fuer uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir
+verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's
+lieb, dass du uns nicht verlaesst, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da
+wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll
+Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemuehte, ihr, der
+Tauben, Trostreiches zu Gehoer zu bringen. Worte des Dankes fand sie
+freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie
+nach ihrer Hausschuerze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt
+und das Essen nicht gerichtet ist!"
+
+Frau Pfaeffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so
+traurig aus ihrer Heimat zurueckgekehrt, sie hat weder Eltern noch
+Geschwister mehr draussen, wir wollen uns Muehe geben, dass sie sich bei
+uns recht heimisch fuehlt."
+
+"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hoert
+sie."
+
+Da warnte Herr Pfaeffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen
+noch geigen? Wie heisst dein Vers?
+
+ "'Eine Stund am Tag, auch zwei,
+ Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"
+
+Aber Frieder konnte nachweisen, dass er heute noch nicht zwei Stunden
+gespielt hatte, ging hinaus in die Kueche und machte mit denselben
+Violinuebungen, die sonst die Zuhoerer in Verzweiflung bringen, dem
+traurigen Maedchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhaenglichkeit
+des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit
+auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den
+Mitmenschen.
+
+
+
+
+9. Kapitel
+
+Bei grimmiger Kaelte.
+
+
+Das Neujahrsfest brachte grimmige Kaelte, brachte Eis, mehr als zum
+Schlittschuhlaufen noetig gewesen waere. Schon beim Erwachen empfand man
+die menschenfeindliche Luftstroemung und es gehoerte Heldenmut dazu, aus
+den warmen Betten zu schlupfen. In Pfaefflings kalten Schlafzimmern war
+das Waschwasser eingefroren, und man musste erst die Eisdecke
+einschlagen, ehe man es benuetzen konnte.
+
+Als die Familie sich mit Neujahrswuenschen am Fruehstueckstisch
+zusammenfand, galt Herrn Pfaefflings erster Blick dem Thermometer vor dem
+Fenster, und er musste das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen.
+"Zwanzig Grad Kaelte," verkuendete er, "Kinder, das habt ihr noch nie
+erlebt; und Walburgs Neujahrsgruss lautete: 'Die Wasserleitung ist ueber
+Nacht eingefroren.'"
+
+Die Strassen waren ungewoehnlich still, wer nicht hinaus musste, blieb
+daheim am warmen Ofen und wer, wie die Brieftraeger, am Neujahrstag ganz
+besonders viel durch die kalten Strassen laufen und vor den Haeusern
+stehend warten musste, bis die Tueren geoeffnet wurden, der hoerte manches
+teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse
+warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfaeffling hatte ihr Paeckchen
+Glueckwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war
+einer, der noch mehr als Glueckwuensche enthielt. Es war die Antwort auf
+Frau Pfaefflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende
+Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar
+gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der
+Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der
+alten Heimat vereinigt waeren. So viel Liebe und Anhaenglichkeit sprach
+sich aus in den Briefen von Frau Pfaefflings Bruder und Schwester, denen
+ein eigenhaendiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruss der alten
+Mutter beigesetzt war, dass Frau Pfaeffling tief bewegt war und zu ihrem
+Mann wehmuetig sagte: "Ach, wenn es nur moeglich waere, aber es ist ja gar
+nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn fuer
+einige Tage wuerde sich die grosse Reise gar nicht lohnen."
+
+Es kam ganz selten vor, dass Frau Pfaeffling fuer sich einen Wunsch
+aeusserte, und so war es nur natuerlich, dass es der ganzen Familie
+Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.
+
+"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.
+
+"So ganz unmoeglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr
+Pfaeffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder
+gross sind und Walburg so zuverlaessig ist."
+
+Frau Pfaeffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte
+dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und
+versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich
+zugehen, wie wenn sie da waere. Aber sie schuettelte dazu unglaeubig den
+Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kaelte
+mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar
+bringt!"
+
+Zunaechst brachte er den Abschluss der Ferienzeit, die Schulen begannen
+wieder. So warm wie moeglich eingepackt machten sich die Kinder auf den
+Weg. Freilich, die drei grossen Brueder besassen zusammen nur zwei
+Wintermaentel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute
+haette jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem
+er ihn schon vor dem Fruehstueck angezogen hatte. Nun standen Karl und
+Wilhelm vor dem einen, der noch uebrig war. "Dich wird's nicht so arg
+frieren wie mich," sagte Wilhelm zum groesseren Bruder und Karl, obwohl er
+nicht recht wusste, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im
+Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Lass
+doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es
+sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!"
+
+"Dumm?" sagte Herr Pfaeffling, "es sieht eben aus, als seien keine grossen
+Kapitalien da, mit denen man ungezaehlte Maentel beschaffen koennte. So
+ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Uebrigens, laenger als
+fuenfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede
+wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muss? Seid ihr so zimpferlich?"
+
+"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwoelf Minuten," er liess
+den Mantel fahren und rannte davon.
+
+Elschen war diesmal nicht so ungluecklich wie frueher ueber den
+Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten
+bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von
+Buchstaben kannte, und troestete sich mit der Aussicht, dass nach den
+Osternferien auch sie mit den Grossen den Schulweg einschlagen wuerde.
+
+So wohl es Frau Pfaeffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit
+wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf
+das erste Heimkommen, denn sie wusste aus Erfahrung, dass Mann und Kinder
+angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfuellt, zurueckkommen
+wuerden. Um so mehr war sie ueberrascht, dass Marianne diesmal weinend nach
+Hause kam. Die beiden Maedchen, obgleich sie gut mit Wintermaenteln
+versehen waren, weinten vor Kaelte und die Fingerspitzen wurden in der
+Waerme nur noch schmerzhafter, so dass sie noch klagend im Zimmer
+herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. "Habt ihr
+denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau Pfaeffling. Da
+kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Gestaendnis, dass man sich den
+Mitschuelerinnen mit den neuen, knapp anschliessenden Glacehandschuhen
+habe zeigen wollen, die Fraeulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt
+hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Bruedern ausgelacht.
+
+"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfaeffling. "Wenn du keine
+Glacehandschuhe traegst, so kommt es gewiss nur daher, dass du keine hast.
+Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist
+gar kein rechter Pfaeffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt,
+ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben
+uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzaehlt.
+Kommt, wir wollen beten:
+
+ "Herr wie schon vor tausend Jahren
+ Unsre Vaeter eifrig waren,
+ Dich als Gast zu Tisch zu bitten,
+ So verlangt uns noch heute,
+ Dass Du teilest unsre Freude.
+ Komm, o Herr in unsre Mitte!"
+
+Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfaeffling erwartet hatte, allerlei
+Mitteilungen. Ueber Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie
+vergraben, jetzt, durch die Beruehrung mit der Aussenwelt, erfuhr man
+wieder, was vor sich ging. Herr Pfaeffling hatte vom Direktor der
+Musikschule etwas gehoert, was ihn ganz erfuellte: Ein Kuenstlerkonzert
+ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Kuenstlerpaar, das
+vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen
+hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
+meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die grossen
+Staedte Europas sich hoeren lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise
+zum erstenmal auch der kleine Sohn des Kuenstlerpaares als Violinspieler
+Anteil, und die Zeitungen waren voll von ueberschwaenglichen Schilderungen
+des ruehrenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar
+begabten Knaben mache.
+
+Freilich waren die Preise fuer diesen Kunstgenuss so hoch gestellt, dass
+unser Musiklehrer nicht daran gedacht haette, sich ein solch kostbares
+Vergnuegen zu goennen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule
+gegeben werden, und in solchem Fall war es ueblich, dass die Hauptlehrer
+der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude
+auf diesen grossen Kunstgenuss hin, umkreiste vergnuegt den Tisch, blieb
+dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine
+Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum
+80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muss sich zur
+Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem
+Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.
+
+Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer
+war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schueler war neu
+eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfaeffling hatte nur mit
+halber Aufmerksamkeit zugehoert, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr,
+der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier
+erzaehlt?" fragte er Otto.
+
+"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."
+
+"Hast du nichts naeheres darueber gehoert?"
+
+"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich
+weiss nicht mehr."
+
+Herr und Frau Pfaeffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand.
+Gesprochen wurde nichts darueber, Herr Pfaeffling sollte aber bald naeheres
+erfahren.
+
+Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel,
+im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt,
+und selbst die russische Familie klagte ueber den kalten deutschen
+Winter.
+
+"Sie muessen von Russland doch noch an ganz andere Kaelte gewoehnt sein?"
+meinte Herr Pfaeffling.
+
+"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiss man sich besser zu schuetzen.
+Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie
+sehen auch jedermann in Pelze gehuellt auf der Strasse. Warum tragen Sie
+keinen Pelz bei solcher Kaelte?" fragte die Generalin, indem sie einen
+Blick auf Herrn Pfaefflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen
+Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Noetigere
+anzuschaffen, ehe ein Pelzrock fuer mich an die Reihe kaeme," sagte er,
+"ich kann uebrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Haende
+sind nicht steif, wir koennen gleich spielen."
+
+Am Schluss der Stunde erzaehlten die jungen Herren von dem Ball im Hotel.
+"Es war sehr huebsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des
+Besitzers, der viel juenger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist
+uebrigens jetzt nicht mehr hier."
+
+"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich
+gedacht haette. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der
+Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges
+Familienleben hinein.'"
+
+Herr Pfaeffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat
+recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhaeltnisse im Haus unguenstig
+sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land
+unguenstig sind, so wie bei uns in Russland, so ist es wohl auch besser,
+die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Russland haben
+wir ganz traurige Zustaende, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen
+nichts als Verderbnis ueberall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon
+in den Schulen. Unsere eigenen Soehne haben von dieser verdorbenen Luft
+schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns
+entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurueckzulassen,
+wenn wir nach Russland zurueckkehren, was wohl in der naechsten Zeit sein
+muss. Wir stehen gegenwaertig ueber diese Angelegenheit in Briefwechsel mit
+einer Berliner Anstalt."
+
+Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
+gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Soehne
+standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfaeffling fuehlte,
+dass diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren
+schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer
+Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme
+Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Moechte das neue Jahr fuer Russland
+bessere Zustaende bringen!"
+
+Als Herr Pfaeffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er
+unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen
+Augenblick zoegerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, ueber
+das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier waere es gewesen, die
+Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zuernte. Er tat es nicht.
+Mit dem hoeflichen aber kuehlen Gruss des Gastwirts ging er vorueber,
+gewohnheitsmaessig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!"
+
+"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfaeffling, und dann gingen sie
+auseinander.
+
+Daheim angekommen, hoerte Herr Pfaeffling Frieders Violine. Wie der kleine
+Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Kuenstler,
+ein echter, wahrer, gottbegnadeter Kuenstler wuerde? Aber wie war denn
+das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf
+den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem
+ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Kueche erklang es.
+Neben Walburg, die da buegelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein
+herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfaeffling liess sich dadurch nicht
+bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" fragte er.
+
+"Nicht lange, Vater."
+
+"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast?
+Sage mir das genau?"
+
+"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fuegte etwas unsicher hinzu:
+"Aber das ist doch noch nicht lang her?"
+
+"Das ist ueber zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon
+heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei,
+Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht,
+sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche
+bekommst du sie nimmer!" Herr Pfaeffling streckte die Hand aus nach der
+Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen.
+Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem
+Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann
+reichte er schuldbewusst die geliebte Violine dem Vater hin und ergab
+sich.
+
+Herr Pfaeffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht
+verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie
+sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Traenen
+fuellten. Sie stellte ihr Buegeleisen ab, zog den Kleinen an sich und
+fragte: "Darfst du denn nicht spielen?"
+
+"Nicht laenger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in klaeglichem Ton.
+
+"Sei nur zufrieden," troestete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die
+Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner
+Violine, und nun war sie ihm fuer eine ganze Woche genommen!
+
+Aber auch Herr Pfaeffling war nicht in seiner gewohnten froehlichen
+Stimmung. Ihm war es leid, dass der Unterricht in der russischen Familie
+zu Ende gehen sollte, eine grosse Freude und eine bedeutende Einnahme
+fiel damit fuer ihn weg, und dazu kam nun, dass er auf dem Tisch im
+Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geoeffnet
+und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinuebertrieb in das
+Familienzimmer zu seiner Frau.
+
+"Caecilie," rief er schon unter der Tuere, und als er die Kinder allein
+fand, fragte er ungeduldig:
+
+"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"
+
+"Sie ist draussen und buegelt."
+
+"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"
+
+Die Maedchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir."
+Frau Pfaeffling buegelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme
+gleich; ich muss nur den Kragen erst steif haben."
+
+"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und
+in diesem Augenblick ertoente ein lautes "Caecilie".
+
+Daraufhin wurde der halb gebuegelte Kragen im Stich gelassen. Frau
+Pfaeffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der
+Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnoetige Komoedie mit der ewigen
+Buegelei," fragte Herr Pfaeffling, "die Kinder waeren doch ebenso
+gluecklich in ungebuegelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage
+antwortete Frau Pfaeffling bloss wieder mit einer Frage: "Ist das
+die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"
+
+"Sechzig Mark! Haettest du das fuer moeglich gehalten?"
+
+"Unmoeglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von
+Anne im vorigen Sommer fuenfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle
+Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Traenen
+besaenftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still,
+du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafuer. Hast so viel
+Schmerzen aushalten muessen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber
+sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh
+sein, dass du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hoerst du jetzt
+wieder ganz gut, auch in der Schule?"
+
+"Ja," schluchzte das Kind.
+
+"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja
+noch das Honorar zu erwarten fuer die Russenstunden und andere
+Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Caecilie, es
+ist doch immer alles gleich bezahlt worden?"
+
+"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, dass
+diese Ohrenbehandlung foermlich als Operation aufgefuehrt und angerechnet
+wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt
+gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die
+Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!"
+
+Als Frau Pfaeffling nach einer Weile wieder beim Buegeln stand, war ihr
+der Kummer ueber die sechzig Mark noch anzusehen, waehrend Herr Pfaeffling
+schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurueckkehrte und sich sagte:
+"Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, dass die Doktorsrechnung die
+einzige an Neujahr ist."
+
+Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen,
+als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und
+die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, fluesterten
+bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung
+sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief
+hinueber." Das Kind uebernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater
+geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riss hastig den
+Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhaendler war sie
+und lautete nur auf vier Mark, fuer eine Grammatik, aber sie empoerte
+Herrn Pfaeffling fast mehr als die grosse Rechnung. "Wenn die Buben das
+anfangen, dass sie auf Rechnung etwas holen, dann hoert ja jegliche
+Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch
+warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Grossen
+herueber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter Miene,
+suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den
+Buegeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte
+sie, "und die Grossen muessen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht
+gern hinuebergegangen," fuegte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen
+nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
+wischte sie sich doch den Schweiss von der Stirne, trotz der zwanzig Grad
+Kaelte draussen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch
+zu buegeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es
+sind immer noch viele da." Frau Pfaeffling buegelte weiter, sah muede aus
+und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat muesste es freilich sein, wenn
+man einmal ein paar Wochen ausgespannt wuerde!"
+
+Inzwischen hatte Herr Pfaeffling ein Verhoer mit seinen Soehnen angestellt,
+und Otto hatte gestanden, dass er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik
+geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich haette gerne die alte
+Ausgabe benuetzt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er
+schon aergerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem
+aeltesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht,
+dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch
+vertroestet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr
+geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die
+alte Auflage muss wohl noch von deinem Grossvater stammen?' So hat der
+Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen koennen?"
+
+"Mir haettest du das gleich sagen sollen, dann waere sie bezahlt worden."
+
+"Du hast damals gar nichts davon hoeren wollen," sagte Otto klaeglich.
+
+"Dann haettest du es der Mutter sagen sollen."
+
+"Die Mutter schickt uns immer zu dir."
+
+"Ach was," entgegnet Herr Pfaeffling ungeduldig, "du bist ein Streiter;
+wie du es haettest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht
+so. Denkt nur, wohin das fuehren wuerde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung
+nehmen wuerdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man
+durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen
+es immer zustande ohne solche, und ihr muesst es auch lernen. Darum zahle
+du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt
+bekommen?"
+
+"Ich habe keine drei Mark mehr."
+
+"Dann helfen die Brueder. Ihr habt es doch wohl gewusst, dass Otto die
+Grammatik geholt hat? Also, dann koennt ihr auch zahlen helfen. Jeder
+eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich
+darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhaendler, zahlt und bringt
+mir die Quittung, und am naechsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr,
+Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag
+dankbar entgegen und waren froh, dass die Sache gnaedig abgelaufen war.
+Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhaendler
+tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustuere eine Droschke,
+eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
+Fraeulein Vernageldings Lockenkoepfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater,
+auch das noch!" musste Otto denken. Aber das Fraeulein sprach ihn
+freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuss zu gehen, wollen Sie
+nicht auch fahren? Da waere eben eine Droschke frei!"
+
+"Danke, nein, ich gehe zu Fuss," entgegnete Otto, lief davon und lachte
+vor sich hin ueber den Einfall, dass er zum Buchhaendler fahren sollte.
+Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Strasse bei
+zwanzig Grad Kaelte!
+
+
+
+
+10. Kapitel
+
+Ein Kuenstlerkonzert.
+
+
+Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
+bevorstehenden seltenen Kunstgenuss. Die schon frueher Gelegenheit gehabt
+hatten, die Kuenstler zu hoeren, stritten darueber, ob die entzueckende
+Stimme der Saengerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die
+Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische
+Wunderkind einen solchen Reiz ausuebte.
+
+Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt fuer die Kuenstlerfamilie und ihre
+Begleitung. Herr Pfaeffling wusste das nicht, als er dem Hotel zuging, um
+seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal
+musizierten sie zusammen, weit ueber die festgesetzte Zeit hinaus, dann
+nahm Herr Pfaeffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen
+ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den
+Soehnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden
+jungen Leute in Berlin zuruecklassen. Schwer bedrueckte sie auch der
+jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurueckkehren mussten.
+Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.
+
+Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den
+grossen Abstand der aeusseren Stellung und Lebensverhaeltnisse zwischen den
+beiden Maennern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und
+warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.
+
+"Unsere Soehne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General,
+"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu
+ueberbringen. Uebermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch
+anhoeren, vielleicht sehen wir uns im Saal!"
+
+Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
+verabschiedete sich Herr Pfaeffling. Auf der Treppe musste er Platz
+machen. Ein praechtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war fuer
+das Empfangszimmer des Kuenstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und
+Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfaeffling
+verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig
+anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier
+herein zu kommen?" fragte er, die Tuere eines Zimmers aufmachend. "Ich
+wohl," sagte Herr Pfaeffling, "aber Sie sind heute wieder vollauf in
+Anspruch genommen?"
+
+"Allerdings, und man sollte meinen, ich haette keinen anderen Gedanken
+als meine Gaeste, aber auch uns Geschaeftsleuten steht das eigene Fleisch
+und Blut doch am naechsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach,
+was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es
+vielleicht, dass er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester
+ist. Sie, Herr Pfaeffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den
+Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation."
+
+"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir
+sehr bewusst, dass ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen
+habe. Was schreibt Ihr Sohn?"
+
+"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben
+finden, aber nun sollten Sie hoeren, wie er begeistert schreibt ueber
+seine Tante, obwohl diese ihn fest fuehrt, wie wichtig es ihm ist, ob er
+ihr zum Quartalsabschluss ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum,
+wie vergnuegt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern
+schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner
+Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte
+ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl
+Telegramme ueberreichte, die eben eingetroffen waren.
+
+"Ich will Sie nicht laenger aufhalten," sagte Herr Pfaeffling. "Ihre
+Telegramme beunruhigen mich, auch hoere ich unten immerfort das
+Telephon."
+
+"Fuer dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich
+alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde moechten da absteigen, wo sie
+wissen, dass die Kuenstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders
+auch die Berichterstatter fuer die Zeitungen, diese hoffen im gleichen
+Hause etwas mehr zu hoeren und zu sehen von den Kuenstlern, als was sich
+im Konzertsaal abspielt."
+
+Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur
+Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt
+oder vorausbestellt. Ich muss fuer Aufnahme in anderen Haeusern sorgen. Mir
+ist es lieb, zu denken, dass Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit
+oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein fuer
+Ihren Rat, Herr Pfaeffling."
+
+Die beiden Maenner trennten sich und als Herr Pfaeffling das Zentralhotel
+verliess, dessen schoene Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
+ueberschritten hatte, wandte er sich unwillkuerlich und warf noch einmal
+einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurueck. Wie
+wenig Unterschied war doch im Grund bei aller aeusseren Verschiedenheit
+zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte.
+Der russische General, der reiche Geschaeftsmann und er, der schlichte
+Musiklehrer, schliesslich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen.
+Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie
+sich, tuechtige Soehne wollten sie alle, und das konnte ein armer
+Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.
+
+Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der
+Fruehlingsstrasse, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfaeffling war
+in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden
+Schueler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die
+jungen Leute drueckten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache
+aus, baten Frau Pfaeffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit,
+dass die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben haetten,
+selbst noch einen Gruss schreiben und diesem das Honorar fuer die Stunden
+beilegen wollten.
+
+Unser Musiklehrer haette sie noch in der Fruehlingsstrasse treffen muessen,
+wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen waere. Aber es hatte heute in
+der Musikschule nach Schluss des Unterrichts eine sehr erregte
+Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfaeffling
+kam spaeter als sonst und nicht mit seiner gewohnten froehlichen Miene
+heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, dass reich oder arm
+nicht viel zum Glueck des Menschen ausmache! Der Direktor hatte
+mitgeteilt, dass zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte,
+auf seinen Namen lautend, fuer die Lehrer der Musikschule abgegeben
+worden sei. Darueber herrschte grosse Entruestung unter den Kollegen.
+Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plaetze verschaffen, fuer
+Herrn Pfaeffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte
+einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu ueberreden. "Nein," sagte er,
+"ich saesse nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch
+nicht einmal die 60 Mark beisammen fuer den Arzt! Wenn die Russen heute
+das Geld geschickt haetten, das haette mich vielleicht verfuehrt. Die Leute
+sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich
+waere, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muss oder nicht!
+Und die Kuenstler! Wie leicht haetten sie noch eine Freikarte mehr
+schicken koennen! Weisst du, dass Fraeulein Vernagelding mit ihrer Mutter
+in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, dass ich neidisch
+bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
+das junge Gaenschen, das nicht hoert, was recht und was falsch klingt,
+soll diesen Kunstgenuss haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und
+warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei
+man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man
+nicht bitter werden!"
+
+"Bitter?" wiederholte Frau Pfaeffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
+zusammen zu denken."
+
+Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.
+
+Frau Pfaeffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis
+Elschen als schuechterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu
+Mittag gegessen wuerde? Mit dem schlechten Gewissen einer saeumigen
+Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfaeffling
+sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zuegen zu lesen,
+aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine oede Zeit, wenn sie fuer vier
+Wochen verreist, ich wollte, es waere schon ueberstanden."
+
+Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer
+waren besetzt, Kunstverstaendige waren von nah und fern herbei geeilt,
+alte Bekannte, neue Groessen suchten das Kuenstlerpaar auf und das
+Kuenstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons ueberschuettet, aber dennoch
+langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fraeulein, das fuer den
+kleinen Kuenstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune
+erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.
+
+Am Nachmittag liess die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele
+Fremde der Stadt haetten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der
+Kuenstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche
+Stimme der Saengerin zu hoeren und ihre anmutige Erscheinung zu sehen.
+"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht
+in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn
+das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen wuerde in dem
+Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein
+Fraeulein ist selbst ganz nervoes von der Anstrengung, ihn aufzuheitern.
+Nun moechte ich Sie bitten, dass Sie mir ein paar muntere Kinder
+verschaffen, Knaben oder Maedchen, die mit ihm spielen und ihn
+zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie
+mir dafuer, nicht wahr, und so bald wie moeglich. Auch etwas Spielzeug
+wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!"
+
+"Ich werde dafuer sorgen, gnaedige Frau," versicherte Herr Meier, und
+verliess das Zimmer. Die Wuensche der Gaeste mussten befriedigt werden, das
+stand ein fuer allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also
+auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte
+er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Faellen hatte dieser
+ihm oft Rat gewusst, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf
+doch tatsaechlich nuetzlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr
+Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung:
+Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft,
+temperamentvoll mussten die Kinder _dieses_ Mannes sicherlich sein. Er
+ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer
+Pfaeffling in die Fruehlingsstrasse. Lassen Sie ausrichten, der kleine
+Kuenstler habe Langeweile und ich liesse Herrn Pfaeffling freundlich
+bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Maedchen,
+zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber
+rasch!"
+
+So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Fruehlingsstrasse vor,
+und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten
+um zwei bis drei Stueck Kinder, Buben oder Maedel, das sei egal, sie
+sollten dem kleinen Kuenstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider
+sei."
+
+Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfaeffling, und sie
+waren gleich bereit, die Bitte zu erfuellen. Wer passte am besten dazu?
+Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur
+Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklaerte,
+er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich
+genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich
+Purzelbaeume vormachen und Spass mit ihm treiben, dass er kreuzfidel
+wuerde!"
+
+"Gut," sagte Herr Pfaeffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du
+es auch zustande bringen. Und Frieder?"
+
+"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher wuerde ich zu Elschen raten.
+Wo ist sie denn? Ein Kuenstlerkind hat vielleicht Freude an dem
+niedlichen Gestaeltchen."
+
+"Meinst du?" sagte Herr Pfaeffling zweifelnd, "ist sie nicht zu
+schuechtern? Wir wollen sie fragen."
+
+Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer,
+hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und
+Brueder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte
+bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen.
+Frau Pfaeffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges
+Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem
+wir dir erzaehlt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt
+kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?"
+
+"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schlaeft jetzt, da kann
+ich schon fort."
+
+Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
+herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die
+ganze Stadt, voll Freude ueber das unverhoffte Vergnuegen.
+
+Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange,
+ob entsprechendes herauskommen wuerde. Er oeffnete den Schlag. Der Anblick
+von Elschens lieblichem kleinem Persoenchen erfreute ihn. Behutsam hob er
+sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das
+entspricht, wird sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit
+Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen
+gerafft und war schon unter der grossen Haustuere. Laechelnd sah ihn Herr
+Meier an. "Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink," dachte er
+und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst
+einfuehren. Edmund heisst der Kleine. Er ist ein wenig muede von der Reise,
+aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von
+Musik muesst ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur
+spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch."
+
+Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das
+"Herein", statt dessen hoerten sie die Stimme eines Fraeuleins. "Aber
+Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn
+sonst tun?" hoerte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte
+Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muss freilich arg Langeweile
+haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen." Herr
+Meier wusste nicht recht, ob er das gut heissen sollte, aber er hatte
+inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war erfolgt und durch
+die geoeffnete Tuere kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum
+nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr
+einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte
+und sagte: "Wie macht man denn das?"
+
+Das Fraeulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Abloesung in
+ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Saengerin, die aus dem
+nebenan liegenden Zimmer unter die Tuere getreten war, laechelte
+freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt
+entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte
+ein Gefuehl dafuer, dass die Art, wie ihr Bruder sich einfuehrte,
+ungewoehnlich und vielleicht nicht passend war, und in der muetterlichen
+Art, die sie von ihrer aelteren Schwester ueberkommen hatte, sagte sie zu
+der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewoehnlich nicht mit Purzelbaeumen
+herein, bloss heute, weil er lustig sein will."
+
+"Ein suesses Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fraeulein. "nun ist
+Edmund versorgt und wir koennen ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder
+nur ganz gewaehren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fraeulein
+schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem
+Buch zurueck und die Kinder blieben sich selbst ueberlassen.
+
+Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Kuenstler hatte etwas
+sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Aeusseres. Weiche,
+blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schoen und
+wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine grossen, tiefblauen Augen,
+die mit ihrem traeumerischen Ausdruck ahnen liessen, dass diese Kinderseele
+mehr als andere empfand. Waehrend er mit den Kindern spielte, sah auch er
+kindlich-froehlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewoehnlicher
+Ernst und eine Fruehreife in seinem Gesicht, die ihn viel aelter
+erscheinen liessen.
+
+Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spaessen und ergoetzte sich
+mit diesem, waehrend Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir
+moechte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"
+
+"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.
+
+"Was willst du tanzen?"
+
+"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders,
+der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewusst hatte.
+
+"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Daemchen zum
+Tanz fuehren.
+
+"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muss mir das erst vormachen."
+
+Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken,
+fuer so kleine Taenzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu
+machen.
+
+"Bei Walzer zaehlt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen
+Walzer vorpfeifen."
+
+Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und
+sich im Kreis zu drehen. Das Fraeulein, im Hintergrund, verbarg hinter
+ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schuettelte.
+Edmund fuhr die Tanzlust in die Fuesse, er ergriff seine kleine Taenzerin.
+Sie waere ja keine Pfaeffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfasst
+haette; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den
+Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fraeulein
+rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter
+die Tuere, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in
+unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner
+Frau, "das gaebe einen Jubel! Wem gehoeren denn diese Kinder?" fragte er
+das Fraeulein. Sie wusste es nicht.
+
+"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Maedchen ist die
+Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."
+
+Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das
+Fraeulein, dass es Zeit fuer Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und
+sich umkleiden zu lassen fuer das Konzert. Als er das hoerte, verschwand
+alle Froehlichkeit aus seinem Gesicht, er erklaerte, dass er nichts essen
+moege, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle.
+Die vernuenftigen Vorstellungen des Fraeuleins, die zaertlichen Worte der
+Mutter hatten nur Traenen zur Folge.
+
+Wilhelm versuchte seinen Einfluss auf den kleinen Kameraden. "Du musst
+doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen
+sich schon so lange auf das Konzert!"
+
+"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte,
+sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das
+Kuenstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so
+langweilig, waehrend du singst und Papa spielt."
+
+Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir koennen nicht
+kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich
+habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele
+Aufgaben fuer morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Traenen, er
+drueckte sein Koepfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht
+kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch
+tatsaechlich ein wenig elend aus, das kleine Buebchen. Seine Mutter rief
+den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint und
+jaemmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verstaendig,
+aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute
+abend."
+
+Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuss. Edmund ergriff Wilhelms Hand
+und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden
+Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden
+nichts davon, das Gespraech wurde in italienischer Sprache gefuehrt.
+Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir waeren sehr froh," sagte
+er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Kuenstlerzimmer kommen und den
+Abend bei ihm bleiben wolltest. Du muesstest eben deine Aufgaben einmal
+bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl
+tun? Wir verlangen auch diese Gefaelligkeit nicht umsonst, wir bieten dir
+dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiss jetzt noch
+leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."
+
+Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein
+Billet, fuer den Vater natuerlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja,"
+rief er, "ja, ja, fuer ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben
+darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch
+arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine ploetzlich vom Weinen
+zum Lachen ueberging, sagte er zu diesem: "Koenntest du nur dabei sein,
+wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut!
+Mein Vater ist wohl so gross wie die Tuere da, und wenn er einen
+Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weisst du
+so!" und Wilhelm fing an, Spruenge zu machen, dass der kleine Kamerad laut
+lachte und seine Mutter leise zu dem Fraeulein sagte: "Nun fuehren Sie ihn
+rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnuegt ist," und dem Kinde
+redete sie guetig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute
+abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fraeulein
+und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der
+Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so
+lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Kuenstlerzimmer fragen."
+
+"O, ich weiss es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt
+es."
+
+Der Kuenstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er,
+"woher weisst du das Zimmer?"
+
+"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
+abgeholt."
+
+"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen fuer unser
+Konzert?"
+
+"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich
+mehr darueber freuen, als mein Vater!"
+
+Auch Elschen stimmte zu mit einem froehlichen "ja, ja!" und dabei
+schluepfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern
+war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte
+wurde ihnen denn auch wirklich eingehaendigt und nachdem Wilhelm fest
+versprochen hatte, sich rechtzeitig im Kuenstlerzimmer einzufinden und
+Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Laerm
+zu machen, wurden die Kinder entlassen.
+
+Wilhelm fasste die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell,
+schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiss zu Hause ist, es ist
+schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!"
+
+So rasch eilten sie am Portier vorueber, dass dieser sie kaum mehr
+erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die
+Freitreppe vor dem Hotel.
+
+"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr duerft wieder heim fahren."
+Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und
+kommen viel frueher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber
+die Hand des grossen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des
+Knaben und hielt ihn zurueck. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, dass eine
+Droschke geholt werden soll, es ist fuer dies kleine Maedchen ein weiter
+Weg und draussen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so
+kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen
+holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im
+Portierzimmer ein Sessel zurecht gerueckt. Da sass sie neben zwei riesigen
+Reisekoffern, und betrachtete die glaenzenden Metallbeschlaege.
+
+"Das sind grosse Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen
+bis nach Russland."
+
+"Dann gehoeren sie dem General," sagte Elschen, "der in der naechsten
+Woche nach Berlin reist."
+
+"Weisst du davon? Du hast ganz recht, das heisst, er reist schon morgen."
+
+"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah
+erstaunt auf die Kleine. "Das waere das neueste, wer hat denn das
+gesagt?"
+
+"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."
+
+"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General
+selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen
+vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke."
+
+Wilhelm haette mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung
+zu setzen als die eines mueden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
+einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, dass der
+Wagenschlag fuer sie aufgerissen wurde wie fuer ein kleines Daemchen und
+sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht
+ausgleite. Nun fuhren sie durch die schoen beleuchteten Strassen, dann
+durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die
+Fruehlingsstrasse ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, muessen alle
+auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und
+Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muss das Billet zu
+rechter Zeit bekommen!"
+
+In der Fruehlingsstrasse war abends kein grosser Wagenverkehr, und Frau
+Pfaeffling, die bei den Kindern am Tisch sass, horchte auf und sagte: "Sie
+kommen!" Herr Pfaeffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und
+her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den
+Gedanken gestoert wurde, wie viel schoener es waere, heute abend Musik,
+Musik erster Klasse, zu hoeren, als ueber Musik zu lesen, Herr Pfaeffling
+hoerte auch das Geraeusch des Wagens: "Das koennen die Kinder sein, ob
+_sie_ wenigstens etwas gehoert haben in der Kuenstlerfamilie, singen,
+Klavier oder Violine?" Das musste er doch gleich fragen, also: die Treppe
+hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: "Es haelt
+eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt
+ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfaeffling stand
+inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber
+so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen
+seiner Kinder: "Wie gut, dass du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja
+ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Kuenstler
+selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfaeffling nicht den Freudensprung
+machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet haette, enttaeuscht
+waere dieser doch nicht gewesen, denn dieser froehliche Ausruf der
+Ueberraschung, dieses stuermische Stufenueberspringen, um moeglichst
+schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Caecilie!" der
+durch die ganze Wohnung klang, war auch ergoetzlich und herzerfreuend.
+
+Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es
+diesmal ueberlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag
+herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht
+ueberrannt zu werden, wollte eben die Haustuere zumachen, als sie die
+Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so
+pressiert," sagte sie vor sich hin, "dass sich keines die Zeit genommen
+hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloss
+fuer sie die Haustuere, waehrend oben schon die Tritte der Hinauseilenden
+verhallten. Elschen fand es ganz natuerlich, dass man sich nicht um sie
+gekuemmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
+der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich gruesste sie die Hausfrau und
+sagte, auf der Treppe zurueckblickend: "Jetzt weiss ich es, Hausfrau, wie
+du das machen musst, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont
+wird, du musst nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel
+und es sieht auch viel schoener aus als das Holz da!"
+
+"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
+Teppiche, damit ich sie legen kann."
+
+Bei Pfaefflings war grosse Bewegung, die Freude ueber das Konzertbillet
+hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten ueber die
+Erlebnisse im Zentralhotel ueberstuerzten sich, zugleich wurden die
+Vorbereitungen fuer das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfaeffling und
+Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau
+Pfaeffling hoerte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem
+kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fuehlt," sagte sie zu
+Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spaessen bei guter
+Laune erhalten koennen!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu
+vergnuegt ueber die Freikarte, als dass er von dem heutigen Abend irgend
+etwas anderes als Erfreuliches haette erwarten koennen. Er strahlte mit
+dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinueber, der ebenso
+strahlte, waehrend sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten
+und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der
+Familie fuer das Konzert richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder
+nicht mehr spielen will," sagte Frau Pfaeffling zu Wilhelm, "so lass ihn
+sich zu dir setzen und erzaehle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika
+und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn
+du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weisst du, wenn man unwohl ist,
+mag man gar nicht lachen, aber ueber dem Erzaehlen vergessen die Kinder
+ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht
+krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte
+Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm."
+
+So gingen Vater und Sohn froehlich und guter Dinge miteinander nach der
+Musikschule und trennten sich, Herr Pfaeffling, um seinen Platz in dem
+schon dicht gefuellten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet
+nachtraeglich zu verdienen.
+
+Er fand das Kuenstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn
+begruessten hier die Kuenstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Saengerin
+allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand
+in schneeweissem Anzug da und lehnte das Lockenkoepfchen an seine Mutter,
+die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt
+dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes
+Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine Purzelbaeume,"
+entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.
+
+"Das waere hier wohl auch nicht gut moeglich," sagte der Vater. Im
+Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben
+hielt sich das Fraeulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt
+hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel fuer
+Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?"
+"Spaeter, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das
+Fraeulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke spaeter
+kam geschaeftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr
+Weismann?" frug ihn der Kuenstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
+anwesenden Herrn verliessen nun rasch das Kuenstlerzimmer, um sich an ihre
+Plaetze im Saal zu begeben, das Fraeulein strich noch die Falten am Kleide
+der Saengerin glatt, der Vater loeste mit einer gewissen Strenge die Hand
+des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm,"
+die Mutter drueckte rasch noch einen Kuss auf die Stirn des Kleinen, der
+sie betruebt, aber doch ohne Widerspruch losliess. Dann oeffnete Weismann
+eine Seitentuere, von der aus ein paar Stufen nach dem erhoehten Teil des
+Saals fuehrten, auf dem nun das Kuenstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm
+konnte von dem tieferliegenden Kuenstlerzimmer aus nicht hinaufsehen,
+aber er hoerte das maechtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar
+empfangen wurde, dann schloss Weismann hinter ihnen die Tuere und von den
+wunderbaren Toenen, die nun im Saal die Menschenmenge entzueckten, drangen
+nur einzelne Klaenge herunter in das Nebenzimmer.
+
+Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat
+unser kleiner Kuenstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine
+deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schoen im Stande?" Edmund
+antwortete nicht.
+
+"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fraeulein, "sein Vater hat
+vorhin darnach gesehen."
+
+"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen
+sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weisst doch noch, nicht
+ganz dicht am Fluegel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.
+
+"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fraeulein, "wenn
+dich Papa so saehe!" Da liess der Kleine den Kopf haengen und fing au zu
+weinen. Erschrocken zog ihn das Fraeulein an sich. "Sei nur zufrieden,
+Kind," troestete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall
+klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die
+Traenen, Weismann hielt es fuer klueger, sich zurueck zu ziehen, Wilhelm
+liess den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte
+er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er
+vertiefte sich in das Spiel. Ploetzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm
+droehnte aus dem Saal.
+
+"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Tuere. "Nein, sie muss
+noch einmal wiederholen," fuegte er nach einer Weile gespannten Horchens
+hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurueck. "Bei mir ist das auch
+manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muss."
+
+"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so
+etwas habe ich noch gar nicht gehoert."
+
+"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es
+nachher schon hoeren," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem
+Kreisel, und als nun die Saengerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl
+geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Kuenstlerzimmer
+zurueckkam, rief er ihr froehlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die
+Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, dass er vergnuegt ist!" und
+ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.
+
+Im Saal erklang der Konzertfluegel.
+
+"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an
+das Fraeulein wendend, fuegte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist,
+wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Frueher war es mir
+bange, wenn ich vorsingen musste, aber seitdem das Kind oeffentlich
+spielt, hat diese grosse Angst jede andere vertrieben. Wir haetten es nie
+anfangen sollen." Troestend sprach das junge Maedchen der Mutter zu: "So
+sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist
+von dem Kleinen, sind Sie doch gluecklich und stolz, mehr als ueber Ihre
+eigenen Erfolge. Er ist nun schon fuenfmal aufgetreten und hat seine
+Sache immer gut gemacht."
+
+"Aber heute wird es anders werden," fluesterte die Mutter, "hat er nicht
+auch truebe Augen? Edmund, gib mir deine Haende. Sie sind heiss, fuehlen
+Sie, Fraeulein!"
+
+"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Haende jetzt ruhen
+lassen."
+
+"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Haende duerfen
+nicht muede sein vor dem Violinspiel."
+
+Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschaeftigung zu wissen.
+Eine gelernte Kindergaertnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber
+ihm war, als verloere sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem
+Augenblick an, wo er aufhoeren wuerde, den Jungen zu unterhalten. Also
+_mussten_ ihm Gedanken kommen, Einfaelle, um die Zeit zu vertreiben, und
+sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in
+der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er
+Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.
+
+"Nun wirst du hoeren, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,"
+sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr
+war es seine Mutter. Sie fluesterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den
+Tuerspalt, wie er seine Sache macht!"
+
+Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Kuenstlern, sah, wie
+der Kleine, der mit freundlichem Beifall begruesst worden war, in
+kindlicher Weise den Gruss erwiderte und, von seinem Vater auf dem
+Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen
+Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung
+nicht so wunderbar vor wie den Zuhoerern im Saal. Mit denselben
+traeumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte
+Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
+Freilich war Frieder erst ein Anfaenger auf diesem Instrument und dieser
+Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die
+Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kraeftigen Strich
+eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Toene wusste er zu wecken
+und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Haende. Unter den
+Zuhoererinnen war manche zu Traenen geruehrt, und als der letzte Ton sanft
+verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen
+flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Kuenstler
+ein Fuellhorn zu ueberreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet
+war, denn waehrend es nur mit Rosen gefuellt schien, waren unter den
+Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die
+Schaetze zu sammeln. Man hoerte die helle Kinderstimme ein schlichtes,
+freundliches "Danke!" rufen.
+
+In das Kuenstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu
+gratulieren, und es kam so, wie das junge Maedchen voraus gesagt hatte:
+die Mutter war ueber die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg
+gluecklicher, als ueber den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das
+Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein
+schwieriges und laengeres Musikstueck und ganz ohne Begleitung, aber sie
+war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten
+Schilderungen einiger Freunde, die in das Kuenstlerzimmer eindrangen und
+von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Froehlich und siegesgewiss
+trat das Kuenstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurueck
+bei dem Fraeulein und dem treuen Kameraden.
+
+Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine
+weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reissen, Wilhelm mochte
+sich buchstaeblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte
+er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm
+zu erzaehlen. Der lehnte sich an das Fraeulein, und es dauerte gar nicht
+lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie liessen ihn
+ruhen, aber gegen den Schluss des Konzertabends, waehrend sein Vater
+allein spielte und schon am Ende des Stueckes war, auf das Edmunds
+Auftreten folgen sollte, musste er doch geweckt werden. Die Mutter tat es
+mit schwerem Herzen und unter zaertlichen Liebkosungen. Es kam ihr
+grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, dass sie
+das Kind vorspielen lasse. Sie bemuehten sich zu dritt um das Kind, boten
+ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus
+dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen
+vermocht, dass er noch einmal vorspiele.
+
+Draussen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
+Erwartung des kleinen Kuenstlers, auf dessen Wiedererscheinen die grosse
+Menge sich mehr freute als ueber die grossartigen Kompositionen, die der
+Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Kuenstlerzimmer, herrschte
+Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.
+
+"Lass nun einmal die zaertlichen Worte," sagte der Kuenstler zu seiner
+Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; lass mich allein mit Edmund
+reden." Er fuehrte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die
+Augen.
+
+"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und moechtest lieber zu
+Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe
+doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du musst nur
+ein einziges Stueck spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht:
+Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen
+dafuer Musik versprochen und muss mein Versprechen halten. Du musst das
+deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines
+will ich fuer dich tun, wenn du mir versprichst, dass du dich tapfer
+haeltst, ich will dir erlauben, dass du anstatt des schwierigen
+Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so
+gut kannst. Ich will es den Zuhoerern sagen; wenn du das Stueck recht
+schoen vortraegst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer
+Viertelstunde ist es ueberstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann
+verzeihen sie es dir, dass du so ein kurzes Stueck spielst." Und er nahm
+das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm
+verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die
+Violine, die er folgsam nahm und fuehrte ihn die Stufen hinauf. "Vater,"
+fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
+auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."
+
+"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der
+Vater.
+
+Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
+Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte
+sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des
+Kuenstlers zugute zu halten, dass er sein Programm nicht einhaelt. Er
+moechte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von
+Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die
+Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wussten, dass ihnen damit die
+Freude verkuerzt wurde. "Nun mach es um so besser," fluesterte der Vater
+noch seinem Kind zu und stellte sich so, dass sie einander im Auge
+behielten. Ihm war es, als muesste er unablaessig durch seinen Blick die
+Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.
+
+"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhoerer, aber die meisten
+hatten keinen Blick fuer den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem
+Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.
+
+Es ging vorueber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit
+erschienen, und diesmal kamen Beide wie traeumend zurueck zu der Mutter,
+die den Kleinen in zaertlichen Armen empfing.
+
+"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,"
+sagte der Vater zu dem Fraeulein, "Wilhelm begleitet Sie hinueber zum
+Droschkenplatz, nicht wahr?"
+
+Am Schluss des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhoerer vor
+dem Kuenstlerzimmer, sie hofften, auch das Kuenstlerkind noch einmal zu
+sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom
+Zentralhotel sorgsam hatte erwaermen lassen.
+
+Am naechsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des
+Konzerts, und am uebernaechsten folgte eine Notiz: der kleine
+Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.
+
+Acht Tage spaeter lag auch seine kleine Taenzerin Elschen masernkrank
+darnieder, und wenn Frau Pfaeffling an ihrem Bettchen sass, dachte sie
+manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon oeffentlich
+auftreten musste, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.
+
+Ueber diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.
+
+
+
+
+11. Kapitel
+
+Geld- und Geigennot.
+
+
+Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfaeffling hatte
+taeglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheissenen Abschiedsgruss
+des russischen Generals gewartet, dem das Honorar fuer die Stunden
+beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So musste die russische
+Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte
+sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder
+aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr
+Pfaeffling wollte sich endlich Gewissheit verschaffen und suchte Herrn
+Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, dass der General mit
+Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunaechst nach
+Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.
+
+Herr Pfaeffling zoegerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar
+zu sprechen, aber der Geschaeftsmann erriet sofort, worum es sich
+handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle
+geschaeftlichen Angelegenheiten aufs puenktlichste geregelt und grossmuetig
+jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so
+werden auch sie ihn kennen gelernt haben."
+
+"Ja, aber wie erklaeren Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt,
+seine Soehne wuerden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, dass sie
+das Honorar ueberbringen wuerden. Sie sind auch gekommen, aber ohne
+Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern
+wuerden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, dass es
+von Berlin aus geschehen werde?"
+
+"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab,
+ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas
+anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede,
+das haben die Soehne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fuerchte, das Geld
+ist in den Haenden der jungen Herrn haengen geblieben, das geht aus allem
+hervor, was Sie mir erzaehlen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Soehne,
+und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint
+mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich
+mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt uebergeben
+wurden, und rechneten darauf, dass Sie, in der Meinung, die Abreise sei
+verschoben, sich erst um Ihr Geld melden wuerden, wenn die Eltern schon
+ueber der russischen Grenze waeren. Es ist gut, dass Sie nicht noch ein
+paar Tage gezoegert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in
+Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch
+mitteilen, Herr Pfaeffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie
+unverzueglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen
+Herrn auszusprechen, es genuegt, wenn Sie den Hergang erzaehlen, der
+General ergaenzt sich das uebrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen
+sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut."
+
+In voller Entruestung erzaehlte unser Musiklehrer daheim von dem
+offenbaren Betrug seiner jungen Schueler. "Es ist ein Glueck," sagte er
+dann, "dass mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich
+schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und
+Noetigerem als diese leichtsinnigen Burschen."
+
+Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfaeffling in ganz veraenderter
+Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurueck. "Caecilie,"
+sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder straeubt sich
+ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich
+auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt
+doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner
+Soehne. Dass er ihnen so etwas nie zugetraut haette, sieht man ja, er
+haette ihnen sonst das Geld nicht uebergeben. Nun soll er das erfahren
+muessen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose
+Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen koennen. Sich so von
+seinen Kindern trennen muessen, das ist ein namenloser Schmerz fuer
+Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu
+retten, was sagst du, Caecilie?"
+
+"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, dass du es ueber dich
+bringst," entgegnete Frau Pfaeffling.
+
+"Und du? Wuerdest du es ueber dich bringen? Wuerdest du schreiben, trotz
+all dem Leid, was daraus entstehen muss?"
+
+"Ich wuerde vielleicht denken, frueher oder spaeter werden die Eltern doch
+erfahren, wie ihre Soehne sind, und fuer die Jungen selbst waere es
+heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe fuer sie hinginge. Ueberdies
+ist ja immerhin die Moeglichkeit, dass wir einen falschen Verdacht haben
+und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die
+unwahre Aussage der Soehne ueber die verschobene Abreise nicht erklaeren
+koennte. Die hundert Mark sind uns auch gar so noetig."
+
+"Also du wuerdest schreiben, Caecilie?"
+
+Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiss nicht, ich
+wuerde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfaeffling noch eine
+Weile ueberlegend auf und ab. Die Augen seiner grossen Kinder folgten ihm
+mit Spannung. Sie waren alle empoert ueber den Betrug, der an ihrem Vater
+begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater moechte schreiben. Aber
+sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor
+der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich
+verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere
+Uebel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den
+Naechsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen
+General ungeschrieben.
+
+Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefasst. In ihrem kalten
+Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto
+beisammen und schrieben an die Soehne des Generals. Ihrer Entruestung ueber
+die schnoede Handlungsweise gaben sie in kraeftigen Worten Ausdruck, den
+Edelmut des Vaters, der aus Ruecksicht auf den General diesem die
+Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten,
+schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen
+mussten, wenn eine so grosse Summe wegfiel, und wandten sich am Schluss mit
+volltoenenden Worten an das Ehrgefuehl der jungen Leute mit der
+Aufforderung, das Geld zurueckzuerstatten. Otto musste mit seiner schoenen,
+schulgemaessen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten
+alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den
+aelteren der beiden Brueder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es
+fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er
+in den Schalter geworfen werden. Mit grosser innerer Befriedigung legten
+sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin musste das Geld
+zurueckkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche
+Ueberraschung, welche Freude musste das geben!
+
+Es ist aber merkwuerdig, wie die Dinge bei nuechternem Tageslicht so ganz
+anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brueder am
+naechsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum
+lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?"
+Wilhelm und Otto wussten Gruende genug. "Weil sonst keine Ueberraschung
+mehr dabei ist; weil die Eltern so aengstlich sind und keinen Verdacht
+aeussern wollen, waehrend doch alles so klar wie der Tag ist; weil der
+Vater die schoensten Saetze ueber seinen Edelmut streichen wuerde; weil
+dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts wuerde; nein, wenn man
+wollte, dass der Brief abging, so musste man ihn heimlich abschicken,
+nicht lange vorher fragen."
+
+Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf
+er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber
+die Brueder drangen in ihn: "Jede Ueberraschung muss heimlich gemacht
+werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und aengstlich,
+was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nuetzt
+er nichts, aber schaden kann er nichts, das musst du selbst sagen." Karl
+wusste auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus
+auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. "Die Eltern sind
+immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte er, "und es ist wahr, dass
+schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben.
+Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heisst es doch: Karl, du
+bist der Aelteste, du haettest es nicht erlauben sollen." Allmaehlich
+brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb
+dabei dass sie ganz uebertrieben aengstlich seien, und machte bei dem
+dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreissen.
+Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, musste
+die Schlussberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben
+war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzaehlen, wie wenn dieser
+schon abgeschickt waere. Hatte sie dann nur Freude darueber, dann konnte
+man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn
+vorzeigen. So wurde Frau Pfaeffling zugefluestert, sie moechte nach Tisch
+einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei
+Grossen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief
+erzaehlten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen
+Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen haetten.
+Die kraeftigen Ausdruecke der Verachtung gegen die Handlungsweise der
+jungen Russen und die Beschwoerung, das Geld zurueckzuerstatten, wurden
+fast woertlich angefuehrt.
+
+Im ersten Augenblick hoerte Frau Pfaeffling mit Interesse zu, aber dann
+veraenderte sich ploetzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast
+entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blass. Sie erschraken ueber
+diese Wirkung und verstummten.
+
+"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr
+auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in
+die Hand, die Soehne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern
+in der Erziehungsanstalt und das koennt ihr glauben, der General uebergibt
+keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Soehne, ohne ihn zu lesen.
+Nun erfaehrt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der
+Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so
+einzumischen in das, was euch nichts angeht!"
+
+Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins
+Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfaeffling war nicht
+begierig, Entschuldigungen zu hoeren, und anderes glaubte sie nicht
+erwarten zu koennen. Da drueckte ihr Karl den Brief in die Hand und rief:
+"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch
+nicht so!"
+
+"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfaeffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei
+schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es waere mir schrecklich
+gewesen fuer den Vater, fuer den General und auch fuer euch, denn wir
+haetten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, haetten alles
+Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge
+mischt!" Sie standen beschaemt, denn wie waren sie doch so nahe daran
+gewesen, das Heimliche zu vollbringen!
+
+"Spaeter, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau
+Pfaeffling, "ich kann mir ja denken, dass ihr empoert seid ueber die jungen
+Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie
+wenn es Gewissheit waere. Wisst ihr nicht, dass oft schon die kluegsten
+Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht
+gegen ihn vorlag, und spaeter stellte sich doch heraus, dass er unschuldig
+war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein."
+
+Herr Pfaeffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darueber.
+"So, wie die Kinder gerne geschrieben haetten," sagte er zu seiner Frau,
+"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die
+Soehne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch
+unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wuesste nicht, wie sie in dieser
+Zeit das unterschlagene Geld haette verausgaben sollen. Ich muesste an sie
+schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der
+Abschied wird den jungen Leuten gewiss einen tiefen Eindruck machen, der
+General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung
+einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne
+schonen moechte, ist es nicht unmoeglich, dass sie ihr Unrecht wieder gut
+machen. Sie moegen ja schwach sein und leicht einer Versuchung
+unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemuets und zum Guten zu
+bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen."
+
+Frau Pfaeffling sass in dieser Zeit viel am Bett der kleinen
+Masernkranken. Ihr Mann musste das Krankenzimmer meiden um seiner Schueler
+willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages ploetzlich vor
+ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoss, rief vergnuegt: "Das
+Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden.
+
+Seine drei grossen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief
+der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines
+Geldstueck, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken
+gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch
+gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen,
+einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weisst nicht so genau, wie die Sache
+zugegangen ist. Ich bin schon froh, dass nur kein Unheil entstanden ist
+aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat
+nur Karl verdient, gib sie nur ihm."
+
+Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer
+Entschuldigung ueber die Verzoegerung und der aufrichtigen Bemerkung, dass
+es Herrn Pfaeffling nicht frueher moeglich gewesen sei, die Summe
+zusammenzubringen.
+
+Der Arzt sass schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der
+Pfaeffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball
+gegeben hat?"
+
+"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die
+sich nicht durch Liebenswuerdigkeit auszeichnete. "Der Pfaeffling ist ja
+bloss Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzaehlt hat, dass
+er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand
+die grosse Familie aufnehmen wollte."
+
+"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewusst haette, dem haette ich
+keine so gesalzene Rechnung geschickt!"
+
+"Du verwechselst auch alle Menschen!"
+
+"Die Menschen nicht, bloss die Namen; der Direktor heisst ganz aehnlich."
+
+"Gar nicht aehnlich."
+
+"Nicht? Ich meine doch. Wie heisst er eigentlich?"
+
+"Mir faellt der Name gerade nicht ein, aber aehnlich ist er gar nicht."
+
+"Doch!"
+
+"Nein!"
+
+Nachdem sie noch eine Weile ueber die Aehnlichkeit eines Namens gestritten
+hatten, den sie beide nicht wussten, schob der Arzt das Geld ein mit
+einem bedauernden: "Aendern laesst sich da nichts mehr."
+
+Elschens Krankheit war gnaedig voruebergegangen. Sie war wieder ausser
+Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich
+ueber den heutigen Lichtmessfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei
+waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in
+der Kueche stand, und bat schmeichelnd, dass er nun endlich aufhoere und
+mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig.
+Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hoer auf, du hast schon zu lang
+gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er endlich nach, und
+Elschen folgte ihm froehlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren
+Platz hatte. Als Frieder aber sah, dass der Vater gar nicht zu Hause war,
+nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Boeser!"
+rief die kleine Schwester und Traenen der Enttaeuschung traten ihr in die
+Augen. Als aber nach einer Weile draussen die Klingel ertoente, sah man
+ihr schon wieder die Angst fuer den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief
+sie und sah gespannt nach der Tuere. Aber ehe diese aufging, war Frieder
+mit seiner Violine durch die andere Tuere hinausgegangen und nun
+fluechtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte
+sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. "Frieder," sagte er, "ich rate
+dir, dass du jetzt augenblicklich aufhoerst, du hast gewiss schon drei
+Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres
+Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte,
+und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhoeren, ich spiele
+bis ich fertig bin."
+
+In diesem Augenblick kam Frau Pfaeffling herein, da stuerzte sich Elschen
+weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhoeren und er
+tut's doch nicht, vielleicht hoert er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!"
+
+Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch
+mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, liess die Geige
+sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewusst den Kopf.
+
+"Hast du gewusst, dass es ueber die Zeit ist und hast dennoch
+weitergespielt?" fragte Frau Pfaeffling. "Das haette ich nicht von dir
+gedacht, Frieder, wenn du ueber deiner Violine allen Gehorsam vergisst,
+dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hoert ganz auf. Bleib hier, ich
+will hoeren, was der Vater meint."
+
+Frau Pfaeffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
+Geschwister sammelten sich allmaehlich um ihn, sie berieten, was
+geschehen wuerde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten,
+und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwuele Stimmung im
+Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht,
+denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid."
+
+"Das muss dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du
+bloss im Eifer vergessen haettest, dass du ueber die Zeit spielst, dann
+koennte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, dass du
+aufhoeren solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht
+tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem
+Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet,
+wenn jeder taete, was ihm gut duenkt? Das waere gerade, wie wenn bei dem
+Orchester keiner auf den Dirigenten saehe, sondern jeder spielte, wann
+und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder muessen folgen, mit deinem
+Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen fuer immer, aber fuer Jahr
+und Tag. Gib sie her!"
+
+Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drueckte sie
+nun ploetzlich an sich, verschraenkte beide Arme darueber und wich einen
+Schritt vom Vater zurueck. Sie waren alle ueber diesen Widerstand so
+bestuerzt, dass es fast einstimmig ueber aller Lippen kam: "Aber Frieder!"
+
+Herr Pfaeffling sah mit masslosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
+gutmuetigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines
+gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und
+dann, ohne nur dem zurueckweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine
+langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in
+die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst
+du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fuegte er hinzu, als
+er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir gutwillig deine
+Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes loesten sich nicht. Von allen
+Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: "Gib
+sie her!" und als Frau Pfaeffling sah, wie er das Instrument
+leidenschaftlich an sich presste, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist
+dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in
+seiner Stellung.
+
+"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du
+auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind
+bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Tuere zum
+Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du
+fremdes Kind!" Da verliess Frieder das Zimmer.
+
+Draussen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen
+schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr
+Pfaeffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er
+Walburg mit so lauter Stimme, dass es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das
+Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier
+aussen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts
+ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Kuechenschemel, dass
+es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine
+Mutter mehr hat."
+
+Hierauf ging er hinueber in sein Zimmer. Frau Pfaeffling zog Elschen an
+sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte
+sie, "Frieder wird bald einsehen, dass er folgen muss. Wir lassen ihn
+jetzt ganz allein, dass er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die
+Violine bringen, dann ist alles wieder gut."
+
+Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch fuer
+Frieder. Sie rechneten alle, dass er kommen wuerde. Herr Pfaeffling, der
+zum Essen gerufen war, ging zoegernd, langsam an Frieder vorbei, der als
+ein jammervolles Haeufchen auf dem Schemel sass und die Gelegenheit, die
+ihm der Vater geben wollte, voruebergehen liess. Er kam nicht zu Tisch.
+"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr
+Pfaeffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es
+tun und das Gewissen."
+
+So ass der Kleine aussen im Vorplatz und so oft die Zimmertuere aufging,
+kamen ihm Traenen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen
+und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen
+wollte er spielen, immerzu spielen.
+
+Im Zimmer horchten sie ploetzlich auf. "Er spielt!" fluesterte eines der
+Kinder. Von draussen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle.
+Drei Striche--dann verstummte die Musik. Die drei Toene hatten Frieder
+wehgetan, er wusste nicht warum. Der kleine Geiger hatte frueher noch nie
+mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er
+auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz
+bewegen kann.
+
+Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er
+mitten darin ab. Denen, die ihm zuhoerten, ging es nahe, vor allem den
+Schwestern.
+
+"Die Marianne moechte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr
+Pfaeffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd,
+wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick
+ansah. Sie setzten sich zu ihm und fluesterten mit ihm. Eine Weile
+spaeter, als Herr Pfaeffling in seinem Musikzimmer war, kam ein
+sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden
+Haenden etwas, das eingehuellt war in Mariannens grossen, schwarzgrauen
+Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch
+der kleine Traeger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.
+
+"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend
+auf die merkwuerdige Umhuellung sah. Da nahm ihm Herr Pfaeffling rasch den
+Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an
+sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist
+wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen
+Schmerz aus.
+
+Spaeter erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder
+seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst
+wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit
+so traurigen Augen angesehen!"
+
+Als Frieder laengst schlief, sprachen seine Eltern noch ueber ihn. "Wie
+kann man nur so leidenschaftliche Liebe fuer die Musik haben," sagte Frau
+Pfaeffling, "mir ist das ganz unverstaendlich."
+
+"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfaeffling und fuegte
+nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das
+waere, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich
+denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis
+jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Massen treiben."
+
+"Ja, und lernen muss er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln
+koennen, dass er einmal ein Musiker wird."
+
+Unser Musiklehrer sagte schwermuetig: "Es wird wohl so kommen."
+
+
+
+
+12. Kapitel
+
+Ein Haus ohne Mutter.
+
+
+So ganz allmaehlich und unmerklich war es gekommen, dass von Frau
+Pfaefflings Reise zur Grossmutter gesprochen wurde als von einer
+ausgemachten Sache, obwohl niemand haette sagen koennen, an welchem Tag
+sie die Ansicht aufgegeben hatte, dass die Reise ganz unmoeglich sei.
+
+Nur "auf alle Faelle" entschloss sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs,
+und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hoerte man Frau Pfaeffling
+sagen: "Nicht zu lang, damit es noetigenfalls auch als Reisekleid
+praktisch ist."
+
+"Auf alle Faelle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu
+sehen, wie sich die Reise praktisch machen liesse, und was sie gesehen,
+trug sie "auf alle Faelle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht
+reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank haengt und die besten
+Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit
+gekommen, dass sich Frau Pfaeffling anfangs Februar fuer einen bestimmten
+Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit
+herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloss, ob Frau
+Pfaeffling nicht mit leichterem Herzen reisen wuerde, wenn sie ihr Elschen
+mitnaehme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.
+
+Diese Karte, die Herr Pfaeffling im Zimmer vorlas, brachte grosse
+Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefuehle
+und Meinungen kund, bis der Vater die Tuere weit aufmachte und den ganzen
+aufgeregten Schwarm hinausscheuchte.
+
+"Du haettest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir
+entschlossen sind," sagte Frau Pfaeffling.
+
+"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
+herueberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."
+
+"Ja, ja," erwiderte Frau Pfaeffling laechelnd, "und warten, bis sie in der
+Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfaeffling
+heisst!"
+
+Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die
+Kinder zurueck. Frau Pfaeffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf
+sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen,"
+sagte sie, "und ich will dir auch erklaeren warum. Bei einer so weiten
+Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn
+die gute Grossmutter fuer dich zahlen wollte, koennte ich dich doch nicht
+mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Tuere aufmachen, wenn es
+klingelt, waehrend alle in der Schule sind? Walburg hoert das ja nicht und
+sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du musst unsere
+Pfoertnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim waerest,
+koennte ich gar nicht reisen."
+
+Das kleine Juengferchen war verstaendig, es sah ein, dass es zurueckbleiben
+musste. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen,
+denn was wusste Elschen von fremden Laendern und Menschen, von Reiselust
+und Erlebnissen? Fuer sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und
+Merkwuerdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der grossen
+Geschwister nicht einmal zu ein paar Traenen bei der kleinen Schwester,
+die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter
+gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!
+
+Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfaeffling war es
+schwer ums Herz. Gut, dass Tag und Stunde laengst festgesetzt waren, sonst
+haette sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wusste, wie
+sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurueck mehr, es musste jetzt
+sein. Geschaeftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und her im
+Haus. Aber ueberall, wo sie auch war, in Kueche, Keller und Kammern,
+folgte ihr Frieder. Er stoerte sie nicht, wenn sie raeumte, ueberlegte oder
+anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so nahe wie
+moeglich. Sie spuerte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes
+Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick,
+wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.
+
+"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"
+
+"Was denn, Kind?"
+
+Es wollte nicht ueber seine Lippen.
+
+"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"
+
+"Dass ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."
+
+"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater
+deine Violine gegeben. Ich weiss gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir
+ja auch der Abschied weh. Aber es muss doch auch einmal sein, dass ich zu
+meinem eigenen Muetterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so
+lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir
+wieder zusammen kommen! Wie wird das koestlich werden!"
+
+So troestete die Mutter den Kleinen und troestete sich selbst zugleich.
+
+Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein
+Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig
+wegen seiner Violine, darum faellt ihm auch der Abschied besonders
+schwer."
+
+"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es
+schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige haette,
+neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten,
+wie wenn er den Bogen fuehrte, und dann hoert er die Melodien, das sieht
+man ihm gut an. Da tut er mir oft leid."
+
+"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die
+erste Klavierstunde geben, darueber wird er die Violine vergessen. Und
+wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am
+Kasernenhof turnen koennt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm
+Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm
+werden nimmer regelmaessig eingehalten."
+
+"O doch, Mutter."
+
+"Oder sie sind so kurz, dass man nicht viel davon bemerkt?"
+
+"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewoehnlich nicht."
+
+"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fuenfzehn Minuten; das ist aber
+nicht genug, ihr muesst eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm
+wieder eine so schlechte Note bekaeme!"
+
+"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf
+verlassen!"
+
+Bald nachher rief Frau Pfaeffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in
+die Holzkammer.
+
+"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran
+duerft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muss in
+dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch fuer Holz und
+Kohlen sorgen."
+
+Und nun ging's an die Maedchen. "Marianne, ihr muesst Walburg soviel wie
+moeglich alle Gaenge abnehmen, solange ich fort bin."
+
+"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"
+
+"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die
+Stiefel schon ausgezogen. Ihr muesst lieber die Stiefel dreimal aus- und
+anziehen, als es darauf ankommen lassen, dass Walburg mitten am Vormittag
+vom Kochen fortspringen muss."
+
+So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und
+am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfaeffling noch
+einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an
+einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja
+aus dem Wagenfenster kamen noch hausmuetterliche Ermahnungen, bis endlich
+der Zug durch eine kaum hoerbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache
+machte, dass Frau Pfaeffling verreist war.
+
+Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine
+Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, dass all dies Denken ihr
+selbst nur das Herz schwer machen und den Zurueckgebliebenen nichts
+nuetzen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Haeuser und Anlagen
+der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Aecker und Felder tauchten
+auf, eine stille, einfoermige Natur. Da machte sie es sich bequem in dem
+Wagen, lehnte sich behaglich zurueck, ergab sich darein, dass sie nicht
+sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine wohltuende Ruhe, ein
+Gefuehl der Erholung, waehrend sie der Staette ihrer Taetigkeit mit
+gewaltiger Eile immer weiter entfuehrt wurde.
+
+Manches Dorf war schon an Frau Pfaeffling voruebergesaust, bis ihr Mann
+mit den Kindern nur wieder in die Fruehlingsstrasse zurueckgekehrt war. Sie
+machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten
+Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Traenen durch die stillen
+Zimmer, die andern empfanden die Luecke erst so recht bei dem
+Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau
+Pfaeffling keine sehr gespraechige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren
+lebhaftere Naturen; heute haette man das Gegenteil glauben koennen, eine
+so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben.
+Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschaeftigung
+hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu
+tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so fuehrte er den Brauch ein,
+dass Karl fuer Wilhelm die Suppe ausschoepfen musste, Wilhelm fuer Otto und
+so nacheinander herunter, immer das aeltere unter den Geschwistern dem
+juengern. Anfangs machte es den Kindern Spass, aber es ging nicht immer so
+friedlich und so saeuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg wunderte
+sich, dass sie bald eine noch fast gefuellte, bald eine ganz leere
+Suppenschuessel abzutragen hatte; da war gar kein regelmaessiger Verbrauch
+mehr wie bisher.
+
+Ganz kurios erschienen Herrn Pfaeffling und Karl die spaeten Abendstunden,
+wo sie allein beisammen sassen. Sie waren sich so nahe gerueckt und wussten
+doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem
+Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu
+sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch
+Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein gemeinsames Interesse
+zwischen Vater und Sohn.
+
+Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglueckendes
+Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht
+ganz ohne Wehmut. Was war es fuer ein gealtertes, pflegebeduerftiges
+Grossmuetterlein, das da im Lehnstuhl sass, nicht mehr imstande, ohne Hilfe
+von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war Frau
+Pfaefflings Jugendbluete geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die
+Muehsal des Lebens auf ihren feinen Zuegen eingegraben!
+
+Aber dieser erste wehmuetige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach
+einigen Stunden hatten sie sich an die Veraenderung gewoehnt und fanden
+wieder die geliebten, vertrauten Zuege heraus. Es war auch kein Grund zu
+trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu
+leiden, sie genoss dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege
+der unverheirateten Tochter, die bei ihr und fuer sie lebte. Und die
+_junge_ Frau, wenn man Frau Pfaeffling noch so nennen wollte, sprach mit
+solcher Liebe von ihrem grossen Familienkreis und schien so gereift durch
+reiche Lebenserfahrung, dass es allen deutlich zum Bewusstsein kam, das
+Leben habe ihr mit all seiner Muehe und Arbeit Koestliches gebracht.
+
+Am wenigsten veraendert hatte sich Frau Pfaefflings Schwester, Mathilde,
+die noch ebenso frisch und kraeftig erschien, wie vor Jahren. Sie fuehrte
+die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwaermte
+Gastzimmer, zog sie an sich, kuesste sie herzlich und sagte: "Caecilie, nun
+soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!"
+
+"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."
+
+"Nein, das ist ja eben das Gute, dass du nur ueberanstrengt bist. Nichts
+tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen
+und herausfuettern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das
+anschlaegt, da kann man viel erreichen in vier Wochen."
+
+Frau Pfaeffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das
+nicht in _drei_ Wochen erreichen?"
+
+"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"
+
+"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als dass ich
+vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an
+vorgenommen, nach drei Wochen zurueckzukommen, und habe gehofft, dass du
+mich darin unterstuetzest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen
+Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Maedchen zu verlassen.
+Es kommt so oft etwas vor bei uns!"
+
+"Was soll denn vorkommen? Was fuerchtest du?"
+
+"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiss es ja selbst nicht vorher, aber
+es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen
+haben koennte, bald hoert einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal
+anfaengt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkaeme, das Alltaegliche
+bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muss vormittags immer allein
+die Tuere aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich in einer
+grossen Stadt. Und wenn du immer noch nicht ueberzeugt bist, Mathilde,
+dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann
+einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
+das wirklich genug und es waere an der Zeit, dass ich wieder kaeme!"
+
+"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"
+
+"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde,
+wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, dass ich schon in der
+naechsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so
+lebhaft wie frueher und die meisten unserer Kinder haben sein
+Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich einen
+Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hoeren koennen!"
+
+Frau Pfaeffling sah im Geist ihre froehliche Schar, und ein glueckliches
+Leuchten ging ueber ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz
+jugendlich, gar nicht pflegebeduerftig aus.
+
+Als die Schwestern das Gastzimmer verliessen, hatten sie sich auf drei
+Wochen geeinigt.
+
+Die ersten Tage vergingen in stillem, gluecklichem Beisammensein. Es war
+fuer Frau Pfaeffling eine Wonne, so ganz ohne haeusliche Sorgen bei der
+Mutter sitzen zu duerfen und zu erzaehlen. Teilnahme und volles
+Verstaendnis war da zu finden fuer alles, was ihr Leben erfuellte, und doch
+stand die Mutter selbst schon fast _ueber_ dem Leben. Einen weiten Weg
+hatte sie in achtzig Jahren zurueckgelegt und nun, nahe dem Ziel,
+ueberblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches
+anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Hoehe herab erkennt
+man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hoeren wollte, der
+konnte hier manch guten Rat fuer den eigenen Lebensweg bekommen. Frau
+Pfaeffling war von denen, die hoeren wollten.
+
+In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu
+diesem Familienfest fand sich unter andern Gaesten auch Frau Pfaefflings
+einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer fuenfzehnjaehrigen Tochter,
+einem lieblichen, fein erzogenen Maedchen. Diesen Bruder, der Professor
+an einer norddeutschen Universitaet war, hatte Frau Pfaeffling auch seit
+vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus der Ferne hatte eines an des
+andern Schicksal und Entwicklung stets Anteil genommen, und so war es
+beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder ins Auge zu sehen.
+
+"Wir muessen auch ein Stuendchen herausfinden, um allein miteinander zu
+plaudern," sagte der Bruder waehrend des festlichen Mittagsmahls zu
+seiner Schwester. Und als nach Tisch, waehrend die Geburtstaegerin ruhte,
+eine Schlittenfahrt unternommen wurde, sassen Bruder und Schwester in
+einem kleinen Schlitten allein. Hier, im noerdlichen Deutschland, lag in
+diesem Februar noch ueberall Schnee, die Bahn war glatt, die Kaelte nicht
+streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfaeffling sah nach dem Schlitten
+zurueck, in dem mit andern Gaesten ihre junge Nichte sass. "Wie reizend ist
+sie," sagte Frau Pfaeffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine Kinder
+daneben sehen wuerdest, kaemen sie dir ein wenig ungehobelt vor."
+
+"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als
+du, sie gibt sich auch viel Muehe mit der Erziehung."
+
+"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem groebsten, und man wird
+damit oft kaum fertig."
+
+"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel
+miteinander, wie ist das bei euch?"
+
+"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnuegt miteinander.
+Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur
+sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben koennen."
+
+"Hat man fuer die deinigen zu wenig Zeit, so fuer die unserigen zu viel.
+Ich fuerchte, dass sie gar zu sorgfaeltig beachtet werden. Jederzeit ist
+das Fraeulein zu ihrer Verfuegung, ausserdem haben wir noch zwei
+Dienstmaedchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht
+fertig."
+
+So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
+haeuslichen Verhaeltnisse, und dann wollte Frau Pfaeffling Naeheres hoeren
+ueber einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwaehnt hatte. Er
+beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen,
+dabei durch Sueddeutschland zu kommen und die Familie Pfaeffling zu
+besuchen.
+
+An diesen Plan schloss sich noch ein weiterer an, den der Professor nach
+dieser Schlittenfahrt fasste und zunaechst mit seiner Frau allein
+besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen
+wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der
+andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich
+versuchen? Bruder und Schwaegerin machten den Vorschlag, einen der jungen
+Pfaefflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde ueberlegt,
+und es sprach viel fuer den Plan. Frau Pfaeffling wollte mit ihrem Mann
+darueber sprechen, und wenn er einverstanden waere, sollte der Bruder auf
+der Osterreise sich selbst umsehen und waehlen, welches der Kinder am
+besten zu den seinigen passen wuerde. Das Auserlesene sollte er dann auf
+der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein
+baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und
+in der Umgebung der achtzigjaehrigen Mutter wurde es still wie vorher.
+
+Frau Pfaeffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie
+erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die
+Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet,
+sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst
+muendlich erzaehlt." So gingen denn Nachrichten ab ueber gelungene
+Mathematikarbeiten und neue Klavierschueler, ueber einen Maskenzug und
+Fastnachtskrapfen, ueber Frieders regelmaessiges Klavierspiel und ueber der
+Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
+Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
+verschwiegen.
+
+Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr
+Pfaeffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an:
+"Haben Sie heute nacht nichts gehoert, Herr Pfaeffling, nicht ein Stoehnen
+oder dergleichen?"
+
+"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehoert."
+
+"Aber es muss doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die
+zweite Nacht, dass ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, dass eines der
+Kinder so Heimweh hat, dass es bei Nacht laut weint? Aus einem der
+Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in
+Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren
+koennen."
+
+"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfaeffling und ging hinauf.
+Er fragte zunaechst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die
+Tafelrunde an. Frische, froehliche Gesichter waren es, die nichts
+verrieten von naechtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings
+blass und ueberwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das war
+Anne. Ihr musste etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und machte
+sich Vorwuerfe, dass er das bisher uebersehen hatte. Wenn die Mutter
+dagewesen waere, die haette es bemerkt, auch ohne der Hausfrau Mitteilung.
+
+Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die
+Schwestern zurueck.
+
+"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.
+
+"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde ueber und ueber rot.
+
+"Du meinst wohl, in dem Punkt duerfe man luegen," entgegnete Herr
+Pfaeffling, "weil ich lieber hoere, dass du wohl bist. Aber ich moechte
+doch auch darueber gern die Wahrheit hoeren." Da senkte sie schon mit
+Traenen in den Augen den Kopf, und Herr Pfaeffling wusste, woran er war.
+
+"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter
+nicht da ist, muesst ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun
+auch und er erfuhr, dass Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren
+bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingetraeufelt, das
+noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschlaege gemacht, aber das hatte
+alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern
+eingeschlafen. So war es schon zwei Naechte gewesen. Sie hatten es dem
+Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt
+geschickt werden, sie fuerchtete die Behandlung, fuerchtete auch die grosse
+Neujahrsrechnung.
+
+Am Nachmittag sassen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des
+Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern
+vorgehalten, dass Anne so schwerhoerig wie Walburg werden koennte, wenn
+etwas versaeumt wuerde.
+
+Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei
+Unzertrennlichen ruehrten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so
+aengstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und
+doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide
+troesten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so boese
+Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schuettet weg, das
+macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure
+Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
+selbst eintraeufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruss, und das gehe
+noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die
+gehoert dazu."
+
+Darueber wurden die Schwestern so vergnuegt, dass sie anfingen, mit dem
+gefuerchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch,
+dass Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hoert die denn gar
+nichts mehr?" fragte er.
+
+"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr
+sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer."
+
+"Geht sie nie zum Arzt?"
+
+Davon hatten die Schwestern nicht reden hoeren, aber sie wussten ganz
+gewiss, dass man ihr nicht helfen konnte.
+
+"Manchmal kann man so ein Uebel doch zum Stillstand bringen," sagte der
+Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt
+daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung."
+
+Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten
+sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen
+sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, dass es sich um
+sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere
+Mutter zurueckkommt, werde ich so frei sein."
+
+Das naechtliche Stoehnen war bald nimmer zu hoeren.
+
+Die letzte Woche von Frau Pfaefflings Abwesenheit war angebrochen, zum
+gestrigen Sonntag hatte sie die froehliche Botschaft gesandt, dass sie
+volle acht Tage frueher heimkommen wuerde, als verabredet war.
+
+In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blaettchen
+vom Kalender rechtzeitig abzureissen. Sie sollte nur schnell vergehen,
+diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.
+
+"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Fruehstueck komme," sagte
+einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschaeft gewesen, wer tut es denn
+so zeitig? Der Kalender gehoert eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder,
+"ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum
+Fruehstueck gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte
+es sich heraus, dass Frieder immer schon abends den Kalenderzettel abzog
+und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt dann schneller der
+1. Maerz und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und wehrte dem kleinen Bruder
+nicht, dem war ja immer anzumerken, dass er Heimweh hatte. Aber an diesem
+Montag morgen ging er vergnuegt seinen Schulweg mit den Geschwistern, die
+Heimkehr der Mutter war ja ploetzlich so nahegerueckt.
+
+Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg;
+ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die
+jungen Kohlentraeger und Holzlieferanten nicht genuegend fuer Vorrat
+gesorgt und Walburg musste hinuntergehen, sich selbst welches zu holen.
+Waehrend dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um
+aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfaeffling, dann nach dessen Frau
+und nach den Geschwistern. Als er hoerte, dass sie alle fort seien,
+bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an
+Herrn Pfaeffling schreiben koenne, er sei ein guter Bekannter von ihm, und
+er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen wuerde.
+Elschen fuehrte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den
+Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte
+der Herr, "du kannst nun hinausgehen, dass ich ungestoert schreiben kann,
+den Brief fuer deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verliess das
+Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus.
+
+"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam
+keine Antwort, der Herr schien grosse Eile zu haben, ging rasch die
+Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben
+heraufkam.
+
+"Wer war da?" fragte diese.
+
+"Bloss ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins
+Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzaehlen war dem kleinen Persoenchen
+zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim
+Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzaehlte sie dem
+Vater. Dem kam es verdaechtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er.
+Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn--ja,
+wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein
+seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen
+sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft
+schon war er duenn besetzt gewesen, aber so oede hatte es noch nie in
+dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was
+die Familie Pfaeffling am Leben erhielt.
+
+Ein Dieb, ein Betrueger, ein schaendlicher Mensch hatte sich
+eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurueckgelassen, keinen
+Pfennig fuers taegliche Brot!
+
+Walburg wurde hereingeholt und ueber den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte
+ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die
+bestuerzten Gesichter sprachen auch fuer sie deutlich genug; sie wurde
+kreideweiss im Gesicht und fragte bloss: "Gestohlen?"
+
+Und nun flogen Vorwuerfe hin und her.
+
+"Du bist die rechte Pfoertnerin, fuehrst den Dieb selbst an den
+Schreibtisch!" warfen die Brueder der kleinen Schwester vor. "Es war ja
+gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie
+nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafuer, aber ihr, weil ihr kein Holz
+getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemusst!"
+
+"Haette ich den Schluessel abgezogen, o, haette ich ihn doch nicht stecken
+lassen!" rief Herr Pfaeffling immer wieder.
+
+Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder
+wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir
+wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal
+niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, dass man sie mit
+solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise
+miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen
+haben doch noch genug fuer eine Woche, und am 1. Maerz kommt wieder dein
+Gehalt. Wir sparen recht."
+
+"Ja, ja," sagte Herr Pfaeffling, "verhungern muessen wir nicht, ich habe
+auch noch etwas im Beutel, aber alles, was fuer die Miete und fuer die
+Steuer zurueckgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schluessel
+abgezogen haette, waere vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin
+und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort:
+Polizei. Es war ja eine Moeglichkeit, dass der Dieb ausfindig gemacht
+werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort
+Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte
+mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, schon
+waren viele Stunden verloren!
+
+Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie
+setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede
+knoepfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Haeubchen, die
+Brueder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt,
+erklaerten dann Handschuhe fuer ganz uebertrieben und die Kleine sprang
+ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit so
+langen Schritten die Fruehlingsstrasse hinunterging, dass das Kind an
+seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln musste.
+
+Von der Polizei brachten sie guenstigen Bescheid zurueck. Ein junger
+Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel
+betroffen worden und mochte wohl der Missetaeter sein. Man hoffte, ihn
+aufzufinden.
+
+Es war gut, dass am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfaeffling
+abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen haette niemand
+schreiben moegen. So aber kam es, dass sie gerade, waehrend ihre Lieben in
+grosser Truebsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem
+ihr eine ganze Anzahl Briefblaettchen entgegen flatterten, alle voll
+Jubel ueber das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine
+Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau
+Pfaeffling, dass die Stimmung daheim inzwischen vollkommen umgeschlagen
+war.
+
+Herr Pfaeffling ging gleich am naechsten Morgen auf die Polizei, um sich
+zu erkundigen. Er erfuhr, dass bisher vergeblich nach dem jungen Musiker
+gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso
+am naechsten Tag in fruehester Morgenstunde auf der Polizei erschien,
+wurde ihm bedeutet, dass er sich nicht mehr bemuehen moechte, es wuerde ihm
+Nachricht zukommen.
+
+Darueber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, dass man die Mutter
+mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, liess gar nicht die
+rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfaeffling war
+unschluessig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich mitteilen
+sollte, zoegerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme des Diebes
+und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloss, dass der Termin
+doch schon verpasst sei und der Brief erst nach der Abreise seiner Frau
+ankommen wuerde. So blieb denn nichts uebrig, als der Heimkehrenden
+schonend die Hiobspost mitzuteilen.
+
+Fuer Frau Pfaeffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich,"
+sagte sie zu Mutter und Schwester, "dass ich nicht noch einen letzten
+Gruss von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?"
+
+"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die
+Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Lass dir nur das
+Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, dass manches in
+Unordnung geraten ist waehrend deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein
+hier war so schoen, das ist doch auch eines Opfers wert."
+
+"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, dass jeden Tag
+irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du
+daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht
+mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht
+beklagen, darfst nicht behaupten, dass dein Wegsein daran schuld ist, und
+nicht gleich erklaeren: ich reise nie mehr."
+
+Frau Pfaeffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr
+fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riss sich
+mit schwerem Herzen los von dem geliebten Muetterlein, von der Schwester,
+die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war
+ihr letzter Gruss aus dem abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise
+antrat.
+
+Noch immer war es draussen in der Natur kahl und winterlich, die drei
+Wochen waren anscheinend spurlos voruebergegangen, noch war nirgends ein
+Keimen und Sprossen, eine Fruehlingsandeutung zu bemerken. Und doch
+schien ihr die Zeit so weit zurueck zu liegen, seitdem sie hieher gereist
+war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch ruehrte
+sich schon und draengte gewaltig in den Vordergrund die Freude auf das
+Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben zu Lieben
+kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer kann sich
+reicher fuehlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim reist?
+
+Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes
+doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben
+koennen. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis
+Samstag schon halb vergessen. Die Grossen dachten ja wohl noch daran,
+aber doch mit dem unbestimmten Gefuehl, dass die Mutter um so mehr her
+gehoere, je schwieriger die Lage im Haus war.
+
+Herr Pfaeffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als
+er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof
+eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu fruehe an, lief in
+ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen
+sollten, vor dem Bahnhofgebaeude hin und her und winkte mit seinen langen
+Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto auftauchen
+sah.
+
+Er hatte angeordnet, dass nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof
+begruessen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewoehnt," sagte er,
+"und soll nicht gleich so ueberfallen werden. Marianne kann uns bis an
+den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der
+Fruehlingsstrasse und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen,
+denn etwas Liebes muss auch noch zu Hause sein."
+
+So war es denn festgesetzt worden, dass bloss die drei Grossen mit dem
+Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch
+sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfaeffling als alleiniges
+Vorrecht. Sie standen alle drei spaehend hinter dem eisernen Gitter,
+waehrend der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus
+dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie
+sich dann ploetzlich ihre Zuege verklaerten, als sie den Vater erblickte,
+der, dem Schaffner zuvorkommend, die Tuere ausriss und mit froher
+Begruessung seiner Frau aus dem Wagen half.
+
+Mitten im Menschengewuehl und Gedraenge gab es ein glueckliches Wiedersehen
+und Willkommenheissen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge
+hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde haette zufrieden sein
+koennen mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung ueber der Mutter frisches,
+rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und haette noch nicht so
+schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau Pfaefflings aengstlich
+klingende Frage dazwischen gekommen waere, ob die Kinder alle und auch
+Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung erhielt, dass sich alle
+frisch und wohl befaenden wie bei ihrer Abreise, da kam aus erleichtertem
+Herzen ein dankbares: Gottlob!
+
+"Ich habe schon gefuerchtet, da keine Karte kam, es moechte eines von euch
+krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer
+geschrieben habe," entgegnete Herr Pfaeffling und seine Antwort lautete
+ein wenig bedrueckt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen
+ist, bekuemmert mich gar nicht," sagte sie und drueckte gluecklich die Hand
+ihres Mannes. Das freute ihn. "Hoert nur, Kinder," sagte er lachend, "die
+Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf der Reise." So kamen
+sie, froehlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo ganz brav, der
+Verabredung gemaess, die zwei Schwestern gewartet hatten und jetzt der
+ueberraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.
+
+Nun nahmen diese beiden der Mutter Haende in Beschlag, bis sie an der
+Ecke der Fruehlingsstrasse von einem andern verdraengt wurden. Dort hatte
+Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem
+Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in
+anderer Richtung.
+
+"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o
+Mutter!" rief er, drueckte sich an sie und schluchzte. Sie kuesste ihn
+zaertlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines
+Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!"
+
+"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber
+die Traenen versiegten schon, verklaert sah er mit noch nassen Augen zu
+ihr auf, ging dicht neben ihr her und liess ihre Hand nicht los, bis sie,
+im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben musste, um darin die
+Juengste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon
+auf der Treppe mit froehlichem Plappermaeulchen erzaehlte, dass soeben zum
+Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fraeulein Vernagelding, und
+dass Frau Hartwig einen grossen, grossen Kaffeekuchen gebacken habe.
+
+Unter ihrer Kuechentuere stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst.
+Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen
+koennen, an dem nach ihrer Ueberzeugung nur sie allein schuld war. Was
+konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfaeffling
+verlassen, ihr hatte sie das Haus uebergeben, und wenn sie nicht die
+Kleine allein im Stockwerk gelassen haette, so waere kein Unglueck
+geschehen.
+
+Walburg hatte nicht an die Moeglichkeit gedacht, dass Frau Pfaeffling auf
+dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis
+erfahren haette. Sie erwartete, dass Frau Pfaefflings erstes Wort ein
+Vorwurf sein wuerde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort
+fuerchtete sie zu hoeren, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, das
+Wort: "ich will lieber eine, die hoert!" Darum stand sie so starr und
+stumm, dass Frau Pfaeffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der
+Kuechentuere vorueber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: es
+ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im naechsten Moment sagte
+sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie gross, wie ernst,
+wie stumm sie ist, und sie reichte dem Maedchen mit herzlichem Gruss die
+Hand. Walburg hoerte den Gruss nicht, aber den Haendedruck, den
+freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht
+ums Herz, die Dankbarkeit loeste ihr die Zunge und ihr Gegengruss schloss
+mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht fuer das Vierteljahr."
+
+Das waren freilich unverstaendliche Worte fuer Frau Pfaeffling, aber ehe
+sie noch nach Erklaerung fragen konnte, wurde sie von den Kindern
+angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie liess
+ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Taeschchen ein
+Geldstueck fuer den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah begierig
+in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," rief er
+freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder nach
+Geld?" sagte Frau Pfaeffling und bemerkte, als sie aufsah, dass die Grossen
+ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie
+nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel
+verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darueber
+Vorwuerfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben,
+dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen.
+
+"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun
+kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schoen
+gedeckt, Walburg hat gewiss etwas Gutes gekocht."
+
+Nun standen sie alle um den grossen Esstisch. "Heute betet die Mutter
+wieder," sagte der Vater, "wir wollen hoeren, was ihr erstes Tischgebet
+ist."
+
+"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau
+Pfaeffling und sie sprach mit innerer Bewegung:
+
+ "Von Dank bewegt, o Gott, wir heute
+ Hier vor dir stehen!
+ Du schenkest uns die schoenste Freude,
+ Das Wiedersehen.
+ Nun gehn wir wieder eng verbunden
+ Durch Lust und Leid,
+ In guten und in boesen Stunden
+ Gib uns Geleit!"
+
+Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch fuer die Eltern Kaffee
+machen muessen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu
+gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja,"
+sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfaeffling ein
+und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er
+nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er fuehrte sie an
+den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch das
+leere Kaesschen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der Dinge
+war schlimmer, als Frau Pfaeffling gefuerchtet hatte. "Ich habe schon
+geahnt, dass mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte sie,
+"aber dass _gar_ nichts mehr da ist, haette ich doch nicht fuer moeglich
+gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das braechte ich ja
+gar nicht zustande!"
+
+"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich
+gespart; gestohlen ist es, gestohlen!"
+
+Herr Pfaeffling erzaehlte den Hergang und auch, dass er gestern die
+Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien
+festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung
+mehr, es zurueck zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und musste auf
+irgend eine Weise wieder hereingebracht werden.
+
+Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluss
+derselben war, dass Herr Pfaeffling lebhaft rief: "Ja, so kann es
+gelingen, das ist ein guter Plan!" Und froehlich klang sein Ruf hinaus:
+"Jetzt, Kinder, den Kaffee!"
+
+
+
+
+13. Kapitel
+
+Ein fremdes Element.
+
+
+Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am naechsten Tag
+auch den Kindern mitgeteilt werden.
+
+"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfaeffling.
+
+"Nein," entgegnete Herr Pfaeffling, "aber man muss ihnen die Sache nur
+gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen.
+"Hoert einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch
+das sich der Geldverlust wieder hereinbringen laesst. Zwei von euch koennen
+uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Gluecklichen? Ratet einmal!"
+
+Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne
+sein," schlug Karl vor.
+
+"Richtig geraten. Aber wie?"
+
+"Wenn sie nicht immer so schoene Kleider und seidene Zopfbaender tragen,"
+meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die
+Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Maedchen standen da in
+ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schuerzen, und ihre
+blonden Zoepfe waren mit schmalen blauen Baendchen gebunden.
+
+"Da werden wir keine grossen Summen heraus sparen koennen," meinte Herr
+Pfaeffling, "eher koenntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn
+ihr eure Anzuege besser schonen wuerdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen
+etwas anderes."
+
+"Etwas," setzte Frau Pfaeffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch
+mehr einbringt."
+
+Nun waren sie alle aufs aeusserste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich
+will es euch sagen," und Herr Pfaeffling wandte sich an die Maedchen: "Ihr
+Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann koennen wir euer Zimmer an
+einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafuer einnehmen. Ist das
+nicht ein feiner Plan? Das muss euch doch freuen? Die Mutter will alles
+Geruempel aus der Kammer herausraeumen und eure Betten hineinstellen und
+im uebrigen duerft ihr alles ganz nach eurem Belieben einrichten; in eurem
+Reich da oben redet euch niemand darein; aus den alten Kisten koennt ihr
+Tische machen und Stuehle und was ihr nur wollt."
+
+Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht,
+aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und
+betaetigten: "Ja, es wird sein!"
+
+Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschluessel, der sollte in
+Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in
+grosser Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die
+Hauptpersonen. Sie schlossen ihr kuenftiges Revier auf. Es war ein
+kleines Kaemmerchen mit schraegen Waenden und einem Dachfenster. "Kalt
+ist's da oben," meinte einer der Brueder. "Aber im Sommer ist's immer
+ganz warm, das weiss ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da
+hast du recht," bestaetigte laechelnd der Vater, "und seht nur durch das
+Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schoenste
+Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends
+kann Schnee oder Regen durch; wisst ihr noch, wie Frau von Falkenhausen
+in ihrer Lebensgeschichte erzaehlt, dass ihr in Afrika der Regen in ihr
+Haeuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und
+wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist?
+Wie waere sie gluecklich gewesen ueber ein so gutverwahrtes Kaemmerlein!
+Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."
+
+Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der
+Kammer erfuellt.
+
+Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis
+zu sichern. Frau Pfaeffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese
+wiederum mit ihrem Mann. Da stiess die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig
+wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon
+reichlich genug, wenn zehn Leute den obern Stock bewohnten und
+Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie welche gehabt und
+geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein fuer die Familie
+Pfaeffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann blieb
+bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses
+Frau Pfaeffling mitteilen.
+
+"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann
+sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er
+dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, duerfe er nachher nicht
+mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's moechte."
+
+Dieser Bescheid war eine grosse Enttaeuschung fuer die Familie. Herr
+Pfaeffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich
+sehe, dass jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs
+Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft
+den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen duerfen, weil man vorher
+'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Maennlichkeit zeigen? Dann waere
+jedes eigensinnige Kind 'maennlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte
+er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was maennlich ist:
+Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber
+_nachgeben_, sobald man einsieht, dass man falsch oder unrecht geurteilt
+hat."
+
+Als zwei Tage ueber die Sache hingegangen waren, ohne dass mit den
+Hausleuten weiter darueber gesprochen worden waere, traf Frau Pfaeffling
+zufaellig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur
+zusammen.
+
+"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "dass wir keinen Zimmerherrn
+nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge
+geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, moechte ich Sie nicht
+plagen, und es ist ja wahr, dass manche Zimmerherrn spaet in der Nacht
+heimkommen, Laerm machen und dergleichen. So muessen wir uns eben jetzt
+entschliessen, eine aeltere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen
+ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur fuer uns unbequemer und auch
+schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig behilflich
+sein moechten, eine passende Hausgenossin zu finden, waeren wir Ihnen
+recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung setzen?"
+
+"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel fuehren." Sie
+besprachen noch ein wenig die naeheren Bedingungen und ohne recht zu
+wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte
+Hausbewohnerin fuer den obern Stock zu bemuehen.
+
+Das seitherige Zimmer der beiden Maedchen wurde huebsch hergerichtet und
+sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und
+nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten,
+wer die Tuere aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu
+zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfaeffling musste erfahren,
+dass die Fruehlingsstrasse "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede
+von den wenigen, die sich meldeten, erwuenscht; sie wollte nur das Zimmer
+vermieten, nicht eine Kostgaengerin an ihrem einfachen Mittagstisch
+haben, kein fremdes Element in den vertrauten Familienkreis aufnehmen.
+Aber als auf wiederholte Ankuendigung die Rechte sich nicht finden
+wollte, wurde Frau Pfaeffling kleinmuetig und sagte zu ihrem Mann: "Mir
+scheint, wir muessen froh sein, wenn ueberhaupt irgend jemand das Zimmer
+mietet, ich muss mich entschliessen, auch die Kost zu geben. Aber niemand
+begnuegt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn
+haben."
+
+"So machst du eben immer besondere Leckerbissen fuer solch eine
+anspruchsvolle Dame und deckst fuer sie in ihrem eigenen Zimmer, dann
+stoert sie uns nicht," lautete Herrn Pfaefflings Rat.
+
+Drei Tage spaeter bezog Fraeulein Bergmann das Zimmer. Pfaefflings durften
+sich gluecklich schaetzen ueber diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete
+Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im
+Ausland, hatte vorzuegliche Stellen innegehabt und so viel zurueckgelegt,
+dass sie sich jetzt, nach etwa fuenfundzwanzig Jahren fleissiger Arbeit,
+zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie war gesund und
+frisch und wollte nun ihre Freiheit geniessen, sich Privatstudien und
+Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis jetzt wenig Musse
+gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der Kinderreichtum der
+Familie Pfaeffling, das war fuer sie ein Anziehungspunkt, denn in der
+Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle
+bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit
+dort ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluss
+faende. Mit schwerem Herzen machte ihr Frau Pfaeffling das Zugestaendnis,
+dass sie am Mittagstisch der Familie teilnehmen duerfe.
+
+"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fuegte
+seufzend hinzu: "Urspruenglich wollten wir freilich einen Herrn, der den
+ganzen Tag fort waere und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da
+ist, aber ich glaube, dass sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird."
+
+Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie fuer
+Fraeulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen,
+wusste in anregender Weise davon zu erzaehlen und interessierte sich doch
+auch fuer den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war
+zu bemerken, dass sie sich von Frau Pfaefflings sinnigem Wesen angezogen
+fuehlte, dass sie Verstaendnis hatte fuer des Hausherrn originelle
+Lebhaftigkeit und Anerkennung fuer der Kinder Bescheidenheit. Freilich
+waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin.
+Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen Kinder, und
+trotzdem die Fruehlingsstrasse "keine Lage" war. Ueberdies floessten ihnen
+die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der ehemaligen
+Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und waere auch
+wohl so weiter gegangen, wenn Fraeulein Bergmann nicht das Wort
+"ehemalig" vergessen haette. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann
+es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder waere; sie ermahnte
+und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu
+sich in ihr Zimmer und liess sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben
+machen. Die Maedchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand bekuemmert
+hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau Pfaeffling war
+anfangs dankbar dafuer, aber die neue Einrichtung passte doch nicht zum
+Ganzen.
+
+So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit
+in Fraeulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte.
+"Marianne soll herueber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgaenge zu
+machen." Die Maedchen standen augenblicklich auf, aber Fraeulein Bergmann
+hielt sie zurueck: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit
+geht allem vor, das habe ich allen meinen Zoeglingen eingepraegt. Die
+Ausgaenge koennten doch auch von dem Dienstmaedchen gemacht werden."
+
+"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hoert auch
+nicht genug fuer manche Besorgungen."
+
+"Dies taube Maedchen ist in jeder Hinsicht eine ungenuegende Hilfe," sagte
+Fraeulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie
+moechte den Schwestern noch ein halb Stuendchen Zeit goennen."
+
+Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herueberkamen.
+
+"Ihr braucht laenger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet,"
+sagte Frau Pfaeffling aergerlich, "woher kommt denn das?"
+
+"Weil Fraeulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue
+voraus erklaert. Sie sagt, so koennten wir bald alle Mitschuelerinnen
+ueberfluegeln, und in der Schule wuerde jedermann staunen ueber unsere
+Fortschritte."
+
+"Das kann sein," entgegnete Frau Pfaeffling, "aber dann haette ich gar
+keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum
+lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, dass ihr nicht in die
+Dunkelheit kommt mit den Ausgaengen." Sie kamen aber doch erst heim, als
+es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fraeulein Bergmann die
+Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmaedchen schicken?"
+
+"Walburg kann nicht alles besorgen."
+
+"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie
+vollends ganz taub ist, muss sie doch fort."
+
+Diese Worte hoerte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte
+Walburg in der Kueche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie
+wohl bald ganz taub wuerde? Sie bemerkte seinen forschenden,
+teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu
+ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag
+Fraeulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend:
+"Man muss froh sein, dass man sie hat."
+
+Ja, man war froh, dass man sie hatte, und nahm geduldig manche
+Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veraenderung im
+Pfaeffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer
+mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden.
+
+"Ich habe noch ueberall, wo ich war, weisse Tischtuecher getroffen,"
+bemerkte Fraeulein Bergmann.
+
+"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen
+Haus," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir muessen jede unnoetige Arbeit
+vermeiden und die grossen Tischtuecher machen viel Arbeit in der Waesche."
+
+"Aber das Essen mundet besser auf solchen."
+
+"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an
+unserem Tisch."
+
+Kurz darauf beanstandete Fraeulein Bergmann, dass die Tuere zum Nebenzimmer
+regelmaessig offen stand. "Wir koennen dadurch beide Zimmer mit _einem_
+Ofen heizen," erklaerte Frau Pfaeffling.
+
+"Aber dann sollten Sie die Tuere aushaengen und eine Portiere anbringen,
+das wuerde sich sehr fein machen."
+
+"Ja gewiss, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkaeufe kann ich
+mich nicht einlassen. Sie muessen bedenken, dass Sie nun nicht mehr bei
+reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn
+es nur immer zum taeglichen Brot reicht."
+
+"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwoehnt bin, und
+ich habe mich schon oft gewundert, dass Sie so heitern Sinnes auf vieles
+verzichten, woran Sie gewiss zu Hause gewoehnt waren. Ich weiss, dass Sie
+aus fein gebildeter Familie stammen."
+
+"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhaeltnisse
+schicken. Die aeussere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein
+Glueck ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit
+gar nichts zu tun."
+
+Ein paar Tage spaeter brachte Fraeulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu
+einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Tueroeffnung
+wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat huebsch aus, die Kinder
+standen voll Bewunderung. Aber der schoene Stoff passte nicht so recht zum
+Ganzen, Fraeulein Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es
+sehen nun allerdings die Moebelbezuege verblichen aus," sagte sie, "aber
+ueber kurz oder lang muessten diese doch erneuert werden."
+
+Herr Pfaeffling war sehr ueberrascht, als er zum erstenmal durch die
+Portiere schritt. Sie streifte dem grossen Mann das Haar. Er sah sie
+missliebig an.
+
+"Es ist ein Geschenk von Fraeulein Bergmann," sagte Frau Pfaeffling, "du
+solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."
+
+"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfaeffling, "ich habe ja gar keinen
+Sinn fuer so etwas, es faengt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu
+unserer uebrigen Einfachheit. Fraeulein Bergmann mag sich Portieren in ihr
+Zimmer haengen so viel sie will, aber unsere Zimmer muessen ihr schoen
+genug sein, so wie sie sind."
+
+Bei Tisch sass er gerade der Portiere gegenueber; sie kam ihm wie etwas
+Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Hoeflichkeit wahren und
+sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Aerger zum ersten
+hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller
+gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller.
+
+"Finden Sie nicht, dass es gegen den Schoenheitssinn verstoesst, wenn die
+Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fraeulein
+Bergmann fragend an Frau Pfaeffling.
+
+"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller
+mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuraeumen ist schon ein Geschaeft."
+
+"So viel koennte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das
+Fraeulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit."
+
+Da fiel ihr Herr Pfaeffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
+geehrtes Fraeulein, meine Frau als Hausfrau muss doch am besten wissen,
+was in unsere Haushaltung passt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind,
+muessen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen."
+
+"Gewiss, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu
+sehen, wie der Schoenheitssinn so ganz vernachlaessigt wird. Aber ich
+werde gewiss nicht mehr darein reden, kein Wort mehr."
+
+"Ja, darum moechte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr
+Pfaeffling, "und uebrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles
+ordentlich, schoen und rein und ich moechte durchaus nicht, dass sie sich
+noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird man
+sie ueberall gern sehen."
+
+"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fraeulein und fuegte
+gekraenkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluss der Mahlzeit verlief
+in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorueber war, zog sich
+Fraeulein Bergmann zurueck.
+
+"Sie ist beleidigt," fluesterte bekuemmert eines der Maedchen dem andern
+zu.
+
+"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brueder, "warum mischt
+sie sich ein!"
+
+"Aber es ist doch wahr, dass Teller schnell abgewaschen sind!"
+
+"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fraeulein Bergmann sagt
+und haltet gar nicht zur Mutter!"
+
+Dieser Vorwurf kraenkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr
+Pfaeffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins,"
+sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fraeulein Bergmann wird sich
+jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und
+mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine Sache
+nicht vollkommen und da ist es gar nicht uebel, einmal zu erfahren, wie
+andere darueber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der Welt gesehen als
+ich."
+
+Mit Frau Pfaeffling verstand sich Fraeulein Bergmann am besten. Die beiden
+Frauen standen eines Morgens vor dem Buecherschrank, Fraeulein Bergmann
+machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwaehlen.
+
+"Es ist merkwuerdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man
+keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf
+diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht
+nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu koennen, und nun, seitdem
+ich Musse dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren."
+
+Frau Pfaeffling sagte nach einigem Besinnen:
+
+"Ob es Sie wohl befriedigen wuerde, wenn Sie sich an gemeinnuetziger
+Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nuetzliche Vereine."
+
+"Nein, nein," wehrte Fraeulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar
+nicht. Ich werde mich schon allmaehlich zurecht finden in meiner
+veraenderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fuehle
+selbst, dass ich unausstehlich bin."
+
+Frau Pfaeffling uebte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, dass
+Fraeulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr
+Kritik und Einmischung gestattete.
+
+Es war kein schoener Monat, dieser Maerz! Draussen in der Natur wollte sich
+kein Fruehlingslueftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurueck und
+brachte Erkaeltungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fraeulein
+Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Uebelbefinden selbst
+verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zoeglingen durch
+sorgfaeltige Aufsicht immer verhuetet zu haben.
+
+"Heute steht Fruehlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. Maerz,
+"weisst du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben
+ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkaetzchen heim zu bringen. Aber
+dieses Jahr ist es so kalt."
+
+"Ja, voriges Jahr war es viel schoener," darin stimmten alle ueberein,
+schoener war es draussen gewesen, schoener auch im friedlich geschlossenen
+Familienkreis.
+
+Sie sassen wieder einmal an dem weiss gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr
+Pfaeffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen
+lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.
+
+"Wie wunderlich," begann Fraeulein Bergmann, "dass Sie nicht ein
+feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus
+vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmass. Wie vielerlei haben Sie
+eigentlich?"
+
+"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfaeffling. "Ich denke, dass man
+leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es
+nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein
+Gebet gedankenlos gesprochen wird."
+
+"Ach, das koennen Sie doch nicht aendern. Ich bin nicht fuer solche
+Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war
+es mit Herrn Pfaefflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau
+liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu giessen," sagte er lebhaft,
+"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den
+Inhalt nicht zu horchen."
+
+"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfaeffling und legte beschwichtigend ihre
+Hand auf seine trommelnde, "Fraeulein Bergmann hat das gar nicht schlimm
+gemeint!"
+
+"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfaeffling beguetigend.
+Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber
+nach Tisch rief Herr Pfaeffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer.
+"Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist
+die verkoerperte Dissonanz und stoert jegliche Harmonie im Hause. So etwas
+kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende.
+Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin."
+
+"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Tuere weisen, das tut mir doch
+leid fuer sie, wie soll ich denn das machen?"
+
+"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kraenken.
+Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinueber und
+mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"
+
+"Nein, so ploetzlich laesst sich das doch nicht machen, bis zum 1. April
+musst du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfaeffling, und waehrend
+sie ihrer Arbeit nachging, ueberlegte sie, wie sie die Kuendigung schonend
+begruenden koennte. Fraeulein Bergmann tat ihr leid, aber die Ruecksicht
+auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause musste doch vorgehen.
+
+Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fraeulein
+Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem
+Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich moechte Ihnen etwas zeigen," sagte
+das Fraeulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen
+hervorgesucht, moechten Sie diese nicht lesen? Ich muss Ihnen sagen, dass
+ich mich ordentlich schaeme ueber die Zurechtweisung, die ich heute mittag
+erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den vielen Jahren,
+die ich in Stellung war. Aber ich fuehle ja selbst, dass ich unleidlich
+bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, bitte, lesen
+Sie!"
+
+Fraeulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele
+Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tuechtigkeit
+war in den Zeugnissen ausdruecklich ihre Liebenswuerdigkeit, ihr Takt
+hervorgehoben.
+
+Indem Frau Pfaeffling dieses las und ueberdachte, kam ihr ploetzlich die
+Erklaerung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fraeulein Bergmann
+wieder in das richtige Geleise zu bringen waere.
+
+"Ich glaube, Sie haben sich viel zu fruehe in den Ruhestand begeben, und
+das ist wohl der Grund fuer Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen.
+Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie kaeme es Ihnen vor, wenn
+er schon aufhoeren wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch
+sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft,
+und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie koennten ein ganzes
+Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem
+Stuebchen hinter den Buechern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und
+das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen unberufen
+eingreifen. Ihre besten Kraefte liegen brach! Wenn ich Ihnen einen Rat
+geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und zwar eine
+solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"
+
+Fraeulein Bergmann hatte nachdenklich zugehoert. "Ja," sagte sie jetzt,
+"so wird es wohl sein. Ich kann die Untaetigkeit nicht ertragen. Dass Sie
+mir noch solch eine Leistungsfaehigkeit zutrauen, das freut mich. Nur
+schaeme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen
+Entschluss mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine
+verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt."
+
+"Ist sie wohl schon besetzt?"
+
+"Vielleicht nicht. Es hiess, der Eintritt koenne auch erst spaeter
+erfolgen."
+
+"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"
+
+"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings haette ich
+keine passendere finden koennen. Meinen Sie, ich soll schreiben?"
+
+"ueberlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darueber hingehen."
+
+Eine halbe Stunde spaeter hoerte man Fraeulein Bergmann mit eiligen,
+elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.
+
+"Ich bin Fraeulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam,
+"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt;
+warum sie wohl gerade heute so vergnuegt ist?"
+
+Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit.
+Schon zum 1. April sollte Fraeulein Bergmann sie antreten. Das letzte
+gemeinsame Mittagsmahl war vorueber, die Kinder freuten sich unten, im
+Freien, der langersehnten warmen Fruehlingsluft, Frau Pfaeffling war mit
+der Sorge um das Gepaeck der Reisenden beschaeftigt, diese sass allein noch
+mit Herrn Pfaeffling am Esstisch.
+
+"Wenn ich einmal alt und pflegebeduerftig bin," begann Fraeulein Bergmann,
+"dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen moechten in Ihr Haus.
+Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen
+moechte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern.
+Dann duerften Sie ja keine Angst mehr haben vor meiner kritischen Art."
+Herr Pfaeffling, der nach seiner Gewohnheit um den Tisch gewandelt war,
+machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist ja sehr viel wert, wenn sie
+nicht bloss aus schlechter Laune entspringt. Solange Sie _alles_
+tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir in friedlicher
+Stimmung auseinandergehen, jetzt wuerde ich auf Ihr Urteil viel geben.
+Sie sagten neulich, es sei alles unschoen und unfein bei uns--"
+
+"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und ueberdies
+wissen Sie wohl, dass alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen
+war."
+
+"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Aeusserungen zugrunde. Moechten Sie
+mir nicht sagen, was Ihnen unschoen erscheint in unserem Hauswesen,
+unseren Gewohnheiten?"
+
+Fraeulein Bergmann ueberlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht
+aufrecht erhalten," und mit einem gutmuetigen, aber doch ein wenig
+spoettischen Laecheln fuegte sie hinzu: "Unschoen ist eigentlich nur
+_eines_."
+
+"Und zwar?"
+
+"Darf ich es sagen? Nun denn: unschoen kommt mir vor, wenn Sie so wie
+jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."
+
+Herr Pfaeffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.
+
+"Ihr Wilhelm faengt das naemlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie
+es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter
+Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen
+Zusammenstoss zu vermeiden, da Sie oft mit einem ploetzlichen Ruck
+stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig
+dabei."
+
+"Das begreife ich!" sagte Herr Pfaeffling, "und wenn mir schliesslich alle
+Kinder folgen wuerden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich
+werde es mir abgewoehnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu
+solchen uebeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darueber--und
+nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf.
+
+Fraeulein Bergmann verliess laechelnd das Zimmer.
+
+Im Vorplatz uebergab Frau Pfaeffling den vollgepackten Handkoffer an
+Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.
+
+"O nein," entgegnete Walburg in ungewoehnlich lebhaftem Ton, "ich trage
+ihn _gern_ fort."
+
+Hatte sie auch nie die unfreundlichen Aeusserungen gehoert, die Fraeulein
+Bergmann ueber sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert
+und war froh, dass diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wusste sie
+nicht, fragte auch nicht darnach, es genuegte ihr, dass offenbar niemand
+ungluecklich darueber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die wuerde
+sich bald troesten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern
+finden.
+
+Frau Pfaeffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit
+zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustuere hinaus, als
+Herr Pfaeffling seine drei Grossen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere
+abnehmen, dass man wieder Luft und Licht hat und frei durch die Tuere
+kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie koenne den schoenen Stoff gut
+verwenden!"
+
+So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stuehlen und hantierten lustig
+darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das
+offene Fenster von der Strasse herauf Elschens Stimme ertoente, die nach
+den Bruedern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder
+herein: "Fraeulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst
+herauf!"
+
+"Geht hinaus, lasst sie nicht herein," rief Herr Pfaeffling, "den
+schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draussen hoerte man auch
+schon ihre Stimme: "Ich muss den Schirm im Esszimmer abgestellt haben."
+Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfasste ihn, blitzschnell
+rannte er durch die Tuere und konnte diese gerade noch hinter sich
+schliessen und Fraeulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts
+gesehen und eilte davon.
+
+"Wenn sie nun zu spaet zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr
+Pfaeffling ueberlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb
+unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir haetten eigentlich warten koennen
+bis morgen."
+
+Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk musste vollendet werden; bald
+sah alles im Haus Pfaeffling wieder aus wie vorher; Fraeulein Bergmann kam
+nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfaeffling
+kehrte mit Elschen allein zurueck. "Sie laesst euch alle noch gruessen,"
+berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch
+einmal ein schoenes Tischgebet schicken!'"
+
+Herr Pfaeffling war in froehlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er,
+"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu
+gekommen." Er stimmte ein Fruehlingslied an, und dass es so besonders
+frisch und froehlich klang, das war Fraeulein Bergmann zu danken!
+
+
+
+
+14. Kapitel
+
+Wir nehmen Abschied.
+
+
+Frau Pfaefflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet,
+und das leere Zimmer war fuer ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der
+Kinder ahnte etwas davon, dass der Onkel bei seinem Besuch sie kennen
+lernen und darnach beschliessen wolle, welches von ihnen er heimwaerts mit
+sich nehmen wuerde. Sie wussten nur, dass die Mutter ihren einzigen, innig
+geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den seltenen Gast.
+Die drei Grossen hatten auch noch aus ihrer fruehesten Kindheit eine
+schoene Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen waren und durch
+schoene Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.
+
+Herr Pfaeffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefasst
+worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schaetzte sie hoch,
+auch war es ihm klar, dass in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen
+Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen
+Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur fuer ein oder hoechstens zwei
+Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des Elternhauses
+entfremdet wuerde.
+
+Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was waehrend
+desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen
+zeigen.
+
+In einem der grossen Gaenge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
+Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes.
+Doch nur fuer die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht
+besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm,
+schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht
+Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schueler haetten sie gleich
+gerne los gehabt. Darum strebten die Brueder gleich aufeinander zu, als
+die Klassentuere sich auftat und die Schueler herausdraengten. Ueber der
+andern Koepfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis
+hin und dieser las: Mathematik III. Ueber diese Note, die wohl schon
+manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
+und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch
+zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die
+Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wusste
+er schon, dass es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine
+Durchschnittsnote noetig?" fragte er und ueberblickte das Zeugnis, und war
+zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brueder waren enttaeuscht, nach
+ihrer Meinung haette der Vater viel vergnuegter sein muessen. "Hast du noch
+etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.
+
+"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind
+wir noch in gefaehrlicher Nachbarschaft. Ich weiss wohl, warum ihr so
+vergnuegt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun ueberfluessig,
+aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm koennte sonst
+gleich wieder rueckfaellig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal in der
+Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine,
+zum Lohn fuer den Erfolg," fuegte der Vater hinzu. Da heiterten sich die
+Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, im
+Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. Und
+uebermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder vergnuegt
+und kamen in gluecklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern
+begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust saemtliche
+Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten.
+
+"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie
+Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemuehte, die
+geheimnisvollen Ziffern zu deuten.
+
+"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen
+Uebermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a
+plus b ist? Das weisst du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen
+Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfaengliche Fragen und es
+wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie
+sich zu Frieder fluechtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag
+Mathematikstunden!"
+
+Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten
+sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug
+gekommen. Sie schrieben an Fraeulein Bergmann eine schoene Karte.
+
+Herr Pfaeffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in
+Haenden hatte und sah, dass es besser war als die frueheren, trat ihm
+wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhuellte Violine
+mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes uebergeben hatte. Er war seitdem ein
+gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe,
+die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die
+brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht
+dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwaehnt. Ob
+sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater haette
+es gerne gewusst, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine
+Spieler seine Musikhefte beiseite raeumte, redete er ihn darauf an.
+
+"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir
+nicht mehr so leid, dass du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes
+Gesicht machte das Kind, als diese Wunde beruehrt wurde, dann antwortete
+er leise: "Ich moechte sie gar nicht mehr haben."
+
+"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhoeren
+kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht,
+Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer faellt; aber siehst du
+nicht, dass wir alle aufhoeren, wenn wir muessen? Meinst du, ich moechte
+nicht lieber selbst weiter spielen, als Fraeulein Vernagelding Stunde
+geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter moechte, wenn sie nach
+Tisch in ihren schoenen Buechern liest, nicht lieber weiterlesen als schon
+nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und die
+Struempfe stopfen? Und die grossen Brueder moechten nicht lieber auf den
+Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter unserem
+Dach moechten nicht lieber fuer sich selbst Futter auspicken als
+ausfliegen und ihre Jungen fuettern, wie es der liebe Gott angeordnet
+hat? Und der Frieder Pfaeffling will allein dastehen auf der Welt und
+sagen: 'Ich kann nicht aufhoeren'? Nein, der muesste sich ja schaemen vor
+den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott muesste er sich
+schaemen!"
+
+"Ich kann auch aufhoeren," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim
+Geigen nicht."
+
+"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann
+mitten im Geigenstrich aufhoeren und das musst du auch lernen. Gib dir
+Muehe, und wenn du dann fuehlst, dass du einen festen Willen hast, so sage
+es mir, dann will ich dir jeden Sonntag fuer eine Stunde deine Geige
+geben."
+
+Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem grossen Schrank
+deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zaertlichem
+Ton: "Da innen ist sie!"
+
+"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen
+Willen bekommt und sie erloest aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind;
+Fraeulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich hoere sie schon lange plaudern
+mit Marianne, ich weiss nicht, warum sie nicht herein kommt."
+
+Unser Musiklehrer oeffnete die Tuere nach dem Vorplatz, die drei
+plaudernden Maedchen fuhren auseinander, Fraeulein Vernagelding kam zur
+Stunde. Noch rosiger und laechelnder erschien sie als sonst, und hatte
+solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erroeten mitzuteilen! Die
+Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, dass
+Fraeulein Vernagelding Braut war! Solch einen schoenen, jungen, reichen,
+blonden Bankier hatte sie zum Braeutigam! Aber unmusikalisch war er
+leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der
+Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.
+
+"Graemen Sie sich darueber nicht," sagte Herr Pfaeffling zu seiner
+Schuelerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."
+
+"Meinen Sie?" fragte Fraeulein Vernagelding, "das waere schoen! Und nicht
+wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute
+Freunde und Ihre Fraeulein Toechter muessen zu meiner Hochzeit kommen. Das
+gibt zwei suesse Brautfraeulein!"
+
+"Meine Toechter?" fragte Herr Pfaeffling verwundert. "Sie meinen die
+Marianne? Das sind doch keine Brautfraeulein? Da muessen Sie mit meiner
+Frau sprechen."--
+
+Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfaefflings Bruder eintreffen sollte.
+Alle Haende hatten sich fleissig geruehrt, um fuer das Osterfest und
+zugleich fuer den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren
+des langen Winters waren mit den trueben Doppelfenstern, mit Kohleneimern
+und Ofenruss aus den Zimmern verschwunden, die Fruehlingssonne durfte die
+hintersten Winkel bestrahlen, Walburg brauchte die Pruefung nicht zu
+fuerchten, alles war blank und rein. Eine muehevolle Zeit war das gewesen,
+aber nun war sie gluecklich ueberstanden, Feststimmung breitete sich schon
+ueber das Haus und heute sollte der Gast ankommen.
+
+"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung,"
+sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja,
+Frau Pfaeffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in
+der alten Heimat schoen gewesen, so musste es doch noch viel beglueckender
+sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben.
+
+Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle
+miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen,
+er war nicht an so viele Kinder gewoehnt, sie wollten sich verteilen und
+nur allmaehlich erscheinen, damit es keinen Laerm und kein Gedraenge gaebe.
+
+Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und
+sahen begierig die Strasse hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten
+auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen
+Kopf kleiner als der Vater, ganz aehnlich der Mutter, nur nicht so
+schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und dass er eine voll
+gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen besonders
+hervorgehoben. Nun mussten auch die Kinder bemerkt worden sein, denn der
+Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar den Hut als
+Gruss. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen doch
+entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht
+so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderkoepfe verschwanden vom
+Fenster, und vierzehn Fuesse trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist
+frisch geoelt," rief Marie, "geht an der Seite, dass sie in der Mitte
+schoen bleibt!"
+
+Nun kam die Begruessung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die
+Kinder beruehrte es merkwuerdig, dass der Onkel der Mutter so aehnlich war,
+in den Zuegen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begruessten sie
+ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen
+seiner Schwester, die andern seinem Schwager aehnlich.
+
+"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," draengte Herr Pfaeffling, "wir wollen
+den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und liessen den
+Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurueck nach dem jungen
+Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der
+Mutter.
+
+"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."
+
+"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurueck.
+"Caecilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heisst du ungehobelt?"
+
+Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was fuer eine
+stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die
+ungewoehnlich grosse Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr
+habt euch wohl eine besonders kraeftige Magd ausgesucht fuer eure grossen
+Schuesseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme
+Dienerin? Wie schade um das Maedchen!"
+
+"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie,
+"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser
+werden."
+
+Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal
+ein Tischgebet gewusst, das muesste heute gut passen und dem Onkel
+gefallen, es kommt etwas vom vielverheissenden Tisch vor, weisst du nicht,
+welches ich meine?"
+
+Frau Pfaeffling wusste es wohl und sprach es:
+
+ In groesserem Kreise stehen wir heute
+ Am Gutes verheissenden festlichen Tisch.
+ Aber die richtige froehliche Stimmung
+ Die musst auch heute Du, Herr, uns geben.
+ Nahe dich freundlich jedem von uns.
+
+Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine
+Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich
+alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er,
+"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel,
+bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie
+machten sich mit Eifer daran und trieben es taeglich fast mit
+Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der
+Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir muessen die zwei
+Parteien so einteilen, dass die guten und schlechten Spieler gleichmaessig
+verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm,
+der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen,
+sonst koennen die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
+seinem Hoehepunkt, als Frau Pfaeffling hereinkam.
+
+"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, lasst euch doch nicht
+immer mahnen." Schuldbewusst legten zwei der Spieler ihre Schlaeger aus
+der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner
+Zeitung hervor. Das Wort: "Lasst euch doch nicht mahnen" schien noch
+weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?"
+fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das koenntest du besorgen, Frieder,"
+sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten sich auch
+diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfaeffling setzte sich ein
+wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist ruehrend,"
+sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschueler so selbstverstaendlich
+zum Holztragen verpflichtet fuehlen und ohne Widerspruch das Spiel
+aufgeben. Das taete meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?"
+
+"Das bringen die einfachen Verhaeltnisse ganz von selbst mit sich. Die
+Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig
+werden, so helfen sie mit."
+
+"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und
+ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tuechtige Staatsbuerger
+hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie
+ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und
+widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt
+entgegenbringen, wohl in dem Gefuehl, dass sonst das ganze System in
+Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, dass dein Mann ein so
+leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister.
+Das muss ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in
+ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."
+
+Die Kinder hatten nicht auf das leise gefuehrte Gespraech gehorcht; was
+kuemmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des
+Onkels, die traf Maries Ohr, die erfasste sie. "Wenn ich eines eurer
+Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie haette es offenbar nicht hoeren
+sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunaechst liess sie sich nichts
+anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich behalten.
+Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am Balkenplatz
+zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie vertraute ihnen an,
+was sie gehoert hatte. Das ganze Trueppchen stand dicht zusammengedraengt
+und besprach in lebhafter Erregung die Moeglichkeit, fortzukommen.
+Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer ungern?
+Sie waren zweifelhaft. Wen wuerde der Onkel waehlen? Ein jedes meinte:
+"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer,
+der doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiss
+will er _mich_ mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht
+fort, fuer ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben,
+er fuerchtete die fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will
+er mitnehmen, so glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das
+fremde Kind gewesen, vor die Tuere gewiesen mit der Violine. Von jeher
+war er ein wenig allein gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an,
+dass er fort von ihnen sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die
+seelenvollen Augen, die angsterfuellt von einem zum andern blickten, und
+da wurden sich alle bewusst, dass sie doch den Frieder nicht missen
+mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle
+geben wir nicht her!"
+
+Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespraech mit
+Herrn Pfaeffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah
+hinunter, "Dort steht ja das ganze Trueppchen beisammen," sagte er,
+"eines dicht beim andern, keinen Stecken koennte man dazwischen schieben!
+Es ist koestlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!"
+
+"Ja," sagte Frau Pfaeffling, "irgend etwas muss sie sehr beschaeftigen."
+
+"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, dass jedes sechs treue
+Freunde mit fuers Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im
+Nest gesessen waren, die fuehlen sich fuer immer zusammengehoerig. Dass ich
+nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Voegelein aus diesem Nest
+herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschliessen. Geben wir
+doch den Plan auf! Lassen wir das froehliche Voelklein beisammen, es kann
+nirgends besser gedeihen als daheim!"
+
+"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu guenstigem Licht, wir sind oft
+unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"
+
+"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiss auch bei euch nicht.
+Aber den guten Grund fuehle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut
+ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist."
+
+"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten koennen," meinte Frau
+Pfaeffling.
+
+"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von
+Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen
+Lateinschueler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er
+neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es waere bei
+meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spueren! Kehren wir doch
+die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren
+einfachen Verhaeltnissen wuerde er ganz von selbst seine Ansprueche fallen
+lassen, er waere zufrieden und gluecklich mit euren Kindern."
+
+Es blieb bei dieser Verabredung.
+
+Draussen im Freien hatte sich inzwischen alles veraendert. Die Sonne war
+von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten
+ploetzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfaefflinge fluechteten
+herauf.
+
+"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wisst ihr
+auch, Kinder, mit was fuer Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von
+euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schoen Platz waere fuer
+ein viertes, und eure Eltern haetten es dann leichter gehabt. Aber ich
+tue es nicht. Wollt ihr hoeren warum? Weil ihr es so schoen und so gut
+habt, dass ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben koennet. Ihr
+lacht? Es ist mein Ernst."
+
+Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, musste es ja
+wissen.
+
+Elschen drueckte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns haettest du
+denn mitgenommen?" fragte sie.
+
+"Musst du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und
+deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewusst!
+
+Einige Tage spaeter war Frau Pfaefflings Bruder wieder abgereist. Sie
+stand mit wehmuetigem Gefuehl im Gastzimmer und war beschaeftigt, es wieder
+fuer eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen
+musste. In ihren Gedanken verloren, hoerte sie doch mit halbem Ohr einen
+Mann die Treppe heraufkommen, hoerte klingeln, oeffnen, wieder schliessen,
+hoerte Marie zum Vater hinuebergehen. An all dem war nichts besonderes, es
+brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang.
+
+Aber jetzt?
+
+Sie horchte. "Caecilie, Caecilie!" toente es durch die ganze Wohnung. Sie
+wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da
+stand er vor ihr mit glueckstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:
+
+"Caecilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht
+fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es
+selbst schwarz auf weiss, dass die Marstadter vorlaeufig in einem
+gemieteten Lokal die Musikschule eroeffnen wollten und den Musiklehrer
+Pfaeffling zum Direktor ernannt haetten. Es fehlte nichts mehr als seine
+Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu
+warten!
+
+Der jubelnde Ruf: "Caecilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern
+herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hoerten sie
+die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und
+immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das goennen!"
+
+Und das Glueck war immer groesser, weil es von so vielen Gesichtern
+widerstrahlte.
+
+Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles ueberhoert, weil er
+mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschaeftigt war.
+
+"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muss man es doch auch
+sagen!"
+
+Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem
+Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.
+
+"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfaeffling.
+
+"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"
+
+Dabei draengte er sich dicht an den Vater und fragte schuechtern: "Gibst
+du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten
+darin aufhoeren, ich habe es probiert."
+
+"Wie hast du das probiert, Frieder?"
+
+"Beim Essen. Dreimal. Aufgehoert im aergsten Hunger, auch bei den
+Pfannenkuchen. Die andern wissen es."
+
+"Ja, es ist wahr," betaetigten ihm die Geschwister, die als seine
+Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfaeffling
+schloss den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er froehlich,
+"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies
+Festtag bei uns, du weisst wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine
+Violine, kleiner Direktorssohn!"
+
+Ja, das war ein seliger Tag!
+
+Frau Pfaeffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die
+Neuigkeit gehoert, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so
+fuerchtete sie auch diese Veraenderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst,
+sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr
+Direktor will auch deinen Lohn erhoehen."
+
+Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder
+allein in ihrer Kueche stand, da legte sie einen Augenblick die fleissigen
+Haende ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"
+
+Frau Pfaeffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch
+Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen
+zusammen, und waehrend sie sprachen, toente von oben Klavier und Gesang
+herunter und Frau Pfaeffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann
+uebte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim:
+
+ "Drum rufen wir mit frohem Sinn:
+ Es lebe die Direktorin!"
+
+Als Frau Hartwig wieder allein war, musste ihr Mann sie troesten: "Leicht
+bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe
+im Haus gemacht und bedenke nur die Abnuetzung der Treppe!" Dabei suchte
+er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und
+befestigte an der Haustuere die Aufschrift:
+
+ _Wohnung zu vermieten_.
+
+Und als sie die Tuere wieder hinter sich schloss, fiel ihr eine Traene auf
+die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiss gar niemand, wie lieb mir
+die Familie Pfaeffling war!"
+
+
+
+***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING***
+
+
+******* This file should be named 10917.txt or 10917.zip *******
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+
+This and all associated files of various formats will be found in:
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+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
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+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
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+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
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+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
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+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
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+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
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+Literary Archive Foundation
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+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
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+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
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+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's
+eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII,
+compressed (zipped), HTML and others.
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+Corrected EDITIONS of our eBooks replace the old file and take over
+the old filename and etext number. The replaced older file is renamed.
+VERSIONS based on separate sources are treated as new eBooks receiving
+new filenames and etext numbers.
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+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+ 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90)
+
+EBooks posted since November 2003, with etext numbers OVER #10000, are
+filed in a different way. The year of a release date is no longer part
+of the directory path. The path is based on the etext number (which is
+identical to the filename). The path to the file is made up of single
+digits corresponding to all but the last digit in the filename. For
+example an eBook of filename 10234 would be found at:
+
+https://www.gutenberg.org/1/0/2/3/10234
+
+or filename 24689 would be found at:
+https://www.gutenberg.org/2/4/6/8/24689
+
+An alternative method of locating eBooks:
+https://www.gutenberg.org/GUTINDEX.ALL
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+*** END: FULL LICENSE ***
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