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Geburtstag entgegengehen, steht die +Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du +die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, +anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen +Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer +entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit. + +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte +möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen. + +Herbst 1906. + + +Die Verfasserin. + + +Inhalt + + 1 Wir schließen Bekanntschaft + 2 Herr Direktor + 3 Der Leonidenschwarm + 4 Adventszeit + 5 Schnee am unrechten Platz + 6 Am kürzesten Tag + 7 Immer noch nicht Weihnachten + 8 Endlich Weihnachten + 9 Bei grimmiger Kälte + 10 Ein Künstlerkonzert + 11 Geld- und Geigennot + 12 Ein Haus ohne Mutter + 13 Ein fremdes Element + 14 Wir nehmen Abschied + + + + +1. Kapitel +Wir schließen Bekanntschaft. + + +Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit +hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in +die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die +Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. +Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes +Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem +der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt. + +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein +Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen +fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge +Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre +Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten +Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist +sicher kein anderer als Frieder Pfäffling. + +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof +verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach +den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer +Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, +war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der +Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen +sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte +zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten +sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das +alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas +näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule +ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine +runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr +Zeit zu lassen als die andern. + +Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben +Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur +noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, +sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling +atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, +bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine +Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend +von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie +war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken +versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen +Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, +plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun +die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr +fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter +in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den +letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken +kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie +ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme +allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie +ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort +oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders +Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar +zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig +geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte +Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die +Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an +ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen! + +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: +"Elschen, flink, Essig holen!" + +Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße +hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem +Essigkrug zum nächsten Kaufmann. + +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner +Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. +Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf +gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge +nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem +Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit +dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so +abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen +Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen +herunterpoltern," sagte der Hausherr. + +"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja +rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es +pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie +müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen +auf die abgetretenen Stellen." + +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt +doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, +was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen +voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer +Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch +nicht übers Herz." + +"Nein, nie! Aber du auch nicht." + +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue +Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand +bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die +Stufen, aber sie blieben doch abgetreten. + +Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine +vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und +erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das +Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren +die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der +Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief +auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und +Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen +gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei +Großen, jetzt muß ich entgegen laufen." + +Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle +zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor +Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, +der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden +Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern +Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre +Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen +Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in +dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. + +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet +ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe +an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr +war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?" + +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," +fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln +hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann +richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie +standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So +schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja +wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter +Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! +"Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das +erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, +langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der +zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und +Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und +deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der +verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er +zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum +denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, +"kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am +öftesten." + +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," +und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich +herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's +recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung +zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie, +was kann man mehr verlangen? + +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog +ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" + +Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft +hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der +Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so +öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und +klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch +zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen +Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. +Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal +den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete +sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die +Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." + +Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, +aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie +kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des +Wintersemesters. + +"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben." + +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf +ich nimmer mitbringen." + +"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand." + +"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben." + +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." + +"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend." + +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, +umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der +kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine +Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den +Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die +sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten. + +Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, +indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und +Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die +er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei +Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor +und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte +der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt +eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so +viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder +Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, +aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine +kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, +"Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war +nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und +miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß +auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr +gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen +sie, ob das wohl recht viel kostet?" + +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab +und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. +Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade. + +Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen +sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu +ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen +beisammen saßen. + +"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist +höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue +Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind +jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir +nicht leben." + +"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr +zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es +sorgliche Gedanken im Herzen bewegte. + +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der +wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene +Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern +sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder +heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen +Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten +nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den +Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, +sagte genug. + +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, +"daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als +Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene +Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die +geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und +vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!" + +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle +andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins +Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und +strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, +rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm +seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe +blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was +soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," +rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief +in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die +Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu +erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb +drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog. + +Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in +seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie +wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in +Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten +zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner +Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und +von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich +ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur +_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine +Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist +doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und +nun wurde die Harmonika eingeschlossen. + +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als +letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen +Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule +ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern +gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es +glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den +kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich +der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, +sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das +Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah +so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. +Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn +der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein +zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für +Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch +auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte +Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte +immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So +erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, +sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder +vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die +Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, +die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie. +"Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf +an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei +uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer +gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles +durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an +den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war +ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle +du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann +brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—" + +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, +denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und +sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im +Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht +darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus +und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: +"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist +da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun +fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. + +"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und +Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, +die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz +zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, +"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, +sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist +traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich +mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten +geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen +hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an +als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große +Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche +hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und +ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein +paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer +zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als +niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der +Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das +Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast +abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand +wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem +Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen +Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu +sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern +bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg +sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit +ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an +Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete +Karl. + +Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter +Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als +Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das +Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als +sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, +wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama +nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie +zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den +Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so +bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie +sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde +sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling +seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder +drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, +die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, +begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu +sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte +Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie +schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig +herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_. + + + + +2. Kapitel +Herr Direktor? + + +November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich +leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. +Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden +noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen +Arbeit. + +Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen +Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier +Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte +französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und +suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte +im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte +kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal +geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem +Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still +beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang. + +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten +ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten +sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn +der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern +wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei +rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten +Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung +hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, +es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch +zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. +Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang +hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine +Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich +die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf +eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im +Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den +Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern +kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde +vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken +sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten, +entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt +hatte. + +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding +hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen +das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. +Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater +noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?" + +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen +wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch +zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie +sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein +Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere +hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht +zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an +und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir +graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?" + +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen +Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die +Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in +Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das +Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre +verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher +Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen. + +So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der +eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker +in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht +eben schlechte Zeugnisse nach Hause. + +An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer +trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu +mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe +zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie +folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie +beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag +auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, +lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für +seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste +Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt +schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle +mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, +Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer +größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach +meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor +zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; +Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit +fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man +nur so fragen!" + +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee +und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet +eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und +rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die +Kartoffeln kalt!" + +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, +folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll +Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, +und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller +Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem +unsicheren Zukunftsplan erwähnten. + +Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige +Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren +gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei +diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit +auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen +und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger +Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte +er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder +hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den +Hintergrund treten." + +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder +nicht," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder +können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen +gemütlichen Teetisch." + +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem +Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des +erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der +Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es +euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!" + +Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung +herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. +Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten. + +Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der +Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn +auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und +verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit +dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den +Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und +weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich, +mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein +Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht +das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber +hinauf!" + +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich. + +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch +ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße +gut ab." + +Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht +recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den +Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch +lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die +Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die +Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für +seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste +Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben +auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die +wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich +nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von +seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem +Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz +trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich +ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war +ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der +zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. +Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren +zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun +und plauderte freundschaftlich mit Karl. + +Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. +Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über +ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt +dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder +einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal +mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß +redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen +Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge +Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, +mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing +es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, +und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über +die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. +Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte +da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an +Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter +fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die +Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. +Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz +bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie +wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er +sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: +drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten! + +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben +die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, +die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß +sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, +erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise +nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte +sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor. + +"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, +da hört man uns nicht." + +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das +Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was +sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier +nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen +an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und +durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird," +schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich +nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen +meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt +die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den +großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber +auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen. + +In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos +seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie +miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre +dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner +Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_! + +Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des +gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen +Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe +besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige, +Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier +gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete +dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch +nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber. + +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur +Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im +Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, +doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen +habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die +Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen. + +Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, +als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und +betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie +nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige +Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei +diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, +sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit +weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?" + +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme +oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er +sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, +unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches +Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch +plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer." + +Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern +Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im +sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein +mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er +dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte +Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem +"Guten Morgen" und "Gute Nacht". + +Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und +bewegten doch ungefähr denselben Gedanken. + +Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit +meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts +davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging +er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. + +Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein +sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, +diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut +und nicht ahnt, daß er stört. + +Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater +schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden +sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es +eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf +Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht +fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich +freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute +Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." + +"Gute Nacht, Karl." + +Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte +Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die +Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und +er hat gelesen." + +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling +lächelnd. + +"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief +seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett +gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: +"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater." + +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß +du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier +bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir +besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun +bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns." + +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein +Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde +erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte. + +Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette +legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen +könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine +Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu +entreißen. + +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach +Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung +des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden +hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die +Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling +wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten +habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling +immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, +statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er +sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine +seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden! + +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein +Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so +wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ +Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu +jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes +über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber +war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch +eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten! + +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. +Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner +hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz +unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn +groß an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?" + +"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, +und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst +hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in +unseren knappen Verhältnissen." + +Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag +gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der +Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner +Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine +glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein +schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört +verschwenderischen Gabe einer Rose im November! + +Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit +seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die +geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch +die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg +wurde es ins Ohr gerufen. + +Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den +Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen +Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde. + +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als +Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu +Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer +aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter +hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der +Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und +von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm +dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein +bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde +der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen, +umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein +paar Jahre warten wolle! + +Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen +weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er +dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach. + +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, +wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den +Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von +einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand! + +Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es +wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon +vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher." + +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die +sind so—ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar +nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!" + +Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre +wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es +ja nicht so sehr ferne gerückt!" + +"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr +Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins +richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts +mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_." + +Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den +Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern +fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser +Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn +entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur +gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß +wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in +der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen." + +"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den +schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht +anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich +kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, +aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört +auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was +Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit +es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. + +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann +deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt +auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab." + +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine +Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten +schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese +Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden. + +Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand +und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend +war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied +komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die +Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder +Vers ausgeht: + +"'Drum rufen wir mit frohem Sinn: +Es lebe die Direktorin!' + + +"Nun muß es heißen: + +"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn +Du wirst niemals Direktorin.'" + + +"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es +muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." + +"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er +trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer +machen." + +Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie +auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel +Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So +erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel. + +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe +eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?" + +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter +der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit +strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, +Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. +Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die +Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?" +fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil +ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von +unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus +und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann +kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut +aufgenommen worden. + +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, +die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich +vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er +war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch +schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, +gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem +festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung +unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu +seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern: + +"'Direktor her, Direktor hin, +Wir haben dennoch frohen Sinn.'" + + +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. +Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein +Vernagelding sein?" + +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, +die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich +die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst +nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das +Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit +verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter +und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen +zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als +diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte +und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit +mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, +ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in +Rosa." + +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits +etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht +mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht +immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon +wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an +den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn +strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, +daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht +süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte +er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, +das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim +für heute." + +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin +empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix. + +Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß +Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal +entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. + +Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube +aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe. + +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," +sagte Frau Pfäffling besorgt. + +Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten +Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller +Herr. Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir +müssen ihm gelegentlich ein Präsent machen, Agathe." + + + + +3. Kapitel +Der Leonidenschwarm. + + +Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau +Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die +Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob +sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den +Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden +die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten +geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden +konnte. + +Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten +sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. +Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher +Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als +Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen +Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil +zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er +ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er +herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. +Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in +verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem +Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. +Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein +kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es +zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte, +und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil, +anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen +früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht +übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika +genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes +herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann +mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört, +da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." +"Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule." + +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" + +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder +ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da +wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine +Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer +nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er +sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie +hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. +Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen +Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden +vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während +seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern +von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute +hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte +er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren +und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. +Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man +meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, +kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im +Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, +leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz +unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind +gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, +wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen +über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer +und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn +mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, +dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz +feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das +nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine +Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es +auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr +Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. +November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der +Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in +diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön +wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb +seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die +Wache ziehen um den Preis." + +Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle +mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie +sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und +von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die +Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt +unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die +Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied +Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, +weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts +geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater +wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die +Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich +erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei +Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften +nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der +Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon +von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen +Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie +lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine +Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl +durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft +ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur +so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf +das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja +es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die +Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte +er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch +möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor +Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und +die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer +mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor +und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu +sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel +entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer +fliegenden Kugel gesehen zu haben. + +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei +das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben +dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht +einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich +wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei +in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die +Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: +"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große +warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem +Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel +in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die +Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches +Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht +ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den +Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem +Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem +Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen. + +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas +gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber +sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte +sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten +Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb +derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat +nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr +unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche +Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch +entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre +vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus +herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon +herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem +Gewissen, der mochte klingeln. + +Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der +Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In +wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern +und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so +schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl, +"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich +reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß +einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da +droben alle so fest!" + +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. +Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen +dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die +riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine +Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend +sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als +die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder +eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in +gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit +vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich +sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich +aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die +Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, +von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den +staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein +sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit. + +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden +sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein +einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, +"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die +Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und +schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also +kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu. + +"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er." + +"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da +draußen bleiben in der Kälte!" + +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an +die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von +innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte +Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte +und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach. + +"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. + +"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, +es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in +Ordnung, was hält die Türe zu?" + +In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand +hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder +den Riegel vorgeschoben." + +"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat +das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: +"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!" + +"Aber er hat es doch erlaubt!" + +"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" + +"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen." + +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, +wer hätte es sonst tun sollen?" + +Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln +dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in +den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon +schlafen." + +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und +suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so +stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so +unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! +Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal +reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber +hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß +ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte +stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. +Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war +denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte +und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun +aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich +wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da +fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," +sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir +nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da +waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite +des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so +laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß +Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, +Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber +umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und +die Hausleute wachten auf. + +Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun +möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten +Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder +erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, +keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, +lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute +Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir +wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie +tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in +der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es +unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen. + +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte +die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern +draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie +besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid +Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen +sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur +Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So +hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht, +denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht +an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. + +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur +hinaus?" + +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie +vorwurfsvoll und schloß das Fenster. + +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, +"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da +schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen +Morgen?" + +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu +seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. +Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts +geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute +bedanke ich mich!" + +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob +den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen +Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit +so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung +entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von +der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er +ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten +Januar sei ihm die Wohnung gekündigt." + +Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es +den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen +Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der +Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr +Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn +er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie +sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum +andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen +der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung +herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück! + +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich +ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen +war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht +vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. +Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf. + +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine +Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem +Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, +als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön +heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei, +bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon +hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser +zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim +Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der +Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen. +Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt +werden, kommt!" + +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. +"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr +hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war +aber der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun +schön?" + +Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß +sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte +gleich Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch +nicht gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?" + +"Das nicht." + +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und +sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir +hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken +gewesen—wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa +wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt." + +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie +aus einem Mund. + +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf +den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter +Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das +hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir +sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte +Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne. + +"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. +"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich +würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So +aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb +geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?" + +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr +Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht +alles gesagt." + +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die +schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. +Januar sei gekündigt." + +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch +aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu +glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist, +glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man +einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal +wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, +was hat er denn sonst noch gesagt?" + +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's +schon vorher ausgedacht hätte." + +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber +geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die +Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" + +Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: +"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht +verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie +in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen." + +"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, +frühstückt!" + +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig +waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor +Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch +nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute +fühlte er, daß es so sein müsse. + +Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger +Erregung, so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er +tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um +sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch +als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den +Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der +Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der +Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ. + +So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei +Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem +Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt +bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch +die Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der +leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so +viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht +deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz +anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau +Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging. + +Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie +hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des +echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie +stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht +hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen +einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau +Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die +beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg. + +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien +benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum +Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des +Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche +hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen. + +Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch +sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören. + +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes +miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr +und sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer +miteinander verständigen würden. + +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht +gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der +Wache gesehen hat?" + +"Ja, du warst ja dabei." + +"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum +erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte +Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem +Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des +Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte. +Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn +treiben, zu tun, was recht war. + +Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er +ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel +gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der +Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die +da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen +ausgingen. + +Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der +Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, +und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er +nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar +nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen +Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. +Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch +nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun +wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!" + +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus. + +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen +sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller +einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," +sagte sie und gab jedem einen Apfel. + +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, +damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen +jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an +der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, +so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu +gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und +kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der +erschrockenen Hausfrau. + +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je +besser sie's meinen, um so ärger poltert's." + + + + +4. Kapitel +Adventszeit. + + +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne +Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen +Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender +hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den +Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf. +"Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom +Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht +erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen +es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum +Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher +Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung +stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling +stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen +und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!" +Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung, +auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen +Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal +gesagt hatte etwas anderes als die Melodie. + +Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit +sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige +nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute +mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und +Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an +der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden +wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle +sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer +soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling +bedenklich. + +"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der +Kinderchor. + +"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein. + +"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben. + +"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, +hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die +ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von +ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche +gesegnete Andacht". + +Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe +herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche +einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben +ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der +Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach +einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er +nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu. + +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs +Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest +sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das +dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden +die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber +heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war +über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling +Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön +der Christbaum war?" + +Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten +stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit +leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine +Hauptperson, die allen die Freude erhöhte. + +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten +flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es +durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, +die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, +in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht +Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!" +Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die +Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer +der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn +ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, +wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und +da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr +drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr +niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche. + +Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder +wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte +er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen +und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte +sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner +Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es +ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, +bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der +Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße. + +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden +machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen +bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer +verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber +es ging nicht so. + +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch +schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine +Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob +Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die +Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? +Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, +vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er +fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." + +Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten +und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast +du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte +Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst." + +"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen +nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, +"könntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und +zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete +der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze." + +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte +spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und +die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die +Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer +riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: +"Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie +Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog, +gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen +betroffen auf den kleinen Musikanten. + +"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und +wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte +keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er +drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber +er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer +zum Leben zu erwecken. + +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von +ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange +Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich +weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!" + +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein +Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, +bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz +enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. +Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte +er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten +wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein +Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht +eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde. + +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. + +Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die +Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für +die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen +getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts +ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder +verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf +den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht." + +"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen +Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren +großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern +mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er +wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig +erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie +lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, +was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit. + +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister +um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, +streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da +nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht +erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne +Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim +Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das +schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei +können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum +müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal +Walburg sagt, Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte +Zündhölzer, einen rechten Sack voll." + +Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, +und fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, +"dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da +gestanden bist." + +"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der +Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle +vergnügt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du +deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die +andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, +das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er +sich glücklich auch ohne Harmonika. + +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, +viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis +abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein. + +Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt +viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, +der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb +hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und +machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten +es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und +wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß +sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen +Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als +alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen +schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben +herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die +gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen." + +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes +Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße +entgegengesetzt lag. + +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in +kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier +ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und +Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf +Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in +Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen +abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all +dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du +mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen +vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder +einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." + +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. +"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" +sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles +abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst." + +"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei +euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als +ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie +angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören +zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn +heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben +riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld +glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland +ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man +artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, +sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem +Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr +sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. +Nun heißt es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die +Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit +liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren +aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.' + +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner +militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem +Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die +zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das +ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht? + +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es +hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen +Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug +zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich +wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, +eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht +handeln." + +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling +hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den +Musikunterricht geben?" fragte er. + +"Weiß ich nicht." + +"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen." + +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche +Herrschaften muß man immer das feinste wählen." + +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." + +"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hören sie gern." + +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als +Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen +ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren +für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß." + +"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier +herablassend, "vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer +erkundigen und nicht bei den Professoren." + +"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt +du mit den Russen sprechen." + +"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du +hast keinen Begriff von Umgangsformen." + +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, +aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, +was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar +nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal +in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein +Schwindel." + +"Ich vermag viel im Hotel." + +"So beweise es!" + +"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen +hast." + +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich +für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum +Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel +zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen +wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben. + +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, +in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen +Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" + +"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit +kommt." + +Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und +erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause +vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du +solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater +nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf +Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei +unser Vater viel zu vornehm." + +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern +der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter +Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß +sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran, +als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom +Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort +warten." + +Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, +die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der +höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und +Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor +Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten, +flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der +Rudolf Meier! + +Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so +erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem +schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier +senior ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag +erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr." + +Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier +von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm +zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der +Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell +ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr +Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in +Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung +gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer +weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen +dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: +"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen +gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere +Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding." + +"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr +Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für +meine Marterstunde." + +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die +andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen. + +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war +schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch +die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr +Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. +Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute +schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte, +Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei. + +Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich +eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig +herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen +der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des +Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel +jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß +Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber, +lachte und spaßte mit den Schwestern. + +"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen +heißt so?" + +"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es +eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie +und Anne, aber so ist's eben bei uns." + +Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes +Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt. + +"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu +spielen," richtete Marie aus. + +"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es +lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen +Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint +Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, +ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. +Die Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch +nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den +Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" + +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch +zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt +bloß die, die recht musikalisch sind." + +Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so +plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner +Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. +Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie +mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so +elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit +mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ." + +"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch +sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen +Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer +ein sicheres Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß. + +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen +ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts +zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am +schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, +und im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe +das Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein +und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling +lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es +euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie, +Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche +herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn +ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel +gut ausgefallen sein!" + +"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch +musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube +kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und +ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß +sein wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich +euch erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges +Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als +Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon, +spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, +kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so +einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte +mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor +einzuführen, und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach +richten, die Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden +glauben, solchen Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann +geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe +hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich +an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling +vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz +nahm, empfahl er sich. + +"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht +mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen +durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei +jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle +ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in +die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt +davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen +sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die +Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig +Deutsch, versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch +hörten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch. + +"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen +Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich +kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber +allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter +und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei +lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für +welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas +überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich +ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher +Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr +Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach +ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich +wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht +einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann +spielte ich. + +"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer +näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß +wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann +Violine, und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel +ihre größte Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag +ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach +dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung +mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine +Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, +begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit +war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich +vergessen hatte. + +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er +hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in +der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. +Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien +sich wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und +flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet +worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich +habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter +sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger +Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, +als du bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das +Auftreten eines Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst +durchschaut." + +"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man +sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben." + +"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden +bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges +Jubellied gesungen werden!" + +Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der +General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher +Deutscher." + +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen +meinen Aufsatz machen." + +Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die +Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau +Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer +Glacéhandschuhe." + + + + +5. Kapitel +Schnee am unrechten Platz. + + +Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der +erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten +Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen +Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der +alles verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und +glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die +Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen +des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. + +Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier +nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch +eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich +verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus. + +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden +Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie +wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen +Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, +klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke +herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter +ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er +sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu +dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum +im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet. + +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge +Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei +doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg. + +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem +Christbaum nicht den Platz? + + +Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch +den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit +dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die +Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren +die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee +bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt +werden. + +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da +und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die +wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und +von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine +hohe Mütze auf. + +Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas +sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und +öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus +vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle +beladen mit Christbäumen. + +"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der +Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als +er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch +einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann +nach. + +Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem +richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand +voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und +richtete dadurch Unheil an. + +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo +einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein +hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer +der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, +indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, +seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die +anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn +nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit +warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde +eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht +der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig +auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz +für den Schnee! + +Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und +so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige +Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus +Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und +dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit. + +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. +Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und +erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees +abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und +Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr +Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem +Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle +die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun +freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann +kommen sahen, liefen auf und davon. + +Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach +seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der +Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören. + +"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete +die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. + +"Die Wohnung?" + +"Frühlingsstraße." + +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir +auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein +"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein +Name. + +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling +schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist +das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: +fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich +aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie +ich." + +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser +Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig +zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, +mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders +Gesicht so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er +unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen +Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte +beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am +Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und +Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor +Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen +Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, daß Herr +Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam. + +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah +überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. +"Was ist's, Vater?" fragte er. + +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da +und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du +angestellt?" + +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann +doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn +getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" + +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr +Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt +an des Vaters Hand, daß es klatschte. + +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft +beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf +diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein +Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze +Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der +trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe +wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und +woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm +nicht erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um +welche Zeit?" + +"Um 11 Uhr." + +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es +dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt +die Sache noch ins Zeugnis!" + +"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen +sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" + +Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du +nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu +ihrem Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?" + +Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der +Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein +ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um +einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar +nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!" + +"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen +haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. +Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." + +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: +"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr +niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude +aus dem Hause gewichen. + +Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, +berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, +und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und +sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der +Polizei hört, dann kündigt er uns!" + +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das +Schreckgespenst, die Kündigung! + +So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie +auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein +Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine +Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr +doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte +zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von +vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen." + +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu +erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die +übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! + +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu +Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." + +"Es ist nicht wahr." + +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es +deutlich gesehen." + +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als +der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung +seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn +Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, +erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er +hörte, daß Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir +auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon +störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute, +wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich +sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" + +So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht +zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer +Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen +vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde. + +Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors +das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten +Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes +Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. +Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er +ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz +fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster +Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um +ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun +war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr. +l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling. + +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze +Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte +ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," +sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!" + +Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann. + +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: +Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit +Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das +Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe. + +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. + +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber +weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast +mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort +heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte +wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, +nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, +und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem +Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär +Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines +Vergehens entschuldigt hat." + +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit +als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht +mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht +möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?" + +"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und +der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen +Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu +kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein." + +"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um +solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie +es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf +der Sache war." + +Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach +der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen +der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte +noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, +indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn +gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort +aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, +der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf +Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in +aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich +nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den +Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich +gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, +den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein +rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" + +"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir." + +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe +hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir +den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht +lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer +Klasse." + +"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich +kann ihn doch nicht angeben?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und +deine Menschenkenntnis ist nicht groß." + +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," +sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus +ist." + +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das +Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst +nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem +Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr +euren Schulhof!" + +Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," +rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du +gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt." + +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal +erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel +besser vorgebracht." + +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht +glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft +möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke +ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann +schweige ich lieber." + +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen +genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine +strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern +lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür +fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du +ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber +freilich mußt du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt." + +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. + +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" +fragte Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich +mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den +Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer +weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen +vertreten haben, so gut er es eben versteht." + +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz +gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des +Vaters Hand, küßte sie und lief davon. + +Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele +freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt +nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine +Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist +gut vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei +der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen +Schriftsteller. + +"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der +Professor nach der Stunde zu Wilhelm. + +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht +aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem +angegeben." + +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" + +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete +Wilhelm. + +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden +sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war +unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann +aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den +falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern +fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts +geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht +übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts +macht." + +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief +Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem +Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann +nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich +durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe +hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es +so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere +um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und +bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten +Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand +lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und +schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht +_ein_ Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte +er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt +sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht +entgehen. + +Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so +peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts +getan, was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich +wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher +Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es +am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte +sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: +'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu +Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit +taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und +Geld für sie verwenden? + +In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr +nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter +das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft +hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten +die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn +sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die +doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob +nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer +daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen +gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder +fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war +schuld. + +Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. +Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief +die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte +heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah +sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze. + +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter +Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände +waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf +die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte +sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie +aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem +vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit +hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die +Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung +vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in +ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf +dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr +Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, +sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles +gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!" + +Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch +Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz +andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen +Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben +geschrieben stand: + +Man bittet die Türe zu schließen! + + +Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts +helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen. + +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel +ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig +flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind +manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß +es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen." + +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die +Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als +sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, +ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, +so weit sie nur aufging. + +Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den +guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, +daß heute etwas besonderes los war. + +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas +kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." + +Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau +Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die +ganze Familie am Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die +Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter +geworfen?" + +"Vergessen!" + +"So geht jetzt und besorgt ihn." + +"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. + +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch +nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht +verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich +nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem +Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an. + +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie +schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr +fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte +Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen +waren. + +"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, +wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders +für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn +Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn +ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter +machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen." + +Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt +werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der +Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem +Gymnasium ausgewiesen. + +Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine +Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren. + +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling +sagen. + +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum +nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder +war etwas anderes gemeint? + + + + +6. Kapitel +Am kürzesten Tag. + + +Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe +Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel +steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als +diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den +Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie +gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen +den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander +wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der +Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die +wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse +und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! +Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und +Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt +waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten. + +Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und +Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser +kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung +besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich +nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er +selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt +sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und +kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und +wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. + +"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel +verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand +legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus +einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn +angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die +andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst +der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte +die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter. + +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte +die Dame. + +"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume +geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm +heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. +"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur +nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch +unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der +Richtung, die er einzuschlagen hatte. + +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der +andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß +er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es +aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so +mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, +freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen +Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet +wären oder gar der Vater! + +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in +die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der +Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man +mußte ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem +Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu +Boden, ohne daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden +hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei +mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem +Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen +aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende +schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten +eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem +Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige +Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich, +die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das +wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer +Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte +niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten +Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach +Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte +einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum +wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige +Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen. + +"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist +Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun +lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei +die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als +sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 +vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. +Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und +größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als +er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er +jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die +Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar +nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! + +Und es war wirklich höchste Zeit. + +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun +aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: +"Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen +Vormittag weggeblieben!" + +"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. +Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern. + +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu +ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem +zugestoßen sein—, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die +Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen +sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, +als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur +nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, +fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon +fertig?" + +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört +hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch +in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man +nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl. + +"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg +zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der +Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht +machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den +Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter +sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen +dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging +von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen +ganz hart. + +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können +ja noch ein wenig mit dem Essen warten." + +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die +Kinder. + +So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er +es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, +und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau +Pfäffling merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch +hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den +Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?" + +Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie +man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell +ihn nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. +Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte +dieser, "ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie +heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau +hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders +Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du +kleines Dummerle, du!" + +Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, +läßt sich denken. + +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner +rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit +Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus +zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," +entgegnete Karl. + +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde +ich mich schämen." + +"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß +wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der +Ecke stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte +spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle +nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'" + +"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird +so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein +Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie +schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte +sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies +oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht +auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs +Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf +Meier ab." + +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit +Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der +Baum in die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte. + +Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir +nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht +gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet." + +"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir +ein Trinkgeld gibt," sagte Karl. + +"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen +Pfennig mehr." + +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins +Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum +so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, +deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." + +Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto +mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten. + +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, +als Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und +sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich +aus, wenn sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück +kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst +entschuldigen, nicht?" + +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach +war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. +Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im +zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der +rechten Türe. + +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein +wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als +Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu +gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den +Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße +wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile +vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war +Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war +nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten +gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich +erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum +getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte +man auch schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, +und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der +kleine Unglücksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie +trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht +gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, +er würgte an den Tränen, die kommen wollten, und preßte hervor: +"Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, +aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten +bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben gar +nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen +größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so +treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten." + +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit +dem Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr +zurück," und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein +wenig von seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig +davon. + +In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und +sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch +noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo +bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar +nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht +mir." + +Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen +jungen Pfäfflingen gemacht hatte. + +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er +kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe +nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, +ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da +konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr +wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken." + +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. + +"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten +kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen +Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?" + +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit +seinem Baum heimwärts. + +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter +angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe +geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm +klingelte, und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie +den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins +Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, +der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht +aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!" + +Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab +ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der +Baum, Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim +kam, ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber +er merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte +sie eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte +er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so +gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann +heiße ich dich einen Feigling!" + +Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das +brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu +vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten +Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem +Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der +Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und +ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich +kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn +um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für +feig." + +"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar +schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen +über dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft +nur ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer +sein kannst." + +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, +fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er +zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen +Musikalien auf. "Willst du etwas?" + +"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon +welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt +gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von +meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, +die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem +Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war +auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!" + + + + +7. Kapitel +Immer noch nicht Weihnachten. + + +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der +Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade +das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das +Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie +zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die +schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von +Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß +die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen +redeten, die sie bekommen würden. + +Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß +morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig +und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es +gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?" + +"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel +ist zurzeit noch keine eröffnet." + +"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. +Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag +nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal +nichts zu machen war. + +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der +letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie +nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise +geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. +Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es +sich, daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die +geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl +4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen. +"So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß +ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht +doch auf den ersten Blick den Vierer." + +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." + +"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?" + +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater +darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du +es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?" + +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren +inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die +Brüder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: +"Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, +fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, +und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon +zufrieden sein." + +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." + +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. + +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen +soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" + +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und +zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und +dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz +des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt +sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen +anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in +einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter +nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben +werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte +man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das +beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. + +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis +gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte +Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!" + +"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur +von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten +bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft +wieder, Karl?" + +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann." + +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat +sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus. + +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es +übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht +nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr +Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das +Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß +er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse +bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was +wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen +ist? Magst du raten, Vater?" + +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte +ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei +bis drei vielleicht?" + +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" + +"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und +Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will +ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal +unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling +noch von der Treppe herauf. + +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber +sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da +niemand in die Hände fallen. + +Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, +denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten +und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal +stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer +waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels +stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt +seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling, +nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit +herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des +Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, +einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume +in den Saal getragen wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche +zusammen, denn hinter ihm ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst +du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es +war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling +gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den +Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt +Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm +vorbei, die Treppe hinauf. + +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf +seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den +Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, +er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr +Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die +Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, +sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch +empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter +war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie +geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas +erzählten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über +ihn, das wußte er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. + +Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe +hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel +seiner Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig +musiziert. + +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte +ihm die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen +Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein +Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut +selbst keine! Der Sohn wird nichts." + +Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte +und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, +über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: +"Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen +Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht +teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht +zufällig da. Er wußte vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. +Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein +anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur +Sprache zu bringen. + +"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für +andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest +nur Arbeit." + +Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater +sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch +wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" + +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war +und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß +ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie +begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. +Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her +sein." + +"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen +anleiten?" + +Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar +nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein +gewöhnlicher Schuljunge war? + +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder +freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt." + +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" + +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und +ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, +Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte +Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen +können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession +merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen +uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das +bringt ein Welthotel so mit sich." + +Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und +der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er +offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor +der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. + +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, +die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand +auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte +Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen: + +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft +von den Gästen abgehalten wird." + +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern +kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem +Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen +Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der +von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht +merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in +Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit +gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit +dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus +eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du +siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den +schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von +der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während +sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins +Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen +Saal. + +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die +Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," +sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber +um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" + +Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach +einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie +Platz nehmen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er +sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch +begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her. + +"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann +sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr +Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie +ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der +tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von +beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den +Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein +Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er +dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort +von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus +ihm werden, aber so nicht!" + +Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen +nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und +kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles +sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur +ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, +daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus +vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern +Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und +werde für sein Wohl sorgen." + +Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie +dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie +gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich +vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren +habe, daß es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre +Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. +Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich +Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum +sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen +Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!" + +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung +ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser +Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie +nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück. + +"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe +nichts erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun +ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich +seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was +er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken +Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng +ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so +ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz +aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute +einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." + +Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er +sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen +eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: +eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die +Folge davon war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu +Hause in den Weg lief, zurief: + +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich +will sie sehen!" + +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse +müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. +"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List +mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck +und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer. + +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als +sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater." + +Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine +List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend +etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar +fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er +überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst +Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, +jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines +gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten. + +Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut +brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte +viele Sünden anderer gut machen. + +Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da +war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie +sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute +Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn +sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, +ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, +aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei +diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die +Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht +und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer +zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. + +Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes +entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und +staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal +erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung +des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders +anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika +zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in +Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es +kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die +besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote +herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines +fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern, +hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein +und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das +war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin +und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie +feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe +sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier +auch nicht heimbringen. + +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis +etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es +wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis. + +Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand +an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es +war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm +fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht +daran, daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und +folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr, +Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich +erinnerst." + +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden +immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." + +"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor +Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal +alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!" + +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre +Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf +einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so +eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die +Durchschnittsnote hervorgegangen. + +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur +gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und +Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet +man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als +mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns +darf nichts treten, auch kein Vierer!" + +Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen +Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um +den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen +wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht +verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, +nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!" + +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch +Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann +kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was +machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden +kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit +meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie +wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast +das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen. +Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem +Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. + +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den +Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. +Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch +nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß +sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. +Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis +gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her, +suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr +Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein. + +"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort +mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön +wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf +Weihnachten?" Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, +und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein +Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich +habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht +'herein' gerufen." + +Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch +immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als +sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große, +erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch +ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon +verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei +Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!" + +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. +Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht +ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf +hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll +aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt +beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem +Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige +Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! + +"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur +so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_ +Noten spielen, die da stehen." + +"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch +nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch +nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich +weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich +auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit +zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling." + +"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie +ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber +nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton +falsch wird." + +"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?" + +"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer +sein?" + +Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in +rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte +zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem +8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude, +und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu +haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem +Musiklehrer und seiner Schülerin. + +In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt +hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, +das über einen Meter lang herunter hing. + +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? +Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, +Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine +Tastendecke für das Klavier erkannt. + +"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein +ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein +Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich +bitte dich, nimm mir das Ding da ab!" + +Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, +seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. +Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den +Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge +im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, +aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines +Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig +Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige, +die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd +hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glückliches Paar, nicht wahr?" + +Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der +Vater zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, +Cäcilie?" + +"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!" + +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und +dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die +kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich +vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es +war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte +den Regenschirm bei mir." + +"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, +"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man +sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm +trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes +Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als +mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu +Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, +dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe +hatte, mein Lachen zu unterdrücken." + +"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, +sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und +um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine +Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein +gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich +warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst +dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich +wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz +Besuch machen wollte." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter +hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie +fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit +dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird +er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte +mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und +ungeschickt." + +"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling +ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, +wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht +lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, +was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, +meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du +lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern +wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen +Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich +sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der +Lachlust." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, +Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht +gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam." + +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr +Pfäffling. + + + + +8. Kapitel +Endlich Weihnachten. + + +Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute +ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an +keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht +und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so +dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch +der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um +6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob +gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn +geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die +Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes +erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen +Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche +befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht +hätte. + +Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der +etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus +dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die +allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber +damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, +"führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, +bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau +Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie +ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir +einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," +entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder +nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken +will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem +keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist +auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen +hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns +war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend." + +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch +noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen +Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder +bekommen auch nicht viel—das können Sie sich denken bei sieben—aber +weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung +doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder +sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen +Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt +wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet +ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, +und dann sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor +Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen." + +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen +Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten." + +"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling. + +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines +heimgebracht und Lichter dazu." + +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf +den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen +hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich +denke mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, +etwas bekommen, oder nicht?" + +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein +kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder." + +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr +tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel +gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon +auch daran freuen." + +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag +gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der +Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie +haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen +getan habe." + +"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, +als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine +Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein +Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir +versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau +Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine +schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange +Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" + +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" + +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem +Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? +Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem +Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann +noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen +Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am +heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war." + +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen +Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben." + +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen +allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das +können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die +Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und +die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht +selbst wollen." + +Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; +als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen +und der Schlüssel abgezogen. + +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, +darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie +gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt +nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus +hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn +ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so." + +Da ergaben sich die Kinder. + +Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher +Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau +Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die +Mädchen. + +"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," +sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben +besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien +Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge +Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und +pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen +Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren. +"Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm +fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer +wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte +es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln +und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe +von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben +ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den +plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, +ihr Kinder?" + +"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, +wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben +darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und +mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der +Strumpf fiel herunter. + +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. + +"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher +grau und schwarz, denen schadet das nichts." + +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre +Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle +Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten +sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten +Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen! +Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen? + +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid +herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau +meine, sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang +der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz +entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe +heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr +Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat +auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das +gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. + +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein +kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den +Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel +nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam +von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch +nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. +Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling, +"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch +knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den +Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste +vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr +Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf +dabei an ein großes Stück Braten denken!" + +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr +wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar +jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann +wurde es Ernst! + +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die +kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, +wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck +da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und +oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in +andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und +Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit +Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des +Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem +nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter +Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil +ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie +nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt +wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu +gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns +schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen +unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach +diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr +wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem +Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, +und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und +Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet +und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie +nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen +vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in +der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz +und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das +Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer +Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen +und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. + +Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus +aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war +eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die +Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist +zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und +dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich +bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht +leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das +gleiche Strahlen hervor. + +Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten +Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den +Baum anzünden?" + +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich +bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen +Jubel Kraft zu sammeln." + +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich +wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein +wenig und schließe die Augen." + +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur +drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder +frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache +Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen +anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in +den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen +Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die +Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter +ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; +solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein +Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der +Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und +jubelnder wird das Kinderglück. + +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht +dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war +sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen +kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen +Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe +und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte +dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des +Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend! + +Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den +Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, +stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit +staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! +Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, +und las das Verschen: + +Fideln darfst du, kleiner Mann, +Vater will dir's zeigen. +Aber merk's und denk daran: +Immerfort zu geigen +Tut nicht gut und darf nicht sein. +Halte fest die Ordnung ein: +Eine Stund' am Tag, auch zwei, +Doch nicht mehr, es bleibt dabei. + + +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er +drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich +sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die +Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den +Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen +und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von +dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte +_reine_ Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit +glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem +Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen +kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" + +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" + +"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding +geschickt!" + +"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?" + +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben +welche." + +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!" + +Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre +neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch +gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. +"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz +außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. +"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den +Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es +wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles +gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! + +In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für +sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht +worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren +großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute +morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen +hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen. +Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen +Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während +Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern +in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs +Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das +Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? +Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie +nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der +kalten Küche zu stehen? + +Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde +zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und +der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: +"Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er +kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und +Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur +ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh +sein." + +Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen +Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im +Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: +"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten +sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht +man so gut an, daß heute Weihnachten ist." + +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie +wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis +endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch +der Ruhe bedürftig sein," sagte er. + +"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut +hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem +Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem +Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem +kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und +weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er +wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel. +Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal +herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit +festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg +kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz +entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das +freut für Walburg!" + +"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem +Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?" + +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht +kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde +es rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten +Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da +draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden." + +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, +wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz +finden." + +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten +Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit +den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg +zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist." + +Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in +ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen +kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor +der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam +geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer +getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie +hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen +gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die +breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun +wieder zu Ehren kommen! + +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste +sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat. + +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es +war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. +Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön +aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht +und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen +und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe +lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht +bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon +erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle +sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht +hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr +Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich +auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als +eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine +Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein +seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die +beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen +hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die +Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr +zu spielen. + +So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; +ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus +der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! +Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das +man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was +_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf +und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile +ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie +tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme +zu dir!" + +Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen +Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 +jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ +nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig +daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu +besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den +Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten +Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie +wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. +Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur +Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das +konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem +Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel +von des Tages Last und Hitze und davon, daß ihr Mann und sie noch immer +treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern +Last. + +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen +Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und +zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und +große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke +des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und +Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet +er sich zu euch. + +Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und +Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich +Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, +fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll +dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, +ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt +hatten, Walburg stand vor der Türe. + +"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst +mit dem letzten Zug erwartet." + +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. +"Kartoffeln zusetzen?" + +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, +wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich +bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's +nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser, +die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die +Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen. +Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe +und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte. +Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die +alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen +Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so +öde und leer in ihrem Herzen. + +Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet +neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du +tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. +Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen +Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir +geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die +Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl +recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat +er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die +Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie +sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch +auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?" + +"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir +verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns +ist's lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." +Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll +Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der +Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie +freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie +nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt +und das Essen nicht gerichtet ist!" + +Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so +traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch +Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei +uns recht heimisch fühlt." + +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton +hört sie." + +Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen +noch geigen? Wie heißt dein Vers? + +"'Eine Stund am Tag, auch zwei, +Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" + + +Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden +gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben +Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem +traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die +Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die +Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine +Verbindung mit den Mitmenschen. + + + + +9. Kapitel +Bei grimmiger Kälte. + + +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man +die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus +den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war +das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke +einschlagen, ehe man es benützen konnte. + +Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch +zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor +dem Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. +"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie +erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über +Nacht eingefroren.'" + +Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb +daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz +besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern +stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches +teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse +warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen +Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war +einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf +Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, +dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der +im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen +Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der +Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und +Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings +Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand +geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling +tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur +möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort +und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große +Reise gar nicht lohnen." + +Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch +äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie +Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah. + +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. + +"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr +Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder +groß sind und Walburg so zuverlässig ist." + +Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor +stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und +versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich +zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den +Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte +mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der +Januar bringt!" + +Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen +wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den +Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei +Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute +hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem +er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und +Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg +frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl +er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon +im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: +"Laß doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, +es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!" + +"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine +großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen +könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger +als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der +Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so +zimpferlich?" + +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er +ließ den Mantel fahren und rannte davon. + +Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den +Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten +bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von +Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den +Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde. + +So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit +wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch +auf das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und +Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, +zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne +diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut +mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die +Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie +noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch +setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" +fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das +Geständnis, daß man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp +anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein +Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen +Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht. + +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine +Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. +Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist +gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun +kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir +haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule +erzählt. Kommt, wir wollen beten: + +"Herr wie schon vor tausend Jahren +Unsre Väter eifrig waren, +Dich als Gast zu Tisch zu bitten, +So verlangt uns noch heute, +Daß Du teilest unsre Freude. +Komm, o Herr in unsre Mitte!" + + +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei +Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie +vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man +wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der +Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert +ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das +vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen +hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen +Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise +zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler +Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen +Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des +wunderbar begabten Knaben mache. + +Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß +unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares +Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule +gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer +der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude +auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb +dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine +Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum +80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur +Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem +Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. + +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer +war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu +eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit +halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, +der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier +erzählt?" fragte er Otto. + +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." + +"Hast du nichts näheres darüber gehört?" + +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich +weiß nicht mehr." + +Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. +Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald +näheres erfahren. + +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, +im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, +und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen +Winter. + +"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" +meinte Herr Pfäffling. + +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu +schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen +belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. +Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin, +indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der +Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, +vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe +käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom +Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen." + +Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. +"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn +des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist +übrigens jetzt nicht mehr hier." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich +gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der +Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein +richtiges Familienleben hinein.'" + +Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat +recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig +sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land +ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, +die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland +haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort +aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und +Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von +dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine +Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen +Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, +was wohl in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über +diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt." + +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne +standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, +daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren +schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer +Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme +Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland +bessere Zustände bringen!" + +Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er +unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen +Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über +das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die +Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. +Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber, +gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!" + +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie +auseinander. + +Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der +kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein +Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie +war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater +sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl +seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche +erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine +Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich +dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" +fragte er. + +"Nicht lange, Vater." + +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? +Sage mir das genau?" + +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: +"Aber das ist doch noch nicht lang her?" + +"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon +heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, +Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, +sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche +bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der +Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. +Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem +Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann +reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab +sich. + +Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht +verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie +sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken +Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich +und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?" + +"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton. + +"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf +die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach +seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen! + +Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen +Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie +zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme +fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im +Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet +und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das +Familienzimmer zu seiner Frau. + +"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein +fand, fragte er ungeduldig: + +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" + +"Sie ist draußen und bügelt." + +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" + +Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." +Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich +komme gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben." + +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und +in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie". + +Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau +Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in +der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen +Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso +glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete +Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die +Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" + +"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?" + +"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von +Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle +Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die +Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei +still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel +Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber +sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh +sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt +wieder ganz gut, auch in der Schule?" + +"Ja," schluchzte das Kind. + +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja +noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere +Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es +ist doch immer alles gleich bezahlt worden?" + +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß +diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet +wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim +Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen +sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's +schlimm!" + +Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr +der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling +schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich +sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die +Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist." + +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, +als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und +die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten +bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung +sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief +hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater +geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den +Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie +und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte +Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das +anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche +Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch +warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen +herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter +Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den +Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte +sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht +gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen +nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig +Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn +noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg +entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte +weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es +freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!" + +Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen +angestellt, und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs +die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte +gerne die alte Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor +nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich +schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer +wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr +hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch +nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht +anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater +stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da +machen können?" + +"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden." + +"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich. + +"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen." + +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." + +"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; +wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht +so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf +Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann +man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich +bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen. +Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld +geschickt bekommen?" + +"Ich habe keine drei Mark mehr." + +"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die +Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder +eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich +darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt +mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, +Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag +dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war. +Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler +tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke, +eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer +Vater, auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn +freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie +nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!" + +"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte +vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. +Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei +zwanzig Grad Kälte! + + + + +10. Kapitel +Ein Künstlerkonzert. + + +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt +hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende +Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers +die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine +musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte. + +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um +seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal +musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann +nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen +ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den +Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden +jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der +jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten. +Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. + +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den +großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den +beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und +warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich. + +"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, +"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu +überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch +anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!" + +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz +machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war +für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe +und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr +Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte +und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit +mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers +aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute +wieder vollauf in Anspruch genommen?" + +"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken +als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch +und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, +was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es +vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester +ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den +Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation." + +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir +sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen +habe. Was schreibt Ihr Sohn?" + +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben +finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über +seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er +ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, +wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern +schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner +Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte +ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl +Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren. + +"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre +Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das +Telephon." + +"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich +alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie +wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders +auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen +Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich +im Konzertsaal abspielt." + +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur +Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt +oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. +Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner +Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar +sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling." + +Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel +verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal +einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie +wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit +zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. +Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte +Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. +Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie +sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer +Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. + +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der +Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war +in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden +Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. +Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen +Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten +ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben +hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die +Stunden beilegen wollten. + +Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, +wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in +der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte +Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr +Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten +fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, +daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der +Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine +einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der +Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung +unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch +Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe +ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch +dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit schlechtem +Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark +beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt +hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so +gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man +auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die +Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken +können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das +Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch +bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, +soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und +warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei +man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man +nicht bitter werden!" + +"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." + +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. + +Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis +Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu +Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen +Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling +sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu +lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie +für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden." + +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer +waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, +alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das +Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch +langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den +kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter +Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen. + +Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele +Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der +Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche +Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. +"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht +in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, +wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde +in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so +verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, +ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar +muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen +und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, +sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas +Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!" + +"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und +verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das +stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also +auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte +er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte +dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal +war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang +sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in +Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und +munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes +sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine +Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie +ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn +Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, +Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch +Spielzeug dazu, aber rasch!" + +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, +und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse +bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, +sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so +zuwider sei." + +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie +waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? +Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur +Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto +erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie +kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? +Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er +kreuzfidel würde!" + +"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du +es auch zustande bringen. Und Frieder?" + +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. +Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem +niedlichen Gestältchen." + +"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu +schüchtern? Wir wollen sie fragen." + +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, +hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und +Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte +bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. +Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, +lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine +Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er +kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?" + +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann +ich schon fort." + +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch +die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen. + +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas +bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der +Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. +Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und +sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden." +Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, +hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen +Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater, +langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun +kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der +Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm +spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht +mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie +andere Kinder auch." + +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das +"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber +Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn +sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da +lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg +Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein +kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte, +aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war +erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein +und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, +die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun +laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?" + +Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in +ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem +nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte +freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt +entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte +ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte, +ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen +Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu +der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen +herein, bloß heute, weil er lustig sein will." + +"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist +Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die +Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das +Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich +mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen. + +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas +sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, +blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und +wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, +die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese +Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern +spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war, +lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die +ihn viel älter erscheinen ließen. + +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte +sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit +dir möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" + +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. + +"Was willst du tanzen?" + +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres +Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts +gewußt hatte. + +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen +zum Tanz führen. + +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen." + +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, +für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu +machen. + +"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir +einen Walzer vorpfeifen." + +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und +sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter +ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. +Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. +Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt +hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den +Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein +rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter +die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in +unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner +Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er +das Fräulein. Sie wußte es nicht. + +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist +die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." + +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das +Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und +sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand +alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen +möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. +Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der +Mutter hatten nur Tränen zur Folge. + +Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt +doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen +sich schon so lange auf das Konzert!" + +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, +sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das +Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so +langweilig, während du singst und Papa spielt." + +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht +kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich +habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele +Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er +drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht +kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch +tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief +den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint +und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so +verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen +durchmachen, heute abend." + +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand +und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden +Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden +nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. +Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte +er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den +Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal +bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl +tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten +dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt +noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." + +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. +Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! +"Ja," rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater +geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht +durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom +Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei +sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich +freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen +Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du +so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad +laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen +Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem +Kinde redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt +heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem +Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der +Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, +so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer +fragen." + +"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt +es." + +Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte +er, "woher weißt du das Zimmer?" + +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." + +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser +Konzert?" + +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich +mehr darüber freuen, als mein Vater!" + +Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei +schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden +Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. +Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem +Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer +einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu +belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen. + +Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, +schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist +schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!" + +So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr +erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die +Freitreppe vor dem Hotel. + +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." +Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und +kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber +die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des +Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine +Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter +Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so +kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen +holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im +Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei +riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge. + +"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen +bis nach Rußland." + +"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten +Woche nach Berlin reist." + +"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen." + +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah +erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das +gesagt?" + +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." + +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General +selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen +vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke." + +Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung +zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der +Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und +sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt +nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen, +dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die +Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle +auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und +Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu +rechter Zeit bekommen!" + +In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau +Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: +"Sie kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin +und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch +den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend +Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr +Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder +sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie, +singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also: +die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: +"Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die +Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling +stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte +fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den +eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, +wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt +vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den +Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte, +enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf +der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst +schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der +durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend. + +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es +diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag +herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht +überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die +Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so +pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen +hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß +für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden +verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie +gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und +sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie +du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont +wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im +Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!" + +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." + +Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet +hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die +Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die +Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling +und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau +Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem +kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu +Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter +Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu +vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit +dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der +ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen +verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und +Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. "Wenn der +Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau +Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm +allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem +Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen +bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht +lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen +Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er +hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und +unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm." + +So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem +schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters +Billet nachträglich zu verdienen. + +Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn +begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin +allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand +in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, +die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da +kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms +bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine +Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. + +"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im +Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben +hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt +hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel +für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" +"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das +Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später +kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr +Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an +ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am +Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge +die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu +Wilhelm," die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des +Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann +öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem +erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten +sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht +hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das +junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe +und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge +entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer. + +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms +hat unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte +Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" +Edmund antwortete nicht. + +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat +vorhin darnach gesehen." + +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du +stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, +nicht ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. + +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn +dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu +weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, +Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall +klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die +Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm +ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte +er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er +vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein +Beifallssturm dröhnte aus dem Saal. + +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß +noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens +hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch +manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß." + +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, +"so etwas habe ich noch gar nicht gehört." + +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es +nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem +Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl +geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer +zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" +Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt +ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm. + +Im Saal erklang der Konzertflügel. + +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an +das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, +wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir +bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich +spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie +anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So +sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist +von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre +eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine +Sache immer gut gemacht." + +"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht +auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen +Sie, Fräulein!" + +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen +lassen." + +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen +nicht müde sein vor dem Violinspiel." + +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. +Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber +ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem +Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also +_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und +sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in +der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er +Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen. + +"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," +sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr +war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch +den Türspalt, wie er seine Sache macht!" + +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie +der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in +kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem +Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen +Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung +nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben +träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte +Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser +Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die +Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich +eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu +wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. +Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte +Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, +Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen +Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter +berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren +unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, +die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein +schlichtes, freundliches "Danke!" rufen. + +In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu +gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: +die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg +glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das +Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein +schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie +war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten +Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und +von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß +trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück +bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden. + +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine +weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm +mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da +dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing +an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte +gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie +ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein +Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds +Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat +es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr +grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie +das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, +boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, +wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu +bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele. + +Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große +Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der +Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. + +"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner +Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit +Edmund reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng +in die Augen. + +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu +Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe +doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur +ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: +Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen +dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das +deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber +eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich +tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen +Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so +gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht +schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer +Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann +verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm +das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm +verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die +Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater," +fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." + +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt +der Vater. + +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte +sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des +Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er +möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von +Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die +Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die +Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater +noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. + +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die +meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen +von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel. + +Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit +erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, +die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing. + +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," +sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum +Droschkenplatz, nicht wahr?" + +Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer +vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal +zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom +Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen. + +Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des +Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine +Geigenspieler sei an den Masern erkrankt. + +Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank +darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie +manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich +auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. + +Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. + + + + +11. Kapitel +Geld- und Geigennot. + + +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte +täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß +des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden +beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische +Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte +sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder +aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr +Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit +Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach +Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle. + +Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar +zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich +handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle +geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig +jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so +werden auch sie ihn kennen gelernt haben." + +"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, +seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie +das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne +Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern +würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es +von Berlin aus geschehen werde?" + +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, +ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas +anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die +Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das +Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus +allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die +Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es +scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas +reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt +übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die +Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die +Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie +nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie +noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will +sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf, +schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht +gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang +erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, +wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und +alles ist gut." + +In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem +offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er +dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich +schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und +Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen." + +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter +Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," +sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich +ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich +auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt +doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner +Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er +hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren +müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die +ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. +Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser +Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert +Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?" + +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über +dich bringst," entgegnete Frau Pfäffling. + +"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz +all dem Leid, was daraus entstehen muß?" + +"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es +heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies +ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben +und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die +unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären +könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig." + +"Also du würdest schreiben, Cäcilie?" + +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich +würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine +Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm +mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater +begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber +sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor +der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich +verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das +kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem +Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den +russischen General ungeschrieben. + +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto +beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung +über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, +den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die +Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, +schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen +mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß +mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der +Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner +schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und +dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an +Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie +gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur +Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer +Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin +mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, +und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben! + +Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz +anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am +nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum +lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" +Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung +mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht +äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der +Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil +dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man +wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, +nicht lange vorher fragen." + +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf +er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber +die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht +werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und +ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten +Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst +sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch +wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht +herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," +sagte er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen +ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache +schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es +nicht erlauben sollen." Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto +auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben +ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen +Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun +Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den +Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der +Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre. +Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, +hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau +Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das +Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun +ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie +gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und +heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen +Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und +die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich +angeführt. + +Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann +veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast +entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über +diese Wirkung und verstummten. + +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr +auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in +die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, +sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General +übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn +zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, +was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch +so einzumischen in das, was euch nichts angeht!" + +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins +Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht +begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht +erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: +"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch +nicht so!" + +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er +sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir +schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch, +denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten +alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche +Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe +daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen! + +"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau +Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen +Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie +wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten +Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht +gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er +unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein." + +Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. +"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, +"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die +Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch +unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in +dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte +an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der +Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der +General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung +einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne +schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung +unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu +bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen." + +Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen +Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner +Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages +plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief +vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder +verschwunden. + +Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen +Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein +kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten +Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er +es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu +fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie +die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil +entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht +nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm." + +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer +Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß +es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe +zusammenzubringen. + +Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der +Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball +gegeben hat?" + +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die +sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja +bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß +er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand +die große Familie aufnehmen wollte." + +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich +keine so gesalzene Rechnung geschickt!" + +"Du verwechselst auch alle Menschen!" + +"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich." + +"Gar nicht ähnlich." + +"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?" + +"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht." + +"Doch!" + +"Nein!" + +Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens +gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld +ein mit einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr." + +Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer +Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie +sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister +schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der +geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich +aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie +wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du +hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er +endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo +die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar +nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und +spielte. "Du Böser!" rief die kleine Schwester und Tränen der +Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen +die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder +an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber +ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe +hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte +und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. +"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich +aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der +leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an +dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich +kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin." + +In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen +weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er +tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur +an!" + +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch +mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige +sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf. + +"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch +weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir +gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, +dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich +will hören, was der Vater meint." + +Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was +geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, +und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im +Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, +denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid." + +"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du +bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann +könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß +du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht +tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit +dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen +wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn +bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder +spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen +folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für +immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!" + +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie +nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen +Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so +bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!" + +Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines +gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und +dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch +seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine +hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt +kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er +hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir +gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich +nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern +zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das +Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: +"Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der +Kleine beharrte in seiner Stellung. + +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast +du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser +Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe +zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du +fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer. + +Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen +schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr +Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo +er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: +"Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf +hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm +nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den +Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen +Vater und keine Mutter mehr hat." + +Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an +sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," +sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen +ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die +Violine bringen, dann ist alles wieder gut." + +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für +Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der +zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als +ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die +ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. +"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr +Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll +es tun und das Gewissen." + +So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, +kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen +und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen +wollte er spielen, immerzu spielen. + +Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der +Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. +Drei Striche—dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder +wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie +mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er +auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz +bewegen kann. + +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er +mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den +Schwestern. + +"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr +Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, +wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick +ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile +später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein +sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden +Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen +Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch +der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. + +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der +fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling +rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, +zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, +und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen +seinen Schmerz aus. + +Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder +seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst +wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer +mit so traurigen Augen angesehen!" + +Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie +kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte +Frau Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich." + +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und +fügte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, +das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich +denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis +jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben." + +"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln +können, daß er einmal ein Musiker wird." + +Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen." + + + + +12. Kapitel +Ein Haus ohne Mutter. + + +So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau +Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer +ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag +sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei. + +Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines +Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man +Frau Pfäffling sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als +Reisekleid praktisch ist." + +"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu +sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, +trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht +reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten +Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit +gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten +Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit +herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau +Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr +Elschen mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. + +Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große +Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle +und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den +ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte. + +"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir +entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling. + +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." + +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in +der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man +Pfäffling heißt!" + +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die +Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf +sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, +Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer +so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, +wenn ihn die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich +doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen, +wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja +nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt +unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim +wärest, könnte ich gar nicht reisen." + +Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben +mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, +denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust +und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und +Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen +Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester, +die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter +gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! + +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es +schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, +sonst hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, +wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte +jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und +her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und +Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, +überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, +nahe, so nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, +stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem +Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. + +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" + +"Was denn, Kind?" + +Es wollte nicht über seine Lippen. + +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" + +"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." + +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem +Vater deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum +tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, +daß ich zu meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine +Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das +Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich +werden!" + +So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich. + +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein +Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig +wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders +schwer." + +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es +schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, +neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, +wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht +man ihm gut an. Da tut er mir oft leid." + +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die +erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und +wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am +Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm +Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm +werden nimmer regelmäßig eingehalten." + +"O doch, Mutter." + +"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?" + +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht." + +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist +aber nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm +wieder eine so schlechte Note bekäme!" + +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf +verlassen!" + +Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in +die Holzkammer. + +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, +"daran dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg +muß in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz +und Kohlen sorgen." + +Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie +möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin." + +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" + +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die +Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und +anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am +Vormittag vom Kochen fortspringen muß." + +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und +am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch +einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden +an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur +Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, +bis endlich der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen +Tatsache machte, daß Frau Pfäffling verreist war. + +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine +Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr +selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts +nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und +Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder +tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich +bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein, +daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine +wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer +Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde. + +Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann +mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. +Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen +geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch +die stillen Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei +dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau +Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren +lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine +so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben. +Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das +zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch +ein, daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto +und so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern +dem jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht +immer so friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg +wunderte sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz +leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger +Verbrauch mehr wie bisher. + +Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten +Abendstunden, wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe +gerückt und wußten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das +Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man +bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. +Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein +gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn. + +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes +Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht +ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges +Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne +Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war +Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die +Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben! + +Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach +einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden +wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu +trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu +leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege +der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die +_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit +solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift +durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam, +das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht. + +Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, +die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte +die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte +Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, +nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!" + +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." + +"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts +tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen +und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das +anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen." + +Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du +das nicht in _drei_ Wochen erreichen?" + +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" + +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich +vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang +an vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß +du mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen +Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. +Es kommt so oft etwas vor bei uns!" + +"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?" + +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber +es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme +Folgen haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er +einmal anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das +Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags +immer allein die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich +in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist, +Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann +einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!" + +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" + +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, +wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der +nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so +lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein +Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich +einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!" + +Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches +Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz +jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus. + +Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei +Wochen geeinigt. + +Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war +für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der +Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles +Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und +doch stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten +Weg hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, +überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches +anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt +man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der +konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau +Pfäffling war von denen, die hören wollten. + +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. +Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau +Pfäfflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer +fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen. +Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universität war, +hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus +der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets +Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich +einmal wieder ins Auge zu sehen. + +"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu +seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, +eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in +einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in +diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht +streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten +zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend +ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine +Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor." + +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als +du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung." + +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird +damit oft kaum fertig." + +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel +miteinander, wie ist das bei euch?" + +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. +Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur +sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können." + +"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. +Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist +das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei +Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht +fertig." + +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören +über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er +beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, +dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu +besuchen. + +An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach +dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein +besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen +wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der +andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich +versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der +jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde +überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit +ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der +Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der +Kinder am besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte +er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht +auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie +wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es +still wie vorher. + +Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie +erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die +Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, +sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst +mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene +Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und +Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der +Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. + +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr +Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: +"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen +oder dergleichen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes +gehört." + +"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die +zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der +Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der +Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in +Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren +können." + +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging +hinauf. Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam +die Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts +verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings +blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das +war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und +machte sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die +Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau +Mitteilung. + +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die +Schwestern zurück. + +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. + +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot. + +"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr +Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte +doch auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit +Tränen in den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war. + +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter +nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun +auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren +bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, +das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das +hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern +eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem +Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt +geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die +große Neujahrsrechnung. + +Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des +Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern +vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn +etwas versäumt würde. + +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei +Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so +ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und +doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide +trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse +Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das +macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure +Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe +noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die +gehört dazu." + +Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem +gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, +daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar +nichts mehr?" fragte er. + +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr +sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer." + +"Geht sie nie zum Arzt?" + +Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz +gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte. + +"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der +Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt +daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung." + +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten +sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen +sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um +sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn +euere Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein." + +Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören. + +Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum +gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie +volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war. + +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen +vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, +diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. + +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte +einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es +denn so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte +Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir +zum Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da +stellte es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den +Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt +dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und +wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er +Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen +Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich +so nahegerückt. + +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; +ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die +jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat +gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. +Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um +aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen +Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien, +bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an +Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm, +und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde. +Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den +Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte +der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, +den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das +Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus. + +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam +keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die +Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben +heraufkam. + +"Wer war da?" fragte diese. + +"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins +Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen +zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim +Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem +Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er. +Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn—ja, +wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein +seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen +sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. +Oft schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in +dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was +die Familie Pfäffling am Leben erhielt. + +Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich +eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, +keinen Pfennig fürs tägliche Brot! + +Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man +brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere +Schublade, die bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich +genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?" + +Und nun flogen Vorwürfe hin und her. + +"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den +Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja +gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie +nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein +Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!" + +"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder. + +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder +wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir +wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal +niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit +solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise +miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen +haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein +Gehalt. Wir sparen recht." + +"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe +auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die +Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel +abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt +hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort: +Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht +werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort +Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte +mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, +schon waren viele Stunden verloren! + +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie +setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede +knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die +Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, +erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang +ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit +so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an +seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte. + +Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger +Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel +betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn +aufzufinden. + +Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling +abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand +schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in +großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus +dem ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll +Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte +seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte +Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen +umgeschlagen war. + +Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich +zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker +gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso +am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, +wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm +Nachricht zukommen. + +Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter +mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht +die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war +unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich +mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme +des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß +der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise +seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der +Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen. + +Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere +mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen +letzten Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung +sein?" + +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die +Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das +Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in +Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein +hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert." + +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag +irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du +daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht +mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht +beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, +und nicht gleich erklären: ich reise nie mehr." + +Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr +fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß +sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der +Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf +Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die +weite Heimreise antrat. + +Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei +Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein +Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch +schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher +gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch +rührte sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude +auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben +zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer +kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim +reist? + +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes +doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben +können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis +Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, +aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her +gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war. + +Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als +er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof +eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in +ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen +sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen +langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto +auftauchen sah. + +Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof +begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, +"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an +den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der +Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen, +denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein." + +So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem +Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch +sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges +Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, +während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus +dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie +sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte, +der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher +Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half. + +Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches +Wiedersehen und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch +die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte +zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der +Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und +hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau +Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die +Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung +erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, +da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob! + +"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von +euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich +nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort +lautete ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa +vorgekommen ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte +glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder," +sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf +der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo +ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten +und jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. + +Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der +Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte +Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem +Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in +anderer Richtung. + +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o +Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn +zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines +Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!" + +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber +die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu +ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis +sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um +darin die Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang +und schon auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß +soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein +Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen +gebacken habe. + +Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als +sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht +vergessen können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld +war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau +Pfäffling verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie +nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein +Unglück geschehen. + +Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf +dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis +erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein +Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort +fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, +das Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr +und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der +Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: +es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment +sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie +ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem +Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den +freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht +ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß +mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr." + +Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe +sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern +angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ +ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein +Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah +begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," +rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder +nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die +Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb +sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu +viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber +Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, +dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen. + +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun +kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön +gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht." + +Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter +wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet +ist." + +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau +Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung: + +"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute +Hier vor dir stehen! +Du schenkest uns die schönste Freude, +Das Wiedersehen. +Nun gehn wir wieder eng verbunden +Durch Lust und Leid, +In guten und in bösen Stunden +Gib uns Geleit!" + + +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee +machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu +gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," +sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein +und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er +nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an +den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch +das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der +Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe +schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte +sie, "aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für +möglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das +brächte ich ja gar nicht zustande!" + +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich +gespart; gestohlen ist es, gestohlen!" + +Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die +Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien +festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung +mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf +irgend eine Weise wieder hereingebracht werden. + +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß +derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es +gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: +"Jetzt, Kinder, den Kaffee!" + + + + +13. Kapitel +Ein fremdes Element. + + +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten +Tag auch den Kindern mitgeteilt werden. + +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling. + +"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur +gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. +"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch +das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch +können uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet +einmal!" + +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne +sein," schlug Karl vor. + +"Richtig geraten. Aber wie?" + +"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," +meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die +Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in +ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre +blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden. + +"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr +Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn +ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir +wissen etwas anderes." + +"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch +mehr einbringt." + +Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich +will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: +"Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer +Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür +einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die +Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten +hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben +einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den +alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt." + +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, +aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu +und betätigten: "Ja, es wird sein!" + +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in +Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf +in großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die +Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein +kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt +ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer +ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da +hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das +Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends +kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen +in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr +Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und +wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? +Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! +Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." + +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der +Kammer erfüllt. + +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute +Erlaubnis zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der +Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf +Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. +Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern +Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie +welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für +die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr +Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders +als dieses Frau Pfäffling mitteilen. + +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein +Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann +bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er +nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte." + +Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr +Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich +sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs +Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft +den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher +'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre +jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte +er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist: +Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber +_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt +hat." + +Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den +Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling +zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur +zusammen. + +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn +nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge +geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht +plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht +heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt +entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da +fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer +und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig +behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären +wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung +setzen?" + +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." +Sie besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu +wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte +Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen. + +Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und +sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und +nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, +wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu +zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, +daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht +jede von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das +Zimmer vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen +Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten +Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die +Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und +sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt +irgend jemand das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die +Kost zu geben. Aber niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem +Mittagstisch, wie wir ihn haben." + +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine +anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann +stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat. + +Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften +sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein +gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, +meist im Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel +zurückgelegt, daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren +fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie +war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich +Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis +jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der +Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein +Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt +aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. +Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine +Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit schwerem Herzen machte ihr +Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am Mittagstisch der Familie +teilnehmen dürfe. + +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte +seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den +ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da +ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein +wird." + +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für +Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, +wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch +auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich +war zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen +angezogen fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn +originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit. +Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue +Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen +Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies +flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der +ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und +wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das +Wort "ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so +gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie +ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die +Schwestern zu sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die +Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand +bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau +Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte +doch nicht zum Ganzen. + +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume +Zeit in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. +"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu +machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann +hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit +geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die +Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden." + +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört +auch nicht genug für manche Besorgungen." + +"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," +sagte Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, +sie möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen." + +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen. + +"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," +sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?" + +"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue +voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen +überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere +Fortschritte." + +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar +keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum +lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in +die Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, +als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann +die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?" + +"Walburg kann nicht alles besorgen." + +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie +vollends ganz taub ist, muß sie doch fort." + +Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte +Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie +wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, +teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu +ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag +Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend: +"Man muß froh sein, daß man sie hat." + +Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche +Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung +im Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher +immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden. + +"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," +bemerkte Fräulein Bergmann. + +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen +Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit +vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche." + +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." + +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an +unserem Tisch." + +Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum +Nebenzimmer regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer +mit _einem_ Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling. + +"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, +das würde sich sehr fein machen." + +"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann +ich mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr +bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, +wenn es nur immer zum täglichen Brot reicht." + +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, +und ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf +vieles verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, +daß Sie aus fein gebildeter Familie stammen." + +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse +schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein +Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben +damit gar nichts zu tun." + +Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff +zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die +Türöffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, +die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht +so recht zum Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das +bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus," +sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese doch erneuert +werden." + +Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die +Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie +mißliebig an. + +"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du +solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." + +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen +Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu +unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in +ihr Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön +genug sein, so wie sie sind." + +Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und +sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten +hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller +gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller. + +"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die +Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich +Fräulein Bergmann fragend an Frau Pfäffling. + +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben +Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein +Geschäft." + +"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das +Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit." + +Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, +was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, +müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen." + +"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu +sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich +werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr." + +"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr +Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles +ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich +noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird +man sie überall gern sehen." + +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte +gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit +verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog +sich Fräulein Bergmann zurück. + +"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern +zu. + +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt +sie sich ein!" + +"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!" + +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt +und haltet gar nicht zur Mutter!" + +Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr +Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," +sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird +sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, +und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine +Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu +erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der +Welt gesehen als ich." + +Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die +beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein +Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen. + +"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man +keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf +diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht +nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem +ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren." + +Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen: + +"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger +Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine." + +"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar +nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner +veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle +selbst, daß ich unausstehlich bin." + +Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß +Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr +Kritik und Einmischung gestattete. + +Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte +sich kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles +zurück und brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach +Fräulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst +verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch +sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben. + +"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, +"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen +sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. +Aber dieses Jahr ist es so kalt." + +"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, +schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen +Familienkreis. + +Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem +Herr Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare +streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. + +"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein +feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus +vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben +Sie eigentlich?" + +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man +leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn +es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein +Gebet gedankenlos gesprochen wird." + +"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche +Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war +es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau +liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, +"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den +Inhalt nicht zu horchen." + +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend +ihre Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht +schlimm gemeint!" + +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling +begütigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch +einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in +das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses +Frauenzimmer ist die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie +im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache +der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin." + +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch +leid für sie, wie soll ich denn das machen?" + +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu +kränken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich +hinüber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" + +"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April +mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während +sie ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung +schonend begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die +Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch +vorgehen. + +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein +Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem +Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," +sagte das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten +Stellen hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen +sagen, daß ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich +heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den +vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß +ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, +bitte, lesen Sie!" + +Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele +Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit +war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt +hervorgehoben. + +Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die +Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann +wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre. + +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und +das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. +Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn +er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch +sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, +und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes +Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem +Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und +das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen +unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen +einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und +zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" + +Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, +"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie +mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur +schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen +Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine +verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt." + +"Ist sie wohl schon besetzt?" + +"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später +erfolgen." + +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" + +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich +keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?" + +"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen." + +Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, +elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. + +"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, +"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; +warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?" + +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in +Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. +Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich +unten, im Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau +Pfäffling war mit der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt, +diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am Eßtisch. + +"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein +Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in +Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern +anvertrauen möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten +Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor +meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um +den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist +ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. +Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo +wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr +Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein +bei uns—" + +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies +wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen +war." + +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie +mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, +unseren Gewohnheiten?" + +Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht +aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig +spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur +_eines_." + +"Und zwar?" + +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie +jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." + +Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. + +"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben +Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter +Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen +Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck +stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig +dabei." + +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich +alle Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. +Ich werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur +zu solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken +darüber—und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf. + +Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer. + +Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an +Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. + +"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage +ihn _gern_ fort." + +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein +Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert +und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie +nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand +unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die +würde sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern +finden. + +Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit +zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, +als Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die +Portiere abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die +Türe kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen +Stoff gut verwenden!" + +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten +lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch +das offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die +nach den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell +wieder herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt +selbst herauf!" + +"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den +schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch +schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." +Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell +rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich +schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts +gesehen und eilte davon. + +"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr +Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb +unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten +können bis morgen." + +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald +sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann +kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling +kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," +berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch +einmal ein schönes Tischgebet schicken!'" + +Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, +"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu +gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders +frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken! + + + + +14. Kapitel +Wir nehmen Abschied. + + +Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, +und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der +Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen +lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts +mit sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, +innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den +seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten +Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen +waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. + +Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt +worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, +auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem +einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der +eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder +höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des +Elternhauses entfremdet würde. + +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während +desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen +zeigen. + +In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. +Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht +besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, +schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht +Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich +gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als +die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der +andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis +hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon +manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater +noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als +er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen +sah, wußte er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine +Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und +war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht, +nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast +du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. + +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind +wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so +vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, +aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte +sonst gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal +in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar +keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten +sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, +im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. +Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder +vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die +Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust +sämtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten. + +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie +Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die +geheimnisvollen Ziffern zu deuten. + +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen +Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a +plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen +Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es +wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie +sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag +Mathematikstunden!" + +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten +sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug +gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte. + +Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder +in Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm +wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine +mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein +gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe, +die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die +brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht +dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob +sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater +hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der +kleine Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf +an. + +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir +nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes +Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete +er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben." + +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören +kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht, +Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst +du nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte +nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde +geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie +nach Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als +schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und +die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf +den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter +unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet +hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und +sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor +den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich +schämen!" + +"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim +Geigen nicht." + +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann +mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir +Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage +es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige +geben." + +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank +deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit +zärtlichem Ton: "Da innen ist sie!" + +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen +Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; +Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange +plaudern mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt." + +Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei +plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur +Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte +solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die +Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß +Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen, +blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er +leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der +Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. + +"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner +Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." + +"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht +wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute +Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das +gibt zwei süße Brautfräulein!" + +"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die +Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner +Frau sprechen."— + +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. +Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und +zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren +des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit +Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die +Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg +brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine +mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden, +Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der +Gast ankommen. + +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," +sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, +Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder +in der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel +beglückender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben. + +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm +alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber +dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich +verteilen und nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein +Gedränge gäbe. + +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und +sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei +Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, +fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur +nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er +eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen +besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden +sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar +den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen +doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist +nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe +verschwanden vom Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe +hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief Marie, "geht an der +Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!" + +Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die +Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, +in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten +sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die +einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich. + +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen +den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den +Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen +Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der +Mutter. + +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." + +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. +"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?" + +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine +stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die +ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr +habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen +Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, +stumme Dienerin? Wie schade um das Mädchen!" + +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, +"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig +besser werden." + +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal +ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel +gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du +nicht, welches ich meine?" + +Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es: + +In größerem Kreise stehen wir heute +Am Gutes verheißenden festlichen Tisch. +Aber die richtige fröhliche Stimmung +Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben. +Nahe dich freundlich jedem von uns. + + +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine +Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich +alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, +"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, +bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." +Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit +Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der +Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei +Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig +verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm, +der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen, +sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam. + +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch +nicht immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger +aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner +Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch +weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?" +fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen, +Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten +sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling +setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. +"Es ist rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so +selbstverständlich zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne +Widerspruch das Spiel aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen +das beigebracht?" + +"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die +Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig +werden, so helfen sie mit." + +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und +ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger +hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie +ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und +widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt +entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in +Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so +leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister. +Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in +ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." + +Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was +kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung +des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer +Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht +hören sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich +nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich +behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am +Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie +vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand +dicht zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die +Möglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. +Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel +wählen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die +Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der +Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er _mich_ mitnehmen." Das war die +Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für ihn gab es da nichts +Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die fremde Welt. +Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten +ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor +die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein +gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen +sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die +angsterfüllt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle +bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der +aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!" + +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit +Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah +hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, +"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen +schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!" + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen." + +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue +Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im +Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich +nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest +herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir +doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann +nirgends besser gedeihen als daheim!" + +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind +oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" + +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch +nicht. Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus +aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch +Herzenssache ist." + +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte +Frau Pfäffling. + +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von +Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen +Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er +neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei +meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch +die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren +einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen +lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern." + +Es blieb bei dieser Verabredung. + +Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war +von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten +plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten +herauf. + +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr +auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von +euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für +ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich +tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut +habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr +lacht? Es ist mein Ernst." + +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja +wissen. + +Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du +denn mitgenommen?" fragte sie. + +"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und +deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt! + +Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie +stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es +wieder für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald +umsehen mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem +Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder +schließen, hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts +besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang. + +Aber jetzt? + +Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie +wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da +stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: + +"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht +fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las +es selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem +gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer +Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine +Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu +warten! + +Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern +herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie +die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und +immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!" + +Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern +widerstrahlte. + +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er +mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war. + +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch +sagen!" + +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem +Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. + +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling. + +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" + +Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst +du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten +darin aufhören, ich habe es probiert." + +"Wie hast du das probiert, Frieder?" + +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den +Pfannenkuchen. Die andern wissen es." + +"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine +Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling +schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, +"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies +Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine +Violine, kleiner Direktorssohn!" + +Ja, das war ein seliger Tag! + +Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon +die Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, +so fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau +selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: +"Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhöhen." + +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder +allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die +fleißigen Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" + +Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch +Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen +zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang +herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann +übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim: + +"Drum rufen wir mit frohem Sinn: +Es lebe die Direktorin!" + + +Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe +im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte +er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus +und befestigte an der Haustüre die Aufschrift: + +_Wohnung zu vermieten_. + + +Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf +die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb +mir die Familie Pfäffling war!" + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 *** diff --git a/10917-h/10917-h.htm b/10917-h/10917-h.htm new file mode 100644 index 0000000..ef09322 --- /dev/null +++ b/10917-h/10917-h.htm @@ -0,0 +1,9185 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" +"http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> +<head> +<meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> +<meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> +<title>The Project Gutenberg eBook of Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper</title> + +<style type="text/css"> + +body { margin-left: 20%; + margin-right: 20%; + text-align: justify; } + +h1, h2, h3, h4, h5 {text-align: center; font-style: normal; font-weight: +normal; line-height: 1.5; margin-top: .5em; margin-bottom: .5em;} + +h1 {font-size: 300%; + margin-top: 0.6em; + margin-bottom: 0.6em; + letter-spacing: 0.12em; + word-spacing: 0.2em; + text-indent: 0em;} +h2 {font-size: 150%; margin-top: 2em; margin-bottom: 1em;} +h3 {font-size: 130%; margin-top: 1em;} +h4 {font-size: 120%;} +h5 {font-size: 110%;} + +.no-break {page-break-before: avoid;} /* for epubs */ + +div.chapter {page-break-before: always; margin-top: 4em;} + +hr {width: 80%; margin-top: 2em; margin-bottom: 2em;} + +p {text-indent: 1em; + margin-top: 0.25em; + margin-bottom: 0.25em; } + +p.poem {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + font-size: 90%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.letter {text-indent: 0%; + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +p.center {text-align: center; + text-indent: 0em; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; } + +a:link {color:blue; text-decoration:none} +a:visited {color:blue; text-decoration:none} +a:hover {color:red} + +</style> + +</head> + +<body> +<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***</div> + +<h1>Die Familie Pfäffling</h1> + +<h3>Eine deutsche Wintergeschichte</h3> + +<h2 class="no-break">von Agnes Sapper</h2> + +<p class="center"> +1909 +</p> + +<hr /> + +<p class="center"> +Meiner lieben Mutter +</p> + +<p class="center"> +zum Eintritt in das 80. Lebensjahr. +</p> + +<p> +Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in +diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns +vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im +großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter +dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren +verstanden, was ihnen versagt war. +</p> + +<p> +Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an +Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und +Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist +das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist +aus einer entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit. +</p> + +<p> +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte möchte ich +in diesem Buch der deutschen Familie vorführen. +</p> + +<p class="letter"> +Herbst 1906. +</p> + +<p class="letter"> +Die Verfasserin. +</p> + +<hr /> + +<h2>Inhalt</h2> + +<table summary="" style=""> + +<tr> +<td> <a href="#chap01">1 Wir schließen Bekanntschaft</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap02">2 Herr Direktor</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap03">3 Der Leonidenschwarm</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap04">4 Adventszeit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap05">5 Schnee am unrechten Platz</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap06">6 Am kürzesten Tag</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap07">7 Immer noch nicht Weihnachten</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap08">8 Endlich Weihnachten</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap09">9 Bei grimmiger Kälte</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap10">10 Ein Künstlerkonzert</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap11">11 Geld- und Geigennot</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap12">12 Ein Haus ohne Mutter</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap13">13 Ein fremdes Element</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap14">14 Wir nehmen Abschied</a></td> +</tr> + +</table> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap01"></a>1. Kapitel<br/> +Wir schließen Bekanntschaft.</h2> + +<p> +Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit +hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die +äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen +den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von +der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem +Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie +in Miete wohnt. +</p> + +<p> +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für +Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen +und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, +manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf +den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist +sicher kein anderer als Frieder Pfäffling. +</p> + +<p> +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und +niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien, +wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der +noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten +den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. +Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und +Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die +Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte +Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die +Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am +schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in +Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern. +</p> + +<p> +Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder +eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und +Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der +Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was +war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht +hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie +ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich +zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken +versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen +Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, +fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der +Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte +sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen. +Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den +glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten +und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme +allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging +weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein +kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer +mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, +war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die +Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte +sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und +dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen! +</p> + +<p> +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen, +flink, Essig holen!" +</p> + +<p> +Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar +nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten +Kaufmann. +</p> + +<p> +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es +waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine +freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des +Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter +gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie +die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die +Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach +einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen +herunterpoltern," sagte der Hausherr. +</p> + +<p> +"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll, +aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein +Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber +gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen." +</p> + +<p> +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der +Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so +eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere +Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu +kündigen brächtest du doch nicht übers Herz." +</p> + +<p> +"Nein, nie! Aber du auch nicht." +</p> + +<p> +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden +bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und +sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie +blieben doch abgetreten. +</p> + +<p> +Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte +Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von +weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf +tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die +elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen +Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist +schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen +und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei +Großen, jetzt muß ich entgegen laufen." +</p> + +<p> +Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich +ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief: +"Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die +Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der +Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. +Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war +ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten +Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. +</p> + +<p> +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein +wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht +ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch +keine Spur, wer hat das wohl getan?" +</p> + +<p> +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die +Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab +gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in <i>einem</i> +Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf +die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die +Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, +der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung +bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das +erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam +und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto, +der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur +Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der +Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete +nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der +Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," +sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl +am öftesten." +</p> + +<p> +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem +er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so +wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und +indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den +guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen? +</p> + +<p> +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins +Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" +</p> + +<p> +Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und +hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten +war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so +gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das +Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken +und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet +sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal +den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich +darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du +gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." +</p> + +<p> +Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das +Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon, +es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters. +</p> + +<p> +"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben." +</p> + +<p> +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich +nimmer mitbringen." +</p> + +<p> +"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand." +</p> + +<p> +"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben." +</p> + +<p> +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." +</p> + +<p> +"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend." +</p> + +<p> +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten +die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler, +hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich; +Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche +Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen +konnten. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er +hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort +wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte +nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte +wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich +glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht +anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher +sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun +wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt +reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade +seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und +rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade. +Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das +Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben," +bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen. +Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?" +</p> + +<p> +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und +waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb +kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade. +</p> + +<p> +Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder +auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das +Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen. +</p> + +<p> +"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste +Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die +besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier; +von der Musikschule allein könnten wir nicht leben." +</p> + +<p> +"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich +klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im +Herzen bewegte. +</p> + +<p> +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte +Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden +kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," +sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief +dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die +Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der +sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, +sagte genug. +</p> + +<p> +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist +wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe +heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen—streckte der Vater ihm +schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den +Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber +vergißt!" +</p> + +<p> +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon +fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine +Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei, +während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell, +schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß +davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief +kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur +gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße +hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." +Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu erraten, +was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er +um die Ecke der Frühlingsstraße bog. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen +Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den +Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat +wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht +benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es +nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine +Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, +ich hätte auch nur <i>einen</i> Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber +daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das +ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun +wurde die Harmonika eingeschlossen. +</p> + +<p> +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter +heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was +vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte. +Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die +Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber +Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren +oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie +alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch +an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er +sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. +Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater +war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die +weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging +ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht +auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, +denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter +Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, +sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen +müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich +aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot +und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der +große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, +der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er +zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles +durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den +Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner +und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der +Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, +du bekommst deine Harmonika wieder, aber—" +</p> + +<p> +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in +diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig: +"Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln +gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die +der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in +freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame +mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie +nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. +</p> + +<p> +"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else +fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören +sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir +unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns +bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und +<i>wieviel</i> tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches +Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde +ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man +gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an +als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett +voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg +war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen +guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem +Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast +Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei +kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie +nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen +fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand +wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem +Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge +wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie +nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, +und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte +Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, +"wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal +reich," vollendete Karl. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang +des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin +angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17 +Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes +Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und +kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, +sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und +zählte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die +Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl +sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. +Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und +reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster, +sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die +Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als +ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" +fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie +schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren, +er lautete: <i>Frau Privatiere Vernagelding</i>. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap02"></a>2. Kapitel<br/> +Herr Direktor?</h2> + +<p> +November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? Ich +glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den +Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu +etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit. +</p> + +<p> +Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter +der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der +eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte +deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für +den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von +Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde +auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb +oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber +nicht immer gelang. +</p> + +<p> +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein +Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört +ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin +stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten sich zu helfen. Sie +lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht +zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich +aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene +Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, +einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand +eine Ganglampe. Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den +langen Gang hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling +seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die +Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde +die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und +manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und +begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's, +wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die Schüler im +Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum +Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es +nicht bemerkt hatte. +</p> + +<p> +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte +Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel. +Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde +war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: "das ist +doch nicht e, wie heißt denn diese Note?" +</p> + +<p> +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an +ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner +Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie +diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand +in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, +aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch +einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr +Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht +machen?" +</p> + +<p> +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen +Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern +mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von +Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das Lachen verging und sie so +schnell wie möglich durch die Treppentüre verschwand. Das Arbeiten im eigenen +Zimmer mußte also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch +nicht davon lassen. +</p> + +<p> +So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine +mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule, +machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte +Zeugnisse nach Hause. +</p> + +<p> +An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer trat +und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber, +aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr +leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm über den Gang, +dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer, +wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er +ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden +Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: +"Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus +Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er +wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, +Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren +aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen +einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt +mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau +Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen +Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!" +</p> + +<p> +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und +besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und +sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: "Walburg hat das +Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!" +</p> + +<p> +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, folgte +Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend +oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte +sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den +Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten. +</p> + +<p> +Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung +hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch +hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlaß nun kündigte +er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an. +Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder +abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein +etwas verwöhnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht +viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz +in den Hintergrund treten." +</p> + +<p> +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht," +sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder können ja +irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen +Teetisch." +</p> + +<p> +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem +Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten +Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen: +"Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der +Kinderfeind kommt!" +</p> + +<p> +Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis +der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie +wollten sich unten im Hof aufhalten. +</p> + +<p> +Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der +Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die +ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus. +Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden +Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim +ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die +Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. +Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, +ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!" +</p> + +<p> +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich. +</p> + +<p> +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein +Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab." +</p> + +<p> +Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht recht, +ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die +waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu +der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen +nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen. +Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich +wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den +Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle +eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er +sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von +seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der +den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren +neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune +machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling +des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei +ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und +Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den +Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl. +</p> + +<p> +Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den +Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes +Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der +eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die +Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen war, so kam er doch das +sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der +Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische +Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück +kommandiert wurde, mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. +Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich +darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über +die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie +wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, +zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder +vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter fielen und +kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er +würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein +Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, daß er +immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er mußte +mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig +bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen <i>einen</i> +ungeschickten Rekruten! +</p> + +<p> +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die +Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei +der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie erkundigen sollten, +wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe +und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den +Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser +vor. +</p> + +<p> +"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hört +man uns nicht." +</p> + +<p> +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort +fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten, +von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle +sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie +waren naß und durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm +wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich +nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine +rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus +dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach. +Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil +Otto und Wilhelm zu Boden fielen. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen +Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins +Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich +balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun +erst für den Kinder_feind_! +</p> + +<p> +Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten +Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle +Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück, +grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören, +deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren +Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich +wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden +gegenüber. +</p> + +<p> +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn +geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer +und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen +bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei +seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte +es nicht wissen. +</p> + +<p> +Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er +über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das +friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder +ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu +erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen +allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen +fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo +er hin gehört?" +</p> + +<p> +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder +wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine +Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in +stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein +künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so +größer." +</p> + +<p> +Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht +gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre +Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem +fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im +Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort +zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht". +</p> + +<p> +Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch +ungefähr denselben Gedanken. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit meiner +Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen. +Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah +wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein sind, +aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe! +Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, daß er +stört. +</p> + +<p> +Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt +und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über +Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. +Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich +fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl +angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und +sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." +</p> + +<p> +"Gute Nacht, Karl." +</p> + +<p> +Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr +Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die Mutter. "Woran +sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen." +</p> + +<p> +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd. +</p> + +<p> +"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen +Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen +Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf +deine Uhr gesehen hast, Vater." +</p> + +<p> +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß du Takt +hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann +wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich +auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, +setze dich noch einmal zu uns." +</p> + +<p> +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein Freund zu +Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine +Eltern gegenwärtig freudig bewegte. +</p> + +<p> +Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da +besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen +der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine Lockung noch Drohung stark +genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen. +</p> + +<p> +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um +sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die +neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer, +jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun mußte sich's +zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die +besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr +Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, +wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er +sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen +Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden! +</p> + +<p> +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund +Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine +Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus <i>einem</i> Munde lautete +das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und +einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er +selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt; +das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre +warten! +</p> + +<p> +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am +Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen +Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine +Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: "Zu was brauchst <i>du</i> so +etwas?" +</p> + +<p> +"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als +sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weißt du, sie +hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen." +</p> + +<p> +Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich +nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu +telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose +reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse +Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das +alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im +November! +</p> + +<p> +Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem +Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante +Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hörten +nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen. +</p> + +<p> +Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid. +Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr +darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde. +</p> + +<p> +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr +Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie +gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der +Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer +Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen +Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren, +brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war +ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der +letzten Stunde der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu +gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch +ein paar Jahre warten wolle! +</p> + +<p> +Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen +weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er dirigieren +wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach. +</p> + +<p> +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie +starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die +Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil +sie gar nichts von dem allen verstand! +</p> + +<p> +Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre viel +freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht +hätten, und das mit dem Vater erst nachher." +</p> + +<p> +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so—ich +will gar nicht sagen wie, das <i>kann</i> man überhaupt gar nicht sagen, dafür +gibt es keinen Ausdruck!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen +sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so +sehr ferne gerückt!" +</p> + +<p> +"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling, +"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und +ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor +bin ich <i>gewesen</i>." +</p> + +<p> +Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das +Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. +"Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da +stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter +wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen +Grund, froh zu sein, daß wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut +wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen." +</p> + +<p> +"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den schönen +Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. +"Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der +ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen +das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten +dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß +ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. +</p> + +<p> +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den +Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit +hinaus, die Blätter fallen ab." +</p> + +<p> +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau, +denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches +Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese Enttäuschung gemeinsam +durchgekämpft werden. +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und +reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend war ich so +zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte +ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den +Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht: +</p> + +<p class="poem"> +"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/> +Es lebe die Direktorin!' +</p> + +<p> +"Nun muß es heißen: +</p> + +<p class="poem"> +"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn<br/> +Du wirst niemals Direktorin.'" +</p> + +<p> +"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß +ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." +</p> + +<p> +"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, "ich +brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen." +</p> + +<p> +Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den +beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt +waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft +grau wie der heutige Novemberhimmel. +</p> + +<p> +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine +Kinderstimme: "Dürfen wir herein?" +</p> + +<p> +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe +erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann +Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das +alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht +recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, +Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast +nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du +darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter +der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht +zanken," so war also die Überraschung gut aufgenommen worden. +</p> + +<p> +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er +sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich +gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner +festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch schon den Kindern zuliebe +tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch +die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue +Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser +Musiklehrer zu seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern: +</p> + +<p class="poem"> +"'Direktor her, Direktor hin,<br/> +Wir haben dennoch frohen Sinn.'" +</p> + +<p> +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau +Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding sein?" +</p> + +<p> +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte +ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt +vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie +unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch +auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein +Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre +niedlichen Löckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig +zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier +setzte und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit +mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war +gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa." +</p> + +<p> +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas +nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den +Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f +nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber +Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr +Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den +morgigen Ball, was sagen Sie dazu, daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal +in Meergrün. Ist das nicht süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja +süß!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu +plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim +für heute." +</p> + +<p> +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl +sich mit dankbarem Lächeln und Knix. +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß Fräulein +Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr +Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber +nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe. +</p> + +<p> +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte Frau +Pfäffling besorgt. +</p> + +<p> +Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten Stunde +berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. Er gönnt doch +auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm gelegentlich ein +Präsent machen, Agathe." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap03"></a>3. Kapitel<br/> +Der Leonidenschwarm.</h2> + +<p> +Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling +und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und +Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in +der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die +Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten +alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein +fertig werden konnte. +</p> + +<p> +Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in +der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber +heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem +Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch +den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie +sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit +kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, +und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders +vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in +verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur +daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er +war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine +leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden +spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das +Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen +früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so +weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst +probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der +Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele +Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die +Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule." +</p> + +<p> +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" +</p> + +<p> +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz +erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen, +wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder +machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über +sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich +dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine +alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander +entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es +unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, +während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern +von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er +Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem +Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden +steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen +eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der +Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen +eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor +mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze +Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich +der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so +hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem +Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer +und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir +zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es +sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir +aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. +Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim +und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen +hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. +November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. +In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach +Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht, +weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich +wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis." +</p> + +<p> +Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit +<i>einem</i> Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen! +Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken +aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu +bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts +Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden +eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen: +"Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die +Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. +Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die +Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich +erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht +gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so +zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten +könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch +gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder +versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte +die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte +wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft +ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine +halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch +zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch +den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am +Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne +sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 +Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen +Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel +immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und +als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas +zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar +ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben. +</p> + +<p> +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das +ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem +Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust +zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie +ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan +schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte +sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" +wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder +zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, +die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel +angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne +Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im +Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's +lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter +den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen +gelungen. +</p> + +<p> +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehört. Sie +wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefühl: +Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte, +vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schließenden Haustüre +und dann ein Flüstern außerhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," +sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es +war ihr unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche +Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch entschlossen ging +sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre vor. Dann legte sie sich +beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf +diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es +jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln. +</p> + +<p> +Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht +und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit +wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen +Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. "Wenn auch weiter gar +nichts zu sehen wäre," sagte Karl, "so würde mich's doch nicht reuen, daß ich +aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar +nicht glaube, daß einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die +stehen da droben alle so fest!" +</p> + +<p> +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein +heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war +dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen, +wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das +ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine +Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach +wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und +flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit +vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es +war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf +immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam +das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen +ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne +Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze +Herrlichkeit. +</p> + +<p> +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich +wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern. +"Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind +davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal, +daß es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu +schlüpfen, mußte köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der +Stockfinsternis dem Haus zu. +</p> + +<p> +"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er." +</p> + +<p> +"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da draußen +bleiben in der Kälte!" +</p> + +<p> +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die +Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen +verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte Karl, drehte den +Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte und drückte gegen die +Türe, aber die gab nicht nach. +</p> + +<p> +"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. +</p> + +<p> +"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht +nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in Ordnung, was hält +die Türe zu?" +</p> + +<p> +In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas +vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den Riegel +vorgeschoben." +</p> + +<p> +"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan? +Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der +Vater, weil wir nichts gesagt haben!" +</p> + +<p> +"Aber er hat es doch erlaubt!" +</p> + +<p> +"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" +</p> + +<p> +"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen." +</p> + +<p> +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, wer +hätte es sonst tun sollen?" +</p> + +<p> +Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln dürfen +wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen +Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen." +</p> + +<p> +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten +sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster +gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so unbequem und wenn es nur +vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick +liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt +ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, +in drei Jahren muß ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das +Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das +Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was +war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte und +weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und +klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner +unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als +Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden +sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen +können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder +munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen +lag, und nun galt es so laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so +leise, daß Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, +Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, +als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute +wachten auf. +</p> + +<p> +Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun möchte man +wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte +das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder erschraken, als sie des +Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr +starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß +das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt +stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und +sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der +Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich, +daß die Schwestern so fest schliefen. +</p> + +<p> +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte die +Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen sein in +der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise +öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen +Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, näherten sich dem +Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." +Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen +hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, +aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. +</p> + +<p> +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?" +</p> + +<p> +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll +und schloß das Fenster. +</p> + +<p> +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist +denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die +Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?" +</p> + +<p> +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau, +"ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr +seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann +hört ja alles auf. Für solche Mietsleute bedanke ich mich!" +</p> + +<p> +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den +Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen +nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick, +daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie +das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt +wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den <i>einen</i> Satz: "Sagt +eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt." +</p> + +<p> +Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es den drei +Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie +ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der Meinung, der eigene Vater +habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr Fortgehen schon so schlimm +aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn er erfuhr, was daraus entstanden +war! Und wie deutlich erinnerten sie sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo +der Vater von einem Haus zum andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen +war, weswegen? Wegen der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung +herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück! +</p> + +<p> +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich ein +wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen war. Um so +schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er +am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. Er fand nur einen kurzen, +unruhigen Schlaf. +</p> + +<p> +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine Ahnung. +Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem Bett kamen, +bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, als die Schwestern +durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön heute nacht?" Als er aber +gern erfahren hätte, von was die Rede sei, bekam er ungeduldige Antwort: "Sei +nur still, du wirst noch genug davon hören." Sie waren sonst alle flinker als +Frieder, heute aber kam dieser zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit +den Schwestern beim Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die +Brüder in der Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu +kommen. Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt +werden, kommt!" +</p> + +<p> +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. "Nun," +fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr hat sich der +Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber der Meinung, ihr +würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?" +</p> + +<p> +Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß sie +zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich Böses. +"Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht gut? Oder habt +ihr den Hausschlüssel verloren?" +</p> + +<p> +"Das nicht." +</p> + +<p> +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und sagte: +"Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir hinunter gegangen, +ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken gewesen—wie schön es da war, sage +ich später. Um halb drei Uhr etwa wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe +von innen zugeriegelt." +</p> + +<p> +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus einem +Mund. +</p> + +<p> +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf den +Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannens +Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hörte die Hausfrau +und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkämen und daß +wir nicht hereinkönnten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns +herein." Karl hielt inne. +</p> + +<p> +"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. "Hättet ihr +mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich würde euch vorher +hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl +ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch +recht entschuldigt?" +</p> + +<p> +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr +Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht alles +gesagt." +</p> + +<p> +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme +Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. Januar sei +gekündigt." +</p> + +<p> +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch aufgewacht!" +Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu glauben. "Es ist doch gar +nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst du das, Cäcilie? Kann das +wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir +das? Mich dürfte man zehnmal wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. +War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?" +</p> + +<p> +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon +vorher ausgedacht hätte." +</p> + +<p> +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist +unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne rufen! Der +Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: "Es ist +gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben, +sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen, +sieh, wie sie aussehen." +</p> + +<p> +"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, frühstückt!" +</p> + +<p> +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig waren, +griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen +noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den +Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte er, daß es so sein +müsse. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so daß +es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: "O +Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum täglichen Gang nach +der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern +Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar +keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete +ab, bis alle Glieder der Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er +das Haus verließ. +</p> + +<p> +So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen, +die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge, +die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und +nach der eben erlebten Enttäuschung durch die Direktorsstelle. Und es kränkte +sie, daß ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben +sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es +erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, +ganz anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau +Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte +so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten +christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie stimmte dazu die +Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschließen und dann noch zu +kündigen, und das alles bloß wegen einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich +das erklären lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr <i>allein</i> wollte sie +sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet +sich bald ein Weg. +</p> + +<p> +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benützten. Das +war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Wäschetrocknen und die +Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem +kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch sie +hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören. +</p> + +<p> +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes miteinander +herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und sie waren der +guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer miteinander verständigen +würden. +</p> + +<p> +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht gestern +Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen +hat?" +</p> + +<p> +"Ja, du warst ja dabei." +</p> + +<p> +"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum erstenmal +gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte Frau Hartwig gar +nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie +wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen +die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein +eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu tun, was recht war. +</p> + +<p> +Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er ließ +sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und +wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hießen. Das +wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen, +aus dem Sternbild des Löwen ausgingen. +</p> + +<p> +Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der Hausherr sie +wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf +seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner früheren +Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe +den Leonidenschwarm für einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr +euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich +werde euch doch nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind +nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!" +</p> + +<p> +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus. +</p> + +<p> +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen sie an +der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat +Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," sagte sie und gab jedem +einen Apfel. +</p> + +<p> +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine +Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz +nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden +deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter." Um +recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor +das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor +die Füße der erschrockenen Hausfrau. +</p> + +<p> +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's +meinen, um so ärger poltert's." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap04"></a>4. Kapitel<br/> +Adventszeit.</h2> + +<p> +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne Blättchen, das +allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen Pfäfflinge standen alle +in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im +Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am +Frühstückstisch, sahen auf. "Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die +vier Brüder vom Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht +erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es +miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und +zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste +Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur +bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie +soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner +Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach +Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen +Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte +etwas anderes als die Melodie. +</p> + +<p> +Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu +richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den +Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den +Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum +Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden +verabschieden wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß +alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll +dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich. +</p> + +<p> +"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der Kinderchor. +</p> + +<p> +"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein. +</p> + +<p> +"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben. +</p> + +<p> +"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, hole sie +schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die ganze Familie im +Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in +ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete Andacht". +</p> + +<p> +Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe herrschte in +der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die +Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben ließen aber, ihrem Versprechen +gemäß, die ganze Breite der Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und +Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. +Da konnte er nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester +zu. +</p> + +<p> +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn +im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte +die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das dauert noch lange, lange, davon +reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig." So hätte sie +auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte +Advent, Weihnachten war über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog +Frau Pfäffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, +wie schön der Christbaum war?" +</p> + +<p> +Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie +nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen +vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die +Freude erhöhte. +</p> + +<p> +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten flüsternd, +was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte kein Geld kosten, +denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie +ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu +kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu +bescheren, das ist eine Kunst!" Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die +Beratung sehr in die Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang +heute immer der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte +ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, wo +Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da sie sich +in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm +den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam +die Adventsstimmung bis in die Küche. +</p> + +<p> +Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder wollte sie +auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen, +er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral +vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie +zeigen oder vordrängen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich +hören zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an +ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in +der Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße. +</p> + +<p> +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, +bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der großen +Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und die Schüler +sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so. +</p> + +<p> +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein +paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht." +Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem großen +Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die Kameraden von allen Seiten: "Spiel +doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder +seinen Adventschoral, vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und +sagte, nachdem er fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." +</p> + +<p> +Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten und wie +der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du das bei deinem +Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte Frieder, "Harmonika muß man +nicht lernen, das geht von selbst." +</p> + +<p> +"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen nicht. +Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest du das auch?" +"O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." "Du wirst dich wundern, +wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze." +</p> + +<p> +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte +spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die +wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von +Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riß sie dem andern mit +Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie geht ja gar nicht, ich +glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah, +wurde er blaß und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden +sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten. +</p> + +<p> +"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde +zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick +von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich +an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wußte es ja schon vorher, +daß ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken. +</p> + +<p> +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er +trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause, +rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten +Ausruf: "Sie ist tot!" +</p> + +<p> +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser. +Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum +Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an +seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen +Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit +ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half +kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht eine +neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde. +</p> + +<p> +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. +</p> + +<p> +Es war wieder Sonntag, der <i>zweite</i> Advent, und wieder standen die Kinder +beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern. +Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er +konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still +zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun +mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf den Balken, da kann man sich +alles ausdenken, aber da oben nicht." +</p> + +<p> +"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen Seiten. Er +war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit +hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika +aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große +Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch +gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten +auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der +Arbeit. +</p> + +<p> +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn, +und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun +seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel +mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf +einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie +es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und +Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir +zwei können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen +wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, +Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten +Sack voll." +</p> + +<p> +Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand +ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich zeichne ich +ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist." +</p> + +<p> +"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin +vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt. "Frieder," sagte +Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine Harmonika nimmer hast, aber +mir bist du lieber ohne sie." Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer +das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum +erstenmal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika. +</p> + +<p> +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele +Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest- +und Ferienzeit wollte verdient sein. +</p> + +<p> +Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in +seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich +sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn +von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern +ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es erfahren, wenn hohe +Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten +erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß sich's die andern zur Ehre +rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen +ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine +Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte +gelegentlich von oben herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich +die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen." +</p> + +<p> +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück +Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße +entgegengesetzt lag. +</p> + +<p> +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem, +schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines +junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester +Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem +Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der +griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine +Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres +zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich +einige Stellen vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir +wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." +</p> + +<p> +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. "Was tust +du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" sagte Otto +ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann +dich gar nicht begreifen, daß du das magst." +</p> + +<p> +"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und +das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum +Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs, +offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf +Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange +zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben +ihr Geld glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in +Deutschland ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist +man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie +möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen +er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt +natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: 'Rudolf, mach +deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne +feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn +Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.' +</p> + +<p> +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen +Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir, +du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, +als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu +reden oder nicht? +</p> + +<p> +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat +ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren +gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu laufen hatte, bis +ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie +haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's +um Musikunterricht handeln." +</p> + +<p> +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling hört, so +klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den Musikunterricht geben?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Weiß ich nicht." +</p> + +<p> +"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen." +</p> + +<p> +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche Herrschaften muß +man immer das feinste wählen." +</p> + +<p> +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." +</p> + +<p> +"Wohl, wohl, aber so ein <i>Titel</i> fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hören sie gern." +</p> + +<p> +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor +nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon +seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren für ihn. Nur ist es noch +nichts geworden, weil erst gebaut werden muß." +</p> + +<p> +"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend, +"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht +bei den Professoren." +</p> + +<p> +"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du mit +den Russen sprechen." +</p> + +<p> +"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen +Begriff von Umgangsformen." +</p> + +<p> +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, aber wenn +<i>du das</i> nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, was du +kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein +Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel +etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel." +</p> + +<p> +"Ich vermag viel im Hotel." +</p> + +<p> +"So beweise es!" +</p> + +<p> +"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast." +</p> + +<p> +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich für den +Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu +bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen überein, +daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder +eine Enttäuschung geben. +</p> + +<p> +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in einer +Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst +du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" +</p> + +<p> +"<i>Zehn</i> Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es <i>bald</i> so weit +kommt." +</p> + +<p> +Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzählte +ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorüber war, faßte +er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest das zurücknehmen, so eine +Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So möchte er die Stunden gar nicht +annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu +solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm." +</p> + +<p> +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Ärger +eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." So ging die +Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber geschwiegen hatten. +Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete: +"Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er +soll auf Antwort warten." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, die die +Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der höflich angefragt +wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen +möchte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfäffling adressiert, und als die +Brüder diese Aufschrift bemerkten, flüsterten sie lachend einander zu: Ein +Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier! +</p> + +<p> +Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so erwünschten +Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer +nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, daß Herr +Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es +ist ein sehr feiner Herr." +</p> + +<p> +Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier von dem +Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm zu, er war stolz +und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg +nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand +konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfäffling suchte hervor, was er sich +neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht +wieder eine Enttäuschung gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte +knüpfte, "wer weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit +denen dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: +"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für +ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler bekommen +als Fräulein Vernagelding." +</p> + +<p> +"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr Pfäffling, +"ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine Marterstunde." +</p> + +<p> +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern, +er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der +Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war +schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen geholt worden. Um fünf +Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau Pfäffling wurde unruhig. So +gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspäten. Nun +schlug es fünf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe +herbei. +</p> + +<p> +Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich eine +kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen +mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe, +dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies +das Fräulein und es plauderte mit den viel jüngern Mädchen wie mit +ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr Pfäffling noch nicht da sei, +schien sie ganz vergnügt darüber, lachte und spaßte mit den Schwestern. +</p> + +<p> +"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen heißt so?" +</p> + +<p> +"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es eigentlich +nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie und Anne, aber so +ist's eben bei uns." +</p> + +<p> +Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes Lachen +über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt. +</p> + +<p> +"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu spielen," +richtete Marie aus. +</p> + +<p> +"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es lautet +nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen Klavier? und man +muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint Mama. Mein voriger +Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, ich sei unmusikalisch. Herr +Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die Herrn wollen immer nur +musikalische Schülerinnen, es kann aber doch nicht jedermann musikalisch sein, +nicht wahr? Man muß es doch auch den Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" +</p> + +<p> +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch zuviel +für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß die, die +recht musikalisch sind." +</p> + +<p> +Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so plötzlich +stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner Verspätung war er mit +wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. Fräulein Vernagelding tat +einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Pfäffling, +aber wie fein sehen Sie heute aus, so elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: +"Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie +warten ließ." +</p> + +<p> +"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen, ehe +sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick nachher +wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres Zeichen war, +daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß. +</p> + +<p> +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen ist?" +wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts zu sagen, man +mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am schwersten, und er paßte +und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und im selben Augenblick, wo +Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das Zimmer verließ, schlüpfte er +schon durch den andern Eingang hinein und fragte: "Vater, wird etwas aus den +Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, +"komm, ich erzähle es euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: +"Cäcilie, Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche +herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum +meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen +sein!" +</p> + +<p> +"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch musikalische +Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube kaum, daß wir +<i>einen</i> solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre Mutter spielt +Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein wird, mit ihr zusammen +vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch erzählen. Im Vorplatz des +Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen empfangen, den ich nach deiner +Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in +einen kleinen Salon, spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, +der Schlingel, kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der +von so einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte +mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen, +und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die Familie +würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen Leuten gegenüber +müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich die breite, mit dicken +Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, +klopfte für mich an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor +Pfäffling vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm +Notiz nahm, empfahl er sich. +</p> + +<p> +"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht mehr im +Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen durchdringenden Blick. +Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei jungen Söhnen vor und bot mir einen +Platz an. Aber sie waren alle ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie +nicht viel Vertrauen in die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz +unbestimmt davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen +sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die +Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch, +versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da meinte +die Dame, es gehe eher noch Deutsch. +</p> + +<p> +"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen Beinen, +dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein Direktor bin. +Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber allerdings die Dame ein +wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter und sagte: 'Ich denke, es ist +besser, wir machen ein wenig Musik, dabei lernt man sich viel schneller +kennen,' und ich fragte die Dame, für welchen deutschen Komponisten sie sich +interessiere? Sie schien etwas überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir +recht war. Da ging ich ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und +fragte, aus welcher Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den +Nibelungen, Herr Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch +einmal nach ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; +ich wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, +aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich. +</p> + +<p> +"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer näher +heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir uns +verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, und die +Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte Passion sei +und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei Stunden zu kommen. +Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der war ihnen auch recht, eine +unbescheidene Forderung mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier +tun, wenn er seine Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich +fortging, begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle +Steifheit war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich +vergessen hatte. +</p> + +<p> +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er hat +offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in der Klasse +wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er ist aber, wie mir +scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich wirklich zu freuen, daß +die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei +Herren zur Türe begleitet worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil +geworden.' Ich habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn +öfter sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger +Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du +bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines +Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut." +</p> + +<p> +"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man sich +sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden bekommt. +Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges Jubellied gesungen +werden!" +</p> + +<p> +Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der General +im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher Deutscher." +</p> + +<p> +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen +Aufsatz machen." +</p> + +<p> +Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die Marianne +ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau Privatiere +Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer Glacéhandschuhe." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap05"></a>5. Kapitel<br/> +Schnee am unrechten Platz.</h2> + +<p> +Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der erste +Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen stundenlang +gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das ganze Land überzieht +mit seiner weichen, weißen Decke; der alles verhüllt, was vorher braun und +häßlich war, der alles rundet und glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist +sie schön, die Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose +Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. +</p> + +<p> +Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen, +und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch eine Sitte muß aus dem +Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich verpflanzt, wird etwas ganz +anderes daraus. +</p> + +<p> +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden Kinder zu +ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele +Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie +versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie +Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man für +sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein +Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er sogleich den Baum, der in einem +Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu dem Gärtner, von dem er gemietet war. +Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er +verbreitet. +</p> + +<p> +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge Deutsche und +sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er +nehme ja so viel Platz weg. +</p> + +<p> +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem Christbaum +nicht den Platz? +</p> + +<hr /> + +<p> +Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch den +frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten +Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her, +und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfüße +schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die größten Schneeballenschlachten +konnten ausgeführt werden. +</p> + +<p> +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und sah +vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein großer +weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem Zaun hatte +jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze auf. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas sehen," und +schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und öffnete das Fenster. +Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr +eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbäumen. +</p> + +<p> +"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der Fuhrleute, +der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glückselige +Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch einer dabei!" Die Kleine +erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann nach. +</p> + +<p> +Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem richtigen +Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem +schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil +an. +</p> + +<p> +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo einige +Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein hitziges +Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler +hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter +der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder +hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber +wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen +zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. +Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war +nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die +rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee! +</p> + +<p> +Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so +schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach +den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen, +daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen, +das war Frechheit. +</p> + +<p> +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. Nach +Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklärte das +Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien +die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach +Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser +weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und +verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das +war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann +kommen sahen, liefen auf und davon. +</p> + +<p> +Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach seinem +Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war +noch so nahe, um seine Antwort zu hören. +</p> + +<p> +"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete die +Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. +</p> + +<p> +"Die Wohnung?" +</p> + +<p> +"Frühlingsstraße." +</p> + +<p> +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die +Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein "Wilhelm" war er +allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein Name. +</p> + +<p> +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling schadet +das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders, +wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: fort mit dir. Ich +sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der +Pfäffling hat ebensogut geworfen wie ich." +</p> + +<p> +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser Wilhelm an +seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst, +denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand, +abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, daß allen davor +graute. Nun mußte er unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über +des kleinen Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische +Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht +am Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze +zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. +So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er +achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen +Stuhl kam. +</p> + +<p> +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah überrascht +auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was ist's, Vater?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da und hat +dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?" +</p> + +<p> +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann doch nicht +sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der +gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" +</p> + +<p> +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr Pfäffling, +und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand, +daß es klatschte. +</p> + +<p> +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft beiseite, +"warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf diesen Vorwurf +versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Möglichstes getan, daß man +ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über +den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie +zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und +woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht +erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?" +</p> + +<p> +"Um 11 Uhr." +</p> + +<p> +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem +Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die Sache +noch ins Zeugnis!" +</p> + +<p> +"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen sind +jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" +</p> + +<p> +Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du nicht +etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem Mann, "und +ein gutes Wort für ihn einlegen?" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da +kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch +nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter +handelt; war auch gewiß sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum +glauben!" +</p> + +<p> +"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben, +dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. Besonders der +Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." +</p> + +<p> +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: "Jetzt +wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr niemand, für diesen +Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen. +</p> + +<p> +Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, berieten, +ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, und als Anne eben +im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: "Das ärgste ist +mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hört, dann kündigt er +uns!" +</p> + +<p> +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das Schreckgespenst, die +Kündigung! +</p> + +<p> +So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den +Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen +mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine Angst, ein Unrecht +ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr doch angemerkt, wie +unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufällig gehört, wie der Vater +zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt +machen." +</p> + +<p> +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu +erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die übrigen +Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! +</p> + +<p> +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu Baumann, +"dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." +</p> + +<p> +"Es ist nicht wahr." +</p> + +<p> +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich +gesehen." +</p> + +<p> +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der +Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler +und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief +reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch +mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß Pfäffling der einzige sei, +sagte er: "Dann möchte ich mir auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum +kümmern. Es ist schon störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, +gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. +Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" +</p> + +<p> +So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu +bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, daß er +allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, daß +sein Betrug an den Tag kommen würde. +</p> + +<p> +Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das +Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und +auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet +war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner, +den sauern Gang auf die Polizei mußte er ganz allein tun. Und nun betrat er das +große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der +Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner +kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und +warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, +Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze Qual, +die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte ihn bei Hand. +"Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," sagte er, "jetzt komm +nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!" +</p> + +<p> +Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann. +</p> + +<p> +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war +angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen, +darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer +Nähe fortgesetzt habe. +</p> + +<p> +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. +</p> + +<p> +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber weiter +nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast mir erzählt, +daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest." +Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte wohl der Vater besänftigt +werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs +und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr +Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des +Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen +eines Vergehens entschuldigt hat." +</p> + +<p> +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit als Lüge +auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm +gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn +Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?" +</p> + +<p> +"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der +Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen Polizeidiener. "Bitten +Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den +Schutzmann Schmidt herein." +</p> + +<p> +"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine +Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie es wünschen, können +Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war." +</p> + +<p> +Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der +Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen der +Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte noch weiter +sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den +Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn gerade <i>diesen</i> Jungen +aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich +in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt +hat?" und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir +zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte +ich nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann: +"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der +rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich +aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht. +Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" +</p> + +<p> +"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir." +</p> + +<p> +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus, +das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich +gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. "Jawohl," sagte +er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse." +</p> + +<p> +"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich kann ihn +doch nicht angeben?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und deine +Menschenkenntnis ist nicht groß." +</p> + +<p> +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," sagte +der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist." +</p> + +<p> +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das Versehen," +sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst nun gehen, aber +halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem Schneeballenwerfen, in den +Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!" +</p> + +<p> +Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief +Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen bist! +Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt." +</p> + +<p> +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt, +wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser +vorgebracht." +</p> + +<p> +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht glauben +wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich +etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet +das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber." +</p> + +<p> +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit +der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge +Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht +wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und +wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich +schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt du sicher sein, daß er darauf +'nein' sagt." +</p> + +<p> +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. +</p> + +<p> +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte +Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den Grund +nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von +Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der +junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht." +</p> + +<p> +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die +Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küßte sie +und lief davon. +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele +freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts +verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe +an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut vorübergegangen." Nach ein +paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener +Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller. +</p> + +<p> +"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der Professor nach +der Stunde zu Wilhelm. +</p> + +<p> +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben +worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben." +</p> + +<p> +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" +</p> + +<p> +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete Wilhelm. +</p> + +<p> +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um +Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen. +Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann aufgeschrieben +worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den falschen Namen angegeben." +Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: "Dem +Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer +gewesen. Du mußt mir's nicht übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, +daß dir das nichts macht." +</p> + +<p> +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief Wilhelm, +"du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe +ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann +kann es ja wohl sein, daß du dich durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der +Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. +Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige +Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und +bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen +des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor. +Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in +solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht <i>ein</i> Gesicht erkannt hatte. +Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht +fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und +er sollte ihm nicht entgehen. +</p> + +<p> +Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich! +Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan, was strafwürdig +ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: 'warum ist er dann +vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das +Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle +Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im +Haushalt und dachte dabei: 'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger +Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht +ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim +Zeit und Geld für sie verwenden? +</p> + +<p> +In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht +gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett +geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das +schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum +Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs +hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein +wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter +Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte +leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter +ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst +war schuld. +</p> + +<p> +Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg +hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief die Kleine, "die +Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen +Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren +von Teig an der Schürze. +</p> + +<p> +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter Strenge, +"gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an +die Schürze wischen," und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog +leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind +alle unfolgsam!' Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das +angefangene mußte trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum +Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo +die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr +langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den +Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der +Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur +schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie +gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich +freuen!" +</p> + +<p> +Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau +Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund. +Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf +dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand: +</p> + +<p class="poem"> +Man bittet die Türe zu schließen! +</p> + +<p> +Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen, +die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen. +</p> + +<p> +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel ordentlicher, als +du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer +aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird +zumachen, wenn er hört, daß es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre +wird geschlossen." +</p> + +<p> +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie +Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als sonst, hörte sie die +Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um +nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging. +</p> + +<p> +Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten +Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß heute etwas +besonderes los war. +</p> + +<p> +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas kleinlaut +erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." +</p> + +<p> +Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war +es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am +Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die Mutter: "Marianne, warum +habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?" +</p> + +<p> +"Vergessen!" +</p> + +<p> +"So geht jetzt und besorgt ihn." +</p> + +<p> +"Aber doch <i>nach</i> dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. +</p> + +<p> +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht +helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte." Da +widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem +Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine +Frau verwundert an. +</p> + +<p> +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr +den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die +Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das +Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren. +</p> + +<p> +"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die +Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter. +Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann +entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll +eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei +Tassen." +</p> + +<p> +Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden, +denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf +die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen. +</p> + +<p> +Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine +Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren. +</p> + +<p> +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling sagen. +</p> + +<p> +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch, +wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes +gemeint? +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap06"></a>6. Kapitel<br/> +Am kürzesten Tag.</h2> + +<p> +Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo +im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel steht, saß man heute +noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde, +war es noch trüb und dämmerig in den Häusern. Allmählich aber hellte es sich +auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch +ihre schrägen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig +durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich +der Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen +hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse und Hasen wurden +da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! Auf den Plätzen der Stadt +standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den +großen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten. +</p> + +<p> +Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und Anblick ganz +hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte +für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwärts über +den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem +Bäumchen, nicht größer als er selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten +vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so +rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet +und wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. +</p> + +<p> +"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; <i>so</i> wirst du nicht viel +verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand legte sich +von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte +sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen hatte, war eine +große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und +Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weißt +doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und legte ihm den Baum über die +Schulter. +</p> + +<p> +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte die Dame. +</p> + +<p> +"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume geschleppt, +sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen." +"Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. "Sieh, auf diesem Papier +ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, daß dich's nicht in die +Hände friert." Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin +einen kleinen Anstoß in der Richtung, die er einzuschlagen hatte. +</p> + +<p> +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern, +trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß er mehr aus +Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es aber nicht gewiß. +Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so mußten eben die Buben +helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, freilich meist größere. Er war +eigentlich stolz, daß man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt +nur die Brüder begegnet wären oder gar der Vater! +</p> + +<p> +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase +stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, obwohl er +nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn oft von der einen +auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen +mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne daß die steife, von der Kälte +erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er +trug den Baum frei mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von +einem Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen +aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm +den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du, +Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum +hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße +glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder +hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei +einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte +niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten +Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47, +die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum +gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen +wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig +auf die Treppe setzen, um auszuruhen. +</p> + +<p> +"In der Luisenstraße wohnt nur <i>ein</i> Doktor," sagte sie, "und das ist Dr. +Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun lieber in Nr. +43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer, +aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte +er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hörte +dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. Weber, sie hätten längst einen Baum und +einen viel schöneren und größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen +herunter, und als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz +klar, wo er jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter +Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts mehr +vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! +</p> + +<p> +Und es war wirklich höchste Zeit. +</p> + +<p> +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie +und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder hat +versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag +weggeblieben!" +</p> + +<p> +"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. Sieh +einmal nach ihm," sagten die Schwestern. +</p> + +<p> +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu ängstigen, +nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem zugestoßen sein—, aber wenn +er nicht zu Mittag käme, würden sich die Eltern sorgen und darüber ärgern, daß +doch wieder etwas vorgekommen sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten +sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von +allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater +heim, fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?" +</p> + +<p> +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört hatte. +"Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch in sein +Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man nur das Essen ein +wenig verzögern könnte," sagte Karl. +</p> + +<p> +"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg zu sich +und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so +zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, daß man später +ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Töpfe auf und +sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch +eine Weile kochen dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs +Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die +Linsen ganz hart. +</p> + +<p> +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja noch +ein wenig mit dem Essen warten." +</p> + +<p> +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die Kinder. +</p> + +<p> +So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur +mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem +Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling merkte jetzt, daß +etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz außer +Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte +ängstlich: "Ißt man schon?" +</p> + +<p> +Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie man +seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn nur ab, du +glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der +Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, "ich muß ihn einer Frau +bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie +ihn aus und wollten alles genau hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen +und hörte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm +nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!" +</p> + +<p> +Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt sich +denken. +</p> + +<p> +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner rechtmäßigen +Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit Frieder gehen, ihm +helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus zu Haus +laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," entgegnete Karl. +</p> + +<p> +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde ich mich +schämen." +</p> + +<p> +"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl ich +meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke stand, hob ihn +frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte spassend: "So werde ich durch +die Luisenstraße ziehen, eine Schelle nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum +gehört, der soll sich melden.'" +</p> + +<p> +"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird so +gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein Kamerad denken +sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie schwiegen aber. Da setzte +Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte sehr ernst: "Kinder, fangt nur das +gar nicht an, daß ihr meint: dies oder jenes paßt sich nicht, das könnten die +Kameraden schlecht auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer +durchs Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf +Meier ab." +</p> + +<p> +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe dessen +und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in die Luisenstraße +Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte. +</p> + +<p> +Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir nichts +daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht gedacht, daß +es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet." +</p> + +<p> +"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir ein +Trinkgeld gibt," sagte Karl. +</p> + +<p> +"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen Pfennig +mehr." +</p> + +<p> +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins Zimmer +kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so lang bleibt, +tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem alten Mantel +schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." +</p> + +<p> +Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto mußte +sich bequemen, Frieder zu begleiten. +</p> + +<p> +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als Otto +plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: "Da vornen +kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn sie meinen, ich +müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du doch den Baum selbst +tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, nicht?" +</p> + +<p> +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach war das +nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", das stimmte +alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock stand noch einmal +der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe. +</p> + +<p> +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein wenig mit +ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als Frieder nach Hause +kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen, war es ihm nicht +behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen zuletzt noch im Stich +gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er mit dem Bruder wieder +zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich auf ihn, dann ging ihm die +Geduld aus, vermutlich war Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu +finden, aber es war nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von +allen Seiten gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er +freilich erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum +getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch +schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja +die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch und +hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. "Ja +Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast alle +zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die kommen +wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren +nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht +oben oder unten bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben +gar nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen +größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos +ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten." +</p> + +<p> +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem Baum +und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück," und flink +faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von seiner Schönheit +eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon. +</p> + +<p> +In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und sofort +rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch noch!" Eine +lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo bist du denn so lang +geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar nicht, dir habe ich keinen Baum +zu tragen gegeben, der gehört nicht mir." +</p> + +<p> +Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen jungen +Pfäfflingen gemacht hatte. +</p> + +<p> +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er kam, +war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe nämlich nicht +gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, ich brauche ihn schon +heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da konnte ich nicht warten. Was +mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr wohl schon einen zu Haus? Ich würde +euch den gern schenken." +</p> + +<p> +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. +</p> + +<p> +"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten kleinen +Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen Lebkuchen schicken, +den bringst du ihm, nicht wahr?" +</p> + +<p> +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit seinem +Baum heimwärts. +</p> + +<p> +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter angezündet, als +Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe geraubt hatten, kamen +eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, und ließen sie vor Schreck +fast aus der Hand fallen, als sie den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" +schrien die Mädchen ins Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte +Karl, "der Baum, der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht +aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!" +</p> + +<p> +Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab ihn +Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, Mutter, +der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam, ergötzte er sich an +der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er merkte, daß es Otto nicht +recht wohl war bei der Sache, und wollte sie eben deshalb genauer hören. "Also +so hat sich's verhalten," sagte er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden +hast du dich so gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen +hast? Dann heiße ich dich einen Feigling!" +</p> + +<p> +Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte und +schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu vergessen. Es war +auch am nächsten Morgen, an dem vierten Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. +Es trieb ihn um, er konnte dem Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. +Da trachtete er, mit der Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er +ihr nachging, und ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte +er, "ich kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich +ihn um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für feig." +</p> + +<p> +"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar schon +manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über dich +urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur ankämpfen gegen +die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein kannst." +</p> + +<p> +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, fehlte +Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er zuerst den Vater +in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen Musikalien auf. "Willst du +etwas?" +</p> + +<p> +"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon welches. +Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt gestanden und +habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von meiner Klasse haben es +gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, die ich bekommen habe." Da sah +Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es +gibt allerlei Heldentum, das war auch eines; nein, Kind, du bist doch kein +Feigling!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap07"></a>7. Kapitel<br/> +Immer noch nicht Weihnachten.</h2> + +<p> +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der Familie +Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade das einzige +Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das Elschen. Ihr war die +Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie zurückdenken konnte, alle +Geschwister entzog, die unbarmherzig die schönsten Spiele unterbrach, die ihre +dunkeln Schatten in Gestalt von Aufgaben über die ganzen Abende warf und die +auch heute schuld war, daß die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den +Schulzeugnissen redeten, die sie bekommen würden. +</p> + +<p> +Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß morgen +der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig und mißmutig. +"Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es gar kein Land auf der +ganzen Welt, wo keine Schule ist?" +</p> + +<p> +"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel ist +zurzeit noch keine eröffnet." +</p> + +<p> +"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. Aber da +alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag nichts taugte, +und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal nichts zu machen war. +</p> + +<p> +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der letzten +Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie nur so beiseite +geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise geführtem Gespräch und +verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. Es waren nämlich die Zeugnisse +ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, daß Wilhelm in der Mathematik die +Note "4" bekommen hatte, die geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch +nie dagewesen, die Zahl 4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen +Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was +hilft es mich, daß ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der +Vater sieht doch auf den ersten Blick den Vierer." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." +</p> + +<p> +"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater darnach +fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es nicht +wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?" +</p> + +<p> +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren inzwischen auch +mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder auf. Marie warf nur +einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, ihr seid schlecht +weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse +sind gut, besser als das letztemal, und der Frieder hat auch gute Noten. Dann +wird der Vater schon zufrieden sein." +</p> + +<p> +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." +</p> + +<p> +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. +</p> + +<p> +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen soll, +daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" +</p> + +<p> +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und zuletzt +wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und dann die +Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz des fatalen +Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt sein konnten. Die +Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen anzusehen, und dem Vater wollte +man die schöne Durchschnittsnote in einem geschickten Augenblick mitteilen, +dann würde er nicht weiter nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse +unterschrieben werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus +sorgte man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das +beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. +</p> + +<p> +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis gezeigt, +nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte Wilhelm, "wie +der sich diesmal hinaufgemacht hat!" +</p> + +<p> +"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur von der +Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten bekomme, werden +die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft wieder, Karl?" +</p> + +<p> +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann." +</p> + +<p> +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat sich so +gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus. +</p> + +<p> +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es übernehmen, sie +dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht nach den Heften fragen +würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr Pfäffling sich richtete, um zum +letztenmal vor dem Fest in das Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen +Bewegungen bemerkte sie, daß er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben +alle unsere Zeugnisse bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl +berechnet, was wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da +herausgekommen ist? Magst du raten, Vater?" +</p> + +<p> +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich es +doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis drei +vielleicht?" +</p> + +<p> +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" +</p> + +<p> +"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und Marie +bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will ich alle in der +Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal unterschreiben kannst." "Ja, +hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling noch von der Treppe herauf. +</p> + +<p> +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber sehr +weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da niemand in die +Hände fallen. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, denn es +war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten und so betrat er +auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal stand die große Flügeltüre +des untern Saales weit offen, Tapezierer waren beschäftigt, die Wände zu +dekorieren, der Besitzer des Hotels stand mitten unter den Handwerksleuten und +erteilte ruhig und bestimmt seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte +Herr Pfäffling, nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit +herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand +ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der Hand +und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen wurden. Aber +plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm ertönte eine +scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an +dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er +Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not +mit den Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt +Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei, +die Treppe hinauf. +</p> + +<p> +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf seine +verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den Leuten, die +er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, er spreche so klug +wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr Pfäffling noch größere Ansprüche +machten? Rudolf stellte sich die Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie +doch im Vergleich mit ihm, sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte +ihr Vater doch empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel +weiter war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie +geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten +sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er +wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. +</p> + +<p> +Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe hinaufgesprungen. +Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner Schüler, und nun wurde +noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert. +</p> + +<p> +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm die +Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden." +</p> + +<p> +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen Gästen viel +zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein Geschäft ausgezeichnet, +aber sein Sohn <i>spricht</i> nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn +wird nichts." +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und +hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben <i>den</i> Sohn stehen, über +den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er wird +nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind +gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm +vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte vielleicht +selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu +verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als +seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen. +</p> + +<p> +"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere +Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur Arbeit." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater sehr viel +zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre +Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" +</p> + +<p> +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war und +meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß ich jetzt so +etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, daß ich +als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. Die Dienstboten sind so +unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her sein." +</p> + +<p> +"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen anleiten?" +</p> + +<p> +Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht +gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein gewöhnlicher +Schuljunge war? +</p> + +<p> +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien +Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt." +</p> + +<p> +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" +</p> + +<p> +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich weiß +auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben über +Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, feierliche Messen und +dergleichen. Man muß allen dienen können und darf keine Vorliebe für die eine +oder andere Konfession merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht +verletzen und müssen uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen +lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der +verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er offenbar +Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor der Stunde für ihn +gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. +</p> + +<p> +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, die +Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der +Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte Herr Pfäffling ihn +zu einem Tapezierer sagen: +</p> + +<p> +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den +Gästen abgehalten wird." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern kam, die +schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken +versunken. Er sah vor sich den tüchtigen Geschäftsmann, der in unermüdlicher +Tätigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug +abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst +gehören sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine +Straße weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich +mit dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus eine +Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, daß +sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den schlimmen Einflüssen +zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der großen Stadt, in +einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während sich Herr Pfäffling dies +überlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurück, und nun stand er +vor Herrn Meier, in dem großen Saal. +</p> + +<p> +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die Dekoration +und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," sagte Herr +Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr +Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" +</p> + +<p> +Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem +anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie Platz nehmen?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er sagen +sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch begonnen, so trieb +ihn der Eifer im Zimmer hin und her. +</p> + +<p> +"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann sehen Sie +gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's +denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch +kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tüchtig arbeitet und dann +fröhlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen +sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das +Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein +Christ, denn er dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem +Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas +aus ihm werden, aber so nicht!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen nicht zu +Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kühl: "Ich muß +mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht +und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz flüchtig. Mir scheint, Sie +urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, daß mein Sohn der geborene +Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so +wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes +Kind wohl am besten und werde für sein Wohl sorgen." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser +vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt habe. Das +wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so +oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es die Menschen nicht +ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der +reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es +mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu +fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr +für seinen Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!" +</p> + +<p> +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende, +indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich +sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten." Er ging, +der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück. +</p> + +<p> +"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts +erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch er +sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in +Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen +ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit +sich selbst ebenso streng ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; +immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und +nachbedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, +auf die Leute einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." +</p> + +<p> +Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich +über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern. +Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte +in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, daß er nach +seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief: +</p> + +<p> +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie +sehen!" +</p> + +<p> +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse müssen +her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. "Warum denn, +warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie mußte die +Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinübertragen in des +Vaters Zimmer. +</p> + +<p> +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als sie +wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine List mit +der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend etwas ist sicher +nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar fatale Dreier da, oder +eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er überblickte die kleine +Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt +sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab +das Bild eines gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen +Sprachgelehrten. +</p> + +<p> +Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut brauchen, +wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Sünden anderer +gut machen. +</p> + +<p> +Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie +vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor, +aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von +Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig +verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit +ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst +darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu +gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich +schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer +zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. +</p> + +<p> +Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken +können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was für gute +Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser +als früher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein +Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika +zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch +genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der +Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse +auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel +Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo +war denn das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben? +Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm +ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im +Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und +wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe sich +auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht +heimbringen. +</p> + +<p> +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas +besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber +für die Mathematik fehlte das Verständnis. +</p> + +<p> +Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an seiner +Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als +sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte +dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran, daß morgen Weihnachten ist!" +und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie +freundlich an sich: "Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist +gut, daß du mich erinnerst." +</p> + +<p> +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden immer nur +von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." +</p> + +<p> +"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor Weihnachten +freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herüber, ich +will machen, daß sie sich freuen!" +</p> + +<p> +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister +zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem Trüppchen dem +Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drückten. Aus +diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen. +</p> + +<p> +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur gegen mich +dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja +keinen Sinn! Gegen den <i>Feind</i> verbindet man sich, nicht gegen den +<i>Freund</i>. Habt ihr einen treuern Freund als mich? Halte ich nicht immer zu +euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!" +</p> + +<p> +Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die +Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und +sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten +wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit +mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir möchte ich nie etwas +verheimlichen!" +</p> + +<p> +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch Gutes dabei +heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen, +wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, daß sie das nächste +Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind +unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr +weit her, aber wie wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter +Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich +darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von +diesem Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. +</p> + +<p> +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer +müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis +Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an +für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß sie am nächsten Tag +nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt, +dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder +nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich +in ihr Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein. +</p> + +<p> +"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den +Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie in der +Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" Während des +lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens fröhlichem Jauchzen +ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme +wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie +haben gar nicht 'herein' gerufen." +</p> + +<p> +Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte +sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die +Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte Augen und rief: "Nein, wie +viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen +hatte, waren alle sieben schon verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie +schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!" +</p> + +<p> +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als aber +Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, machte nur +einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf hereinschauen," und sie sah +dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll aus, daß das Verbot mit lautem Jubel +aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus +und sogar aus dem Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille +Nacht, heilige Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! +</p> + +<p> +"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur so auf +gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen <i>die</i> Noten +spielen, die da stehen." +</p> + +<p> +"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch nicht so +pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf +jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich weiter und nun, als +der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich auf und sagte: "Ich habe +mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum täglichen +Gebrauch, Herr Pfäffling." +</p> + +<p> +"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie ihren +Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie +werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird." +</p> + +<p> +"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?" +</p> + +<p> +"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer sein?" +</p> + +<p> +Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes +Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fräulein +Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen. +Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang +nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere +Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schülerin. +</p> + +<p> +In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt hoch in +seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das über einen +Meter lang herunter hing. +</p> + +<p> +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? Zu +einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, Cäcilie?" Da +wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke für das Klavier +erkannt. +</p> + +<p> +"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein +ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein Vernagelding, das +ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich bitte dich, nimm mir das +Ding da ab!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner +Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. Nun waren die +Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den Eltern am Tisch, und Herr +Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge im Zentralhotel. Er stellte sich +selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß +Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen +hätte. "Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte +sie. "Und wenige, die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte +lächelnd hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glückliches Paar, nicht wahr?" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater zu +ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, Cäcilie?" +</p> + +<p> +"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!" +</p> + +<p> +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein +Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine +Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich vorzustellen. +Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es war Regenwetter und ich +trug einen langen braunen Überrock und hatte den Regenschirm bei mir." +</p> + +<p> +"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, "einen +dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar +nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm trat dein Vater in +unser hübsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den +Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. +Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich +noch ein junges, dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich +alle Mühe hatte, mein Lachen zu unterdrücken." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, sondern +hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine +Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die +Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespräch, und +wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich +vor, daß du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun +kommt das Großartige. Als ich wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im +Nebenhaus bei Professer Lenz Besuch machen wollte." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter hatten, so +kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete. Ich dachte bei +mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm in der Hand bei +Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespött für den ganzen Kreis. +Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch +war ich schüchtern und ungeschickt." +</p> + +<p> +"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling ein, "ich +hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot +dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht lieber ihren Überrock und +Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu +Willen sein und machte Anstalt, meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit +deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, +sondern wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen +Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei, im +Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie haben +es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht gesagt.' Da verging +mir das Lachen, weil die Achtung kam." +</p> + +<p> +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr Pfäffling. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap08"></a>8. Kapitel<br/> +Endlich Weihnachten.</h2> + +<p> +Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist +Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an keinem +anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht und gern aus +den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und +hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der Mutter helfen aus +Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung +fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die +Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um +die Wette, wenn die Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas +Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der +treuen Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche +befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte. +</p> + +<p> +Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas +holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus dem Nebenhaus, +die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die allerlei zurechtgelegt +war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht +einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt ihr die Kleinen in euer Stübchen +und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg +waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst +sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir +einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die +Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's +kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter +und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. +Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa +Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen +Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend." +</p> + +<p> +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch +viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen Kindern einen +schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel—das +können Sie sich denken bei sieben—aber weil keines vorher ein Stückchen sieht, +so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns +einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor +dem heiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum +geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet +ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann +sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar +keine großen Geschenke daliegen." +</p> + +<p> +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen Sinn für +so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten." +</p> + +<p> +"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht und +Lichter dazu." +</p> + +<p> +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch +gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen +gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke mir, daß Sie +noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?" +</p> + +<p> +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie +habe etwas für mich und die Kinder." +</p> + +<p> +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie +alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so groß wie im +reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen." +</p> + +<p> +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag gezankt, +weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester +bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang +gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe." +</p> + +<p> +"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was +die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine Freude, wenn +die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein Mann auch den Sinn +für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, daß +Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, +verstecken, und dann eine schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder +bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" +</p> + +<p> +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" +</p> + +<p> +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem Christbaum +dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehört auch +zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige +übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen Kalender kaufen, oder +was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich +keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen +war." +</p> + +<p> +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen Sachen, +die Sie mir zusammengerichtet haben." +</p> + +<p> +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein, +und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie +machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins +Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die Reichen können die Armen nicht +glücklich machen, wenn die nicht selbst wollen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese +endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel +abgezogen. +</p> + +<p> +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu +betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der +Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt nur recht laut," sagte die +Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt's heute, +nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei +Pfäfflings ist's auch so." +</p> + +<p> +Da ergaben sich die Kinder. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher Stimmung. +"Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling und rief die +Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen. +</p> + +<p> +"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," sagte +sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben besorgen." Wilhelm +und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil +gespannt, an dem eine ungezählte Menge Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg +war eine große Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten +die hölzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt +waren. "Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm +fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," +so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto +gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei +allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs Bodenkammer +offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte, +ganz erschrocken über den plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr +denn aber da oben, ihr Kinder?" +</p> + +<p> +"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, wenn man +Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben darnach springen," +sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und mit einem Hochsprung hatte +er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der Strumpf fiel herunter. +</p> + +<p> +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. +</p> + +<p> +"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher grau und +schwarz, denen schadet das nichts." +</p> + +<p> +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken. +Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle Strümpfe schienen +zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten sonst noch da unten stehen +und auf die Hände der vielbeschäftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld +ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein +wenig zu helfen? +</p> + +<p> +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid herunter: Die +meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie müßten noch +hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und +dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz +Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und +Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie +den Vorrat auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: +Das gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. +</p> + +<p> +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein kärgliches +Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu: +"Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!" "Warum denn +nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich. +"Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es +nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte +das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf +den Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom +gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfäffling: +"Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein großes +Stück Braten denken!" +</p> + +<p> +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein +dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man +nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst! +</p> + +<p> +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen +Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfältig +verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nüssen +und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte +ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Häusern feiner geschmückte +Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten +Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das +Grün des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem +nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind +vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten +Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran ändern. +Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen +Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. +Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, +und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, +nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr +wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten +des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die +mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen begann, +dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm die Aufsicht +über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf +allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen +fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten +wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein +Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer +Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und +alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem +Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine Handvoll +Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: "Das ist etwas +zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen aus der Großmutter Paket +gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schürzen an und sagt auch +Walburg, daß sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der +Mutter Angesicht leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern +das gleiche Strahlen hervor. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen. +"Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den Baum anzünden?" +</p> + +<p> +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich bin so +müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen Jubel Kraft zu +sammeln." +</p> + +<p> +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl noch +eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schließe die +Augen." +</p> + +<p> +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur drei +Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder frisch, und ich +kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache Unruhe, die klopfenden +Herzen der Kinder da draußen, wir wollen anzünden." Bald strahlten die Lichter +an dem Baum, die großen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische +erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein +Glockenzeichen und die Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und +Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; +solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen +und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun +geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird das +Kinderglück. +</p> + +<p> +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber +es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den +Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater +dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den +Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Güte, wenn es einem der Geschwister ins +Gesicht sah, so glänzte dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft +des Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend! +</p> + +<p> +Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den Frieder!" +An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine +ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf +das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen +Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen: +</p> + +<p class="poem"> +Fideln darfst du, kleiner Mann,<br/> +Vater will dir's zeigen.<br/> +Aber merk's und denk daran:<br/> +Immerfort zu geigen<br/> +Tut nicht gut und darf nicht sein.<br/> +Halte fest die Ordnung ein:<br/> +Eine Stund' am Tag, auch zwei,<br/> +Doch nicht mehr, es bleibt dabei. +</p> + +<p> +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er drängte +sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich sie gleich +probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht +viel Platz ließen, drückte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte +an, leise über die Saiten zu streichen und zarte Töne hervorzulocken. Und er +sah und hörte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte +sich, denn er wollte <i>reine</i> Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern +sahen sich mit glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in +seinem Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen +kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" +</p> + +<p> +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" +</p> + +<p> +"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding geschickt!" +</p> + +<p> +"Was? Euch Kindern, was tut <i>ihr</i> denn damit?" +</p> + +<p> +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche." +</p> + +<p> +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!" +</p> + +<p> +Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre neuen +Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den +Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. "Man könnte meinen, es sei +ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz außer Rand und Band!" sagte Herr +Hartwig zu seiner Frau. "Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort +beschwichtigte den Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich +auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang +zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! +</p> + +<p> +In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie war +ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die +Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren großen, ernsten Zügen +malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in +ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, aber es hatte sich kein ruhiges +Viertelstündchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt +hätte sie vielleicht einen Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl +schwerlich kommen. Während Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz +von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf +Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das +Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war +noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber +unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu stehen? +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst +nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja +da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo ist denn die Mutter?" +Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurück mit dem Bescheid, die +Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst +nie. "Dann laßt sie nur ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal +redet, muß man froh sein." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit +herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drückte +sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: "Ich erzähle dir später!" +Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und +Marie sagte: "Unserer Walburg sieht man so gut an, daß heute Weihnachten ist." +</p> + +<p> +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich +nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis endlich Herr Pfäffling mit +seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch der Ruhe bedürftig sein," sagte er. +</p> + +<p> +"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie +erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die +schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem Jahr ihr Sohn Witwer +geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos +dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an +kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, daß sie nicht gut höre, +aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den +Feiertagen einmal herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die +Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg kennt den +Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu +sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut für Walburg!" +</p> + +<p> +"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem Haushalt +vorstehen können bei ihrer Taubheit?" +</p> + +<p> +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein +schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es rührend, daß der +Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen. +Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draußen viel besser, weil sie +ihren Dialekt reden." +</p> + +<p> +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, wenn +auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden." +</p> + +<p> +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag +möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch +nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurückkommt, sagen, daß +sie Braut ist." +</p> + +<p> +Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer +Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch +einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hölzernen Truhe, in der +ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit +Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, +jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da +draußen gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die +breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu +Ehren kommen! +</p> + +<p> +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in +ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat. +</p> + +<p> +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar +kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau +Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön aufzuräumen, so hatten +inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem großen +Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen und Apfelbutzen kein Ende. +Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte +sich bei der geringen Kälte nicht bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel +Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben +sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war +sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling nach den +Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten +Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch +mittun könne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. +Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur +die beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen +hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die +Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu +spielen. +</p> + +<p> +So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr +Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der Küche ein +Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel ließ sich auch +an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon +ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was <i>willst</i> du tun? Meistens drängten +sich die Geschäfte von selbst auf und hätten schon fertig sein sollen, ehe man +daran ging. Eine Weile ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr +klar, was sie tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich +komme zu dir!" +</p> + +<p> +Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen Jahren +hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jährige Frau konnte +<i>nicht mehr</i>, und die junge Frau konnte <i>noch</i> nicht die Reise wagen, +die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch +köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne. +Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit +den nötigsten Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, +wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und +es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich +aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht +sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in +dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und +davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch +festhielten: Ein jeder trage des andern Last. +</p> + +<p> +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags. +Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zündete ein einziges +Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und große breite Schatten von +Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine +feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfäffling sagte leise vor sich +hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch. +</p> + +<p> +Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und Bewegung +Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau Pfäffling. Sie +fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, fröhlich ging sie hinaus und +sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er +dich verlassen hat." Sie ging, ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber +nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Türe. +</p> + +<p> +"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst mit dem +letzten Zug erwartet." +</p> + +<p> +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln +zusetzen?" +</p> + +<p> +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles +gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich bin ganz allein zu +Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's nicht so arg gedacht, er +meint, für die Kinder wäre doch eine besser, die hört." Ohne ein weiteres Wort +wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den +bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, +versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage +glücklich gemacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, +setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen +auf die kahlen Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es +war so öde und leer in ihrem Herzen. +</p> + +<p> +Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet neben dem +Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du tust mir so leid," +sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. Walburg aber beherrschte ihre +Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: "Draußen habe ich selbst erst +gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, +sie haben mir's auf die Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So +wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld +hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und +sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie sich's gehört. Ich weiß +nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn +nicht wie früher auch?" +</p> + +<p> +"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir verstehen uns +und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, daß du uns +nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da wich der starre, traurige +Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der +Frau, die sich so bemühte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. +Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; +eilfertig griff sie nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der +Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so traurig +aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr +draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei uns recht heimisch fühlt." +</p> + +<p> +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört sie." +</p> + +<p> +Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen noch +geigen? Wie heißt dein Vers? +</p> + +<p class="poem"> +"'Eine Stund am Tag, auch zwei,<br/> +Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" +</p> + +<p> +Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden gespielt +hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben Violinübungen, die +sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Mädchen das Herz +leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe +Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr +als eine Verbindung mit den Mitmenschen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap09"></a>9. Kapitel<br/> +Bei grimmiger Kälte.</h2> + +<p> +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die +menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen +Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser +eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen +konnte. +</p> + +<p> +Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt +Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er mußte das +Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. "Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, +"Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die +Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.'" +</p> + +<p> +Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb daheim am +warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel +durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten mußte, bis +die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig +brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die +Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und +unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war +die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, +dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im +Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der +Trennung auch <i>einmal</i> wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der +alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus +in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein +eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter +beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig +sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu +denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich +die große Reise gar nicht lohnen." +</p> + +<p> +Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und +so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es +doch einmal geschah. +</p> + +<p> +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. +</p> + +<p> +"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr Pfäffling, +indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg +so zuverlässig ist." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem +Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es +sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da +wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab, +indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken, +wir wollen sehen, was der Januar bringt!" +</p> + +<p> +Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder. +So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich, +die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie +auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto +hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen +hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich +wird's nicht so arg frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und +Karl, obwohl er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war +schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß +doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so +dumm aus, wenn er allein keinen hat!" +</p> + +<p> +"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen +Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und +deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht +ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde +frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?" +</p> + +<p> +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ den +Mantel fahren und rannte davon. +</p> + +<p> +Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie +nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die +Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete +sich mit der Aussicht, daß nach den Osternferien auch sie mit den Großen den +Schulweg einschlagen würde. +</p> + +<p> +So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder +zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste +Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder angeregt und von +irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen würden. Um so mehr war +sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden +Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte +und die Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie +noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen +wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau +Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man +sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen +habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. +Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht. +</p> + +<p> +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine +Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. Aber +Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein +rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen, +jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr +alle heimkommt und von der Schule erzählt. Kommt, wir wollen beten: +</p> + +<p class="poem"> +"Herr wie schon vor tausend Jahren<br/> +Unsre Väter eifrig waren,<br/> +Dich als Gast zu Tisch zu bitten,<br/> +So verlangt uns noch heute,<br/> +Daß Du teilest unsre Freude.<br/> +Komm, o Herr in unsre Mitte!" +</p> + +<p> +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen. +Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die +Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr +Pfäffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehört, was ihn ganz +erfüllte: Ein Künstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. +Ein Künstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde +hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen Städte +Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum erstenmal +auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die +Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen des rührenden +Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache. +</p> + +<p> +Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß unser +Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares Vergnügen zu +gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in +solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten +erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen großen Kunstgenuß +hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen +und sagte: "Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem +Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die +Mutter muß sich zur Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der +Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. +</p> + +<p> +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war +krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu eingetreten, ein +anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit +zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken +weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier erzählt?" fragte er Otto. +</p> + +<p> +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." +</p> + +<p> +"Hast du nichts näheres darüber gehört?" +</p> + +<p> +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiß +nicht mehr." +</p> + +<p> +Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen +wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres erfahren. +</p> + +<p> +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen +Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die +russische Familie klagte über den kalten deutschen Winter. +</p> + +<p> +"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" meinte +Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. Alle +Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch +jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie keinen Pelz bei +solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn +Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie +gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein +Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch +gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich +spielen." +</p> + +<p> +Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. "Es war +sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der +viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist übrigens jetzt nicht mehr +hier." +</p> + +<p> +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht +hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er +kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben +hinein.'" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat recht," +fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig sind, ist es +besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land ungünstig sind, so wie +bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern +<i>Land</i> aufwachsen zu lassen. In Rußland haben wir ganz traurige Zustände, +die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, +Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne +haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. +Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen +Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl +in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit +in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt." +</p> + +<p> +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne standen +beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, daß diese +reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen +Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: "Jeder einzelne +leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. +Möchte das neue Jahr für Rußland bessere Zustände bringen!" +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit +Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zögerten +beide. Sie hatten <i>ein</i> gemeinsames Interesse, über das zu sprechen ihnen +nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die Sprache darauf zu bringen, +wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. Mit dem höflichen aber kühlen Gruß +des Gastwirts ging er vorüber, gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt +heute!" +</p> + +<p> +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie auseinander. +</p> + +<p> +Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl +sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, ein echter, +wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder +nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel +gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel +nach. Aus der Küche erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der +eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ +sich dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Nicht lange, Vater." +</p> + +<p> +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir +das genau?" +</p> + +<p> +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: "Aber +das ist doch noch nicht lang her?" +</p> + +<p> +"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute +nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da +stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch +ganz um die Geige! Gib sie her, in <i>der</i> Woche bekommst du sie nimmer!" +Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie +fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je +eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur +<i>ein</i> Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewußt die geliebte +Violine dem Vater hin und ergab sich. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden, +was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie +sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen füllten. Sie stellte ihr +Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: "Darfst du denn nicht +spielen?" +</p> + +<p> +"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton. +</p> + +<p> +"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr." +Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun +war sie ihm für eine ganze Woche genommen! +</p> + +<p> +Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen Stimmung. Ihm +war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte, +eine große Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit für ihn weg, und dazu +kam nun, daß er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, +die, nachdem er sie geöffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn +hinübertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau. +</p> + +<p> +"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein fand, +fragte er ungeduldig: +</p> + +<p> +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" +</p> + +<p> +"Sie ist draußen und bügelt." +</p> + +<p> +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" +</p> + +<p> +Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." Frau +Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich +muß nur den Kragen erst steif haben." +</p> + +<p> +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und in +diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie". +</p> + +<p> +Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfäffling kam +in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. "Ist denn das +nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen Bügelei," fragte Herr +Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf +diese gereizte Frage antwortete Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: +"Ist das die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" +</p> + +<p> +"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?" +</p> + +<p> +"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im +vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf +Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen besänftigten aber den +Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, du armer Wurm," sagte er, "du +kannst nichts dafür. Hast so viel Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch +so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und +wir wollen froh sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du +jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?" +</p> + +<p> +"Ja," schluchzte das Kind. +</p> + +<p> +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch +das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere Rechnungen, als die +vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es ist doch immer alles gleich +bezahlt worden?" +</p> + +<p> +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß diese +Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet wird. Ich war +damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so +schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die Schwestern ernsthaft +an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!" +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr der +Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling schon +wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: "Es ist doch +viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die einzige an Neujahr +ist." +</p> + +<p> +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als +wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder, +die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten bedenklich untereinander: +"Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?" Sie riefen Elschen herbei: +"Trage du dem Vater den Brief hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag +und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß +hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war +sie und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte Herrn +Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das anfangen, daß +sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche Ordnung und Sicherheit +auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und +her lief: "Else, hole mir die drei Großen herüber," sagte er, "aber schnell." +Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam +dann zur Mutter an den Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer +Rechnung," sagte sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind +gar nicht gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht +ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad Kälte +draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch zu bügeln, +heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es sind immer noch +viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus und sagte sich im +stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen +ausgespannt würde!" +</p> + +<p> +Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, und +Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt +hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte Ausgabe +benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er schon ärgerlich +und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem ältesten Bruder +beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein +Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertröstet, er bekomme bald eine +neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich +mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater +stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen +können?" +</p> + +<p> +"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden." +</p> + +<p> +"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich. +</p> + +<p> +"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen." +</p> + +<p> +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." +</p> + +<p> +"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; wie du +es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur, +wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen würdet. Wenn +man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen +brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr +müßt es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an +Weihnachten Geld geschickt bekommen?" +</p> + +<p> +"Ich habe keine drei Mark mehr." +</p> + +<p> +"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die Grammatik +geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder +meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt +nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am nächsten +Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, +nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig +abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum +Buchhändler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine +Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, auch +das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn freundlich an: "Es +ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da wäre +eben eine Droschke frei!" +</p> + +<p> +"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich +hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. Aber das Lachen +verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei zwanzig Grad Kälte! +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap10"></a>10. Kapitel<br/> +Ein Künstlerkonzert.</h2> + +<p> +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt hatten, +die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende Stimme der +Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah +und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen +solchen Reiz ausübte. +</p> + +<p> +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine +letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie +zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfäffling +Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer +lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Söhnen trennen zu sollen. Auf der +Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer +bedrückte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie +zurückkehren mußten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. +</p> + +<p> +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den großen +Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den beiden Männern +etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme +fanden und trennten sie sich. +</p> + +<p> +"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, "um sich +bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu überbringen. Übermorgen +werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhören, vielleicht sehen wir +uns im Saal!" +</p> + +<p> +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz machen. Ein +prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für das Empfangszimmer +des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem +ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling verwundert, als ihn der +Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht +einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe +eines Zimmers aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind +heute wieder vollauf in Anspruch genommen?" +</p> + +<p> +"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken als meine +Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am +nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen +Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, daß er seit Weihnachten bei +meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, +als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber +erfolgreiche Operation." +</p> + +<p> +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr +bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was +schreibt Ihr Sohn?" +</p> + +<p> +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber +nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über seine Tante, obwohl +diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluß +ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnügt er die +Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert." Herr Meier warf einen +Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn +vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und +ihm eine ganze Anzahl Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren. +</p> + +<p> +"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre Telegramme +beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das Telephon." +</p> + +<p> +"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur +Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie wissen, daß die +Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die +Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr +zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt." +</p> + +<p> +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur Zimmerbestellungen," +sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muß +für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf +fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde +Ihnen immer dankbar sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling." +</p> + +<p> +Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel +verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal einen +Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie wenig Unterschied +war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und +was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche +Geschäftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schließlich hatten sie alle +das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre +<i>Kinder</i> sorgten sie sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte +ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. +</p> + +<p> +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Frühlingsstraße, +um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war in der Musikschule, +seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schüler, die ihrem Lehrer +seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drückten sich nun +schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu +vermitteln und teilten ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage +verschoben hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für +die Stunden beilegen wollten. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, wenn er +zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in der Musikschule +nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern +der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling kam später als sonst und nicht mit +seiner gewohnten fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der +Ansicht, daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der +Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige +Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben +worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. Manche +konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling +war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen +Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit +schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark +beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt hätten, das +hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun, +wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man auf das Stundenhonorar +wochenlang warten muß oder nicht! Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch +eine Freikarte mehr schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit +ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich +neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, soll +diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht +sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die +vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!" +</p> + +<p> +"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." +</p> + +<p> +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen +als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen +würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen Hausfrau folgte die Mutter +augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling sah ihr nach; von Erbitterung war +nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt +eine öde Zeit, wenn sie für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon +überstanden." +</p> + +<p> +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren +besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte, +neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das Künstlerkind wurde liebkost, +mit Bonbons überschüttet, aber dennoch langweilte es sich heute und war +verstimmt. Dem Fräulein, das für den kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn +an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht +gelingen. +</p> + +<p> +Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde +der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Künstlerin, um die +Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Sängerin zu hören +und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. "Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, +"unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem +Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es +versagen würde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so +verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn +aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder +verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis +es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, +und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor +allem lustige Kameraden!" +</p> + +<p> +"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und verließ das +Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das stand ein für +allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. "Wo +bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte er sich und dachte an seinen +Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so +viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei +diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam +ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und +munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder <i>dieses</i> Mannes +sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu +Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine +Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich bitten, mir +sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des +Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!" +</p> + +<p> +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, und der +Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis +drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie sollten dem kleinen +Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei." +</p> + +<p> +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie waren +gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? Marianne war +nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto, +Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, er geniere sich. Wilhelm +konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem +kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit +ihm treiben, daß er kreuzfidel würde!" +</p> + +<p> +"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch +zustande bringen. Und Frieder?" +</p> + +<p> +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. Wo ist +sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen +Gestältchen." +</p> + +<p> +"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu schüchtern? Wir +wollen sie fragen." +</p> + +<p> +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte +in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brüder +unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: "Leise, +leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. Frau Pfäffling beugte +sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach +dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so +traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm +spielen?" +</p> + +<p> +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann ich +schon fort." +</p> + +<p> +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze +Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen. +</p> + +<p> +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob +entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick von +Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus +dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das entspricht, wird +sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der +Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter +der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater, +langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, +Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein +wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. +Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er +will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch." +</p> + +<p> +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das "Herein", statt +dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber Edmund, wer wird denn die +Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn sonst tun?" hörte man eine +weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem +Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit +einem Purzelbaum herein kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut +heißen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" +war erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und +einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu +sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und +sagte: "Wie macht man denn das?" +</p> + +<p> +Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in ihrer +Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem nebenan liegenden +Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte freundlich und dankbar Herrn Meier +zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie +zuging. Das Kind hatte ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich +einführte, ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der +mütterlichen Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte +sie zu der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen +herein, bloß heute, weil er lustig sein will." +</p> + +<p> +"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist Edmund +versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz +gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein schien dieser +Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurück und die +Kinder blieben sich selbst überlassen. +</p> + +<p> +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas sehr +Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, blonde Locken +umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und wohlgepflegt. Das +ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, die mit ihrem +träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele mehr als andere +empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, +sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in +seinem Gesicht, die ihn viel älter erscheinen ließen. +</p> + +<p> +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich mit +diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir möchte ich +gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" +</p> + +<p> +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. +</p> + +<p> +"Was willst du tanzen?" +</p> + +<p> +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der +von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte. +</p> + +<p> +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum Tanz +führen. +</p> + +<p> +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen." +</p> + +<p> +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, für so +kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen. +</p> + +<p> +"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen Walzer +vorpfeifen." +</p> + +<p> +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im +Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das +Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. Edmund fuhr die Tanzlust +in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. Sie wäre ja keine Pfäffling +gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt hätte; niedlich tanzte das kleine +Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden +Wilhelm einher. Das Fräulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch +der Vater trat unter die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer +sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu +seiner Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er +das Fräulein. Sie wußte es nicht. +</p> + +<p> +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die Anmut +selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." +</p> + +<p> +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fräulein, +daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu +lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand alle Fröhlichkeit aus +seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen möge, sich nicht umkleiden und +seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernünftigen Vorstellungen des +Fräuleins, die zärtlichen Worte der Mutter hatten nur Tränen zur Folge. +</p> + +<p> +Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt doch +vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so +lange auf das Konzert!" +</p> + +<p> +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er +eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das Künstlerzimmer +kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, während du +singst und Papa spielt." +</p> + +<p> +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht kommen," +sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den +ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben für morgen." Da +flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er drückte sein Köpfchen an die +Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir +ist gar nicht gut." Es sah auch tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine +Bübchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie +Edmund verweint und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so +verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, +heute abend." +</p> + +<p> +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand und +hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern +besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon, +das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Endlich wandte sich der +Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte er, "wenn du zu unserem Kleinen +in das Künstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest +eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, +kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, +wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt +noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." +</p> + +<p> +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein +Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," rief er, +"ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern +zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!" Und als er bemerkte, +wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen zum Lachen überging, sagte er zu +diesem: "Könntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und +sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn +er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du +so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut lachte +und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn rasch zum +Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde redete sie gütig zu: +"Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir." Darauf +hin folgte der Knabe willig dem Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. +"Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir +uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem +Künstlerzimmer fragen." +</p> + +<p> +"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt es." +</p> + +<p> +Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, "woher +weißt du das Zimmer?" +</p> + +<p> +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." +</p> + +<p> +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser Konzert?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr +darüber freuen, als mein Vater!" +</p> + +<p> +Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei schlüpfte sie, +so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld, +heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch +wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich +rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn +aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder +entlassen. +</p> + +<p> +Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, schnell, +Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um +halb acht Uhr geht das Konzert an!" +</p> + +<p> +So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr erreichte, +obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel. +</p> + +<p> +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." Wilhelm +wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und kommen viel +früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber die Hand des großen, +stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurück. +"Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine Droschke geholt werden soll, es ist +für dies kleine Mädchen ein weiter Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber +wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen +und einen Wagen holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde +im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen +Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge. +</p> + +<p> +"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen bis nach +Rußland." +</p> + +<p> +"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten Woche nach +Berlin reist." +</p> + +<p> +"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen." +</p> + +<p> +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah erstaunt auf +die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das gesagt?" +</p> + +<p> +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." +</p> + +<p> +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat +heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun +kommt schon dein Bruder mit der Droschke." +</p> + +<p> +Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu +setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der Wagenschlag +für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und sie selbst sorgsam +hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie +durch die schön beleuchteten Straßen, dann durch die stillen Gassen der +Vorstadt und endlich bogen sie in die Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater +nicht daheim ist, müssen alle auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl +und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß +das Billet zu rechter Zeit bekommen!" +</p> + +<p> +In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau Pfäffling, +die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie kommen!" Herr +Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine +Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestört wurde, wie +viel schöner es wäre, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als +über Musik zu lesen, Herr Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das +können die Kinder sein, ob <i>sie</i> wenigstens etwas gehört haben in der +Künstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich +fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem +Mann: "Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit +kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand +inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so +flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner +Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein +Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch +Herr Pfäffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm +erwartet hätte, enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser +fröhliche Ausruf der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um +möglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" +der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend. +</p> + +<p> +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal +überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau +Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht überrannt zu werden, wollte +eben die Haustüre zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen, +nachkommen sah. "Da hat es wieder so pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß +sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm +die Hand und schloß für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der +Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht +um sie gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und sagte, +auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie du das machen +mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du mußt nur dicke, +dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schöner +aus als das Holz da!" +</p> + +<p> +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." +</p> + +<p> +Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet hatte sich +allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die Erlebnisse im Zentralhotel +überstürzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen für das Abendessen +beschleunigt, damit Herr Pfäffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des +Konzertes kommen konnten. Frau Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und +auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl +fühlt," sagte sie zu Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit +Spässen bei guter Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und +war zu vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit dem +ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso strahlte, +während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann +unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert +richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte +Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm +allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem +Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen +willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber über dem +Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen +ein: "Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und +gelacht," sagte Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los +mit ihm." +</p> + +<p> +So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem schon +dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachträglich +zu verdienen. +</p> + +<p> +Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begrüßten hier +die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin allerlei Aufmerksamkeiten +und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweißem Anzug da und +lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid +reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds +Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja +keine Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. +</p> + +<p> +"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im Hintergrund +des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das +Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er +hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für Edmund mitgebracht, soll ich +ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" "Später, wenn wir allein sind und Edmund +schwierig wird," sagte das Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar +Augenblicke später kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es +Zeit, Herr Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre Plätze +im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide der Sängerin +glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der +der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," die Mutter drückte rasch +noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne +Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein +paar Stufen nach dem erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das +Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden +Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hörte das mächtige +Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann +hinter ihnen die Türe und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die +Menschenmenge entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das +Nebenzimmer. +</p> + +<p> +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat unser +kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte +er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund antwortete nicht. +</p> + +<p> +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat vorhin +darnach gesehen." +</p> + +<p> +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen +sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht ganz +dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. +</p> + +<p> +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn dich +Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu weinen. +Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, Kind," tröstete +sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit +verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die Tränen, Weismann hielt es für +klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm ließ den Kreisel tanzen; halb +widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen +geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich +horchte er auf. Ein Beifallssturm dröhnte aus dem Saal. +</p> + +<p> +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß noch +einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und +kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag +nicht gern wiederholen, aber man muß." +</p> + +<p> +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so etwas +habe ich noch gar nicht gehört." +</p> + +<p> +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher +schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun +die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von +Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer zurückkam, rief er ihr +fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die Mutter beugte sich zu ihm und +sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf +Wilhelm. +</p> + +<p> +Im Saal erklang der Konzertflügel. +</p> + +<p> +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an das +Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, wenn das +Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir bange, wenn ich +vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich spielt, hat diese große Angst +jede andere vertrieben. Wir hätten es nie anfangen sollen." Tröstend sprach das +junge Mädchen der Mutter zu: "So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn +alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, +mehr als über Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und +hat seine Sache immer gut gemacht." +</p> + +<p> +"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht auch +trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen Sie, Fräulein!" +</p> + +<p> +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen lassen." +</p> + +<p> +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen nicht +müde sein vor dem Violinspiel." +</p> + +<p> +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. Eine +gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als +verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er +aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also <i>mußten</i> ihm Gedanken +kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der +Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall +den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit +der Violine zu folgen. +</p> + +<p> +"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," sagte er +munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine +Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den Türspalt, wie er +seine Sache macht!" +</p> + +<p> +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie der +Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in kindlicher Weise +den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel +begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und +deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. +Mit denselben träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, +hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser Kleine +war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja +klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich eines Mannes. Aber +reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken und eine staunenswerte +Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den Zuhörerinnen war manche zu +Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein +Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das +Podium, um dem kleinen Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein +kindliches Alter berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, +waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, +die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes, +freundliches "Danke!" rufen. +</p> + +<p> +In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren, +und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: die Mutter war über +die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg glücklicher, als über den eigenen; +auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal +vorzuspielen, freilich ein schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne +Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die +begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer +eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und +siegesgewiß trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein +zurück bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden. +</p> + +<p> +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche +Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte sich buchstäblich +auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat, +setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an +das Fräulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er +schlief ein. Sie ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, +während sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das +Edmunds Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat +es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam +vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie das Kind +vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten ihm +Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf +gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, daß er noch +einmal vorspiele. +</p> + +<p> +Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große Menge +sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der Vater ihr +soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. +</p> + +<p> +"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner Frau, "sie +helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund reden." Er führte +das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen. +</p> + +<p> +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu Bette +gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein +ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur ein einziges Stück +spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben +die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafür Musik versprochen und muß +mein Versprechen halten. Du mußt das deinige auch halten, dann erst darfst du +dich zu Bette legen. Aber eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, +daß du dich tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des +schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die +du so gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht schön +vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist +es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, daß +du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte +der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab +dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. +"Vater," fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." +</p> + +<p> +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der Vater. +</p> + +<p> +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der +Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des Künstlers zugute zu +halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er möchte Ihnen lieber eine Romanze +von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches +Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß +ihnen damit die Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte +der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. +</p> + +<p> +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten hatten +keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und +seinem einschmeichelnden Spiel. +</p> + +<p> +Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen, +und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, die den Kleinen in +zärtlichen Armen empfing. +</p> + +<p> +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," sagte der +Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum Droschkenplatz, nicht +wahr?" +</p> + +<p> +Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor dem +Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu sehen. +Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam +hatte erwärmen lassen. +</p> + +<p> +Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts, +und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den +Masern erkrankt. +</p> + +<p> +Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank darnieder, +und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie manchmal mit +Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich auftreten mußte, ehe +es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. +</p> + +<p> +Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap11"></a>11. Kapitel<br/> +Geld- und Geigennot.</h2> + +<p> +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte täglich +und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß des russischen +Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden beigelegt sein sollte, aber +es kam nichts. So mußte die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben +haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die +Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden +sein. Herr Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit Familie +gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach Berlin, wo er +eine Woche verweilen wolle. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu +sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und +sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle geschäftlichen Angelegenheiten +aufs pünktlichste geregelt und großmütig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist +durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben." +</p> + +<p> +"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine +Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie das Honorar +überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die +Abreise sei verschoben worden, die Eltern würden deshalb noch schriftlich ihren +Dank machen. Glauben Sie, daß es von Berlin aus geschehen werde?" +</p> + +<p> +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, ohne +vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von +einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Söhne +ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld ist in den Händen der jungen +Herrn hängen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie +sind etwas leichtsinnig, die Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und +streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich +noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt +übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise +sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon über +der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein paar Tage +gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe +die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. +Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus +keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den +Hergang erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, +wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist +gut." +</p> + +<p> +In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren +Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er dann, "daß mein +Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir +brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Nötigerem als diese +leichtsinnigen Burschen." +</p> + +<p> +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter Stimmung, +langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," sagte er, "was +meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich ordentlich gegen das, was sie +schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht +ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der +verbrecherischen Handlung seiner Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut +hätte, sieht man ja, er hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er +das erfahren müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die +ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von +seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für Eltern. Soll +ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du, +Cäcilie?" +</p> + +<p> +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich +bringst," entgegnete Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz all dem +Leid, was daraus entstehen muß?" +</p> + +<p> +"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es heilsam, wenn +der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies ist ja immerhin die +Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder +verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Söhne über die +verschobene Abreise nicht erklären könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar +so nötig." +</p> + +<p> +"Also du würdest schreiben, Cäcilie?" +</p> + +<p> +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich würde +meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine Weile überlegend +auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren +alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den +Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun +machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert +Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen +das kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: +Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen +General ungeschrieben. +</p> + +<p> +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen +und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über die schnöde +Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters, +der aus Rücksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte, +priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen, +die die Eltern sich auflegen mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und +wandten sich am Schluß mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen +Leute mit der Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner +schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann +setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den +älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte +nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den +Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten sie sich nun +in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld zurückkommen, an dem +Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Überraschung, welche Freude mußte +das geben! +</p> + +<p> +Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz anders +erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am nächsten Morgen auf +dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum lassen wir eigentlich den +Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. +"Weil sonst keine Überraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich +sind und keinen Verdacht äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag +ist; weil der Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; +weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man +wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, nicht lange +vorher fragen." +</p> + +<p> +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den +Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brüder +drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht werden, sonst ist's ja +keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, was kann denn der Brief +schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt er nichts, aber schaden kann er +nichts, das mußt du selbst sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden +sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief +nicht herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte +er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir +heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es +doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen." +Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm +blieb dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem +dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es +gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte die +Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie +wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt +wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, +hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling +zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. +Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist +gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie gestern noch bei Nacht +geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg +mitgenommen hätten. Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die +Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwörung, das Geld +zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich angeführt. +</p> + +<p> +Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann +veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf +die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über diese Wirkung und +verstummten. +</p> + +<p> +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr auch an +Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die +Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der +Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt keinen Brief +mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. Nun erfährt er durch +euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte. +Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!" +</p> + +<p> +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort +fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht begierig, +Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu können. Da +drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: "Fort ist der Brief noch +nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!" +</p> + +<p> +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei schon +abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich gewesen für +den Vater, für den General und auch für euch, denn wir hätten nie mehr etwas in +eurer Gegenwart besprochen, hätten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr +euch heimlich in solche Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie +doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen! +</p> + +<p> +"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau Pfäffling, +"ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen Leute, aber was +nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewißheit wäre. +Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten Richter einen Menschen verurteilt +haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und später stellte sich +doch heraus, daß er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug +sein." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. "So, +wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, "so kann man +freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Söhne zu wenden, ist +vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der +Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte +verausgaben sollen. Ich müßte an sie schreiben, sobald der General und seine +Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen +Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in +dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern +gerne schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber +sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens +den Versuch machen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr +Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler willen. Aber wie eine +Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld +in den Schoß, rief vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick +schon wieder verschwunden. +</p> + +<p> +Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der +jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstück, +weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber +Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt +hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du +weißt nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur +kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber +nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm." +</p> + +<p> +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung +über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß es Herrn Pfäffling +nicht früher möglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen. +</p> + +<p> +Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der Pfäffling +nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?" +</p> + +<p> +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die sich +nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja bloß +Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß er seine zehn +Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die große Familie +aufnehmen wollte." +</p> + +<p> +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich keine +so gesalzene Rechnung geschickt!" +</p> + +<p> +"Du verwechselst auch alle Menschen!" +</p> + +<p> +"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich." +</p> + +<p> +"Gar nicht ähnlich." +</p> + +<p> +"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?" +</p> + +<p> +"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht." +</p> + +<p> +"Doch!" +</p> + +<p> +"Nein!" +</p> + +<p> +Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten +hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit einem +bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr." +</p> + +<p> +Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer Bett, hatte +aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich über den heutigen +Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte +sie sich an Frieder heran, der geigend in der Küche stand, und bat +schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und +spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör +auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er +endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die +Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu +Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!" +rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen. +Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder +die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach +der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die +andere Türe hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und +spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. +"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du +hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger +ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen +hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele +bis ich fertig bin." +</p> + +<p> +In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen weinend +auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er tut's doch nicht, +vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!" +</p> + +<p> +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr +durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige sinken, legte +den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf. +</p> + +<p> +"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?" +fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du +über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, dann ist's wohl besser, das +Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich will hören, was der Vater meint." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was geschehen +würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die +Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im Zimmer. Frieder wagte +kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: "Es ist +mir leid." +</p> + +<p> +"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du bloß im +Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann könnte ich dir das +leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du aufhören solltest und +magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft +streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn +ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das +wäre gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern +jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen +folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer, +aber für Jahr und Tag. Gib sie her!" +</p> + +<p> +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie nun +plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen Schritt vom +Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so bestürzt, daß es fast +einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt +hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur +dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob +den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er +ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du +das?" und ernst fügte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun +gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten +sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern +zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument +leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist dir +deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in seiner +Stellung. +</p> + +<p> +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du auch +den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du +erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum Vorplatz weit +aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du fremdes Kind!" Da verließ +Frieder das Zimmer. +</p> + +<p> +Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die +Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfäffling ging erregt +hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter +Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das Kind da soll gehalten werden +wie ein armes Bettelkind. Es darf hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da +auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie +ihm den Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen +Vater und keine Mutter mehr hat." +</p> + +<p> +Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an sich, die +sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte sie, "Frieder +wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, daß er +sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles +wieder gut." +</p> + +<p> +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie +rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war, +ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf +dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte, +vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er +sonst bekommt," sagte Herr Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns +treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen." +</p> + +<p> +So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, kamen ihm +Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war +leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu +spielen. +</p> + +<p> +Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der Kinder. +Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche—dann +verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder wehgetan, er wußte nicht +warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem +Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich +die Musik das Menschenherz bewegen kann. +</p> + +<p> +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten +darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den Schwestern. +</p> + +<p> +"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr Pfäffling +verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige +auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu +ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile später, als Herr Pfäffling in seinem +Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und +trug mit beiden Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, +schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug +sah auch der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. +</p> + +<p> +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf +die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den Pack ab, +legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in +warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!" Und +Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus. +</p> + +<p> +Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder seine +Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie +zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen +angesehen!" +</p> + +<p> +Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie kann man +nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau Pfäffling, "mir +ist das ganz unverständlich." +</p> + +<p> +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte +nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das wäre, wie +wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist, +ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird +es leichter mit Maßen treiben." +</p> + +<p> +"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln können, daß +er einmal ein Musiker wird." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap12"></a>12. Kapitel<br/> +Ein Haus ohne Mutter.</h2> + +<p> +So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau Pfäfflings +Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer ausgemachten Sache, obwohl +niemand hätte sagen können, an welchem Tag sie die Ansicht aufgegeben hatte, +daß die Reise ganz unmöglich sei. +</p> + +<p> +Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, und +als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling sagen: +"Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid praktisch ist." +</p> + +<p> +"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu sehen, wie +sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, trug sie "auf alle +Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht reisen, wenn das Reisekleid +fertig im Schrank hängt und die besten Zugverbindungen herausgefunden sind? So +war es denn wirklich soweit gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar +für einen bestimmten Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, +die mit herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau +Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen +mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. +</p> + +<p> +Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große Aufregung in +die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle und Meinungen kund, +bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen aufgeregten Schwarm +hinausscheuchte. +</p> + +<p> +"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir entschlossen +sind," sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." +</p> + +<p> +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der Schule +sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling heißt!" +</p> + +<p> +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die Kinder +zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf sich gerichtet. +Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," sagte sie, "und ich +will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten Reise ist auch der +<i>halbe</i> Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn die gute Großmutter für +dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn +daheim die Türe aufmachen, wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? +Walburg hört das ja nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die +kommen. Du mußt unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht +daheim wärest, könnte ich gar nicht reisen." +</p> + +<p> +Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben mußte. +Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, denn was wußte +Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust und Erlebnissen? Für +sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und Merkwürdiges genug brachte. So +kam es zur Verwunderung der großen Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen +bei der kleinen Schwester, die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie +nicht mit hinunter gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! +</p> + +<p> +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es schwer ums +Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst hätte sie ihren +Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie sehnlich sie erwartet wurde, +es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles +voraus bedenkend, hin und her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, +Keller und Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, +überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so +nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes +Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, wo sie +oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. +</p> + +<p> +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" +</p> + +<p> +"Was denn, Kind?" +</p> + +<p> +Es wollte nicht über seine Lippen. +</p> + +<p> +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" +</p> + +<p> +"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." +</p> + +<p> +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater deine +Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir ja auch der +Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu meinem eigenen +Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so lieb hat, das verstehst +du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie +wird das köstlich werden!" +</p> + +<p> +So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich. +</p> + +<p> +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein Wort: +"Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig wegen seiner +Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders schwer." +</p> + +<p> +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es schon +gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, neigt den Kopf +nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, wie wenn er den Bogen +führte, und dann hört er die Melodien, das sieht man ihm gut an. Da tut er mir +oft leid." +</p> + +<p> +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die erste +Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und wenn nun der +Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am Kasernenhof turnen könnt, +dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm Lust. Und noch etwas: ich meine, +deine Mathematikstunden mit Wilhelm werden nimmer regelmäßig eingehalten." +</p> + +<p> +"O doch, Mutter." +</p> + +<p> +"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?" +</p> + +<p> +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht." +</p> + +<p> +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber nicht +genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm wieder eine so +schlechte Note bekäme!" +</p> + +<p> +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf verlassen!" +</p> + +<p> +Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in die +Holzkammer. +</p> + +<p> +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran dürft +ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in dieser Zeit +alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und Kohlen sorgen." +</p> + +<p> +Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie möglich +alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin." +</p> + +<p> +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" +</p> + +<p> +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die Stiefel +schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und anziehen, als es +darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag vom Kochen fortspringen +muß." +</p> + +<p> +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und am +Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch einmal Nadel +und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an einem Kinderkleid +auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja aus dem Wagenfenster +kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich der Zug durch eine kaum +hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache machte, daß Frau Pfäffling +verreist war. +</p> + +<p> +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine Weile im +alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr selbst nur das +Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts nützen konnte. Zugleich +verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen der Stadt, freie, noch mit +Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. +Da machte sie es sich bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab +sich darein, daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine +wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer +Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde. +</p> + +<p> +Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann mit den +Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie machten sich +an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten Gang. Nur Elschen +lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen Zimmer, die andern +empfanden die Lücke erst so recht bei dem Mittagessen. Es verlief auffallend +still. Eigentlich war ja Frau Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann +und ihre Kinder waren lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben +können, eine so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch +gegeben. Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu tun +machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein, daß Karl +für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und so nacheinander +herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem jüngern. Anfangs machte +es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so friedlich und so säuberlich zu +wie bei der Mutter, und Walburg wunderte sich, daß sie bald eine noch fast +gefüllte, bald eine ganz leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein +regelmäßiger Verbrauch mehr wie bisher. +</p> + +<p> +Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden, wo sie +allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten doch nicht +viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die +Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser +nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese +bildeten ein gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn. +</p> + +<p> +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes Wiedersehen +zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht ganz ohne Wehmut. +Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges Großmütterlein, das da im +Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe von einem Zimmer in das andere +zu gehen! Und wiederum, wo war Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch +deutliche Spuren hatte die Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen +eingegraben! +</p> + +<p> +Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach einigen +Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden wieder die +geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu trauriger +Empfindung da, denn die <i>alte</i> Frau hatte keine Schmerzen zu leiden, sie +genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege der unverheirateten +Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die <i>junge</i> Frau, wenn man +Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit solcher Liebe von ihrem großen +Familienkreis und schien so gereift durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen +deutlich zum Bewußtsein kam, das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit +Köstliches gebracht. +</p> + +<p> +Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, die noch +ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte die Schwester in +das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte Gastzimmer, zog sie an +sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun soll dir's gut gehen! Du +wirst sehen, wie ich dich pflege!" +</p> + +<p> +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." +</p> + +<p> +"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts tue ich +lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen und +herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das anschlägt, da +kann man viel erreichen in vier Wochen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das nicht +in <i>drei</i> Wochen erreichen?" +</p> + +<p> +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" +</p> + +<p> +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich vier +Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an +vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du mich +darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen Haushalt, Mann, +sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. Es kommt so oft etwas +vor bei uns!" +</p> + +<p> +"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?" +</p> + +<p> +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber es ist +so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen haben könnte, +bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal anfängt, und selbst, +wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten +genug: Elschen muß vormittags immer allein die Türe aufmachen und Bescheid +geben, das ist unheimlich in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht +überzeugt bist, Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn +mein Mann einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!" +</p> + +<p> +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" +</p> + +<p> +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, wenn ich +etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der nächsten Woche komme. +Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so lebhaft wie früher und die +meisten unserer Kinder haben sein Temperament. Da gibt es nun bei solch einer +Nachricht immer gleich einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und +hören können!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches Leuchten +ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz jugendlich, gar nicht +pflegebedürftig aus. +</p> + +<p> +Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei Wochen +geeinigt. +</p> + +<p> +Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war für +Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der Mutter sitzen +zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles Verständnis war da zu finden +für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch stand die Mutter selbst schon fast +<i>über</i> dem Leben. Einen weiten Weg hatte sie in achtzig Jahren +zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, überblickte sie das Ganze wie aus der +Ferne. Da sieht sich manches anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der +Höhe herab erkennt man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören +wollte, der konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. +Frau Pfäffling war von denen, die hören wollten. +</p> + +<p> +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu diesem +Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings einziger Bruder +ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein +erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen +Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, +aber aus der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets +Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder +ins Auge zu sehen. +</p> + +<p> +"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu seiner +Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, eine +Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in einem kleinen +Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in diesem Februar noch +überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht streng, die Fahrt eine +Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten zurück, in dem mit andern Gästen +ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so +wohlerzogen. Wenn du meine Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein +wenig ungehobelt vor." +</p> + +<p> +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als du, sie +gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung." +</p> + +<p> +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird damit oft +kaum fertig." +</p> + +<p> +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel miteinander, +wie ist das bei euch?" +</p> + +<p> +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. Sie haben +ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur sollte man sich eben +mehr mit dem einzelnen abgeben können." +</p> + +<p> +"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. Ich +fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist das Fräulein +zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei Dienstmädchen, und mit unserem +Jungen werden sie oft alle drei nicht fertig." +</p> + +<p> +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören über +einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er beabsichtigte +in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, dabei durch +Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu besuchen. +</p> + +<p> +An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach dieser +Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein besprach. Wenn auf der +einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen wenig, auf der einen Seite +Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der andern alles reichlich, warum sollte +man nicht einen Ausgleich versuchen? Bruder und Schwägerin machten den +Vorschlag, einen der jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die +Sache wurde überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte +mit ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der +Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am +besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf der +Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein baldiges +Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und in der Umgebung +der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie erfuhr doch +nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die Losung ausgegeben: +"Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, sonst ist der Mutter der +Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst mündlich erzählt." So gingen denn +Nachrichten ab über gelungene Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über +einen Maskenzug und Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel +und über der Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. +</p> + +<p> +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr Pfäffling +von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: "Haben Sie heute nacht +nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen oder dergleichen?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört." +</p> + +<p> +"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die zweite +Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der Kinder so +Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der Schlafzimmer kommt der +schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, ich habe schon die Kinder +danach gefragt, aber nichts erfahren können." +</p> + +<p> +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf. Er +fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die Tafelrunde an. +Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts verrieten von nächtlichem +Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings blaß und überwacht aus, ernst und +fast wie von Schmerz verzogen. Das war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er +beobachtete sie eine Weile und machte sich Vorwürfe, daß er das bisher +übersehen hatte. Wenn die Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch +ohne der Hausfrau Mitteilung. +</p> + +<p> +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die Schwestern +zurück. +</p> + +<p> +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. +</p> + +<p> +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot. +</p> + +<p> +"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr Pfäffling, +"weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch auch darüber gern +die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in den Augen den Kopf, und +Herr Pfäffling wußte, woran er war. +</p> + +<p> +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter nicht da +ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun auch und er +erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren bei Nacht heftig +geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das noch vom vergangenen +Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte alles nichts geholfen und +erst gegen Morgen waren die Schwestern eingeschlafen. So war es schon zwei +Nächte gewesen. Sie hatten es dem Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte +nicht zum Ohrenarzt geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete +auch die große Neujahrsrechnung. +</p> + +<p> +Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des Arztes. +Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern vorgehalten, daß +Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn etwas versäumt würde. +</p> + +<p> +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei Unzertrennlichen +rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so ängstlich aus wie die kranke, +sie zuckte wie diese beim Schmerz, und doch kam sie immer als treue +Begleiterin. Diesmal konnte er beide trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte +er, "das gibt keine so böse Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel +schüttet weg, das macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. +Wenn eure Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe noch auf +die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die gehört dazu." +</p> + +<p> +Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem +gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, daß +Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar nichts mehr?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr sagen, aber +es wird alle Jahre schlimmer." +</p> + +<p> +"Geht sie nie zum Arzt?" +</p> + +<p> +Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz gewiß, daß +man ihr nicht helfen konnte. +</p> + +<p> +"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der Arzt, +"schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt daheim, das +gehe auch noch in die alte Rechnung." +</p> + +<p> +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten sie sich, +den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen sie es auch +Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um sie handelte, und +ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere Mutter zurückkommt, +werde ich so frei sein." +</p> + +<p> +Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören. +</p> + +<p> +Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum gestrigen +Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie volle acht Tage +früher heimkommen würde, als verabredet war. +</p> + +<p> +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen vom +Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, diese letzte +Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. +</p> + +<p> +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte einmal +Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn so zeitig? +Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, "ich habe es +manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum Frühstück gekommen?" Es +wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte es sich heraus, daß Frieder +immer schon abends den Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst +wohl, es kommt dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl +und wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er +Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg +mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt. +</p> + +<p> +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; ja im +Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die jungen +Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat gesorgt und Walburg +mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. Während dieser Zeit wurde +geklingelt und Elschen lief herzu, um aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn +Pfäffling, dann nach dessen Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß +sie alle fort seien, bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines +Briefchen an Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von +ihm, und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde. +Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den Schreibtisch, +wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte der Herr, "du kannst +nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, den Brief für deinen Vater +lasse ich hier liegen." Elschen verließ das Zimmer. Nach einer ganz kurzen +Weile kam der Herr wieder heraus. +</p> + +<p> +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam keine +Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die Treppe hinunter +und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben heraufkam. +</p> + +<p> +"Wer war da?" fragte diese. +</p> + +<p> +"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins Ohr; +weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen zu unbequem, +Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim Mittagessen fiel ihr die +Sache wieder ein und sie erzählte sie dem Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo +ist denn der Brief?" fragte er. Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu +finden! Und wo war denn—ja, wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade +jahraus, jahrein seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit +allen sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft +schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in dieser +Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was die Familie +Pfäffling am Leben erhielt. +</p> + +<p> +Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich eingeschlichen, +hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen Pfennig fürs tägliche +Brot! +</p> + +<p> +Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte ihr +gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die bestürzten +Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht +und fragte bloß: "Gestohlen?" +</p> + +<p> +Und nun flogen Vorwürfe hin und her. +</p> + +<p> +"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den Schreibtisch!" +warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja gar kein Dieb, es war +ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie nahm sie in Schutz. "Sie kann +nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz getragen habt, wegen euch hat +Walburg hinunter gemußt!" +</p> + +<p> +"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder. +</p> + +<p> +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder wagte +zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir wollen ihr +schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal niemand zu beruhigen, +es war so traurig, zu denken, daß man sie mit solch einer Botschaft empfangen +sollte! Karl und Marie hatten leise miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie +jetzt, "wir alle zusammen haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März +kommt wieder dein Gehalt. Wir sparen recht." +</p> + +<p> +"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe auch +noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die Steuer +zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel abgezogen hätte, wäre +vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin und wieder, bis ihn ein Wort +Walburgs stillstehen machte, das Wort: Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß +der Dieb ausfindig gemacht werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden +konnte. Ja, sofort Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. +Elschen sollte mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur +schnell, schon waren viele Stunden verloren! +</p> + +<p> +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie setzten +sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede knöpfte ihr einen +Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die Brüder wollten ihr die +Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, erklärten dann Handschuhe für ganz +übertrieben und die Kleine sprang ohne solche dem Vater nach, der schon an der +Treppe stand und nun mit so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, +daß das Kind an seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte. +</p> + +<p> +Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger Musiker, der +angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel betroffen worden und +mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn aufzufinden. +</p> + +<p> +Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling abgegangen +war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand schreiben mögen. So +aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in großer Trübsal waren, einen +dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem ihr eine ganze Anzahl +Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll Jubel über das unerwartet nahe +Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine Freude selbst aussprechen wollen. +Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim +inzwischen vollkommen umgeschlagen war. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich zu +erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker gefahndet +worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso am nächsten Tag +in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, wurde ihm bedeutet, daß er +sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm Nachricht zukommen. +</p> + +<p> +Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter mit einer +so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die rechte Freude +des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war unschlüssig, ob er die Nachricht +nicht doch vorher schriftlich mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der +Hoffnung auf Festnahme des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben +entschloß, daß der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der +Abreise seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der +Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen. +</p> + +<p> +Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," sagte +sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten Gruß von daheim +bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?" +</p> + +<p> +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die Mutter, "auch +dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das Wiedersehen nicht +verderben, wenn du nun siehst, daß manches in Unordnung geraten ist während +deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein hier war so schön, das ist doch auch +eines Opfers wert." +</p> + +<p> +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag irgend +etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du daheim bist. +Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht mehr als einundzwanzig +Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht beklagen, darfst nicht +behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und nicht gleich erklären: ich +reise nie mehr." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr fern, +nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich mit schwerem +Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester, die sie so treulich +gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem +abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise antrat. +</p> + +<p> +Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei Wochen +waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein Keimen und +Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch schien ihr die Zeit so +weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist war! Jetzt war ihr Herz noch +vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte sich schon und drängte gewaltig in den +Vordergrund die Freude auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der +so von Lieben zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen +wird. Wer kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim +reist? +</p> + +<p> +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes doch nicht +lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben können. Die Kleinen +hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis Samstag schon halb +vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, aber doch mit dem +unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her gehöre, je schwieriger die +Lage im Haus war. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als er am +Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof eilte. Er kam dort +fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in ungeduldiger Erwartung der Kinder, +die von der Schule aus kommen sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und +winkte mit seinen langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl +und Otto auftauchen sah. +</p> + +<p> +Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof begrüßen +sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, "und soll nicht +gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an den Marktplatz +entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der Frühlingsstraße und Elschen soll +die Mutter an der Treppe empfangen, denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause +sein." +</p> + +<p> +So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem Vater an +die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch sie nicht +vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges Vorrecht. Sie standen +alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, während der Zug einfuhr, +entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus dem Wagenfenster forschend nach +ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie sich dann plötzlich ihre Züge +verklärten, als sie den Vater erblickte, der, dem Schaffner zuvorkommend, die +Türe ausriß und mit froher Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half. +</p> + +<p> +Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen und +Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge hinaus auf den +Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, +denn die Verwunderung über der Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu +einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn +nicht Frau Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob +die Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung +erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam +aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob! +</p> + +<p> +"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch krank +sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer geschrieben +habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete ein wenig bedrückt. +Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen ist, bekümmert mich gar +nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. +"Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig +geworden auf der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, +wo ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und +jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. +</p> + +<p> +Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der Ecke der +Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte Frieder gewartet +und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem Augenblick, als die Familie +um die Ecke bog, sah er doch gerade in anderer Richtung. +</p> + +<p> +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o Mutter!" rief +er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn zärtlich und sagte ihm +freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines Dummerle, wir sind ja jetzt +wieder beisammen!" +</p> + +<p> +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber die +Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu ihr auf, ging +dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie, im Hausflur +angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die Jüngste +aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon auf der Treppe +mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum Empfang eine Torte +geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen +großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe. +</p> + +<p> +Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. Sie +hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen können, an +dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was konnte man von +Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling verlassen, ihr hatte sie +das Haus übergeben, und wenn sie nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen +hätte, so wäre kein Unglück geschehen. +</p> + +<p> +Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf dem +langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis erfahren +hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein Vorwurf sein würde. +Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort fürchtete sie zu hören, das sie +schon einmal schwer getroffen hatte, das Wort: "ich will lieber eine, die +hört!" Darum stand sie so starr und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr +erschrak, als sie nun an der Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick +durchzuckte sie der Gedanke: es ist <i>doch</i> etwas Schlimmes vorgefallen, +aber im nächsten Moment sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur +vergessen, wie groß, wie ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen +mit herzlichem Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den +Händedruck, den freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde +ihr leicht ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß +schloß mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr." +</p> + +<p> +Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe sie noch +nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern angerufen: "Dein Koffer +kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ ihn in das Schlafzimmer bringen +und nahm aus ihrem Täschchen ein Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der +neben ihr stand, sah begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch +viel Geld," rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein +Frieder nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die +Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie +nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel +verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber Vorwürfe. Aber +viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, dadurch sollte kein +Schatten auf das Wiedersehen fallen. +</p> + +<p> +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun kommt nur, +der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön gedeckt, Walburg hat +gewiß etwas Gutes gekocht." +</p> + +<p> +Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter wieder," +sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet ist." +</p> + +<p> +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau Pfäffling +und sie sprach mit innerer Bewegung: +</p> + +<p class="poem"> +"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute<br/> +Hier vor dir stehen!<br/> +Du schenkest uns die schönste Freude,<br/> +Das Wiedersehen.<br/> +Nun gehn wir wieder eng verbunden<br/> +Durch Lust und Leid,<br/> +In guten und in bösen Stunden<br/> +Gib uns Geleit!" +</p> + +<p> +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee machen +müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu gedeckt. "Sollen +wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," sagte die Mutter. "Nein, +erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein und schickte die Kinder hinaus. +"Zuerst kommt etwas anderes," sagte er nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine +Beichte," und er führte sie an den Schreibtisch und zog die kleine leere +Schublade auf, deckte auch das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte +lag. Dieser Stand der Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. +"Ich habe schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte +sie, "aber daß <i>gar</i> nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich +gehalten, wie <i>kann</i> man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja +gar nicht zustande!" +</p> + +<p> +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich gespart; +gestohlen ist es, gestohlen!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die Nachricht +erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien festgenommen, aber das +Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung mehr, es zurück zu erhalten. Aber +unentbehrlich war es und mußte auf irgend eine Weise wieder hereingebracht +werden. +</p> + +<p> +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß derselben +war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es gelingen, das ist ein +guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: "Jetzt, Kinder, den Kaffee!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap13"></a>13. Kapitel<br/> +Ein fremdes Element.</h2> + +<p> +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag auch +den Kindern mitgeteilt werden. +</p> + +<p> +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur gleich im +rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. "Hört einmal," +sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch das sich der +Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können uns allen helfen. +Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!" +</p> + +<p> +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne sein," +schlug Karl vor. +</p> + +<p> +"Richtig geraten. Aber wie?" +</p> + +<p> +"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," meinte +Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die Blicke aller +anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in ihren vertragenen +schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre blonden Zöpfe waren mit +schmalen blauen Bändchen gebunden. +</p> + +<p> +"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr +Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn ihr eure +Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen etwas anderes." +</p> + +<p> +"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch mehr +einbringt." +</p> + +<p> +Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich will es +euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr Beiden zieht +in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an einen Zimmerherrn +vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das +muß euch doch freuen? Die Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer +herausräumen und eure Betten hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz +nach eurem Belieben einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand +darein; aus den alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur +wollt." +</p> + +<p> +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, aber +zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und betätigten: +"Ja, es wird sein!" +</p> + +<p> +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in Zukunft auch +ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in großer Begleitung. +Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die Hauptpersonen. Sie schlossen +ihr künftiges Revier auf. Es war ein kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und +einem Dachfenster. "Kalt ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im +Sommer ist's immer ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete +Marie. "Da hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch +das Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends kann +Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen in ihrer +Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr Häuschen gedrungen +ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und wie eine dicke Schlange +durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? Wie wäre sie glücklich gewesen +über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." +</p> + +<p> +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der Kammer +erfüllt. +</p> + +<p> +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis zu +sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese wiederum +mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts +davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn +zehn Leute den obern Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er +habe nie welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für +die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann +blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses +Frau Pfäffling mitteilen. +</p> + +<p> +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann sagt +ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er dabei. Er +meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht mehr 'ja' sagen, +sogar wenn er's möchte." +</p> + +<p> +Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr Pfäffling +konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich sehe, daß jemand +nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs Zimmerherrn nehmen, als in +Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft den Tisch umkreiste. "Nicht mehr +'ja' sagen dürfen, weil man vorher 'nein' gesagt hat? Soll sich darin die +Männlichkeit zeigen? Dann wäre jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das +nicht, ihr Buben," sagte er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, +was männlich ist: Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen +geht; aber <i>nachgeben</i>, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht +geurteilt hat." +</p> + +<p> +Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den Hausleuten +weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling zufällig oder +vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur zusammen. +</p> + +<p> +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn nehmen +durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge geraten. Aber +da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht plagen, und es ist ja +wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht heimkommen, Lärm machen und +dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt entschließen, eine ältere Dame als +Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist +nur für uns unbequemer und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie +uns ein wenig behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, +wären wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung +setzen?" +</p> + +<p> +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie +besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu wissen wie, +war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte Hausbewohnerin für +den obern Stock zu bemühen. +</p> + +<p> +Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und sie +bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und nun kamen +wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, wer die Türe +aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu zeigen. Allzuviele +erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, daß die Frühlingsstraße +"keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede von den wenigen, die sich +meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer vermieten, nicht eine +Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den +vertrauten Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die +Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu +ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand +das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber +niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn +haben." +</p> + +<p> +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine anspruchsvolle +Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann stört sie uns nicht," +lautete Herrn Pfäfflings Rat. +</p> + +<p> +Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften sich +glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete Dame, etwa +Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im Ausland, hatte +vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt, daß sie sich jetzt, +nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer +Rente leben konnte. Sie war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit +genießen, sich Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben +bis jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der +Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn +in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle +bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit dort +ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit +schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am +Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe. +</p> + +<p> +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte +seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den ganzen +Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da ist, aber ich +glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird." +</p> + +<p> +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für Fräulein +Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, wußte in +anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch auch für den +Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war zu bemerken, daß +sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen fühlte, daß sie +Verständnis hatte für des Hausherrn originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung +für der Kinder Bescheidenheit. Freilich waren auch alle sieben voll +Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer +gemietet trotz der vielen Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" +war. Überdies flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten +der ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und +wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort +"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann es den +Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte und tadelte +sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu sich in ihr Zimmer +und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren +Arbeiten sich bisher niemand bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen +gerne, auch Frau Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung +paßte doch nicht zum Ganzen. +</p> + +<p> +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit in +Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. "Marianne soll +herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu machen." Die Mädchen +standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann hielt sie zurück: "Das eilt +doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit geht allem vor, das habe ich allen +meinen Zöglingen eingeprägt. Die Ausgänge könnten doch auch von dem +Dienstmädchen gemacht werden." +</p> + +<p> +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch nicht +genug für manche Besorgungen." +</p> + +<p> +"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte +Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie möchte den +Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen." +</p> + +<p> +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen. +</p> + +<p> +"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," sagte Frau +Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?" +</p> + +<p> +"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue voraus +erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen überflügeln, und in +der Schule würde jedermann staunen über unsere Fortschritte." +</p> + +<p> +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar keine +Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum lernen da und +nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die Dunkelheit kommt mit +den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als es finster war. "Finden Sie +das passend?" fragte Fräulein Bergmann die Mutter, "sollten Sie nicht das +Dienstmädchen schicken?" +</p> + +<p> +"Walburg kann nicht alles besorgen." +</p> + +<p> +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie vollends +ganz taub ist, muß sie doch fort." +</p> + +<p> +Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte Walburg +in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie wohl bald ganz +taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, teilnehmenden Blick. "Willst du +mir was?" fragte sie und beugte sich zu ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und +sagte ihr ins Ohr: "Ich mag Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg +antwortete ausweichend: "Man muß froh sein, daß man sie hat." +</p> + +<p> +Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche Einmischung hin. +Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im Pfäffling'schen +Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer mit einem hellen +Wachstuch bedeckt worden. +</p> + +<p> +"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," bemerkte +Fräulein Bergmann. +</p> + +<p> +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen Haus," +entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit vermeiden und die +großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche." +</p> + +<p> +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." +</p> + +<p> +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an unserem +Tisch." +</p> + +<p> +Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer +regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit <i>einem</i> Ofen +heizen," erklärte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, das +würde sich sehr fein machen." +</p> + +<p> +"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich mich +nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei reichen Leuten +leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn es nur immer zum +täglichen Brot reicht." +</p> + +<p> +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und ich +habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles verzichten, +woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie aus fein gebildeter +Familie stammen." +</p> + +<p> +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse +schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein Glück ruht +auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit gar nichts zu +tun." +</p> + +<p> +Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu einer +Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung wurde nun +elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder standen voll +Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum Ganzen, Fräulein +Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es sehen nun allerdings die +Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese +doch erneuert werden." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die Portiere +schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie mißliebig an. +</p> + +<p> +"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du solltest +ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." +</p> + +<p> +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen Sinn für +so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu unserer übrigen +Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr Zimmer hängen so viel +sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön genug sein, so wie sie sind." +</p> + +<p> +Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und sich +nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten hinzu. Walburg +hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller gewechselt. Die Kinder bekamen +immer nur <i>einen</i> Teller. +</p> + +<p> +"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die Kinder +alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein Bergmann +fragend an Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller mehr +aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft." +</p> + +<p> +"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das Fräulein, "das +ist doch solch eine Kleinigkeit." +</p> + +<p> +Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, was in +unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, müssen Sie mit +unserer Art vorlieb nehmen." +</p> + +<p> +"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu sehen, +wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich werde gewiß nicht +mehr darein reden, kein Wort mehr." +</p> + +<p> +"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr Pfäffling, "und +übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles ordentlich, schön und rein und +ich möchte durchaus nicht, daß sie sich noch mehr Arbeit macht, und wenn meine +Kinder ihr nachschlagen, wird man sie überall gern sehen." +</p> + +<p> +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte gekränkt +hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief in +unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich Fräulein +Bergmann zurück. +</p> + +<p> +"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern zu. +</p> + +<p> +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt sie +sich ein!" +</p> + +<p> +"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!" +</p> + +<p> +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt und +haltet gar nicht zur Mutter!" +</p> + +<p> +Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr Pfäffling +bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," sagte er zu seiner +Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich jetzt schon besser in +acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und mir ist ihr Dareinreden nicht +so unangenehm, man macht doch seine Sache nicht vollkommen und da ist es gar +nicht übel, einmal zu erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel +mehr von der Welt gesehen als ich." +</p> + +<p> +Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden Frauen +standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann machte von der +Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen. +</p> + +<p> +"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man keinen +eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf diese Zeit der +Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht nach Herzenslust lesen, +zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem ich Muße dazu habe, so viel ich +nur will, hat es seinen Reiz verloren." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen: +</p> + +<p> +"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger Arbeit +beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine." +</p> + +<p> +"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar nicht. +Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner veränderten +Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle selbst, daß ich +unausstehlich bin." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß Fräulein +Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr Kritik und +Einmischung gestattete. +</p> + +<p> +Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich kein +Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und brachte +Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein Bergmanns Ansicht +waren all diese kleinen Übelbefinden selbst verschuldet, sie behauptete, +solches bei ihren Zöglingen durch sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben. +</p> + +<p> +"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, "weißt du +noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben ausgezogen, +Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber dieses Jahr ist es so +kalt." +</p> + +<p> +"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, schöner +war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen Familienkreis. +</p> + +<p> +Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr +Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen lassen, +und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. +</p> + +<p> +"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein feststehendes +Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus vorgekommen. Das heutige hat +kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie eigentlich?" +</p> + +<p> +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man leichter mit +dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es nicht jeden Tag das +gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein Gebet gedankenlos gesprochen +wird." +</p> + +<p> +"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche Neuerungen. +Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war es mit Herrn +Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau liegt daran, in diese +Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, "und wenn Sie lieber die leere +Form haben, so brauchen Sie ja auf den Inhalt nicht zu horchen." +</p> + +<p> +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre Hand +auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm gemeint!" +</p> + +<p> +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend. Im +Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber nach Tisch +rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. "Das ist ein +unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist die verkörperte +Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas kann ich nicht +vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch +wieder eine andere Mieterin." +</p> + +<p> +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch leid für +sie, wie soll ich denn das machen?" +</p> + +<p> +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken. Aber +je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und mit ihr +reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" +</p> + +<p> +"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April mußt du +dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie ihrer Arbeit +nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend begründen könnte. +Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie +und Frieden im Hause mußte doch vorgehen. +</p> + +<p> +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein Bergmann +suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem Tisch lagen +Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte das Fräulein, +"hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen hervorgesucht, möchten +Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich ordentlich schäme über +die Zurechtweisung, die ich heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht +vorgekommen in den vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja +selbst, daß ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht +so, bitte, lesen Sie!" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele Jahre in +ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit war in den +Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt hervorgehoben. +</p> + +<p> +Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die Erklärung +dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann wieder in das +richtige Geleise zu bringen wäre. +</p> + +<p> +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und das ist +wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. Sie stehen im +gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn er schon aufhören +wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch sein Bestes leisten, und +so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, und haben eine reiche +Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes Hauswesen leiten, eine Schar +Kinder erziehen, und wollen hier in einem Stübchen hinter den Büchern sitzen! +Das ertragen Sie einfach nicht und das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun +in unser Hauswesen unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn +ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, +und zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, "so wird +es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie mir noch solch +eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur schäme ich mich vor all +meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen Entschluß mitgeteilt habe, zu +privatisieren. Es war mir damals eine verlockende Stelle als Hausdame +angetragen, ich habe sie abgelehnt." +</p> + +<p> +"Ist sie wohl schon besetzt?" +</p> + +<p> +"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später erfolgen." +</p> + +<p> +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" +</p> + +<p> +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich keine +passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?" +</p> + +<p> +"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen." +</p> + +<p> +Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, elastischen +Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. +</p> + +<p> +"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, "sie ist +gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; warum sie wohl +gerade heute so vergnügt ist?" +</p> + +<p> +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. Schon +zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte gemeinsame +Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im Freien, der +langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit der Sorge um das +Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am +Eßtisch. +</p> + +<p> +"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann, "dann +frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus. Ich kenne +niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen möchte, als Ihrer +lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine +Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner +Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik +ist ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. +Solange Sie <i>alles</i> tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir +in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel +geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns—" +</p> + +<p> +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies wissen Sie +wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen war." +</p> + +<p> +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie mir +nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, unseren +Gewohnheiten?" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht aufrecht +erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig spöttischen Lächeln +fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur <i>eines</i>." +</p> + +<p> +"Und zwar?" +</p> + +<p> +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie jetzt eben +im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. +</p> + +<p> +"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie es +noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter Ihnen, immer +die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen Zusammenstoß zu +vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck stehenbleiben. Es war sehr +drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig dabei." +</p> + +<p> +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle Kinder +folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich werde es mir +abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu solchen übeln +Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber—und nahm seinen Lauf um den +Tisch wieder auf. +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer. +</p> + +<p> +Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an Walburg. +"Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. +</p> + +<p> +"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage ihn +<i>gern</i> fort." +</p> + +<p> +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein Bergmann +über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert und war froh, daß +diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie nicht, fragte auch nicht +darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand unglücklich darüber war, Marianne +vielleicht ausgenommen, aber die würde sich bald trösten, und eine neue +Mieterin konnte sich nach Ostern finden. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit zur Bahn. +Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als Herr Pfäffling +seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere abnehmen, daß man +wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe kann. Aber vorsichtig, die +Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut verwenden!" +</p> + +<p> +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig darauf +los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das offene Fenster von +der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach den Brüdern rief. Otto sah +durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder herein: "Fräulein Bergmann hat +ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst herauf!" +</p> + +<p> +"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den schmerzlichen +Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch schon ihre Stimme: "Ich +muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." Richtig, da stand er in der Ecke! +Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell rannte er durch die Türe und konnte diese +gerade noch hinter sich schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. +Sie hatte nichts gesehen und eilte davon. +</p> + +<p> +"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr Pfäffling +überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb unten, einen +traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können bis morgen." +</p> + +<p> +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald sah alles +im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam nicht wieder, +das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling kehrte mit Elschen allein +zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," berichtete sie, "ihr letztes Wort +war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch einmal ein schönes Tischgebet schicken!'" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, "wir +singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu gekommen." Er +stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders frisch und fröhlich +klang, das war Fräulein Bergmann zu danken! +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap14"></a>14. Kapitel<br/> +Wir nehmen Abschied.</h2> + +<p> +Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, und das +leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der Kinder ahnte +etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen lernen und darnach +beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit sich nehmen würde. Sie +wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig geliebten Bruder erwartete, +und freuten sich alle auf den seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch +aus ihrer frühesten Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante +gekommen waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt worden +war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, auch war es +ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen Kind mehr +Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen Familie. Doch wollte er +den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines +der Kinder dem Geist des Elternhauses entfremdet würde. +</p> + +<p> +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während desselben +geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen zeigen. +</p> + +<p> +In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. Doch nur +für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht besser ausfiel +als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, schlimm auch um die +Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht Karls Liebhaberei, der junge +Lehrer und der Schüler hätten sie gleich gerne los gehabt. Darum strebten die +Brüder gleich aufeinander zu, als die Klassentüre sich auftat und die Schüler +herausdrängten. Über der andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne +Karl sein Zeugnis hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl +schon manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch zu +erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die Jungen mit +den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte er schon, daß es +Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine Durchschnittsnote nötig?" fragte er und +überblickte das Zeugnis, und war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder +waren enttäuscht, nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein +müssen. "Hast du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. +</p> + +<p> +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind wir noch +in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so vergnügt seid, ihr +meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, aber ganz kann ich euch noch +nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst gleich wieder rückfällig werden. +Sagen wir <i>einmal</i> statt zweimal in der Woche." Sie machten lange +Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte +der Vater hinzu. Da heiterten sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens +in den Ferien frei war, im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr +in einem hin. Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder +vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern +begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche Heftchen auf +des Vaters Tisch ausbreiteten. +</p> + +<p> +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie Elschen +ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die geheimnisvollen +Ziffern zu deuten. +</p> + +<p> +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen Übermut +hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a plus b ist? Das +weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen Vierer." Von allen Seiten +kamen nun solch verfängliche Fragen und es wurden ihr lauter Vierer prophezeit, +bis ihr angst und bang wurde, sie sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du +gibst mir dann jeden Tag Mathematikstunden!" +</p> + +<p> +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten sie +eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug gekommen. Sie +schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in Händen +hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm wieder das Bild vor +die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine mit dem Ausdruck tiefsten +Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein gewissenhafter und geschickter +Klavierspieler geworden, aber die Liebe, die er zu seiner Violine und auch zu +der Harmonika gehabt hatte, die brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem +Herzen war er nicht dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine +erwähnt. Ob sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater +hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine +Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an. +</p> + +<p> +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir nicht mehr +so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes Gesicht machte das +Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete er leise: "Ich möchte sie +gar nicht mehr haben." +</p> + +<p> +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören kann, +wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du <i>kannst</i> nicht, Frieder? Du +<i>willst</i> nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du nicht, daß +wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte nicht lieber selbst +weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde geben, wenn sie jetzt kommt? +Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach Tisch in ihren schönen Büchern +liest, nicht lieber weiterlesen als schon nach einer halben Stunde wieder das +Buch aus der Hand legen und die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten +nicht lieber auf den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben +unter unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet hat? Und +der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und sagen: 'Ich kann +nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor den Tierlein, vor den +Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich schämen!" +</p> + +<p> +"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim Geigen +nicht." +</p> + +<p> +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann mitten +im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir Mühe, und wenn du +dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage es mir, dann will ich dir +jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige geben." +</p> + +<p> +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank deutend, der +in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem Ton: "Da innen ist +sie!" +</p> + +<p> +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen Willen +bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; Fräulein +Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern mit Marianne, +ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei plaudernden +Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur Stunde. Noch rosiger +und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte solch eine wichtige Neuigkeit +unter vielem Erröten mitzuteilen! Die Karten waren ja schon in der Druckerei, +auf denen zu lesen stand, daß Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen +schönen, jungen, reichen, blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber +unmusikalisch war er leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er +doch der Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. +</p> + +<p> +"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner Schülerin, +"vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." +</p> + +<p> +"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht wahr, +wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute Freunde und +Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das gibt zwei süße +Brautfräulein!" +</p> + +<p> +"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die Marianne? +Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner Frau sprechen."— +</p> + +<p> +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. Alle +Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und zugleich für den +Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren des langen Winters waren +mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern +verschwunden, die Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, +Walburg brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine +mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden, +Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der Gast +ankommen. +</p> + +<p> +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," sagte Karl, +als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, Frau Pfäffling freute +sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in der alten Heimat schön +gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender sein, ihn im eigenen +Familienkreis zu haben. +</p> + +<p> +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle +miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, er war +nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und nur allmählich +erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe. +</p> + +<p> +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und sahen +begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten auf, und +jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen Kopf kleiner als +der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so schmal. Fein sah er aus im +eleganten Reiseanzug und daß er eine voll gepackte Ledertasche in der Hand +hatte, wurde von Elschen besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder +bemerkt worden sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte +sogar den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen +doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht so," +entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom Fenster, und +vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief +Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!" +</p> + +<p> +Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die Kinder +berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, in den Zügen, +in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie ihn, und auch er +fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen seiner Schwester, die +andern seinem Schwager ähnlich. +</p> + +<p> +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen den +Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den Gast voran +gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen Gefolge. "Wie komisch +sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der Mutter. +</p> + +<p> +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." +</p> + +<p> +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. "Cäcilie, nun +kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?" +</p> + +<p> +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine stattliche +Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die ungewöhnlich große +Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr habt euch wohl eine +besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen Schüsseln?" sagte er +spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme Dienerin? Wie schade um das +Mädchen!" +</p> + +<p> +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, "ich war +mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser werden." +</p> + +<p> +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal ein +Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel gefallen, es kommt +etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht, welches ich meine?" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es: +</p> + +<p class="poem"> +In größerem Kreise stehen wir heute<br/> +Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.<br/> +Aber die richtige fröhliche Stimmung<br/> +Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.<br/> +Nahe dich freundlich jedem von uns. +</p> + +<p> +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine Neffen +und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich alle beteiligen +konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, "die meinigen haben es +auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, bei dem es nur leider gar zu +leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie machten sich mit Eifer daran und +trieben es täglich fast mit Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den +Onkel, der, hinter der Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen +die zwei Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler +gleichmäßig verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, +Wilhelm, der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei +nehmen, sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam. +</p> + +<p> +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht immer +mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus der Hand und +gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner Zeitung hervor. Das Wort: +"Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch weiter zu wirken. "Hat jemand des +Vaters Brief auf die Post getragen?" fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das +könntest du besorgen, Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So +entfernten sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling +setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist +rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich +zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel aufgeben. Das +täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?" +</p> + +<p> +"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die Kinder +sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig werden, so helfen +sie mit." +</p> + +<p> +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und ich +sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger hervorgehen. Wie +die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie ihr eigenes Ich dem +allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und widerspruchslosen Gehorsam +sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß +sonst das ganze System in Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein +Mann ein so leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher +Minister. Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, +in ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." +</p> + +<p> +Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was kümmerte +sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des Onkels, die +traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer Kinder zu mir nehme," +hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören sollen, es war nur halblaut +gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts anmerken, aber lange konnte sie diese +Neuigkeit nicht bei sich behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle +unten am Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie +vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht +zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit, +fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer +ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte: +"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, der +doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er +<i>mich</i> mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für +ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die +fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so +glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor +die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein gestanden. +Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen +das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum +andern blickten, und da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht +missen mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle +geben wir nicht her!" +</p> + +<p> +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit Herrn +Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah hinunter, "Dort +steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, "eines dicht beim andern, +keinen Stecken könnte man dazwischen schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und +wie sie eifrig sprechen!" +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen." +</p> + +<p> +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue Freunde +mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im Nest gesessen +waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich nun aber die Hand +ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest herausnehmen, dazu kann ich +mich immer schwerer entschließen. Geben wir doch den Plan auf! Lassen wir das +fröhliche Völklein beisammen, es kann nirgends besser gedeihen als daheim!" +</p> + +<p> +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft +unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" +</p> + +<p> +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht. Aber +den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut ist, die +Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist." +</p> + +<p> +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau +Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von Wilhelm. Du +kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen Lateinschüler findest, +der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er neulich tat bei unserem ersten +Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei meinen Kindern auch etwas von diesem Geist +zu spüren! Kehren wir doch die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen +einmal. In euren einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine +Ansprüche fallen lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern." +</p> + +<p> +Es blieb bei dieser Verabredung. +</p> + +<p> +Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war von +schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten plötzlich +Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten herauf. +</p> + +<p> +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr auch, +Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von euch wollte ich +mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für ein viertes, und eure +Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich tue es nicht. Wollt ihr hören +warum? Weil ihr es so schön und so gut habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen +Welt besser haben könnet. Ihr lacht? Es ist mein Ernst." +</p> + +<p> +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja wissen. +</p> + +<p> +Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du denn +mitgenommen?" fragte sie. +</p> + +<p> +"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und deutete +auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt! +</p> + +<p> +Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie stand mit +wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder für eine fremde +Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen mußte. In ihren +Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen Mann die Treppe +heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen, hörte Marie zum Vater +hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem +Gedankengang. +</p> + +<p> +Aber jetzt? +</p> + +<p> +Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie wollte +dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da stand er vor ihr +mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: +</p> + +<p> +"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht fassen und +glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es selbst schwarz +auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem gemieteten Lokal die +Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer Pfäffling zum Direktor ernannt +hätten. Es fehlte nichts mehr als seine Einwilligung, und auf diese brauchten +die Marstadter nicht lange zu warten! +</p> + +<p> +Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern herbeigelockt. +Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie die gute Kunde, sie +sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und immer wieder sagte: "Wie mag +ich dir das gönnen!" +</p> + +<p> +Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern widerstrahlte. +</p> + +<p> +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er mit +seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war. +</p> + +<p> +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch sagen!" +</p> + +<p> +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem Schrank +stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. +</p> + +<p> +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" +</p> + +<p> +Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst du mir +am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten darin aufhören, +ich habe es probiert." +</p> + +<p> +"Wie hast du das probiert, Frieder?" +</p> + +<p> +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den Pfannenkuchen. +Die andern wissen es." +</p> + +<p> +"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine Tischnachbarn +Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling schloß den Schrank +auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, "dann warten wir gar nicht +bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies Festtag bei uns, du weißt wohl noch +gar nichts davon? Da hast du deine Violine, kleiner Direktorssohn!" +</p> + +<p> +Ja, das war ein seliger Tag! +</p> + +<p> +Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die +Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so fürchtete +sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, sah sie mit +herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr Direktor will auch +deinen Lohn erhöhen." +</p> + +<p> +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder allein +in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen Hände +ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch Fremde die +Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen zusammen, und während sie +sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang herunter und Frau Pfäffling +erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann übte mit den Kindern den Chor mit +dem Endreim: +</p> + +<p class="poem"> +"Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/> +Es lebe die Direktorin!" +</p> + +<p> +Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe im Haus +gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte er eine kleine +Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und befestigte an der +Haustüre die Aufschrift: +</p> + +<p class="poem"> +<i>Wohnung zu vermieten</i>. +</p> + +<p> +Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf die +Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir die +Familie Pfäffling war!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 10917 ***</div> +</body> + +</html> + + diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..701d947 --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #10917 (https://www.gutenberg.org/ebooks/10917) diff --git a/old/10917-0.txt b/old/10917-0.txt new file mode 100644 index 0000000..cb21a17 --- /dev/null +++ b/old/10917-0.txt @@ -0,0 +1,7867 @@ +The Project Gutenberg eBook of Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper + +This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and +most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions +whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms +of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at +www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you +will have to check the laws of the country where you are located before +using this eBook. + +Title: Die Familie Pfäffling + +Author: Agnes Sapper + +Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917] +[Most recently updated: February 28, 2022] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +Produced by: Olaf Voss, Michael Wymann-Böni, and Project Gutenberg Distributed Proofreaders + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING *** + + + + +Die Familie Pfäffling + +Eine deutsche Wintergeschichte + +von Agnes Sapper + + +1909 + + + + +Meiner lieben Mutter +zum Eintritt in das 80. Lebensjahr. + +Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was +ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene +Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die +Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in +einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von +Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren +verstanden, was ihnen versagt war. + +Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die +Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du +die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, +anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen +Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer +entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit. + +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte +möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen. + +Herbst 1906. + + +Die Verfasserin. + + +Inhalt + + 1 Wir schließen Bekanntschaft + 2 Herr Direktor + 3 Der Leonidenschwarm + 4 Adventszeit + 5 Schnee am unrechten Platz + 6 Am kürzesten Tag + 7 Immer noch nicht Weihnachten + 8 Endlich Weihnachten + 9 Bei grimmiger Kälte + 10 Ein Künstlerkonzert + 11 Geld- und Geigennot + 12 Ein Haus ohne Mutter + 13 Ein fremdes Element + 14 Wir nehmen Abschied + + + + +1. Kapitel +Wir schließen Bekanntschaft. + + +Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit +hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in +die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die +Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. +Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes +Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem +der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt. + +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein +Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen +fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge +Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre +Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten +Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist +sicher kein anderer als Frieder Pfäffling. + +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof +verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach +den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer +Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, +war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der +Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen +sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte +zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten +sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das +alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas +näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule +ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine +runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr +Zeit zu lassen als die andern. + +Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben +Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur +noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, +sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling +atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, +bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine +Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend +von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie +war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken +versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen +Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, +plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun +die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr +fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter +in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den +letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken +kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie +ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme +allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie +ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort +oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders +Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar +zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig +geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte +Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die +Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an +ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen! + +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: +"Elschen, flink, Essig holen!" + +Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße +hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem +Essigkrug zum nächsten Kaufmann. + +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner +Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. +Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf +gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge +nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem +Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit +dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so +abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen +Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen +herunterpoltern," sagte der Hausherr. + +"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja +rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es +pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie +müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen +auf die abgetretenen Stellen." + +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt +doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, +was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen +voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer +Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch +nicht übers Herz." + +"Nein, nie! Aber du auch nicht." + +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue +Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand +bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die +Stufen, aber sie blieben doch abgetreten. + +Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine +vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und +erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das +Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren +die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der +Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief +auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und +Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen +gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei +Großen, jetzt muß ich entgegen laufen." + +Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle +zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor +Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, +der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden +Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern +Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre +Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen +Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in +dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. + +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet +ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe +an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr +war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?" + +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," +fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln +hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann +richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie +standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So +schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja +wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter +Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! +"Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das +erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, +langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der +zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und +Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und +deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der +verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er +zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum +denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, +"kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am +öftesten." + +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," +und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich +herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's +recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung +zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie, +was kann man mehr verlangen? + +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog +ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" + +Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft +hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der +Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so +öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und +klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch +zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen +Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. +Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal +den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete +sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die +Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." + +Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, +aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie +kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des +Wintersemesters. + +"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben." + +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf +ich nimmer mitbringen." + +"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand." + +"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben." + +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." + +"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend." + +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, +umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der +kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine +Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den +Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die +sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten. + +Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, +indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und +Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die +er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei +Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor +und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte +der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt +eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so +viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder +Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, +aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine +kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, +"Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war +nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und +miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß +auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr +gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen +sie, ob das wohl recht viel kostet?" + +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab +und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. +Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade. + +Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen +sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu +ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen +beisammen saßen. + +"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist +höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue +Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind +jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir +nicht leben." + +"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr +zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es +sorgliche Gedanken im Herzen bewegte. + +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der +wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene +Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern +sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder +heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen +Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten +nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den +Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, +sagte genug. + +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, +"daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als +Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene +Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die +geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und +vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!" + +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle +andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins +Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und +strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, +rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm +seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe +blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was +soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," +rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief +in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die +Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu +erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb +drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog. + +Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in +seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie +wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in +Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten +zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner +Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und +von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich +ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur +_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine +Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist +doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und +nun wurde die Harmonika eingeschlossen. + +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als +letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen +Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule +ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern +gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es +glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den +kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich +der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, +sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das +Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah +so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. +Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn +der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein +zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für +Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch +auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte +Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte +immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So +erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, +sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder +vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die +Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, +die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie. +"Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf +an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei +uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer +gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles +durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an +den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war +ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle +du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann +brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—" + +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, +denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und +sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im +Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht +darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus +und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: +"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist +da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun +fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. + +"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und +Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, +die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz +zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, +"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, +sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist +traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich +mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten +geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen +hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an +als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große +Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche +hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und +ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein +paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer +zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als +niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der +Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das +Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast +abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand +wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem +Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen +Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu +sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern +bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg +sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit +ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an +Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete +Karl. + +Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter +Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als +Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das +Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als +sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, +wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama +nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie +zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den +Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so +bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie +sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde +sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling +seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder +drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, +die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, +begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu +sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte +Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie +schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig +herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_. + + + + +2. Kapitel +Herr Direktor? + + +November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich +leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. +Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden +noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen +Arbeit. + +Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen +Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier +Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte +französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und +suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte +im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte +kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal +geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem +Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still +beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang. + +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten +ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten +sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn +der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern +wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei +rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten +Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung +hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, +es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch +zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. +Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang +hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine +Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich +die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf +eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im +Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den +Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern +kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde +vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken +sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten, +entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt +hatte. + +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding +hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen +das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. +Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater +noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?" + +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen +wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch +zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie +sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein +Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere +hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht +zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an +und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir +graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?" + +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen +Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die +Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in +Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das +Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre +verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher +Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen. + +So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der +eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker +in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht +eben schlechte Zeugnisse nach Hause. + +An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer +trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu +mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe +zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie +folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie +beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag +auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, +lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für +seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste +Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt +schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle +mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, +Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer +größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach +meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor +zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; +Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit +fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man +nur so fragen!" + +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee +und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet +eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und +rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die +Kartoffeln kalt!" + +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, +folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll +Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, +und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller +Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem +unsicheren Zukunftsplan erwähnten. + +Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige +Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren +gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei +diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit +auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen +und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger +Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte +er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder +hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den +Hintergrund treten." + +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder +nicht," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder +können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen +gemütlichen Teetisch." + +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem +Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des +erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der +Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es +euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!" + +Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung +herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. +Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten. + +Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der +Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn +auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und +verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit +dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den +Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und +weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich, +mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein +Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht +das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber +hinauf!" + +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich. + +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch +ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße +gut ab." + +Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht +recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den +Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch +lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die +Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die +Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für +seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste +Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben +auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die +wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich +nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von +seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem +Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz +trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich +ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war +ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der +zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. +Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren +zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun +und plauderte freundschaftlich mit Karl. + +Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. +Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über +ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt +dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder +einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal +mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß +redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen +Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge +Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, +mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing +es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, +und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über +die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. +Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte +da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an +Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter +fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die +Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. +Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz +bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie +wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er +sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: +drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten! + +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben +die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, +die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß +sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, +erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise +nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte +sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor. + +"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, +da hört man uns nicht." + +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das +Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was +sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier +nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen +an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und +durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird," +schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich +nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen +meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt +die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den +großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber +auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen. + +In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos +seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie +miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre +dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner +Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_! + +Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des +gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen +Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe +besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige, +Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier +gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete +dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch +nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber. + +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur +Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im +Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, +doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen +habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die +Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen. + +Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, +als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und +betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie +nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige +Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei +diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, +sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit +weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?" + +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme +oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er +sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, +unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches +Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch +plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer." + +Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern +Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im +sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein +mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er +dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte +Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem +"Guten Morgen" und "Gute Nacht". + +Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und +bewegten doch ungefähr denselben Gedanken. + +Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit +meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts +davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging +er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. + +Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein +sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, +diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut +und nicht ahnt, daß er stört. + +Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater +schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden +sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es +eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf +Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht +fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich +freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute +Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." + +"Gute Nacht, Karl." + +Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte +Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die +Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und +er hat gelesen." + +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling +lächelnd. + +"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief +seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett +gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: +"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater." + +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß +du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier +bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir +besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun +bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns." + +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein +Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde +erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte. + +Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette +legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen +könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine +Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu +entreißen. + +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach +Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung +des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden +hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die +Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling +wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten +habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling +immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, +statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er +sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine +seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden! + +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein +Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so +wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ +Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu +jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes +über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber +war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch +eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten! + +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. +Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner +hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz +unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn +groß an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?" + +"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, +und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst +hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in +unseren knappen Verhältnissen." + +Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag +gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der +Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner +Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine +glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein +schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört +verschwenderischen Gabe einer Rose im November! + +Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit +seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die +geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch +die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg +wurde es ins Ohr gerufen. + +Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den +Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen +Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde. + +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als +Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu +Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer +aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter +hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der +Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und +von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm +dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein +bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde +der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen, +umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein +paar Jahre warten wolle! + +Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen +weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er +dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach. + +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, +wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den +Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von +einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand! + +Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es +wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon +vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher." + +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die +sind so—ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar +nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!" + +Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre +wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es +ja nicht so sehr ferne gerückt!" + +"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr +Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins +richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts +mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_." + +Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den +Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern +fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser +Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn +entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur +gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß +wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in +der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen." + +"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den +schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht +anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich +kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, +aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört +auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was +Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit +es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. + +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann +deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt +auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab." + +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine +Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten +schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese +Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden. + +Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand +und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend +war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied +komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die +Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder +Vers ausgeht: + +"'Drum rufen wir mit frohem Sinn: +Es lebe die Direktorin!' + + +"Nun muß es heißen: + +"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn +Du wirst niemals Direktorin.'" + + +"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es +muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." + +"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er +trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer +machen." + +Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie +auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel +Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So +erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel. + +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe +eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?" + +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter +der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit +strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, +Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. +Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die +Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?" +fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil +ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von +unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus +und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann +kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut +aufgenommen worden. + +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, +die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich +vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er +war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch +schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, +gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem +festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung +unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu +seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern: + +"'Direktor her, Direktor hin, +Wir haben dennoch frohen Sinn.'" + + +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. +Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein +Vernagelding sein?" + +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, +die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich +die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst +nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das +Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit +verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter +und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen +zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als +diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte +und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit +mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, +ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in +Rosa." + +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits +etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht +mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht +immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon +wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an +den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn +strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, +daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht +süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte +er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, +das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim +für heute." + +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin +empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix. + +Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß +Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal +entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. + +Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube +aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe. + +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," +sagte Frau Pfäffling besorgt. + +Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten +Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller +Herr. Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir +müssen ihm gelegentlich ein Präsent machen, Agathe." + + + + +3. Kapitel +Der Leonidenschwarm. + + +Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau +Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die +Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob +sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den +Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden +die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten +geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden +konnte. + +Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten +sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. +Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher +Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als +Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen +Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil +zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er +ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er +herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. +Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in +verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem +Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. +Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein +kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es +zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte, +und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil, +anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen +früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht +übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika +genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes +herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann +mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört, +da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." +"Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule." + +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" + +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder +ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da +wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine +Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer +nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er +sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie +hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. +Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen +Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden +vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während +seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern +von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute +hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte +er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren +und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. +Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man +meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, +kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im +Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, +leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz +unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind +gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, +wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen +über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer +und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn +mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, +dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz +feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das +nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine +Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es +auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr +Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. +November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der +Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in +diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön +wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb +seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die +Wache ziehen um den Preis." + +Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle +mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie +sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und +von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die +Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt +unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die +Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied +Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, +weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts +geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater +wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die +Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich +erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei +Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften +nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der +Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon +von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen +Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie +lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine +Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl +durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft +ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur +so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf +das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja +es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die +Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte +er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch +möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor +Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und +die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer +mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor +und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu +sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel +entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer +fliegenden Kugel gesehen zu haben. + +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei +das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben +dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht +einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich +wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei +in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die +Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: +"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große +warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem +Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel +in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die +Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches +Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht +ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den +Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem +Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem +Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen. + +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas +gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber +sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte +sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten +Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb +derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat +nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr +unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche +Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch +entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre +vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus +herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon +herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem +Gewissen, der mochte klingeln. + +Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der +Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In +wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern +und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so +schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl, +"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich +reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß +einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da +droben alle so fest!" + +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. +Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen +dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die +riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine +Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend +sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als +die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder +eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in +gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit +vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich +sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich +aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die +Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, +von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den +staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein +sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit. + +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden +sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein +einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, +"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die +Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und +schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also +kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu. + +"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er." + +"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da +draußen bleiben in der Kälte!" + +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an +die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von +innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte +Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte +und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach. + +"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. + +"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, +es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in +Ordnung, was hält die Türe zu?" + +In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand +hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder +den Riegel vorgeschoben." + +"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat +das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: +"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!" + +"Aber er hat es doch erlaubt!" + +"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" + +"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen." + +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, +wer hätte es sonst tun sollen?" + +Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln +dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in +den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon +schlafen." + +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und +suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so +stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so +unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! +Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal +reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber +hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß +ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte +stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. +Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war +denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte +und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun +aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich +wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da +fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," +sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir +nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da +waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite +des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so +laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß +Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, +Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber +umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und +die Hausleute wachten auf. + +Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun +möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten +Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder +erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, +keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, +lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute +Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir +wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie +tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in +der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es +unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen. + +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte +die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern +draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie +besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid +Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen +sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur +Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So +hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht, +denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht +an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. + +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur +hinaus?" + +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie +vorwurfsvoll und schloß das Fenster. + +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, +"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da +schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen +Morgen?" + +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu +seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. +Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts +geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute +bedanke ich mich!" + +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob +den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen +Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit +so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung +entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von +der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er +ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten +Januar sei ihm die Wohnung gekündigt." + +Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es +den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen +Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der +Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr +Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn +er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie +sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum +andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen +der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung +herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück! + +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich +ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen +war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht +vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. +Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf. + +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine +Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem +Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, +als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön +heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei, +bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon +hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser +zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim +Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der +Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen. +Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt +werden, kommt!" + +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. +"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr +hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war +aber der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun +schön?" + +Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß +sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte +gleich Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch +nicht gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?" + +"Das nicht." + +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und +sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir +hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken +gewesen—wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa +wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt." + +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie +aus einem Mund. + +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf +den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter +Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das +hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir +sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte +Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne. + +"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. +"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich +würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So +aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb +geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?" + +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr +Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht +alles gesagt." + +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die +schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. +Januar sei gekündigt." + +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch +aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu +glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist, +glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man +einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal +wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, +was hat er denn sonst noch gesagt?" + +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's +schon vorher ausgedacht hätte." + +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber +geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die +Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" + +Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: +"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht +verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie +in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen." + +"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, +frühstückt!" + +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig +waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor +Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch +nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute +fühlte er, daß es so sein müsse. + +Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger +Erregung, so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er +tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um +sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch +als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den +Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der +Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der +Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ. + +So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei +Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem +Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt +bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch +die Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der +leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so +viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht +deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz +anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau +Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging. + +Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie +hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des +echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie +stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht +hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen +einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau +Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die +beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg. + +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien +benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum +Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des +Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche +hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen. + +Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch +sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören. + +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes +miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr +und sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer +miteinander verständigen würden. + +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht +gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der +Wache gesehen hat?" + +"Ja, du warst ja dabei." + +"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum +erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte +Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem +Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des +Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte. +Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn +treiben, zu tun, was recht war. + +Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er +ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel +gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der +Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die +da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen +ausgingen. + +Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der +Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, +und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er +nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar +nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen +Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. +Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch +nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun +wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!" + +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus. + +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen +sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller +einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," +sagte sie und gab jedem einen Apfel. + +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, +damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen +jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an +der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, +so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu +gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und +kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der +erschrockenen Hausfrau. + +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je +besser sie's meinen, um so ärger poltert's." + + + + +4. Kapitel +Adventszeit. + + +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne +Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen +Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender +hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den +Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf. +"Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom +Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht +erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen +es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum +Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher +Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung +stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling +stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen +und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!" +Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung, +auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen +Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal +gesagt hatte etwas anderes als die Melodie. + +Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit +sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige +nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute +mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und +Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an +der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden +wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle +sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer +soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling +bedenklich. + +"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der +Kinderchor. + +"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein. + +"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben. + +"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, +hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die +ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von +ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche +gesegnete Andacht". + +Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe +herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche +einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben +ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der +Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach +einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er +nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu. + +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs +Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest +sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das +dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden +die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber +heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war +über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling +Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön +der Christbaum war?" + +Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten +stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit +leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine +Hauptperson, die allen die Freude erhöhte. + +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten +flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es +durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, +die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, +in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht +Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!" +Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die +Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer +der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn +ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, +wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und +da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr +drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr +niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche. + +Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder +wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte +er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen +und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte +sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner +Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es +ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, +bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der +Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße. + +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden +machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen +bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer +verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber +es ging nicht so. + +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch +schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine +Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob +Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die +Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? +Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, +vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er +fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." + +Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten +und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast +du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte +Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst." + +"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen +nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, +"könntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und +zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete +der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze." + +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte +spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und +die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die +Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer +riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: +"Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie +Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog, +gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen +betroffen auf den kleinen Musikanten. + +"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und +wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte +keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er +drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber +er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer +zum Leben zu erwecken. + +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von +ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange +Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich +weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!" + +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein +Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, +bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz +enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. +Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte +er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten +wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein +Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht +eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde. + +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. + +Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die +Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für +die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen +getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts +ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder +verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf +den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht." + +"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen +Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren +großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern +mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er +wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig +erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie +lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, +was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit. + +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister +um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, +streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da +nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht +erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne +Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim +Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das +schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei +können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum +müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal +Walburg sagt, Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte +Zündhölzer, einen rechten Sack voll." + +Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, +und fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, +"dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da +gestanden bist." + +"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der +Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle +vergnügt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du +deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die +andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, +das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er +sich glücklich auch ohne Harmonika. + +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, +viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis +abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein. + +Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt +viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, +der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb +hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und +machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten +es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und +wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß +sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen +Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als +alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen +schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben +herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die +gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen." + +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes +Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße +entgegengesetzt lag. + +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in +kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier +ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und +Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf +Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in +Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen +abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all +dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du +mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen +vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder +einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." + +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. +"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" +sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles +abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst." + +"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei +euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als +ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie +angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören +zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn +heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben +riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld +glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland +ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man +artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, +sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem +Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr +sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. +Nun heißt es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die +Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit +liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren +aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.' + +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner +militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem +Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die +zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das +ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht? + +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es +hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen +Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug +zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich +wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, +eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht +handeln." + +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling +hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den +Musikunterricht geben?" fragte er. + +"Weiß ich nicht." + +"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen." + +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche +Herrschaften muß man immer das feinste wählen." + +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." + +"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hören sie gern." + +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als +Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen +ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren +für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß." + +"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier +herablassend, "vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer +erkundigen und nicht bei den Professoren." + +"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt +du mit den Russen sprechen." + +"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du +hast keinen Begriff von Umgangsformen." + +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, +aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, +was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar +nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal +in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein +Schwindel." + +"Ich vermag viel im Hotel." + +"So beweise es!" + +"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen +hast." + +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich +für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum +Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel +zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen +wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben. + +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, +in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen +Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" + +"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit +kommt." + +Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und +erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause +vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du +solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater +nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf +Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei +unser Vater viel zu vornehm." + +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern +der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter +Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß +sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran, +als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom +Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort +warten." + +Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, +die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der +höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und +Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor +Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten, +flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der +Rudolf Meier! + +Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so +erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem +schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier +senior ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag +erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr." + +Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier +von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm +zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der +Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell +ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr +Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in +Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung +gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer +weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen +dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: +"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen +gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere +Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding." + +"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr +Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für +meine Marterstunde." + +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die +andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen. + +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war +schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch +die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr +Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. +Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute +schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte, +Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei. + +Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich +eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig +herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen +der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des +Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel +jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß +Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber, +lachte und spaßte mit den Schwestern. + +"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen +heißt so?" + +"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es +eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie +und Anne, aber so ist's eben bei uns." + +Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes +Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt. + +"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu +spielen," richtete Marie aus. + +"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es +lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen +Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint +Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, +ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. +Die Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch +nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den +Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" + +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch +zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt +bloß die, die recht musikalisch sind." + +Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so +plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner +Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. +Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie +mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so +elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit +mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ." + +"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch +sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen +Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer +ein sicheres Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß. + +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen +ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts +zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am +schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, +und im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe +das Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein +und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling +lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es +euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie, +Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche +herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn +ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel +gut ausgefallen sein!" + +"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch +musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube +kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und +ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß +sein wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich +euch erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges +Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als +Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon, +spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, +kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so +einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte +mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor +einzuführen, und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach +richten, die Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden +glauben, solchen Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann +geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe +hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich +an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling +vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz +nahm, empfahl er sich. + +"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht +mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen +durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei +jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle +ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in +die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt +davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen +sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die +Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig +Deutsch, versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch +hörten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch. + +"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen +Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich +kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber +allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter +und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei +lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für +welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas +überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich +ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher +Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr +Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach +ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich +wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht +einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann +spielte ich. + +"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer +näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß +wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann +Violine, und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel +ihre größte Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag +ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach +dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung +mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine +Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, +begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit +war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich +vergessen hatte. + +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er +hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in +der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. +Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien +sich wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und +flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet +worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich +habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter +sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger +Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, +als du bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das +Auftreten eines Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst +durchschaut." + +"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man +sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben." + +"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden +bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges +Jubellied gesungen werden!" + +Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der +General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher +Deutscher." + +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen +meinen Aufsatz machen." + +Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die +Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau +Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer +Glacéhandschuhe." + + + + +5. Kapitel +Schnee am unrechten Platz. + + +Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der +erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten +Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen +Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der +alles verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und +glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die +Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen +des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. + +Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier +nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch +eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich +verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus. + +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden +Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie +wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen +Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, +klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke +herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter +ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er +sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu +dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum +im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet. + +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge +Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei +doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg. + +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem +Christbaum nicht den Platz? + + +Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch +den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit +dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die +Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren +die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee +bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt +werden. + +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da +und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die +wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und +von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine +hohe Mütze auf. + +Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas +sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und +öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus +vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle +beladen mit Christbäumen. + +"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der +Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als +er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch +einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann +nach. + +Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem +richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand +voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und +richtete dadurch Unheil an. + +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo +einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein +hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer +der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, +indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, +seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die +anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn +nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit +warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde +eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht +der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig +auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz +für den Schnee! + +Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und +so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige +Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus +Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und +dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit. + +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. +Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und +erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees +abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und +Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr +Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem +Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle +die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun +freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann +kommen sahen, liefen auf und davon. + +Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach +seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der +Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören. + +"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete +die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. + +"Die Wohnung?" + +"Frühlingsstraße." + +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir +auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein +"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein +Name. + +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling +schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist +das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: +fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich +aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie +ich." + +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser +Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig +zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, +mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders +Gesicht so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er +unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen +Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte +beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am +Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und +Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor +Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen +Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, daß Herr +Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam. + +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah +überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. +"Was ist's, Vater?" fragte er. + +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da +und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du +angestellt?" + +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann +doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn +getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" + +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr +Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt +an des Vaters Hand, daß es klatschte. + +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft +beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf +diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein +Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze +Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der +trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe +wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und +woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm +nicht erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um +welche Zeit?" + +"Um 11 Uhr." + +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es +dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt +die Sache noch ins Zeugnis!" + +"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen +sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" + +Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du +nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu +ihrem Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?" + +Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der +Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein +ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um +einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar +nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!" + +"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen +haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. +Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." + +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: +"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr +niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude +aus dem Hause gewichen. + +Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, +berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, +und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und +sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der +Polizei hört, dann kündigt er uns!" + +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das +Schreckgespenst, die Kündigung! + +So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie +auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein +Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine +Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr +doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte +zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von +vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen." + +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu +erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die +übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! + +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu +Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." + +"Es ist nicht wahr." + +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es +deutlich gesehen." + +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als +der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung +seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn +Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, +erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er +hörte, daß Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir +auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon +störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute, +wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich +sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" + +So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht +zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer +Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen +vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde. + +Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors +das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten +Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes +Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. +Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er +ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz +fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster +Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um +ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun +war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr. +l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling. + +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze +Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte +ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," +sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!" + +Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann. + +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: +Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit +Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das +Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe. + +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. + +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber +weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast +mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort +heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte +wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, +nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, +und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem +Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär +Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines +Vergehens entschuldigt hat." + +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit +als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht +mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht +möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?" + +"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und +der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen +Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu +kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein." + +"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um +solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie +es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf +der Sache war." + +Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach +der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen +der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte +noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, +indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn +gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort +aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, +der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf +Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in +aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich +nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den +Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich +gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, +den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein +rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" + +"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir." + +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe +hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir +den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht +lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer +Klasse." + +"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich +kann ihn doch nicht angeben?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und +deine Menschenkenntnis ist nicht groß." + +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," +sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus +ist." + +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das +Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst +nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem +Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr +euren Schulhof!" + +Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," +rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du +gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt." + +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal +erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel +besser vorgebracht." + +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht +glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft +möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke +ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann +schweige ich lieber." + +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen +genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine +strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern +lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür +fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du +ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber +freilich mußt du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt." + +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. + +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" +fragte Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich +mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den +Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer +weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen +vertreten haben, so gut er es eben versteht." + +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz +gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des +Vaters Hand, küßte sie und lief davon. + +Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele +freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt +nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine +Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist +gut vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei +der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen +Schriftsteller. + +"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der +Professor nach der Stunde zu Wilhelm. + +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht +aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem +angegeben." + +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" + +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete +Wilhelm. + +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden +sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war +unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann +aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den +falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern +fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts +geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht +übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts +macht." + +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief +Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem +Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann +nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich +durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe +hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es +so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere +um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und +bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten +Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand +lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und +schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht +_ein_ Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte +er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt +sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht +entgehen. + +Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so +peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts +getan, was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich +wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher +Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es +am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte +sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: +'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu +Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit +taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und +Geld für sie verwenden? + +In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr +nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter +das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft +hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten +die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn +sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die +doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob +nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer +daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen +gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder +fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war +schuld. + +Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. +Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief +die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte +heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah +sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze. + +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter +Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände +waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf +die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte +sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie +aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem +vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit +hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die +Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung +vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in +ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf +dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr +Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, +sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles +gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!" + +Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch +Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz +andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen +Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben +geschrieben stand: + +Man bittet die Türe zu schließen! + + +Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts +helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen. + +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel +ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig +flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind +manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß +es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen." + +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die +Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als +sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, +ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, +so weit sie nur aufging. + +Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den +guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, +daß heute etwas besonderes los war. + +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas +kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." + +Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau +Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die +ganze Familie am Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die +Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter +geworfen?" + +"Vergessen!" + +"So geht jetzt und besorgt ihn." + +"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. + +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch +nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht +verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich +nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem +Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an. + +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie +schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr +fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte +Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen +waren. + +"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, +wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders +für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn +Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn +ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter +machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen." + +Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt +werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der +Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem +Gymnasium ausgewiesen. + +Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine +Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren. + +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling +sagen. + +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum +nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder +war etwas anderes gemeint? + + + + +6. Kapitel +Am kürzesten Tag. + + +Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe +Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel +steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als +diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den +Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie +gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen +den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander +wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der +Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die +wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse +und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! +Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und +Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt +waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten. + +Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und +Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser +kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung +besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich +nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er +selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt +sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und +kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und +wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. + +"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel +verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand +legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus +einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn +angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die +andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst +der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte +die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter. + +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte +die Dame. + +"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume +geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm +heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. +"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur +nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch +unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der +Richtung, die er einzuschlagen hatte. + +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der +andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß +er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es +aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so +mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, +freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen +Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet +wären oder gar der Vater! + +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in +die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der +Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man +mußte ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem +Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu +Boden, ohne daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden +hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei +mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem +Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen +aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende +schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten +eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem +Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige +Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich, +die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das +wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer +Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte +niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten +Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach +Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte +einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum +wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige +Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen. + +"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist +Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun +lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei +die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als +sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 +vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. +Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und +größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als +er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er +jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die +Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar +nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! + +Und es war wirklich höchste Zeit. + +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun +aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: +"Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen +Vormittag weggeblieben!" + +"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. +Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern. + +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu +ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem +zugestoßen sein—, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die +Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen +sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, +als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur +nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, +fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon +fertig?" + +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört +hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch +in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man +nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl. + +"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg +zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der +Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht +machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den +Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter +sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen +dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging +von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen +ganz hart. + +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können +ja noch ein wenig mit dem Essen warten." + +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die +Kinder. + +So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er +es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, +und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau +Pfäffling merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch +hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den +Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?" + +Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie +man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell +ihn nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. +Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte +dieser, "ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie +heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau +hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders +Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du +kleines Dummerle, du!" + +Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, +läßt sich denken. + +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner +rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit +Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus +zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," +entgegnete Karl. + +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde +ich mich schämen." + +"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß +wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der +Ecke stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte +spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle +nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'" + +"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird +so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein +Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie +schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte +sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies +oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht +auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs +Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf +Meier ab." + +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit +Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der +Baum in die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte. + +Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir +nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht +gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet." + +"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir +ein Trinkgeld gibt," sagte Karl. + +"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen +Pfennig mehr." + +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins +Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum +so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, +deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." + +Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto +mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten. + +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, +als Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und +sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich +aus, wenn sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück +kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst +entschuldigen, nicht?" + +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach +war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. +Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im +zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der +rechten Türe. + +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein +wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als +Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu +gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den +Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße +wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile +vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war +Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war +nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten +gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich +erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum +getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte +man auch schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, +und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der +kleine Unglücksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie +trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht +gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, +er würgte an den Tränen, die kommen wollten, und preßte hervor: +"Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, +aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten +bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben gar +nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen +größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so +treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten." + +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit +dem Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr +zurück," und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein +wenig von seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig +davon. + +In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und +sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch +noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo +bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar +nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht +mir." + +Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen +jungen Pfäfflingen gemacht hatte. + +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er +kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe +nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, +ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da +konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr +wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken." + +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. + +"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten +kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen +Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?" + +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit +seinem Baum heimwärts. + +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter +angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe +geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm +klingelte, und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie +den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins +Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, +der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht +aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!" + +Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab +ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der +Baum, Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim +kam, ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber +er merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte +sie eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte +er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so +gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann +heiße ich dich einen Feigling!" + +Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das +brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu +vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten +Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem +Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der +Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und +ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich +kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn +um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für +feig." + +"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar +schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen +über dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft +nur ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer +sein kannst." + +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, +fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er +zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen +Musikalien auf. "Willst du etwas?" + +"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon +welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt +gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von +meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, +die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem +Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war +auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!" + + + + +7. Kapitel +Immer noch nicht Weihnachten. + + +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der +Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade +das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das +Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie +zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die +schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von +Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß +die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen +redeten, die sie bekommen würden. + +Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß +morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig +und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es +gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?" + +"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel +ist zurzeit noch keine eröffnet." + +"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. +Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag +nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal +nichts zu machen war. + +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der +letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie +nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise +geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. +Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es +sich, daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die +geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl +4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen. +"So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß +ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht +doch auf den ersten Blick den Vierer." + +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." + +"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?" + +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater +darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du +es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?" + +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren +inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die +Brüder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: +"Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, +fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, +und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon +zufrieden sein." + +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." + +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. + +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen +soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" + +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und +zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und +dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz +des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt +sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen +anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in +einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter +nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben +werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte +man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das +beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. + +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis +gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte +Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!" + +"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur +von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten +bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft +wieder, Karl?" + +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann." + +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat +sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus. + +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es +übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht +nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr +Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das +Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß +er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse +bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was +wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen +ist? Magst du raten, Vater?" + +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte +ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei +bis drei vielleicht?" + +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" + +"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und +Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will +ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal +unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling +noch von der Treppe herauf. + +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber +sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da +niemand in die Hände fallen. + +Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, +denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten +und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal +stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer +waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels +stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt +seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling, +nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit +herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des +Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, +einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume +in den Saal getragen wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche +zusammen, denn hinter ihm ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst +du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es +war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling +gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den +Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt +Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm +vorbei, die Treppe hinauf. + +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf +seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den +Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, +er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr +Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die +Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, +sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch +empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter +war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie +geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas +erzählten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über +ihn, das wußte er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. + +Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe +hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel +seiner Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig +musiziert. + +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte +ihm die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen +Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein +Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut +selbst keine! Der Sohn wird nichts." + +Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte +und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, +über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: +"Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen +Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht +teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht +zufällig da. Er wußte vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. +Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein +anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur +Sprache zu bringen. + +"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für +andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest +nur Arbeit." + +Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater +sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch +wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" + +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war +und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß +ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie +begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. +Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her +sein." + +"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen +anleiten?" + +Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar +nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein +gewöhnlicher Schuljunge war? + +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder +freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt." + +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" + +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und +ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, +Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte +Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen +können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession +merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen +uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das +bringt ein Welthotel so mit sich." + +Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und +der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er +offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor +der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. + +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, +die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand +auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte +Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen: + +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft +von den Gästen abgehalten wird." + +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern +kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem +Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen +Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der +von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht +merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in +Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit +gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit +dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus +eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du +siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den +schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von +der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während +sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins +Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen +Saal. + +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die +Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," +sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber +um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" + +Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach +einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie +Platz nehmen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er +sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch +begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her. + +"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann +sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr +Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie +ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der +tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von +beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den +Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein +Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er +dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort +von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus +ihm werden, aber so nicht!" + +Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen +nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und +kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles +sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur +ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, +daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus +vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern +Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und +werde für sein Wohl sorgen." + +Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie +dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie +gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich +vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren +habe, daß es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre +Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. +Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich +Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum +sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen +Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!" + +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung +ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser +Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie +nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück. + +"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe +nichts erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun +ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich +seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was +er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken +Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng +ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so +ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz +aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute +einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." + +Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er +sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen +eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: +eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die +Folge davon war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu +Hause in den Weg lief, zurief: + +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich +will sie sehen!" + +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse +müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. +"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List +mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck +und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer. + +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als +sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater." + +Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine +List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend +etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar +fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er +überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst +Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, +jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines +gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten. + +Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut +brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte +viele Sünden anderer gut machen. + +Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da +war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie +sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute +Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn +sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, +ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, +aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei +diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die +Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht +und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer +zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. + +Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes +entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und +staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal +erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung +des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders +anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika +zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in +Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es +kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die +besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote +herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines +fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern, +hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein +und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das +war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin +und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie +feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe +sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier +auch nicht heimbringen. + +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis +etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es +wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis. + +Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand +an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es +war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm +fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht +daran, daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und +folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr, +Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich +erinnerst." + +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden +immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." + +"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor +Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal +alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!" + +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre +Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf +einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so +eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die +Durchschnittsnote hervorgegangen. + +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur +gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und +Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet +man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als +mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns +darf nichts treten, auch kein Vierer!" + +Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen +Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um +den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen +wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht +verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, +nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!" + +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch +Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann +kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was +machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden +kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit +meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie +wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast +das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen. +Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem +Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. + +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den +Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. +Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch +nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß +sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. +Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis +gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her, +suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr +Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein. + +"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort +mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön +wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf +Weihnachten?" Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, +und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein +Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich +habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht +'herein' gerufen." + +Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch +immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als +sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große, +erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch +ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon +verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei +Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!" + +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. +Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht +ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf +hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll +aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt +beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem +Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige +Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! + +"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur +so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_ +Noten spielen, die da stehen." + +"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch +nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch +nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich +weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich +auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit +zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling." + +"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie +ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber +nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton +falsch wird." + +"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?" + +"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer +sein?" + +Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in +rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte +zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem +8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude, +und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu +haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem +Musiklehrer und seiner Schülerin. + +In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt +hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, +das über einen Meter lang herunter hing. + +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? +Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, +Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine +Tastendecke für das Klavier erkannt. + +"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein +ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein +Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich +bitte dich, nimm mir das Ding da ab!" + +Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, +seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. +Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den +Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge +im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, +aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines +Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig +Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige, +die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd +hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glückliches Paar, nicht wahr?" + +Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der +Vater zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, +Cäcilie?" + +"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!" + +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und +dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die +kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich +vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es +war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte +den Regenschirm bei mir." + +"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, +"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man +sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm +trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes +Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als +mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu +Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, +dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe +hatte, mein Lachen zu unterdrücken." + +"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, +sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und +um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine +Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein +gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich +warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst +dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich +wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz +Besuch machen wollte." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter +hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie +fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit +dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird +er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte +mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und +ungeschickt." + +"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling +ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, +wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht +lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, +was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, +meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du +lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern +wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen +Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich +sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der +Lachlust." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, +Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht +gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam." + +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr +Pfäffling. + + + + +8. Kapitel +Endlich Weihnachten. + + +Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute +ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an +keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht +und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so +dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch +der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um +6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob +gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn +geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die +Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes +erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen +Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche +befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht +hätte. + +Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der +etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus +dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die +allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber +damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, +"führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, +bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau +Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie +ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir +einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," +entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder +nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken +will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem +keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist +auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen +hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns +war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend." + +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch +noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen +Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder +bekommen auch nicht viel—das können Sie sich denken bei sieben—aber +weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung +doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder +sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen +Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt +wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet +ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, +und dann sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor +Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen." + +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen +Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten." + +"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling. + +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines +heimgebracht und Lichter dazu." + +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf +den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen +hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich +denke mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, +etwas bekommen, oder nicht?" + +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein +kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder." + +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr +tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel +gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon +auch daran freuen." + +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag +gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der +Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie +haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen +getan habe." + +"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, +als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine +Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein +Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir +versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau +Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine +schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange +Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" + +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" + +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem +Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? +Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem +Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann +noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen +Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am +heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war." + +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen +Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben." + +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen +allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das +können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die +Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und +die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht +selbst wollen." + +Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; +als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen +und der Schlüssel abgezogen. + +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, +darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie +gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt +nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus +hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn +ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so." + +Da ergaben sich die Kinder. + +Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher +Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau +Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die +Mädchen. + +"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," +sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben +besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien +Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge +Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und +pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen +Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren. +"Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm +fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer +wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte +es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln +und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe +von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben +ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den +plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, +ihr Kinder?" + +"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, +wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben +darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und +mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der +Strumpf fiel herunter. + +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. + +"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher +grau und schwarz, denen schadet das nichts." + +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre +Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle +Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten +sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten +Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen! +Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen? + +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid +herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau +meine, sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang +der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz +entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe +heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr +Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat +auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das +gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. + +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein +kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den +Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel +nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam +von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch +nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. +Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling, +"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch +knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den +Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste +vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr +Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf +dabei an ein großes Stück Braten denken!" + +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr +wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar +jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann +wurde es Ernst! + +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die +kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, +wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck +da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und +oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in +andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und +Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit +Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des +Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem +nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter +Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil +ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie +nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt +wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu +gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns +schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen +unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach +diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr +wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem +Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, +und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und +Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet +und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie +nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen +vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in +der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz +und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das +Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer +Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen +und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. + +Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus +aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war +eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die +Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist +zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und +dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich +bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht +leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das +gleiche Strahlen hervor. + +Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten +Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den +Baum anzünden?" + +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich +bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen +Jubel Kraft zu sammeln." + +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich +wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein +wenig und schließe die Augen." + +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur +drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder +frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache +Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen +anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in +den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen +Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die +Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter +ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; +solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein +Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der +Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und +jubelnder wird das Kinderglück. + +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht +dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war +sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen +kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen +Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe +und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte +dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des +Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend! + +Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den +Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, +stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit +staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! +Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, +und las das Verschen: + +Fideln darfst du, kleiner Mann, +Vater will dir's zeigen. +Aber merk's und denk daran: +Immerfort zu geigen +Tut nicht gut und darf nicht sein. +Halte fest die Ordnung ein: +Eine Stund' am Tag, auch zwei, +Doch nicht mehr, es bleibt dabei. + + +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er +drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich +sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die +Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den +Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen +und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von +dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte +_reine_ Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit +glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem +Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen +kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" + +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" + +"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding +geschickt!" + +"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?" + +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben +welche." + +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!" + +Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre +neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch +gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. +"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz +außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. +"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den +Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es +wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles +gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! + +In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für +sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht +worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren +großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute +morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen +hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen. +Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen +Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während +Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern +in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs +Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das +Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? +Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie +nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der +kalten Küche zu stehen? + +Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde +zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und +der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: +"Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er +kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und +Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur +ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh +sein." + +Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen +Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im +Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: +"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten +sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht +man so gut an, daß heute Weihnachten ist." + +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie +wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis +endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch +der Ruhe bedürftig sein," sagte er. + +"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut +hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem +Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem +Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem +kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und +weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er +wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel. +Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal +herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit +festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg +kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz +entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das +freut für Walburg!" + +"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem +Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?" + +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht +kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde +es rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten +Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da +draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden." + +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, +wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz +finden." + +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten +Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit +den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg +zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist." + +Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in +ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen +kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor +der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam +geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer +getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie +hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen +gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die +breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun +wieder zu Ehren kommen! + +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste +sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat. + +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es +war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. +Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön +aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht +und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen +und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe +lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht +bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon +erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle +sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht +hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr +Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich +auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als +eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine +Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein +seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die +beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen +hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die +Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr +zu spielen. + +So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; +ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus +der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! +Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das +man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was +_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf +und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile +ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie +tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme +zu dir!" + +Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen +Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 +jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ +nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig +daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu +besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den +Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten +Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie +wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. +Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur +Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das +konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem +Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel +von des Tages Last und Hitze und davon, daß ihr Mann und sie noch immer +treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern +Last. + +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen +Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und +zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und +große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke +des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und +Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet +er sich zu euch. + +Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und +Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich +Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, +fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll +dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, +ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt +hatten, Walburg stand vor der Türe. + +"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst +mit dem letzten Zug erwartet." + +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. +"Kartoffeln zusetzen?" + +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, +wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich +bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's +nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser, +die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die +Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen. +Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe +und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte. +Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die +alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen +Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so +öde und leer in ihrem Herzen. + +Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet +neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du +tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. +Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen +Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir +geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die +Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl +recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat +er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die +Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie +sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch +auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?" + +"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir +verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns +ist's lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." +Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll +Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der +Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie +freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie +nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt +und das Essen nicht gerichtet ist!" + +Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so +traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch +Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei +uns recht heimisch fühlt." + +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton +hört sie." + +Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen +noch geigen? Wie heißt dein Vers? + +"'Eine Stund am Tag, auch zwei, +Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" + + +Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden +gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben +Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem +traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die +Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die +Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine +Verbindung mit den Mitmenschen. + + + + +9. Kapitel +Bei grimmiger Kälte. + + +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man +die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus +den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war +das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke +einschlagen, ehe man es benützen konnte. + +Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch +zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor +dem Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. +"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie +erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über +Nacht eingefroren.'" + +Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb +daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz +besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern +stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches +teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse +warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen +Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war +einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf +Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, +dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der +im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen +Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der +Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und +Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings +Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand +geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling +tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur +möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort +und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große +Reise gar nicht lohnen." + +Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch +äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie +Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah. + +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. + +"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr +Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder +groß sind und Walburg so zuverlässig ist." + +Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor +stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und +versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich +zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den +Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte +mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der +Januar bringt!" + +Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen +wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den +Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei +Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute +hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem +er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und +Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg +frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl +er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon +im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: +"Laß doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, +es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!" + +"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine +großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen +könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger +als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der +Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so +zimpferlich?" + +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er +ließ den Mantel fahren und rannte davon. + +Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den +Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten +bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von +Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den +Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde. + +So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit +wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch +auf das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und +Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, +zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne +diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut +mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die +Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie +noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch +setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" +fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das +Geständnis, daß man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp +anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein +Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen +Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht. + +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine +Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. +Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist +gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun +kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir +haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule +erzählt. Kommt, wir wollen beten: + +"Herr wie schon vor tausend Jahren +Unsre Väter eifrig waren, +Dich als Gast zu Tisch zu bitten, +So verlangt uns noch heute, +Daß Du teilest unsre Freude. +Komm, o Herr in unsre Mitte!" + + +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei +Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie +vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man +wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der +Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert +ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das +vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen +hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen +Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise +zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler +Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen +Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des +wunderbar begabten Knaben mache. + +Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß +unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares +Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule +gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer +der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude +auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb +dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine +Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum +80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur +Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem +Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. + +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer +war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu +eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit +halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, +der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier +erzählt?" fragte er Otto. + +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." + +"Hast du nichts näheres darüber gehört?" + +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich +weiß nicht mehr." + +Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. +Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald +näheres erfahren. + +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, +im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, +und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen +Winter. + +"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" +meinte Herr Pfäffling. + +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu +schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen +belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. +Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin, +indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der +Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, +vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe +käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom +Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen." + +Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. +"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn +des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist +übrigens jetzt nicht mehr hier." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich +gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der +Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein +richtiges Familienleben hinein.'" + +Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat +recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig +sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land +ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, +die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland +haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort +aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und +Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von +dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine +Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen +Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, +was wohl in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über +diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt." + +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne +standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, +daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren +schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer +Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme +Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland +bessere Zustände bringen!" + +Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er +unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen +Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über +das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die +Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. +Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber, +gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!" + +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie +auseinander. + +Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der +kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein +Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie +war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater +sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl +seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche +erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine +Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich +dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" +fragte er. + +"Nicht lange, Vater." + +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? +Sage mir das genau?" + +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: +"Aber das ist doch noch nicht lang her?" + +"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon +heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, +Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, +sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche +bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der +Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. +Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem +Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann +reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab +sich. + +Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht +verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie +sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken +Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich +und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?" + +"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton. + +"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf +die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach +seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen! + +Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen +Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie +zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme +fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im +Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet +und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das +Familienzimmer zu seiner Frau. + +"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein +fand, fragte er ungeduldig: + +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" + +"Sie ist draußen und bügelt." + +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" + +Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." +Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich +komme gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben." + +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und +in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie". + +Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau +Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in +der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen +Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso +glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete +Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die +Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" + +"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?" + +"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von +Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle +Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die +Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei +still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel +Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber +sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh +sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt +wieder ganz gut, auch in der Schule?" + +"Ja," schluchzte das Kind. + +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja +noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere +Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es +ist doch immer alles gleich bezahlt worden?" + +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß +diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet +wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim +Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen +sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's +schlimm!" + +Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr +der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling +schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich +sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die +Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist." + +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, +als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und +die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten +bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung +sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief +hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater +geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den +Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie +und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte +Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das +anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche +Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch +warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen +herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter +Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den +Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte +sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht +gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen +nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig +Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn +noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg +entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte +weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es +freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!" + +Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen +angestellt, und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs +die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte +gerne die alte Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor +nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich +schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer +wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr +hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch +nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht +anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater +stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da +machen können?" + +"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden." + +"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich. + +"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen." + +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." + +"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; +wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht +so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf +Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann +man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich +bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen. +Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld +geschickt bekommen?" + +"Ich habe keine drei Mark mehr." + +"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die +Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder +eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich +darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt +mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, +Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag +dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war. +Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler +tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke, +eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer +Vater, auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn +freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie +nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!" + +"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte +vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. +Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei +zwanzig Grad Kälte! + + + + +10. Kapitel +Ein Künstlerkonzert. + + +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt +hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende +Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers +die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine +musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte. + +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um +seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal +musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann +nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen +ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den +Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden +jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der +jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten. +Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. + +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den +großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den +beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und +warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich. + +"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, +"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu +überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch +anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!" + +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz +machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war +für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe +und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr +Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte +und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit +mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers +aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute +wieder vollauf in Anspruch genommen?" + +"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken +als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch +und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, +was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es +vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester +ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den +Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation." + +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir +sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen +habe. Was schreibt Ihr Sohn?" + +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben +finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über +seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er +ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, +wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern +schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner +Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte +ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl +Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren. + +"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre +Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das +Telephon." + +"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich +alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie +wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders +auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen +Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich +im Konzertsaal abspielt." + +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur +Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt +oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. +Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner +Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar +sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling." + +Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel +verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal +einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie +wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit +zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. +Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte +Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. +Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie +sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer +Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. + +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der +Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war +in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden +Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. +Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen +Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten +ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben +hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die +Stunden beilegen wollten. + +Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, +wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in +der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte +Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr +Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten +fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, +daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der +Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine +einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der +Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung +unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch +Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe +ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch +dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit schlechtem +Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark +beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt +hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so +gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man +auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die +Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken +können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das +Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch +bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, +soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und +warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei +man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man +nicht bitter werden!" + +"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." + +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. + +Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis +Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu +Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen +Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling +sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu +lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie +für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden." + +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer +waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, +alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das +Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch +langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den +kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter +Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen. + +Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele +Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der +Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche +Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. +"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht +in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, +wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde +in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so +verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, +ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar +muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen +und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, +sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas +Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!" + +"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und +verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das +stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also +auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte +er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte +dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal +war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang +sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in +Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und +munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes +sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine +Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie +ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn +Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, +Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch +Spielzeug dazu, aber rasch!" + +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, +und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse +bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, +sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so +zuwider sei." + +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie +waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? +Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur +Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto +erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie +kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? +Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er +kreuzfidel würde!" + +"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du +es auch zustande bringen. Und Frieder?" + +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. +Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem +niedlichen Gestältchen." + +"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu +schüchtern? Wir wollen sie fragen." + +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, +hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und +Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte +bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. +Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, +lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine +Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er +kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?" + +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann +ich schon fort." + +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch +die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen. + +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas +bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der +Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. +Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und +sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden." +Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, +hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen +Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater, +langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun +kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der +Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm +spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht +mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie +andere Kinder auch." + +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das +"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber +Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn +sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da +lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg +Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein +kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte, +aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war +erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein +und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, +die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun +laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?" + +Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in +ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem +nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte +freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt +entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte +ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte, +ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen +Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu +der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen +herein, bloß heute, weil er lustig sein will." + +"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist +Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die +Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das +Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich +mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen. + +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas +sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, +blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und +wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, +die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese +Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern +spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war, +lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die +ihn viel älter erscheinen ließen. + +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte +sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit +dir möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" + +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. + +"Was willst du tanzen?" + +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres +Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts +gewußt hatte. + +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen +zum Tanz führen. + +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen." + +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, +für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu +machen. + +"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir +einen Walzer vorpfeifen." + +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und +sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter +ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. +Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. +Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt +hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den +Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein +rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter +die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in +unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner +Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er +das Fräulein. Sie wußte es nicht. + +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist +die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." + +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das +Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und +sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand +alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen +möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. +Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der +Mutter hatten nur Tränen zur Folge. + +Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt +doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen +sich schon so lange auf das Konzert!" + +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, +sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das +Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so +langweilig, während du singst und Papa spielt." + +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht +kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich +habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele +Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er +drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht +kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch +tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief +den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint +und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so +verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen +durchmachen, heute abend." + +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand +und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden +Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden +nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. +Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte +er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den +Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal +bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl +tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten +dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt +noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." + +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. +Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! +"Ja," rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater +geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht +durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom +Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei +sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich +freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen +Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du +so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad +laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen +Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem +Kinde redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt +heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem +Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der +Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, +so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer +fragen." + +"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt +es." + +Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte +er, "woher weißt du das Zimmer?" + +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." + +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser +Konzert?" + +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich +mehr darüber freuen, als mein Vater!" + +Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei +schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden +Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. +Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem +Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer +einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu +belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen. + +Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, +schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist +schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!" + +So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr +erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die +Freitreppe vor dem Hotel. + +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." +Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und +kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber +die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des +Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine +Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter +Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so +kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen +holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im +Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei +riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge. + +"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen +bis nach Rußland." + +"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten +Woche nach Berlin reist." + +"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen." + +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah +erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das +gesagt?" + +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." + +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General +selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen +vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke." + +Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung +zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der +Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und +sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt +nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen, +dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die +Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle +auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und +Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu +rechter Zeit bekommen!" + +In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau +Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: +"Sie kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin +und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch +den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend +Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr +Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder +sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie, +singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also: +die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: +"Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die +Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling +stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte +fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den +eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, +wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt +vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den +Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte, +enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf +der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst +schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der +durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend. + +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es +diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag +herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht +überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die +Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so +pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen +hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß +für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden +verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie +gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und +sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie +du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont +wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im +Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!" + +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." + +Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet +hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die +Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die +Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling +und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau +Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem +kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu +Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter +Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu +vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit +dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der +ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen +verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und +Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. "Wenn der +Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau +Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm +allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem +Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen +bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht +lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen +Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er +hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und +unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm." + +So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem +schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters +Billet nachträglich zu verdienen. + +Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn +begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin +allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand +in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, +die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da +kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms +bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine +Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. + +"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im +Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben +hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt +hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel +für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" +"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das +Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später +kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr +Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an +ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am +Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge +die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu +Wilhelm," die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des +Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann +öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem +erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten +sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht +hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das +junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe +und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge +entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer. + +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms +hat unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte +Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" +Edmund antwortete nicht. + +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat +vorhin darnach gesehen." + +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du +stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, +nicht ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. + +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn +dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu +weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, +Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall +klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die +Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm +ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte +er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er +vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein +Beifallssturm dröhnte aus dem Saal. + +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß +noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens +hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch +manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß." + +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, +"so etwas habe ich noch gar nicht gehört." + +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es +nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem +Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl +geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer +zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" +Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt +ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm. + +Im Saal erklang der Konzertflügel. + +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an +das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, +wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir +bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich +spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie +anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So +sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist +von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre +eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine +Sache immer gut gemacht." + +"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht +auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen +Sie, Fräulein!" + +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen +lassen." + +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen +nicht müde sein vor dem Violinspiel." + +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. +Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber +ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem +Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also +_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und +sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in +der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er +Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen. + +"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," +sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr +war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch +den Türspalt, wie er seine Sache macht!" + +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie +der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in +kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem +Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen +Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung +nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben +träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte +Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser +Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die +Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich +eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu +wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. +Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte +Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, +Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen +Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter +berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren +unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, +die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein +schlichtes, freundliches "Danke!" rufen. + +In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu +gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: +die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg +glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das +Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein +schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie +war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten +Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und +von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß +trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück +bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden. + +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine +weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm +mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da +dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing +an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte +gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie +ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein +Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds +Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat +es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr +grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie +das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, +boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, +wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu +bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele. + +Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große +Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der +Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. + +"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner +Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit +Edmund reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng +in die Augen. + +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu +Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe +doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur +ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: +Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen +dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das +deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber +eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich +tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen +Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so +gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht +schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer +Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann +verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm +das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm +verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die +Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater," +fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." + +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt +der Vater. + +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte +sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des +Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er +möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von +Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die +Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die +Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater +noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. + +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die +meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen +von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel. + +Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit +erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, +die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing. + +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," +sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum +Droschkenplatz, nicht wahr?" + +Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer +vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal +zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom +Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen. + +Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des +Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine +Geigenspieler sei an den Masern erkrankt. + +Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank +darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie +manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich +auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. + +Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. + + + + +11. Kapitel +Geld- und Geigennot. + + +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte +täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß +des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden +beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische +Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte +sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder +aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr +Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit +Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach +Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle. + +Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar +zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich +handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle +geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig +jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so +werden auch sie ihn kennen gelernt haben." + +"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, +seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie +das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne +Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern +würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es +von Berlin aus geschehen werde?" + +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, +ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas +anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die +Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das +Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus +allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die +Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es +scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas +reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt +übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die +Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die +Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie +nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie +noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will +sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf, +schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht +gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang +erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, +wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und +alles ist gut." + +In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem +offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er +dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich +schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und +Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen." + +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter +Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," +sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich +ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich +auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt +doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner +Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er +hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren +müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die +ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. +Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser +Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert +Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?" + +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über +dich bringst," entgegnete Frau Pfäffling. + +"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz +all dem Leid, was daraus entstehen muß?" + +"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es +heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies +ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben +und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die +unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären +könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig." + +"Also du würdest schreiben, Cäcilie?" + +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich +würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine +Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm +mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater +begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber +sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor +der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich +verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das +kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem +Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den +russischen General ungeschrieben. + +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto +beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung +über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, +den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die +Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, +schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen +mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß +mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der +Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner +schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und +dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an +Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie +gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur +Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer +Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin +mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, +und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben! + +Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz +anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am +nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum +lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" +Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung +mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht +äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der +Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil +dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man +wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, +nicht lange vorher fragen." + +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf +er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber +die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht +werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und +ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten +Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst +sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch +wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht +herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," +sagte er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen +ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache +schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es +nicht erlauben sollen." Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto +auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben +ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen +Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun +Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den +Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der +Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre. +Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, +hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau +Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das +Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun +ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie +gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und +heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen +Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und +die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich +angeführt. + +Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann +veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast +entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über +diese Wirkung und verstummten. + +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr +auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in +die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, +sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General +übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn +zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, +was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch +so einzumischen in das, was euch nichts angeht!" + +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins +Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht +begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht +erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: +"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch +nicht so!" + +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er +sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir +schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch, +denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten +alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche +Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe +daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen! + +"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau +Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen +Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie +wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten +Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht +gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er +unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein." + +Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. +"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, +"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die +Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch +unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in +dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte +an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der +Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der +General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung +einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne +schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung +unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu +bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen." + +Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen +Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner +Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages +plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief +vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder +verschwunden. + +Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen +Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein +kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten +Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er +es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu +fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie +die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil +entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht +nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm." + +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer +Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß +es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe +zusammenzubringen. + +Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der +Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball +gegeben hat?" + +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die +sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja +bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß +er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand +die große Familie aufnehmen wollte." + +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich +keine so gesalzene Rechnung geschickt!" + +"Du verwechselst auch alle Menschen!" + +"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich." + +"Gar nicht ähnlich." + +"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?" + +"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht." + +"Doch!" + +"Nein!" + +Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens +gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld +ein mit einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr." + +Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer +Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie +sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister +schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der +geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich +aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie +wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du +hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er +endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo +die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar +nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und +spielte. "Du Böser!" rief die kleine Schwester und Tränen der +Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen +die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder +an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber +ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe +hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte +und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. +"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich +aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der +leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an +dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich +kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin." + +In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen +weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er +tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur +an!" + +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch +mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige +sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf. + +"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch +weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir +gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, +dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich +will hören, was der Vater meint." + +Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was +geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, +und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im +Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, +denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid." + +"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du +bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann +könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß +du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht +tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit +dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen +wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn +bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder +spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen +folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für +immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!" + +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie +nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen +Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so +bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!" + +Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines +gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und +dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch +seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine +hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt +kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er +hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir +gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich +nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern +zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das +Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: +"Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der +Kleine beharrte in seiner Stellung. + +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast +du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser +Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe +zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du +fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer. + +Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen +schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr +Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo +er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: +"Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf +hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm +nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den +Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen +Vater und keine Mutter mehr hat." + +Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an +sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," +sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen +ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die +Violine bringen, dann ist alles wieder gut." + +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für +Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der +zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als +ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die +ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. +"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr +Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll +es tun und das Gewissen." + +So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, +kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen +und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen +wollte er spielen, immerzu spielen. + +Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der +Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. +Drei Striche—dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder +wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie +mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er +auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz +bewegen kann. + +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er +mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den +Schwestern. + +"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr +Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, +wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick +ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile +später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein +sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden +Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen +Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch +der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. + +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der +fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling +rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, +zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, +und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen +seinen Schmerz aus. + +Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder +seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst +wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer +mit so traurigen Augen angesehen!" + +Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie +kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte +Frau Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich." + +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und +fügte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, +das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich +denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis +jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben." + +"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln +können, daß er einmal ein Musiker wird." + +Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen." + + + + +12. Kapitel +Ein Haus ohne Mutter. + + +So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau +Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer +ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag +sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei. + +Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines +Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man +Frau Pfäffling sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als +Reisekleid praktisch ist." + +"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu +sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, +trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht +reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten +Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit +gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten +Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit +herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau +Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr +Elschen mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. + +Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große +Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle +und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den +ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte. + +"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir +entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling. + +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." + +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in +der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man +Pfäffling heißt!" + +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die +Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf +sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, +Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer +so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, +wenn ihn die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich +doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen, +wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja +nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt +unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim +wärest, könnte ich gar nicht reisen." + +Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben +mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, +denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust +und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und +Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen +Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester, +die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter +gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! + +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es +schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, +sonst hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, +wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte +jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und +her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und +Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, +überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, +nahe, so nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, +stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem +Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. + +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" + +"Was denn, Kind?" + +Es wollte nicht über seine Lippen. + +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" + +"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." + +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem +Vater deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum +tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, +daß ich zu meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine +Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das +Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich +werden!" + +So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich. + +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein +Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig +wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders +schwer." + +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es +schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, +neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, +wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht +man ihm gut an. Da tut er mir oft leid." + +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die +erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und +wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am +Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm +Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm +werden nimmer regelmäßig eingehalten." + +"O doch, Mutter." + +"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?" + +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht." + +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist +aber nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm +wieder eine so schlechte Note bekäme!" + +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf +verlassen!" + +Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in +die Holzkammer. + +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, +"daran dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg +muß in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz +und Kohlen sorgen." + +Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie +möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin." + +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" + +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die +Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und +anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am +Vormittag vom Kochen fortspringen muß." + +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und +am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch +einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden +an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur +Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, +bis endlich der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen +Tatsache machte, daß Frau Pfäffling verreist war. + +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine +Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr +selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts +nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und +Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder +tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich +bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein, +daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine +wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer +Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde. + +Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann +mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. +Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen +geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch +die stillen Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei +dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau +Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren +lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine +so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben. +Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das +zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch +ein, daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto +und so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern +dem jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht +immer so friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg +wunderte sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz +leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger +Verbrauch mehr wie bisher. + +Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten +Abendstunden, wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe +gerückt und wußten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das +Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man +bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. +Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein +gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn. + +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes +Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht +ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges +Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne +Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war +Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die +Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben! + +Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach +einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden +wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu +trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu +leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege +der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die +_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit +solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift +durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam, +das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht. + +Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, +die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte +die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte +Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, +nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!" + +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." + +"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts +tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen +und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das +anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen." + +Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du +das nicht in _drei_ Wochen erreichen?" + +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" + +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich +vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang +an vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß +du mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen +Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. +Es kommt so oft etwas vor bei uns!" + +"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?" + +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber +es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme +Folgen haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er +einmal anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das +Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags +immer allein die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich +in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist, +Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann +einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!" + +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" + +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, +wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der +nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so +lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein +Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich +einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!" + +Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches +Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz +jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus. + +Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei +Wochen geeinigt. + +Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war +für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der +Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles +Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und +doch stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten +Weg hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, +überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches +anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt +man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der +konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau +Pfäffling war von denen, die hören wollten. + +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. +Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau +Pfäfflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer +fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen. +Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universität war, +hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus +der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets +Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich +einmal wieder ins Auge zu sehen. + +"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu +seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, +eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in +einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in +diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht +streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten +zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend +ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine +Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor." + +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als +du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung." + +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird +damit oft kaum fertig." + +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel +miteinander, wie ist das bei euch?" + +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. +Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur +sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können." + +"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. +Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist +das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei +Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht +fertig." + +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören +über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er +beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, +dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu +besuchen. + +An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach +dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein +besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen +wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der +andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich +versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der +jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde +überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit +ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der +Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der +Kinder am besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte +er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht +auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie +wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es +still wie vorher. + +Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie +erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die +Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, +sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst +mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene +Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und +Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der +Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. + +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr +Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: +"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen +oder dergleichen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes +gehört." + +"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die +zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der +Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der +Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in +Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren +können." + +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging +hinauf. Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam +die Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts +verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings +blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das +war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und +machte sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die +Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau +Mitteilung. + +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die +Schwestern zurück. + +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. + +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot. + +"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr +Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte +doch auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit +Tränen in den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war. + +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter +nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun +auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren +bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, +das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das +hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern +eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem +Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt +geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die +große Neujahrsrechnung. + +Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des +Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern +vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn +etwas versäumt würde. + +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei +Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so +ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und +doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide +trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse +Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das +macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure +Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe +noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die +gehört dazu." + +Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem +gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, +daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar +nichts mehr?" fragte er. + +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr +sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer." + +"Geht sie nie zum Arzt?" + +Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz +gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte. + +"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der +Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt +daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung." + +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten +sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen +sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um +sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn +euere Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein." + +Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören. + +Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum +gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie +volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war. + +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen +vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, +diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. + +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte +einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es +denn so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte +Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir +zum Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da +stellte es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den +Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt +dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und +wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er +Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen +Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich +so nahegerückt. + +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; +ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die +jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat +gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. +Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um +aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen +Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien, +bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an +Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm, +und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde. +Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den +Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte +der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, +den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das +Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus. + +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam +keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die +Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben +heraufkam. + +"Wer war da?" fragte diese. + +"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins +Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen +zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim +Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem +Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er. +Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn—ja, +wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein +seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen +sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. +Oft schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in +dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was +die Familie Pfäffling am Leben erhielt. + +Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich +eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, +keinen Pfennig fürs tägliche Brot! + +Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man +brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere +Schublade, die bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich +genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?" + +Und nun flogen Vorwürfe hin und her. + +"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den +Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja +gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie +nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein +Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!" + +"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder. + +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder +wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir +wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal +niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit +solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise +miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen +haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein +Gehalt. Wir sparen recht." + +"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe +auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die +Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel +abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt +hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort: +Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht +werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort +Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte +mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, +schon waren viele Stunden verloren! + +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie +setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede +knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die +Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, +erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang +ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit +so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an +seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte. + +Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger +Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel +betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn +aufzufinden. + +Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling +abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand +schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in +großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus +dem ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll +Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte +seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte +Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen +umgeschlagen war. + +Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich +zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker +gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso +am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, +wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm +Nachricht zukommen. + +Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter +mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht +die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war +unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich +mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme +des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß +der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise +seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der +Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen. + +Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere +mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen +letzten Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung +sein?" + +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die +Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das +Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in +Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein +hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert." + +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag +irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du +daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht +mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht +beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, +und nicht gleich erklären: ich reise nie mehr." + +Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr +fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß +sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der +Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf +Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die +weite Heimreise antrat. + +Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei +Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein +Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch +schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher +gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch +rührte sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude +auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben +zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer +kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim +reist? + +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes +doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben +können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis +Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, +aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her +gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war. + +Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als +er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof +eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in +ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen +sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen +langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto +auftauchen sah. + +Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof +begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, +"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an +den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der +Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen, +denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein." + +So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem +Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch +sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges +Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, +während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus +dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie +sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte, +der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher +Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half. + +Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches +Wiedersehen und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch +die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte +zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der +Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und +hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau +Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die +Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung +erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, +da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob! + +"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von +euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich +nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort +lautete ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa +vorgekommen ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte +glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder," +sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf +der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo +ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten +und jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. + +Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der +Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte +Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem +Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in +anderer Richtung. + +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o +Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn +zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines +Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!" + +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber +die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu +ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis +sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um +darin die Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang +und schon auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß +soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein +Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen +gebacken habe. + +Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als +sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht +vergessen können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld +war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau +Pfäffling verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie +nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein +Unglück geschehen. + +Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf +dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis +erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein +Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort +fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, +das Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr +und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der +Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: +es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment +sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie +ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem +Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den +freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht +ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß +mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr." + +Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe +sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern +angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ +ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein +Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah +begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," +rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder +nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die +Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb +sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu +viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber +Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, +dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen. + +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun +kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön +gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht." + +Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter +wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet +ist." + +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau +Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung: + +"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute +Hier vor dir stehen! +Du schenkest uns die schönste Freude, +Das Wiedersehen. +Nun gehn wir wieder eng verbunden +Durch Lust und Leid, +In guten und in bösen Stunden +Gib uns Geleit!" + + +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee +machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu +gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," +sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein +und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er +nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an +den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch +das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der +Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe +schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte +sie, "aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für +möglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das +brächte ich ja gar nicht zustande!" + +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich +gespart; gestohlen ist es, gestohlen!" + +Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die +Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien +festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung +mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf +irgend eine Weise wieder hereingebracht werden. + +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß +derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es +gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: +"Jetzt, Kinder, den Kaffee!" + + + + +13. Kapitel +Ein fremdes Element. + + +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten +Tag auch den Kindern mitgeteilt werden. + +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling. + +"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur +gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. +"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch +das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch +können uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet +einmal!" + +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne +sein," schlug Karl vor. + +"Richtig geraten. Aber wie?" + +"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," +meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die +Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in +ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre +blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden. + +"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr +Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn +ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir +wissen etwas anderes." + +"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch +mehr einbringt." + +Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich +will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: +"Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer +Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür +einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die +Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten +hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben +einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den +alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt." + +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, +aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu +und betätigten: "Ja, es wird sein!" + +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in +Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf +in großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die +Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein +kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt +ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer +ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da +hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das +Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends +kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen +in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr +Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und +wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? +Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! +Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." + +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der +Kammer erfüllt. + +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute +Erlaubnis zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der +Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf +Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. +Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern +Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie +welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für +die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr +Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders +als dieses Frau Pfäffling mitteilen. + +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein +Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann +bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er +nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte." + +Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr +Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich +sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs +Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft +den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher +'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre +jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte +er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist: +Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber +_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt +hat." + +Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den +Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling +zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur +zusammen. + +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn +nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge +geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht +plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht +heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt +entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da +fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer +und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig +behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären +wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung +setzen?" + +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." +Sie besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu +wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte +Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen. + +Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und +sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und +nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, +wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu +zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, +daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht +jede von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das +Zimmer vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen +Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten +Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die +Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und +sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt +irgend jemand das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die +Kost zu geben. Aber niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem +Mittagstisch, wie wir ihn haben." + +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine +anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann +stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat. + +Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften +sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein +gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, +meist im Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel +zurückgelegt, daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren +fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie +war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich +Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis +jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der +Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein +Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt +aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. +Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine +Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit schwerem Herzen machte ihr +Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am Mittagstisch der Familie +teilnehmen dürfe. + +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte +seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den +ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da +ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein +wird." + +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für +Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, +wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch +auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich +war zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen +angezogen fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn +originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit. +Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue +Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen +Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies +flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der +ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und +wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das +Wort "ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so +gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie +ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die +Schwestern zu sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die +Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand +bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau +Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte +doch nicht zum Ganzen. + +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume +Zeit in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. +"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu +machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann +hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit +geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die +Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden." + +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört +auch nicht genug für manche Besorgungen." + +"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," +sagte Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, +sie möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen." + +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen. + +"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," +sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?" + +"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue +voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen +überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere +Fortschritte." + +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar +keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum +lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in +die Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, +als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann +die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?" + +"Walburg kann nicht alles besorgen." + +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie +vollends ganz taub ist, muß sie doch fort." + +Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte +Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie +wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, +teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu +ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag +Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend: +"Man muß froh sein, daß man sie hat." + +Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche +Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung +im Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher +immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden. + +"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," +bemerkte Fräulein Bergmann. + +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen +Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit +vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche." + +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." + +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an +unserem Tisch." + +Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum +Nebenzimmer regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer +mit _einem_ Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling. + +"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, +das würde sich sehr fein machen." + +"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann +ich mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr +bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, +wenn es nur immer zum täglichen Brot reicht." + +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, +und ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf +vieles verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, +daß Sie aus fein gebildeter Familie stammen." + +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse +schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein +Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben +damit gar nichts zu tun." + +Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff +zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die +Türöffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, +die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht +so recht zum Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das +bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus," +sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese doch erneuert +werden." + +Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die +Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie +mißliebig an. + +"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du +solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." + +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen +Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu +unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in +ihr Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön +genug sein, so wie sie sind." + +Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und +sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten +hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller +gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller. + +"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die +Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich +Fräulein Bergmann fragend an Frau Pfäffling. + +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben +Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein +Geschäft." + +"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das +Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit." + +Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, +was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, +müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen." + +"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu +sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich +werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr." + +"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr +Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles +ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich +noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird +man sie überall gern sehen." + +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte +gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit +verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog +sich Fräulein Bergmann zurück. + +"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern +zu. + +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt +sie sich ein!" + +"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!" + +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt +und haltet gar nicht zur Mutter!" + +Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr +Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," +sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird +sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, +und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine +Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu +erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der +Welt gesehen als ich." + +Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die +beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein +Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen. + +"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man +keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf +diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht +nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem +ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren." + +Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen: + +"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger +Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine." + +"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar +nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner +veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle +selbst, daß ich unausstehlich bin." + +Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß +Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr +Kritik und Einmischung gestattete. + +Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte +sich kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles +zurück und brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach +Fräulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst +verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch +sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben. + +"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, +"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen +sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. +Aber dieses Jahr ist es so kalt." + +"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, +schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen +Familienkreis. + +Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem +Herr Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare +streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. + +"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein +feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus +vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben +Sie eigentlich?" + +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man +leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn +es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein +Gebet gedankenlos gesprochen wird." + +"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche +Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war +es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau +liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, +"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den +Inhalt nicht zu horchen." + +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend +ihre Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht +schlimm gemeint!" + +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling +begütigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch +einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in +das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses +Frauenzimmer ist die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie +im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache +der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin." + +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch +leid für sie, wie soll ich denn das machen?" + +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu +kränken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich +hinüber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" + +"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April +mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während +sie ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung +schonend begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die +Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch +vorgehen. + +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein +Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem +Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," +sagte das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten +Stellen hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen +sagen, daß ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich +heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den +vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß +ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, +bitte, lesen Sie!" + +Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele +Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit +war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt +hervorgehoben. + +Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die +Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann +wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre. + +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und +das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. +Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn +er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch +sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, +und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes +Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem +Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und +das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen +unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen +einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und +zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" + +Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, +"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie +mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur +schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen +Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine +verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt." + +"Ist sie wohl schon besetzt?" + +"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später +erfolgen." + +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" + +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich +keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?" + +"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen." + +Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, +elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. + +"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, +"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; +warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?" + +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in +Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. +Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich +unten, im Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau +Pfäffling war mit der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt, +diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am Eßtisch. + +"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein +Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in +Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern +anvertrauen möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten +Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor +meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um +den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist +ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. +Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo +wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr +Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein +bei uns—" + +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies +wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen +war." + +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie +mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, +unseren Gewohnheiten?" + +Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht +aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig +spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur +_eines_." + +"Und zwar?" + +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie +jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." + +Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. + +"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben +Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter +Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen +Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck +stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig +dabei." + +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich +alle Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. +Ich werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur +zu solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken +darüber—und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf. + +Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer. + +Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an +Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. + +"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage +ihn _gern_ fort." + +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein +Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert +und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie +nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand +unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die +würde sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern +finden. + +Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit +zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, +als Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die +Portiere abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die +Türe kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen +Stoff gut verwenden!" + +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten +lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch +das offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die +nach den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell +wieder herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt +selbst herauf!" + +"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den +schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch +schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." +Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell +rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich +schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts +gesehen und eilte davon. + +"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr +Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb +unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten +können bis morgen." + +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald +sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann +kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling +kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," +berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch +einmal ein schönes Tischgebet schicken!'" + +Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, +"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu +gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders +frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken! + + + + +14. Kapitel +Wir nehmen Abschied. + + +Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, +und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der +Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen +lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts +mit sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, +innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den +seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten +Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen +waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. + +Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt +worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, +auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem +einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der +eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder +höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des +Elternhauses entfremdet würde. + +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während +desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen +zeigen. + +In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. +Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht +besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, +schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht +Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich +gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als +die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der +andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis +hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon +manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater +noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als +er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen +sah, wußte er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine +Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und +war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht, +nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast +du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. + +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind +wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so +vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, +aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte +sonst gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal +in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar +keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten +sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, +im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. +Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder +vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die +Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust +sämtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten. + +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie +Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die +geheimnisvollen Ziffern zu deuten. + +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen +Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a +plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen +Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es +wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie +sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag +Mathematikstunden!" + +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten +sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug +gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte. + +Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder +in Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm +wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine +mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein +gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe, +die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die +brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht +dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob +sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater +hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der +kleine Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf +an. + +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir +nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes +Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete +er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben." + +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören +kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht, +Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst +du nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte +nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde +geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie +nach Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als +schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und +die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf +den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter +unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet +hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und +sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor +den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich +schämen!" + +"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim +Geigen nicht." + +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann +mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir +Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage +es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige +geben." + +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank +deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit +zärtlichem Ton: "Da innen ist sie!" + +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen +Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; +Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange +plaudern mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt." + +Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei +plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur +Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte +solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die +Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß +Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen, +blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er +leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der +Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. + +"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner +Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." + +"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht +wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute +Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das +gibt zwei süße Brautfräulein!" + +"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die +Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner +Frau sprechen."— + +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. +Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und +zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren +des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit +Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die +Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg +brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine +mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden, +Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der +Gast ankommen. + +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," +sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, +Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder +in der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel +beglückender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben. + +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm +alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber +dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich +verteilen und nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein +Gedränge gäbe. + +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und +sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei +Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, +fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur +nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er +eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen +besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden +sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar +den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen +doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist +nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe +verschwanden vom Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe +hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief Marie, "geht an der +Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!" + +Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die +Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, +in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten +sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die +einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich. + +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen +den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den +Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen +Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der +Mutter. + +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." + +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. +"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?" + +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine +stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die +ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr +habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen +Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, +stumme Dienerin? Wie schade um das Mädchen!" + +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, +"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig +besser werden." + +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal +ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel +gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du +nicht, welches ich meine?" + +Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es: + +In größerem Kreise stehen wir heute +Am Gutes verheißenden festlichen Tisch. +Aber die richtige fröhliche Stimmung +Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben. +Nahe dich freundlich jedem von uns. + + +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine +Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich +alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, +"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, +bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." +Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit +Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der +Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei +Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig +verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm, +der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen, +sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam. + +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch +nicht immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger +aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner +Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch +weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?" +fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen, +Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten +sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling +setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. +"Es ist rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so +selbstverständlich zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne +Widerspruch das Spiel aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen +das beigebracht?" + +"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die +Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig +werden, so helfen sie mit." + +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und +ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger +hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie +ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und +widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt +entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in +Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so +leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister. +Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in +ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." + +Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was +kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung +des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer +Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht +hören sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich +nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich +behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am +Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie +vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand +dicht zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die +Möglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. +Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel +wählen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die +Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der +Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er _mich_ mitnehmen." Das war die +Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für ihn gab es da nichts +Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die fremde Welt. +Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten +ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor +die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein +gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen +sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die +angsterfüllt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle +bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der +aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!" + +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit +Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah +hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, +"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen +schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!" + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen." + +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue +Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im +Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich +nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest +herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir +doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann +nirgends besser gedeihen als daheim!" + +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind +oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" + +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch +nicht. Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus +aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch +Herzenssache ist." + +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte +Frau Pfäffling. + +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von +Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen +Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er +neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei +meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch +die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren +einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen +lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern." + +Es blieb bei dieser Verabredung. + +Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war +von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten +plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten +herauf. + +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr +auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von +euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für +ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich +tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut +habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr +lacht? Es ist mein Ernst." + +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja +wissen. + +Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du +denn mitgenommen?" fragte sie. + +"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und +deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt! + +Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie +stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es +wieder für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald +umsehen mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem +Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder +schließen, hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts +besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang. + +Aber jetzt? + +Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie +wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da +stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: + +"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht +fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las +es selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem +gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer +Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine +Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu +warten! + +Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern +herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie +die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und +immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!" + +Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern +widerstrahlte. + +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er +mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war. + +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch +sagen!" + +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem +Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. + +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling. + +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" + +Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst +du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten +darin aufhören, ich habe es probiert." + +"Wie hast du das probiert, Frieder?" + +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den +Pfannenkuchen. Die andern wissen es." + +"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine +Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling +schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, +"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies +Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine +Violine, kleiner Direktorssohn!" + +Ja, das war ein seliger Tag! + +Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon +die Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, +so fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau +selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: +"Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhöhen." + +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder +allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die +fleißigen Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" + +Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch +Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen +zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang +herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann +übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim: + +"Drum rufen wir mit frohem Sinn: +Es lebe die Direktorin!" + + +Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe +im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte +er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus +und befestigte an der Haustüre die Aufschrift: + +_Wohnung zu vermieten_. + + +Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf +die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb +mir die Familie Pfäffling war!" + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING *** + +Updated editions will replace the previous one--the old editions will +be renamed. + +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the +United States without permission and without paying copyright +royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part +of this license, apply to copying and distributing Project +Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm +concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project +Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be +freely shared with anyone. For forty years, he produced and +distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of +volunteer support. + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in +the U.S. unless a copyright notice is included. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms +of the Project Gutenberg License included with this eBook or online +at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. 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Lebensjahr. +</p> + +<p> +Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in +diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns +vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im +großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter +dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren +verstanden, was ihnen versagt war. +</p> + +<p> +Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an +Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und +Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist +das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist +aus einer entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit. +</p> + +<p> +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte möchte ich +in diesem Buch der deutschen Familie vorführen. +</p> + +<p class="letter"> +Herbst 1906. +</p> + +<p class="letter"> +Die Verfasserin. +</p> + +<hr /> + +<h2>Inhalt</h2> + +<table summary="" style=""> + +<tr> +<td> <a href="#chap01">1 Wir schließen Bekanntschaft</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap02">2 Herr Direktor</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap03">3 Der Leonidenschwarm</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap04">4 Adventszeit</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap05">5 Schnee am unrechten Platz</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap06">6 Am kürzesten Tag</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap07">7 Immer noch nicht Weihnachten</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap08">8 Endlich Weihnachten</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap09">9 Bei grimmiger Kälte</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap10">10 Ein Künstlerkonzert</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap11">11 Geld- und Geigennot</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap12">12 Ein Haus ohne Mutter</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap13">13 Ein fremdes Element</a></td> +</tr> + +<tr> +<td> <a href="#chap14">14 Wir nehmen Abschied</a></td> +</tr> + +</table> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap01"></a>1. Kapitel<br/> +Wir schließen Bekanntschaft.</h2> + +<p> +Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit +hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in die +äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen +den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurück von +der Straße, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem +Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie +in Miete wohnt. +</p> + +<p> +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz für +Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich herumklettern, turnen +und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, +manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf +den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist +sicher kein anderer als Frieder Pfäffling. +</p> + +<p> +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof verlassen und +niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien, +wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfäffling, der schlanke Mann, der +noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon frühzeitig mit langen Schritten +den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. +Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und +Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die +Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte +Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in die +Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte sein Ziel am +schnellsten erreichen können, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in +Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern. +</p> + +<p> +Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder +eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurück, und +Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie die treue Walburg, die in der +Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was +war das für ein Sturm gewesen, bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht +hatte, und was für eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie +ordnend und räumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich +zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken +versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen +Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, +fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der +Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte +sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen Balken lagen. +Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den +glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten +und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme +allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging +weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein +kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer +mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, +war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die +Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte +sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und +dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen! +</p> + +<p> +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen, +flink, Essig holen!" +</p> + +<p> +Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, zwar +nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum nächsten +Kaufmann. +</p> + +<p> +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es +waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war eine +freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des +Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander die Treppe hinunter +gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie +die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die +Stufen schon so abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach +einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen +herunterpoltern," sagte der Hausherr. +</p> + +<p> +"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja rücksichtsvoll, +aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein +Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer springen. Ich will sie aber +gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen." +</p> + +<p> +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt doch der +Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, was es um so +eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere +Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu +kündigen brächtest du doch nicht übers Herz." +</p> + +<p> +"Nein, nie! Aber du auch nicht." +</p> + +<p> +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue Böden +bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und +sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die Stufen, aber sie +blieben doch abgetreten. +</p> + +<p> +Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine vereinsamte +Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und erkannte schon von +weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf +tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die +elfjährigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen +Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist +schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen +und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei +Großen, jetzt muß ich entgegen laufen." +</p> + +<p> +Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle zugleich +ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen entgegenrief: +"Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die +Schwestern hatten sie schon an beiden Händen gefaßt und alle drängten der +Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. +Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war +ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten +Umzug in dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. +</p> + +<p> +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein +wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht +ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch +keine Spur, wer hat das wohl getan?" +</p> + +<p> +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr die +Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab +gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in <i>einem</i> +Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf +die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die +Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, +der Mutter Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung +bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das +erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam +und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto, +der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit Elschen. Nur +Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der +Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte noch und betrachtete +nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der +Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," +sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl +am öftesten." +</p> + +<p> +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem +er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so +wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und +indem sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den +guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen? +</p> + +<p> +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins +Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" +</p> + +<p> +Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und +hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu berichten +war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm eines in den Weg, so +gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen großen Händen, was immer das +Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken +und einen Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet +sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal +den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich +darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du +gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." +</p> + +<p> +Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das +Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon, +es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters. +</p> + +<p> +"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben." +</p> + +<p> +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich +nimmer mitbringen." +</p> + +<p> +"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand." +</p> + +<p> +"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben." +</p> + +<p> +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." +</p> + +<p> +"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend." +</p> + +<p> +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdrängten +die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschüler, +hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich; +Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche +Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen +konnten. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem er +hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort +wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen sollte. Aber es währte +nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschüler nach, und ein jeder brachte +wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich +glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht +anschaffen, ihr müßt eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher +sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun +wieder Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber jetzt +reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine Schublade +seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und +rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade. +Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das +Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß auch noch etwas übrig bleiben," +bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Tränen. +Leinwand zu einem Nähtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?" +</p> + +<p> +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und +waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb +kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade. +</p> + +<p> +Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich wieder +auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann in das +Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen saßen. +</p> + +<p> +"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist höchste +Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schüler melden, die +besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier; +von der Musikschule allein könnten wir nicht leben." +</p> + +<p> +"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr zuversichtlich +klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es sorgliche Gedanken im +Herzen bewegte. +</p> + +<p> +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte +Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster und sah die beiden +kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," +sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief +dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die +Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der +sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, +sagte genug. +</p> + +<p> +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran ist +wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe +heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene Stufen—streckte der Vater ihm +schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den +Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber +vergißt!" +</p> + +<p> +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon +fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer lief, um seine +Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei, +während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell, +schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß +davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief +kläglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur +gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße +hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." +Die Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu erraten, +was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er +um die Ecke der Frühlingsstraße bog. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen +Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den +Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung führen. Es hat +wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht +benützt hat. Er ist ein kleiner Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es +nicht und das ist gut und von den Geschwistern hört er auch keine +Schmeicheleien, sie ärgern sich ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, +ich hätte auch nur <i>einen</i> Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber +daß er seine Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das +ist doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun +wurde die Harmonika eingeschlossen. +</p> + +<p> +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter +heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, was +vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte. +Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die +Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen würde. Aber +Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren +oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie +alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch +an. Aber das Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er +sah so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. +Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater +war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die +weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging +ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht +auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, +denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter +Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, +sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen +müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich +aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot +und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der +große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, +der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er +zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles +durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an den +Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Lügner +und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der +Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, +du bekommst deine Harmonika wieder, aber—" +</p> + +<p> +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in +diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und sagte eilfertig: +"Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Bügelzimmer das Klingeln +gehört und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewußt liefen die +der Türe am nächsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in +freudiger Erregung verkündend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame +mit einem Fräulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie +nun fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. +</p> + +<p> +"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und Else +fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, die hören +sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz zufrieden, daß wir +unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, "wenn sie nicht bei uns +bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und +<i>wieviel</i> tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches +Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde +ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man +gesprochen hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an +als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett +voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg +war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen +guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem +Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast +Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei +kleinem Lohn in der Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie +nicht mehr das Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen +fast abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand +wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem +Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge +wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie +nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, +und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die ungewohnte +Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, +"wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal +reich," vollendete Karl. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang +des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schülerin +angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das Fräulein mag etwa 17 +Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes +Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und +kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, +sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und +zählte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die +Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl +sie sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. +Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht und +reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die Fenster, +sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die +Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als +ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" +fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie +schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren, +er lautete: <i>Frau Privatiere Vernagelding</i>. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap02"></a>2. Kapitel<br/> +Herr Direktor?</h2> + +<p> +November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? Ich +glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den +Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu +etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit. +</p> + +<p> +Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch unter +der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern schrieb der +eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte französisch, der vierte +deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken für +den Aufsatz, der andere blätterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von +Zeitwörtern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde +auch einmal geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem Flickkorb +oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen sollte, was aber +nicht immer gelang. +</p> + +<p> +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten ein +Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestört +ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin +stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten sich zu helfen. Sie +lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten sie ihre Stühle dicht +zusammen, wickelten einen großen alten Schal um sich und wärmten sich +aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene +Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, +einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand +eine Ganglampe. Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den +langen Gang hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling +seine Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die +Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde +die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und +manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und +begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer war's, +wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die Schüler im +Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum +Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es +nicht bemerkt hatte. +</p> + +<p> +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding hatte +Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen das Spiel. +Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde +war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater noch sprechen: "das ist +doch nicht e, wie heißt denn diese Note?" +</p> + +<p> +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an +ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner +Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich daheim, wie +diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein Vernagelding heraus und stand +in dem stockfinsteren Gang. Jede andere hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, +aber das Fräulein gehörte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch +einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr +Pfäffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht +machen?" +</p> + +<p> +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen +Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern +mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von +Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das Lachen verging und sie so +schnell wie möglich durch die Treppentüre verschwand. Das Arbeiten im eigenen +Zimmer mußte also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch +nicht davon lassen. +</p> + +<p> +So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der eine +mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule, +machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte +Zeugnisse nach Hause. +</p> + +<p> +An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer trat +und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu mir herüber, +aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe zugemacht, als er ihr +leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm über den Gang, +dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer, +wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er +ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden +Handschrift für seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: +"Die erste Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus +Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er +wolle mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, +Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer größeren +aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach meinen Ideen +einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt +mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; Cäcilie, hast du Lust, Frau +Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit fröhlichem Lachen seine eigenen +Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man nur so fragen!" +</p> + +<p> +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und +besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. Und +sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: "Walburg hat das +Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!" +</p> + +<p> +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, folgte +Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll Fröhlichkeit, ging singend +oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glückliche Stimmung teilte +sich allen mit, obwohl nach stiller Übereinkunft die Eltern zunächst vor den +Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwähnten. +</p> + +<p> +Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung +hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut bekannt, doch +hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei diesem Anlaß nun kündigte +er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den nächsten Mittwoch an. +Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fünf Uhr Zug wieder +abreisen. Herr Pfäffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein +etwas verwöhnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht +viel Sinn für Kinder hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz +in den Hintergrund treten." +</p> + +<p> +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder nicht," +sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder können ja +irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen gemütlichen +Teetisch." +</p> + +<p> +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem +Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten +Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen: +"Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch sonst geht, wenn der +Kinderfeind kommt!" +</p> + +<p> +Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, bis +der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war leidlich, sie +wollten sich unten im Hof aufhalten. +</p> + +<p> +Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater in der +Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die +ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus. +Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zäh an den Fußsohlen haftenden +Lehm ließ sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim +ersten Versuch herunter und weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die +Schwestern bemühten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. +Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, +ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!" +</p> + +<p> +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich. +</p> + +<p> +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein +Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße gut ab." +</p> + +<p> +Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht recht, +ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Brüdern um, die +waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu +der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen +nach ins Haus ging, hatten sie eben die Türe hinter sich geschlossen. +Anklingeln wollte er nicht extra für seine kleine Person. So hielt er sich +wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den +Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle +eingeübt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er +sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von +seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der +den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren +neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune +machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling +des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei +ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und +Exerzieren zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den +Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl. +</p> + +<p> +Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den +Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes +Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der +eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die +Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen war, so kam er doch das +sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der +Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische +Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück +kommandiert wurde, mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. +Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich +darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über +die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie +wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, +zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder +vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter fielen und +kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er +würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein +Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, daß er +immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er mußte +mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig +bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen <i>einen</i> +ungeschickten Rekruten! +</p> + +<p> +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die +Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei +der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie erkundigen sollten, +wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe +und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den +Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser +vor. +</p> + +<p> +"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hört +man uns nicht." +</p> + +<p> +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort +fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten, +von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle +sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie +waren naß und durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm +wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich +nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine +rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus +dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach. +Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil +Otto und Wilhelm zu Boden fielen. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen +Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins +Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich +balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun +erst für den Kinder_feind_! +</p> + +<p> +Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten +Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle +Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück, +grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören, +deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren +Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich +wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden +gegenüber. +</p> + +<p> +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn +geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer +und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen +bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei +seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte +es nicht wissen. +</p> + +<p> +Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er +über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das +friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder +ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu +erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen +allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen +fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo +er hin gehört?" +</p> + +<p> +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder +wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine +Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in +stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein +künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so +größer." +</p> + +<p> +Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht +gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre +Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem +fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im +Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort +zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht". +</p> + +<p> +Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch +ungefähr denselben Gedanken. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit meiner +Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen. +Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah +wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein sind, +aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe! +Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, daß er +stört. +</p> + +<p> +Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt +und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über +Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. +Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich +fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl +angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und +sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." +</p> + +<p> +"Gute Nacht, Karl." +</p> + +<p> +Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr +Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die Mutter. "Woran +sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen." +</p> + +<p> +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd. +</p> + +<p> +"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen +Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen +Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf +deine Uhr gesehen hast, Vater." +</p> + +<p> +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß du Takt +hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann +wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich +auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, +setze dich noch einmal zu uns." +</p> + +<p> +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein Freund zu +Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine +Eltern gegenwärtig freudig bewegte. +</p> + +<p> +Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da +besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen +der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine Lockung noch Drohung stark +genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen. +</p> + +<p> +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um +sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die +neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer, +jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun mußte sich's +zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die +besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr +Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, +wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er +sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen +Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden! +</p> + +<p> +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund +Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine +Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus <i>einem</i> Munde lautete +das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und +einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er +selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt; +das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre +warten! +</p> + +<p> +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am +Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen +Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine +Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: "Zu was brauchst <i>du</i> so +etwas?" +</p> + +<p> +"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als +sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weißt du, sie +hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen." +</p> + +<p> +Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich +nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu +telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose +reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse +Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das +alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im +November! +</p> + +<p> +Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem +Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante +Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hörten +nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen. +</p> + +<p> +Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid. +Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr +darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde. +</p> + +<p> +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr +Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie +gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der +Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer +Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen +Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren, +brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war +ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der +letzten Stunde der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu +gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch +ein paar Jahre warten wolle! +</p> + +<p> +Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen +weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er dirigieren +wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach. +</p> + +<p> +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie +starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die +Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil +sie gar nichts von dem allen verstand! +</p> + +<p> +Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre viel +freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht +hätten, und das mit dem Vater erst nachher." +</p> + +<p> +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so—ich +will gar nicht sagen wie, das <i>kann</i> man überhaupt gar nicht sagen, dafür +gibt es keinen Ausdruck!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen +sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so +sehr ferne gerückt!" +</p> + +<p> +"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling, +"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und +ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor +bin ich <i>gewesen</i>." +</p> + +<p> +Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das +Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. +"Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da +stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter +wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen +Grund, froh zu sein, daß wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut +wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen." +</p> + +<p> +"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den schönen +Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. +"Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der +ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen +das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten +dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß +ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. +</p> + +<p> +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den +Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit +hinaus, die Blätter fallen ab." +</p> + +<p> +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau, +denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches +Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese Enttäuschung gemeinsam +durchgekämpft werden. +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und +reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend war ich so +zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte +ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den +Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht: +</p> + +<p class="poem"> +"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/> +Es lebe die Direktorin!' +</p> + +<p> +"Nun muß es heißen: +</p> + +<p class="poem"> +"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn<br/> +Du wirst niemals Direktorin.'" +</p> + +<p> +"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß +ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." +</p> + +<p> +"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, "ich +brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen." +</p> + +<p> +Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie auf den +beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel Stunden angesagt +waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft +grau wie der heutige Novemberhimmel. +</p> + +<p> +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe eine +Kinderstimme: "Dürfen wir herein?" +</p> + +<p> +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Türe +erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann +Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das +alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht +recht, wie die Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, +Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast +nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du +darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hörten eben unter +der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht +zanken," so war also die Überraschung gut aufgenommen worden. +</p> + +<p> +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, die er +sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich +gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner +festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch schon den Kindern zuliebe +tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, gleich nachher visitieren, ob auch +die Kannen geleert seien. Diesem festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue +Novemberstimmung unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser +Musiklehrer zu seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern: +</p> + +<p class="poem"> +"'Direktor her, Direktor hin,<br/> +Wir haben dennoch frohen Sinn.'" +</p> + +<p> +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau +Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding sein?" +</p> + +<p> +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die hatte +ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt +vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie +unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das Kaffeegeschirr rasch +auf das Brett gestellt und war längst damit verschwunden, bis Fräulein +Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre +niedlichen Löckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig +zusammen, als diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier +setzte und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit +mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich war +gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa." +</p> + +<p> +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits etwas +nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den +Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f +nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber +Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr +Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den +morgigen Ball, was sagen Sie dazu, daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal +in Meergrün. Ist das nicht süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja +süß!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu +plagen, das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim +für heute." +</p> + +<p> +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin empfahl +sich mit dankbarem Lächeln und Knix. +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß Fräulein +Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr +Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber +nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe. +</p> + +<p> +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte Frau +Pfäffling besorgt. +</p> + +<p> +Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten Stunde +berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. Er gönnt doch +auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm gelegentlich ein +Präsent machen, Agathe." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap03"></a>3. Kapitel<br/> +Der Leonidenschwarm.</h2> + +<p> +Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau Pfäffling +und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und +Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in +der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die +Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten +alle, daß diese Arbeiten geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein +fertig werden konnte. +</p> + +<p> +Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, daß in +der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das hatten sie aber +heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher Tätigkeit auf dem +Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch +den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie +sie sich mühsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit +kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, +und nun war er herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders +vonstatten. Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in +verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur +daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er +war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine +leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden +spannen mußte, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das +Seil, anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen +früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so +weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst +probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der +Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele +Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die +Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule." +</p> + +<p> +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" +</p> + +<p> +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz +erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen, +wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschüler." Frieder +machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Ärgers über +sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich +dahin mitnehmen, wo recht viele sie hören würden? Zweifelnd sah er auf seine +alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander +entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es +unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, +während seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern +von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er +Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem +Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die Füße werden +steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört auch gern seinen +eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der +Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen +eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor +mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze +Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich +der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so +hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem +Bogen über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer +und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir +zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte ich, es +sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir +aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. +Aber da kam morgens eine Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim +und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen +hat ihr Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. +November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. +In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach +Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen Nacht, +weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich +wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis." +</p> + +<p> +Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit +<i>einem</i> Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie sehen! +Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken +aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu +bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts +Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden +eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmütterchen: +"Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die +Haustüre wird nachts geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. +Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die +Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich +erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht +gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so +zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten +könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch +gehabt hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder +versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte +die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte +wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft +ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine +halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf das Gespräch +zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch +den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am +Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne +sichtbar waren. Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 +Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen +Haus wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel +immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und +als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas +zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar +ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben. +</p> + +<p> +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das +ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben dem +Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht einmal mehr Lust +zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie +ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan +schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die Türe leise auf, ein Arm streckte +sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" +wurde geflüstert; das große warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder +zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, +die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die Stiefel +angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geräusch, nicht ohne +Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im +Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's +lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter +den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen +gelungen. +</p> + +<p> +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehört. Sie +wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefühl: +Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte, +vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schließenden Haustüre +und dann ein Flüstern außerhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," +sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es +war ihr unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche +Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch entschlossen ging +sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre vor. Dann legte sie sich +beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf +diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es +jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln. +</p> + +<p> +Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der Nacht +und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit +wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen +Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schön gesehen. "Wenn auch weiter gar +nichts zu sehen wäre," sagte Karl, "so würde mich's doch nicht reuen, daß ich +aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar +nicht glaube, daß einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die +stehen da droben alle so fest!" +</p> + +<p> +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein +heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen dahin und war +dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen, +wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, größer als das +ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine +Sternschnuppe, größer als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach +wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und +flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit +vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es +war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber von Westen herauf +immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam +das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen +ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht länger das schöne +Schauspiel vergönnt sein sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze +Herrlichkeit. +</p> + +<p> +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden sich +wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern. +"Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind +davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die Brüder empfanden auf einmal, +daß es kalt war und sie selbst müd und schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu +schlüpfen, mußte köstlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der +Stockfinsternis dem Haus zu. +</p> + +<p> +"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er." +</p> + +<p> +"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da draußen +bleiben in der Kälte!" +</p> + +<p> +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die +Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen +verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte Karl, drehte den +Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte und drückte gegen die +Türe, aber die gab nicht nach. +</p> + +<p> +"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. +</p> + +<p> +"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht +nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in Ordnung, was hält +die Türe zu?" +</p> + +<p> +In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas +vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den Riegel +vorgeschoben." +</p> + +<p> +"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan? +Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der +Vater, weil wir nichts gesagt haben!" +</p> + +<p> +"Aber er hat es doch erlaubt!" +</p> + +<p> +"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" +</p> + +<p> +"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen." +</p> + +<p> +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, wer +hätte es sonst tun sollen?" +</p> + +<p> +Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln dürfen +wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen +Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen." +</p> + +<p> +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und suchten +sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster +gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so unbequem und wenn es nur +vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! Karl blieb nur einen Augenblick +liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht für drei, ihr könnt +ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, +in drei Jahren muß ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das +Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das +Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was +war denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte und +weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und +klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner +unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl als +Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden +sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen +können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder +munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen +lag, und nun galt es so laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so +leise, daß Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, +Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, +als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute +wachten auf. +</p> + +<p> +Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun möchte man +wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten Türe. Er machte +das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder erschraken, als sie des +Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, keiner antwortete. Der Hausherr +starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß +das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt +stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und +sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der +Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich, +daß die Schwestern so fest schliefen. +</p> + +<p> +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte die +Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen sein in +der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise +öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen +Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, näherten sich dem +Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." +Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen +hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, +aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. +</p> + +<p> +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?" +</p> + +<p> +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll +und schloß das Fenster. +</p> + +<p> +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist +denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwärmen die +Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?" +</p> + +<p> +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau, +"ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. Wenn man nicht mehr +seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann +hört ja alles auf. Für solche Mietsleute bedanke ich mich!" +</p> + +<p> +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den +Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen Kameraden sahen +nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit so verächtlichem Blick, +daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie +das böse Gewissen. Er schob sie von der Türe weg und den Riegel mit Gewalt +wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den <i>einen</i> Satz: "Sagt +eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekündigt." +</p> + +<p> +Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es den drei +Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie +ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der Meinung, der eigene Vater +habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr Fortgehen schon so schlimm +aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn er erfuhr, was daraus entstanden +war! Und wie deutlich erinnerten sie sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo +der Vater von einem Haus zum andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen +war, weswegen? Wegen der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung +herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück! +</p> + +<p> +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich ein +wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen war. Um so +schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er +am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. Er fand nur einen kurzen, +unruhigen Schlaf. +</p> + +<p> +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine Ahnung. +Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem Bett kamen, +bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, als die Schwestern +durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön heute nacht?" Als er aber +gern erfahren hätte, von was die Rede sei, bekam er ungeduldige Antwort: "Sei +nur still, du wirst noch genug davon hören." Sie waren sonst alle flinker als +Frieder, heute aber kam dieser zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit +den Schwestern beim Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die +Brüder in der Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu +kommen. Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt +werden, kommt!" +</p> + +<p> +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. "Nun," +fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr hat sich der +Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber der Meinung, ihr +würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?" +</p> + +<p> +Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß sie +zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich Böses. +"Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht gut? Oder habt +ihr den Hausschlüssel verloren?" +</p> + +<p> +"Das nicht." +</p> + +<p> +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und sagte: +"Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir hinunter gegangen, +ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken gewesen—wie schön es da war, sage +ich später. Um halb drei Uhr etwa wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe +von innen zugeriegelt." +</p> + +<p> +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus einem +Mund. +</p> + +<p> +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf den +Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannens +Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hörte die Hausfrau +und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkämen und daß +wir nicht hereinkönnten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns +herein." Karl hielt inne. +</p> + +<p> +"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. "Hättet ihr +mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich würde euch vorher +hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl +ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch +recht entschuldigt?" +</p> + +<p> +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr +Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht alles +gesagt." +</p> + +<p> +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme +Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1. Januar sei +gekündigt." +</p> + +<p> +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch aufgewacht!" +Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu glauben. "Es ist doch gar +nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst du das, Cäcilie? Kann das +wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir +das? Mich dürfte man zehnmal wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. +War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?" +</p> + +<p> +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon +vorher ausgedacht hätte." +</p> + +<p> +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist +unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne rufen! Der +Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: "Es ist +gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben, +sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen, +sieh, wie sie aussehen." +</p> + +<p> +"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, frühstückt!" +</p> + +<p> +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig waren, +griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen +noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den +Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte er, daß es so sein +müsse. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so daß +es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: "O +Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum täglichen Gang nach +der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern +Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar +keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete +ab, bis alle Glieder der Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er +das Haus verließ. +</p> + +<p> +So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen, +die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge, +die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und +nach der eben erlebten Enttäuschung durch die Direktorsstelle. Und es kränkte +sie, daß ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben +sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es +erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, +ganz anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau +Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte +so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten +christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie stimmte dazu die +Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschließen und dann noch zu +kündigen, und das alles bloß wegen einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich +das erklären lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr <i>allein</i> wollte sie +sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet +sich bald ein Weg. +</p> + +<p> +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benützten. Das +war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Wäschetrocknen und die +Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem +kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch sie +hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören. +</p> + +<p> +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes miteinander +herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und sie waren der +guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer miteinander verständigen +würden. +</p> + +<p> +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht gestern +Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen +hat?" +</p> + +<p> +"Ja, du warst ja dabei." +</p> + +<p> +"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum erstenmal +gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte Frau Hartwig gar +nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie +wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen +die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein +eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu tun, was recht war. +</p> + +<p> +Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er ließ +sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und +wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hießen. Das +wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen, +aus dem Sternbild des Löwen ausgingen. +</p> + +<p> +Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der Hausherr sie +wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf +seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner früheren +Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe +den Leonidenschwarm für einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr +euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich +werde euch doch nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind +nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!" +</p> + +<p> +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus. +</p> + +<p> +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen sie an +der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat +Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," sagte sie und gab jedem +einen Apfel. +</p> + +<p> +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine +Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz +nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden +deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter." Um +recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor +das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor +die Füße der erschrockenen Hausfrau. +</p> + +<p> +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's +meinen, um so ärger poltert's." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap04"></a>4. Kapitel<br/> +Adventszeit.</h2> + +<p> +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne Blättchen, das +allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen Pfäfflinge standen alle +in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im +Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am +Frühstückstisch, sahen auf. "Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die +vier Brüder vom Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht +erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es +miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und +zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste +Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur +bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie +soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner +Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach +Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen +Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte +etwas anderes als die Melodie. +</p> + +<p> +Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu +richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den +Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den +Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum +Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden +verabschieden wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß +alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll +dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich. +</p> + +<p> +"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der Kinderchor. +</p> + +<p> +"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein. +</p> + +<p> +"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben. +</p> + +<p> +"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, hole sie +schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die ganze Familie im +Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in +ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete Andacht". +</p> + +<p> +Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe herrschte in +der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die +Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben ließen aber, ihrem Versprechen +gemäß, die ganze Breite der Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und +Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. +Da konnte er nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester +zu. +</p> + +<p> +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn +im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte +die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das dauert noch lange, lange, davon +reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig." So hätte sie +auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte +Advent, Weihnachten war über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog +Frau Pfäffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, +wie schön der Christbaum war?" +</p> + +<p> +Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie +nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen +vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die +Freude erhöhte. +</p> + +<p> +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten flüsternd, +was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte kein Geld kosten, +denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie +ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu +kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu +bescheren, das ist eine Kunst!" Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die +Beratung sehr in die Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang +heute immer der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte +ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, wo +Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da sie sich +in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm +den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam +die Adventsstimmung bis in die Küche. +</p> + +<p> +Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder wollte sie +auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen, +er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral +vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie +zeigen oder vordrängen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich +hören zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an +ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in +der Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße. +</p> + +<p> +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, +bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der großen +Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und die Schüler +sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so. +</p> + +<p> +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein +paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht." +Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem großen +Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die Kameraden von allen Seiten: "Spiel +doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder +seinen Adventschoral, vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und +sagte, nachdem er fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." +</p> + +<p> +Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten und wie +der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du das bei deinem +Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte Frieder, "Harmonika muß man +nicht lernen, das geht von selbst." +</p> + +<p> +"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen nicht. +Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest du das auch?" +"O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." "Du wirst dich wundern, +wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze." +</p> + +<p> +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte +spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die +wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von +Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riß sie dem andern mit +Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie geht ja gar nicht, ich +glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah, +wurde er blaß und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden +sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten. +</p> + +<p> +"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde +zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick +von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich +an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wußte es ja schon vorher, +daß ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken. +</p> + +<p> +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er +trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause, +rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten +Ausruf: "Sie ist tot!" +</p> + +<p> +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser. +Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum +Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an +seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen +Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit +ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half +kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht eine +neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde. +</p> + +<p> +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. +</p> + +<p> +Es war wieder Sonntag, der <i>zweite</i> Advent, und wieder standen die Kinder +beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern. +Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er +konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still +zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun +mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf den Balken, da kann man sich +alles ausdenken, aber da oben nicht." +</p> + +<p> +"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen Seiten. Er +war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit +hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika +aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große +Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch +gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten +auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der +Arbeit. +</p> + +<p> +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn, +und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun +seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel +mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf +einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie +es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und +Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir +zwei können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen +wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, +Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten +Sack voll." +</p> + +<p> +Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand +ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich zeichne ich +ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist." +</p> + +<p> +"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin +vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt. "Frieder," sagte +Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine Harmonika nimmer hast, aber +mir bist du lieber ohne sie." Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer +das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum +erstenmal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika. +</p> + +<p> +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele +Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest- +und Ferienzeit wollte verdient sein. +</p> + +<p> +Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in +seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich +sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn +von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern +ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es erfahren, wenn hohe +Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten +erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß sich's die andern zur Ehre +rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen +ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine +Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte +gelegentlich von oben herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich +die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen." +</p> + +<p> +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück +Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße +entgegengesetzt lag. +</p> + +<p> +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem, +schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines +junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester +Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem +Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der +griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine +Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres +zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich +einige Stellen vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir +wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." +</p> + +<p> +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. "Was tust +du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" sagte Otto +ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann +dich gar nicht begreifen, daß du das magst." +</p> + +<p> +"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und +das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum +Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs, +offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf +Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange +zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben +ihr Geld glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in +Deutschland ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist +man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie +möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen +er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt +natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: 'Rudolf, mach +deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne +feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn +Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.' +</p> + +<p> +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen +Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir, +du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, +als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu +reden oder nicht? +</p> + +<p> +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat +ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren +gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu laufen hatte, bis +ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie +haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's +um Musikunterricht handeln." +</p> + +<p> +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling hört, so +klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den Musikunterricht geben?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Weiß ich nicht." +</p> + +<p> +"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen." +</p> + +<p> +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche Herrschaften muß +man immer das feinste wählen." +</p> + +<p> +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." +</p> + +<p> +"Wohl, wohl, aber so ein <i>Titel</i> fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hören sie gern." +</p> + +<p> +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor +nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon +seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren für ihn. Nur ist es noch +nichts geworden, weil erst gebaut werden muß." +</p> + +<p> +"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend, +"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht +bei den Professoren." +</p> + +<p> +"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du mit +den Russen sprechen." +</p> + +<p> +"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen +Begriff von Umgangsformen." +</p> + +<p> +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, aber wenn +<i>du das</i> nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, was du +kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein +Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel +etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel." +</p> + +<p> +"Ich vermag viel im Hotel." +</p> + +<p> +"So beweise es!" +</p> + +<p> +"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast." +</p> + +<p> +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich für den +Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu +bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen überein, +daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder +eine Enttäuschung geben. +</p> + +<p> +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in einer +Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst +du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" +</p> + +<p> +"<i>Zehn</i> Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es <i>bald</i> so weit +kommt." +</p> + +<p> +Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzählte +ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorüber war, faßte +er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest das zurücknehmen, so eine +Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So möchte er die Stunden gar nicht +annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu +solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm." +</p> + +<p> +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Ärger +eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." So ging die +Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber geschwiegen hatten. +Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete: +"Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er +soll auf Antwort warten." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, die die +Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der höflich angefragt +wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen +möchte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfäffling adressiert, und als die +Brüder diese Aufschrift bemerkten, flüsterten sie lachend einander zu: Ein +Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier! +</p> + +<p> +Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so erwünschten +Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer +nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, daß Herr +Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es +ist ein sehr feiner Herr." +</p> + +<p> +Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier von dem +Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm zu, er war stolz +und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg +nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand +konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfäffling suchte hervor, was er sich +neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht +wieder eine Enttäuschung gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte +knüpfte, "wer weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit +denen dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: +"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für +ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler bekommen +als Fräulein Vernagelding." +</p> + +<p> +"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr Pfäffling, +"ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine Marterstunde." +</p> + +<p> +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern, +er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der +Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war +schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen geholt worden. Um fünf +Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau Pfäffling wurde unruhig. So +gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspäten. Nun +schlug es fünf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe +herbei. +</p> + +<p> +Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich eine +kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen +mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe, +dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies +das Fräulein und es plauderte mit den viel jüngern Mädchen wie mit +ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr Pfäffling noch nicht da sei, +schien sie ganz vergnügt darüber, lachte und spaßte mit den Schwestern. +</p> + +<p> +"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen heißt so?" +</p> + +<p> +"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es eigentlich +nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie und Anne, aber so +ist's eben bei uns." +</p> + +<p> +Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes Lachen +über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt. +</p> + +<p> +"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu spielen," +richtete Marie aus. +</p> + +<p> +"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es lautet +nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen Klavier? und man +muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint Mama. Mein voriger +Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, ich sei unmusikalisch. Herr +Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die Herrn wollen immer nur +musikalische Schülerinnen, es kann aber doch nicht jedermann musikalisch sein, +nicht wahr? Man muß es doch auch den Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" +</p> + +<p> +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch zuviel +für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß die, die +recht musikalisch sind." +</p> + +<p> +Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so plötzlich +stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner Verspätung war er mit +wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. Fräulein Vernagelding tat +einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Pfäffling, +aber wie fein sehen Sie heute aus, so elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: +"Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie +warten ließ." +</p> + +<p> +"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen, ehe +sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick nachher +wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres Zeichen war, +daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß. +</p> + +<p> +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen ist?" +wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts zu sagen, man +mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am schwersten, und er paßte +und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und im selben Augenblick, wo +Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das Zimmer verließ, schlüpfte er +schon durch den andern Eingang hinein und fragte: "Vater, wird etwas aus den +Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, +"komm, ich erzähle es euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: +"Cäcilie, Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche +herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum +meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen +sein!" +</p> + +<p> +"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch musikalische +Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube kaum, daß wir +<i>einen</i> solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre Mutter spielt +Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein wird, mit ihr zusammen +vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch erzählen. Im Vorplatz des +Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen empfangen, den ich nach deiner +Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in +einen kleinen Salon, spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, +der Schlingel, kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der +von so einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte +mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen, +und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die Familie +würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen Leuten gegenüber +müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich die breite, mit dicken +Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, +klopfte für mich an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor +Pfäffling vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm +Notiz nahm, empfahl er sich. +</p> + +<p> +"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht mehr im +Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen durchdringenden Blick. +Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei jungen Söhnen vor und bot mir einen +Platz an. Aber sie waren alle ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie +nicht viel Vertrauen in die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz +unbestimmt davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen +sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die +Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch, +versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da meinte +die Dame, es gehe eher noch Deutsch. +</p> + +<p> +"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen Beinen, +dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein Direktor bin. +Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber allerdings die Dame ein +wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter und sagte: 'Ich denke, es ist +besser, wir machen ein wenig Musik, dabei lernt man sich viel schneller +kennen,' und ich fragte die Dame, für welchen deutschen Komponisten sie sich +interessiere? Sie schien etwas überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir +recht war. Da ging ich ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und +fragte, aus welcher Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den +Nibelungen, Herr Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch +einmal nach ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; +ich wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, +aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich. +</p> + +<p> +"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer näher +heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir uns +verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, und die +Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte Passion sei +und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei Stunden zu kommen. +Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der war ihnen auch recht, eine +unbescheidene Forderung mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier +tun, wenn er seine Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich +fortging, begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle +Steifheit war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich +vergessen hatte. +</p> + +<p> +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er hat +offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in der Klasse +wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er ist aber, wie mir +scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich wirklich zu freuen, daß +die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei +Herren zur Türe begleitet worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil +geworden.' Ich habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn +öfter sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger +Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du +bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines +Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut." +</p> + +<p> +"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man sich +sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden bekommt. +Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges Jubellied gesungen +werden!" +</p> + +<p> +Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der General +im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher Deutscher." +</p> + +<p> +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen +Aufsatz machen." +</p> + +<p> +Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die Marianne +ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau Privatiere +Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer Glacéhandschuhe." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap05"></a>5. Kapitel<br/> +Schnee am unrechten Platz.</h2> + +<p> +Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der erste +Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen stundenlang +gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das ganze Land überzieht +mit seiner weichen, weißen Decke; der alles verhüllt, was vorher braun und +häßlich war, der alles rundet und glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist +sie schön, die Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose +Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. +</p> + +<p> +Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen, +und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch eine Sitte muß aus dem +Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich verpflanzt, wird etwas ganz +anderes daraus. +</p> + +<p> +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden Kinder zu +ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele +Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie +versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie +Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man für +sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein +Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er sogleich den Baum, der in einem +Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu dem Gärtner, von dem er gemietet war. +Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er +verbreitet. +</p> + +<p> +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge Deutsche und +sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er +nehme ja so viel Platz weg. +</p> + +<p> +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem Christbaum +nicht den Platz? +</p> + +<hr /> + +<p> +Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch den +frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten +Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her, +und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfüße +schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die größten Schneeballenschlachten +konnten ausgeführt werden. +</p> + +<p> +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und sah +vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein großer +weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem Zaun hatte +jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze auf. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas sehen," und +schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und öffnete das Fenster. +Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr +eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbäumen. +</p> + +<p> +"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der Fuhrleute, +der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glückselige +Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch einer dabei!" Die Kleine +erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann nach. +</p> + +<p> +Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem richtigen +Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem +schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil +an. +</p> + +<p> +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo einige +Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein hitziges +Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler +hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter +der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder +hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber +wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen +zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. +Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war +nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die +rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee! +</p> + +<p> +Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so +schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach +den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen, +daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen, +das war Frechheit. +</p> + +<p> +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. Nach +Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklärte das +Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien +die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach +Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser +weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und +verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das +war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann +kommen sahen, liefen auf und davon. +</p> + +<p> +Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach seinem +Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war +noch so nahe, um seine Antwort zu hören. +</p> + +<p> +"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete die +Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. +</p> + +<p> +"Die Wohnung?" +</p> + +<p> +"Frühlingsstraße." +</p> + +<p> +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die +Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein "Wilhelm" war er +allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein Name. +</p> + +<p> +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling schadet +das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders, +wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: fort mit dir. Ich +sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der +Pfäffling hat ebensogut geworfen wie ich." +</p> + +<p> +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser Wilhelm an +seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst, +denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand, +abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, daß allen davor +graute. Nun mußte er unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über +des kleinen Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische +Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht +am Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze +zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. +So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er +achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen +Stuhl kam. +</p> + +<p> +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah überrascht +auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was ist's, Vater?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da und hat +dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?" +</p> + +<p> +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann doch nicht +sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der +gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" +</p> + +<p> +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr Pfäffling, +und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand, +daß es klatschte. +</p> + +<p> +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft beiseite, +"warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf diesen Vorwurf +versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Möglichstes getan, daß man +ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über +den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie +zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und +woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht +erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?" +</p> + +<p> +"Um 11 Uhr." +</p> + +<p> +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem +Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die Sache +noch ins Zeugnis!" +</p> + +<p> +"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen sind +jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" +</p> + +<p> +Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du nicht +etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem Mann, "und +ein gutes Wort für ihn einlegen?" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da +kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch +nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter +handelt; war auch gewiß sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum +glauben!" +</p> + +<p> +"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben, +dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. Besonders der +Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." +</p> + +<p> +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: "Jetzt +wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr niemand, für diesen +Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen. +</p> + +<p> +Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, berieten, +ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, und als Anne eben +im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: "Das ärgste ist +mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hört, dann kündigt er +uns!" +</p> + +<p> +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das Schreckgespenst, die +Kündigung! +</p> + +<p> +So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den +Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen +mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine Angst, ein Unrecht +ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr doch angemerkt, wie +unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufällig gehört, wie der Vater +zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt +machen." +</p> + +<p> +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu +erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die übrigen +Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! +</p> + +<p> +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu Baumann, +"dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." +</p> + +<p> +"Es ist nicht wahr." +</p> + +<p> +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es deutlich +gesehen." +</p> + +<p> +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der +Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schüler +und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfäfflings Brief +reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch +mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß Pfäffling der einzige sei, +sagte er: "Dann möchte ich mir auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum +kümmern. Es ist schon störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, +gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. +Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" +</p> + +<p> +So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu +bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer Entrüstung, daß er +allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darüber, daß +sein Betrug an den Tag kommen würde. +</p> + +<p> +Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das +Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gängen und +auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes Bürschlein berechnet +war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner, +den sauern Gang auf die Polizei mußte er ganz allein tun. Und nun betrat er das +große Gebäude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der +Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner +kümmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und +warteten. Nun war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, +Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze Qual, +die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte ihn bei Hand. +"Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," sagte er, "jetzt komm +nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!" +</p> + +<p> +Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann. +</p> + +<p> +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war +angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit Schneeballen getroffen, +darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer +Nähe fortgesetzt habe. +</p> + +<p> +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. +</p> + +<p> +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber weiter +nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast mir erzählt, +daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest." +Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte wohl der Vater besänftigt +werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretärs +und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr +Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des +Herrn Sekretär Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen +eines Vergehens entschuldigt hat." +</p> + +<p> +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit als Lüge +auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht mit ihm +gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht möglich, den Herrn +Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?" +</p> + +<p> +"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und der +Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen Polizeidiener. "Bitten +Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den +Schutzmann Schmidt herein." +</p> + +<p> +"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um solch eine +Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie es wünschen, können +Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der Sache war." +</p> + +<p> +Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach der +Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen der +Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte noch weiter +sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, indem er sich an den +Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn gerade <i>diesen</i> Jungen +aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehört hat zu werfen, und der sich +in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt +hat?" und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir +zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte +ich nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann: +"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der +rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich +aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht. +Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" +</p> + +<p> +"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir." +</p> + +<p> +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus, +das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich +gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. "Jawohl," sagte +er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse." +</p> + +<p> +"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich kann ihn +doch nicht angeben?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und deine +Menschenkenntnis ist nicht groß." +</p> + +<p> +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," sagte +der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist." +</p> + +<p> +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das Versehen," +sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst nun gehen, aber +halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem Schneeballenwerfen, in den +Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!" +</p> + +<p> +Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief +Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen bist! +Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt." +</p> + +<p> +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzählt, +wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser +vorgebracht." +</p> + +<p> +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht glauben +wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft möchte ich +etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet +das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber." +</p> + +<p> +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit +der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge +Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer recht +wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte du es so, und +wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich +schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt du sicher sein, daß er darauf +'nein' sagt." +</p> + +<p> +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. +</p> + +<p> +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte +Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den Grund +nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von +Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht haben. Der +junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht." +</p> + +<p> +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die +Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des Vaters Hand, küßte sie +und lief davon. +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele +freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts +verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe +an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut vorübergegangen." Nach ein +paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener +Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller. +</p> + +<p> +"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der Professor nach +der Stunde zu Wilhelm. +</p> + +<p> +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben +worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben." +</p> + +<p> +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" +</p> + +<p> +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete Wilhelm. +</p> + +<p> +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um +Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen. +Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann aufgeschrieben +worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den falschen Namen angegeben." +Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: "Dem +Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer +gewesen. Du mußt mir's nicht übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, +daß dir das nichts macht." +</p> + +<p> +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief Wilhelm, +"du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe +ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann +kann es ja wohl sein, daß du dich durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der +Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. +Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige +Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und +bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen +des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor. +Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in +solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht <i>ein</i> Gesicht erkannt hatte. +Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht +fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und +er sollte ihm nicht entgehen. +</p> + +<p> +Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich! +Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan, was strafwürdig +ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: 'warum ist er dann +vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das +Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle +Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im +Haushalt und dachte dabei: 'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger +Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht +ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim +Zeit und Geld für sie verwenden? +</p> + +<p> +In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht +gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett +geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das +schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum +Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs +hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein +wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter +Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte +leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter +ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst +war schuld. +</p> + +<p> +Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg +hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief die Kleine, "die +Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen +Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren +von Teig an der Schürze. +</p> + +<p> +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter Strenge, +"gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an +die Schürze wischen," und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog +leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind +alle unfolgsam!' Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das +angefangene mußte trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum +Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo +die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr +langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den +Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der +Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur +schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie +gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich +freuen!" +</p> + +<p> +Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau +Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund. +Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf +dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand: +</p> + +<p class="poem"> +Man bittet die Türe zu schließen! +</p> + +<p> +Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen, +die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen. +</p> + +<p> +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel ordentlicher, als +du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer +aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird +zumachen, wenn er hört, daß es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre +wird geschlossen." +</p> + +<p> +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie +Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als sonst, hörte sie die +Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um +nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging. +</p> + +<p> +Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten +Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß heute etwas +besonderes los war. +</p> + +<p> +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas kleinlaut +erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." +</p> + +<p> +Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war +es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am +Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die Mutter: "Marianne, warum +habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?" +</p> + +<p> +"Vergessen!" +</p> + +<p> +"So geht jetzt und besorgt ihn." +</p> + +<p> +"Aber doch <i>nach</i> dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. +</p> + +<p> +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht +helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte." Da +widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem +Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine +Frau verwundert an. +</p> + +<p> +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr +den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die +Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das +Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren. +</p> + +<p> +"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die +Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter. +Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann +entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll +eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei +Tassen." +</p> + +<p> +Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden, +denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf +die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen. +</p> + +<p> +Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine +Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren. +</p> + +<p> +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling sagen. +</p> + +<p> +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch, +wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes +gemeint? +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap06"></a>6. Kapitel<br/> +Am kürzesten Tag.</h2> + +<p> +Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo +im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel steht, saß man heute +noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde, +war es noch trüb und dämmerig in den Häusern. Allmählich aber hellte es sich +auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch +ihre schrägen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig +durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich +der Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen +hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse und Hasen wurden +da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! Auf den Plätzen der Stadt +standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den +großen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten. +</p> + +<p> +Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und Anblick ganz +hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte +für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwärts über +den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem +Bäumchen, nicht größer als er selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten +vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so +rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet +und wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. +</p> + +<p> +"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; <i>so</i> wirst du nicht viel +verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand legte sich +von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte +sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen hatte, war eine +große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und +Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weißt +doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und legte ihm den Baum über die +Schulter. +</p> + +<p> +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte die Dame. +</p> + +<p> +"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume geschleppt, +sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen." +"Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. "Sieh, auf diesem Papier +ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, daß dich's nicht in die +Hände friert." Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin +einen kleinen Anstoß in der Richtung, die er einzuschlagen hatte. +</p> + +<p> +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern, +trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß er mehr aus +Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es aber nicht gewiß. +Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so mußten eben die Buben +helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, freilich meist größere. Er war +eigentlich stolz, daß man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt +nur die Brüder begegnet wären oder gar der Vater! +</p> + +<p> +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase +stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, obwohl er +nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn oft von der einen +auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen +mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne daß die steife, von der Kälte +erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er +trug den Baum frei mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von +einem Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen +aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm +den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du, +Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum +hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße +glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder +hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei +einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte +niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten +Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47, +die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum +gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen +wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig +auf die Treppe setzen, um auszuruhen. +</p> + +<p> +"In der Luisenstraße wohnt nur <i>ein</i> Doktor," sagte sie, "und das ist Dr. +Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun lieber in Nr. +43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer, +aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte +er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hörte +dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. Weber, sie hätten längst einen Baum und +einen viel schöneren und größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen +herunter, und als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz +klar, wo er jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter +Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts mehr +vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! +</p> + +<p> +Und es war wirklich höchste Zeit. +</p> + +<p> +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie +und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder hat +versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag +weggeblieben!" +</p> + +<p> +"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. Sieh +einmal nach ihm," sagten die Schwestern. +</p> + +<p> +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu ängstigen, +nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem zugestoßen sein—, aber wenn +er nicht zu Mittag käme, würden sich die Eltern sorgen und darüber ärgern, daß +doch wieder etwas vorgekommen sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten +sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von +allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater +heim, fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?" +</p> + +<p> +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört hatte. +"Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch in sein +Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man nur das Essen ein +wenig verzögern könnte," sagte Karl. +</p> + +<p> +"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg zu sich +und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so +zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, daß man später +ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Töpfe auf und +sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch +eine Weile kochen dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs +Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die +Linsen ganz hart. +</p> + +<p> +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja noch +ein wenig mit dem Essen warten." +</p> + +<p> +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die Kinder. +</p> + +<p> +So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur +mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem +Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling merkte jetzt, daß +etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz außer +Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte +ängstlich: "Ißt man schon?" +</p> + +<p> +Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie man +seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn nur ab, du +glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der +Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, "ich muß ihn einer Frau +bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie +ihn aus und wollten alles genau hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen +und hörte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm +nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!" +</p> + +<p> +Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt sich +denken. +</p> + +<p> +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner rechtmäßigen +Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit Frieder gehen, ihm +helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus zu Haus +laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," entgegnete Karl. +</p> + +<p> +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde ich mich +schämen." +</p> + +<p> +"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl ich +meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke stand, hob ihn +frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte spassend: "So werde ich durch +die Luisenstraße ziehen, eine Schelle nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum +gehört, der soll sich melden.'" +</p> + +<p> +"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird so +gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein Kamerad denken +sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie schwiegen aber. Da setzte +Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte sehr ernst: "Kinder, fangt nur das +gar nicht an, daß ihr meint: dies oder jenes paßt sich nicht, das könnten die +Kameraden schlecht auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer +durchs Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf +Meier ab." +</p> + +<p> +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe dessen +und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in die Luisenstraße +Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte. +</p> + +<p> +Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir nichts +daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht gedacht, daß +es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet." +</p> + +<p> +"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir ein +Trinkgeld gibt," sagte Karl. +</p> + +<p> +"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen Pfennig +mehr." +</p> + +<p> +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins Zimmer +kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so lang bleibt, +tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem alten Mantel +schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." +</p> + +<p> +Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto mußte +sich bequemen, Frieder zu begleiten. +</p> + +<p> +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als Otto +plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: "Da vornen +kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn sie meinen, ich +müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du doch den Baum selbst +tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, nicht?" +</p> + +<p> +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach war das +nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", das stimmte +alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock stand noch einmal +der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe. +</p> + +<p> +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein wenig mit +ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als Frieder nach Hause +kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen, war es ihm nicht +behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen zuletzt noch im Stich +gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er mit dem Bruder wieder +zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich auf ihn, dann ging ihm die +Geduld aus, vermutlich war Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu +finden, aber es war nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von +allen Seiten gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er +freilich erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum +getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch +schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja +die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch und +hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. "Ja +Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast alle +zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die kommen +wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren +nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht +oben oder unten bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben +gar nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen +größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos +ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten." +</p> + +<p> +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem Baum +und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück," und flink +faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von seiner Schönheit +eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon. +</p> + +<p> +In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und sofort +rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch noch!" Eine +lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo bist du denn so lang +geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar nicht, dir habe ich keinen Baum +zu tragen gegeben, der gehört nicht mir." +</p> + +<p> +Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen jungen +Pfäfflingen gemacht hatte. +</p> + +<p> +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er kam, +war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe nämlich nicht +gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, ich brauche ihn schon +heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da konnte ich nicht warten. Was +mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr wohl schon einen zu Haus? Ich würde +euch den gern schenken." +</p> + +<p> +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. +</p> + +<p> +"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten kleinen +Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen Lebkuchen schicken, +den bringst du ihm, nicht wahr?" +</p> + +<p> +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit seinem +Baum heimwärts. +</p> + +<p> +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter angezündet, als +Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe geraubt hatten, kamen +eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, und ließen sie vor Schreck +fast aus der Hand fallen, als sie den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" +schrien die Mädchen ins Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte +Karl, "der Baum, der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht +aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!" +</p> + +<p> +Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab ihn +Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, Mutter, +der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam, ergötzte er sich an +der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er merkte, daß es Otto nicht +recht wohl war bei der Sache, und wollte sie eben deshalb genauer hören. "Also +so hat sich's verhalten," sagte er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden +hast du dich so gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen +hast? Dann heiße ich dich einen Feigling!" +</p> + +<p> +Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte und +schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu vergessen. Es war +auch am nächsten Morgen, an dem vierten Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. +Es trieb ihn um, er konnte dem Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. +Da trachtete er, mit der Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er +ihr nachging, und ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte +er, "ich kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich +ihn um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für feig." +</p> + +<p> +"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar schon +manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über dich +urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur ankämpfen gegen +die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein kannst." +</p> + +<p> +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, fehlte +Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er zuerst den Vater +in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen Musikalien auf. "Willst du +etwas?" +</p> + +<p> +"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon welches. +Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt gestanden und +habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von meiner Klasse haben es +gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, die ich bekommen habe." Da sah +Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es +gibt allerlei Heldentum, das war auch eines; nein, Kind, du bist doch kein +Feigling!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap07"></a>7. Kapitel<br/> +Immer noch nicht Weihnachten.</h2> + +<p> +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der Familie +Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade das einzige +Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das Elschen. Ihr war die +Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie zurückdenken konnte, alle +Geschwister entzog, die unbarmherzig die schönsten Spiele unterbrach, die ihre +dunkeln Schatten in Gestalt von Aufgaben über die ganzen Abende warf und die +auch heute schuld war, daß die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den +Schulzeugnissen redeten, die sie bekommen würden. +</p> + +<p> +Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß morgen +der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig und mißmutig. +"Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es gar kein Land auf der +ganzen Welt, wo keine Schule ist?" +</p> + +<p> +"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel ist +zurzeit noch keine eröffnet." +</p> + +<p> +"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. Aber da +alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag nichts taugte, +und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal nichts zu machen war. +</p> + +<p> +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der letzten +Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie nur so beiseite +geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise geführtem Gespräch und +verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. Es waren nämlich die Zeugnisse +ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, daß Wilhelm in der Mathematik die +Note "4" bekommen hatte, die geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch +nie dagewesen, die Zahl 4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen +Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was +hilft es mich, daß ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der +Vater sieht doch auf den ersten Blick den Vierer." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." +</p> + +<p> +"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater darnach +fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es nicht +wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?" +</p> + +<p> +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren inzwischen auch +mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder auf. Marie warf nur +einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, ihr seid schlecht +weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse +sind gut, besser als das letztemal, und der Frieder hat auch gute Noten. Dann +wird der Vater schon zufrieden sein." +</p> + +<p> +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." +</p> + +<p> +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. +</p> + +<p> +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen soll, +daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" +</p> + +<p> +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und zuletzt +wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und dann die +Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz des fatalen +Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt sein konnten. Die +Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen anzusehen, und dem Vater wollte +man die schöne Durchschnittsnote in einem geschickten Augenblick mitteilen, +dann würde er nicht weiter nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse +unterschrieben werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus +sorgte man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das +beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. +</p> + +<p> +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis gezeigt, +nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte Wilhelm, "wie +der sich diesmal hinaufgemacht hat!" +</p> + +<p> +"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur von der +Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten bekomme, werden +die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft wieder, Karl?" +</p> + +<p> +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann." +</p> + +<p> +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat sich so +gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus. +</p> + +<p> +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es übernehmen, sie +dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht nach den Heften fragen +würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr Pfäffling sich richtete, um zum +letztenmal vor dem Fest in das Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen +Bewegungen bemerkte sie, daß er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben +alle unsere Zeugnisse bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl +berechnet, was wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da +herausgekommen ist? Magst du raten, Vater?" +</p> + +<p> +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich es +doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis drei +vielleicht?" +</p> + +<p> +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" +</p> + +<p> +"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und Marie +bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will ich alle in der +Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal unterschreiben kannst." "Ja, +hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling noch von der Treppe herauf. +</p> + +<p> +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber sehr +weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da niemand in die +Hände fallen. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, denn es +war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten und so betrat er +auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal stand die große Flügeltüre +des untern Saales weit offen, Tapezierer waren beschäftigt, die Wände zu +dekorieren, der Besitzer des Hotels stand mitten unter den Handwerksleuten und +erteilte ruhig und bestimmt seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte +Herr Pfäffling, nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit +herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand +ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der Hand +und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen wurden. Aber +plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm ertönte eine +scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an +dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er +Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not +mit den Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt +Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei, +die Treppe hinauf. +</p> + +<p> +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf seine +verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den Leuten, die +er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, er spreche so klug +wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr Pfäffling noch größere Ansprüche +machten? Rudolf stellte sich die Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie +doch im Vergleich mit ihm, sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte +ihr Vater doch empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel +weiter war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie +geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten +sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er +wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. +</p> + +<p> +Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe hinaufgesprungen. +Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner Schüler, und nun wurde +noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert. +</p> + +<p> +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm die +Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden." +</p> + +<p> +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen Gästen viel +zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein Geschäft ausgezeichnet, +aber sein Sohn <i>spricht</i> nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn +wird nichts." +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und +hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben <i>den</i> Sohn stehen, über +den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er wird +nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind +gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm +vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte vielleicht +selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu +verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als +seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen. +</p> + +<p> +"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere +Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur Arbeit." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater sehr viel +zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre +Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" +</p> + +<p> +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war und +meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß ich jetzt so +etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, daß ich +als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. Die Dienstboten sind so +unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her sein." +</p> + +<p> +"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen anleiten?" +</p> + +<p> +Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht +gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein gewöhnlicher +Schuljunge war? +</p> + +<p> +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien +Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt." +</p> + +<p> +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" +</p> + +<p> +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich weiß +auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben über +Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, feierliche Messen und +dergleichen. Man muß allen dienen können und darf keine Vorliebe für die eine +oder andere Konfession merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht +verletzen und müssen uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen +lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der +verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er offenbar +Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor der Stunde für ihn +gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. +</p> + +<p> +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, die +Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der +Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte Herr Pfäffling ihn +zu einem Tapezierer sagen: +</p> + +<p> +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den +Gästen abgehalten wird." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern kam, die +schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken +versunken. Er sah vor sich den tüchtigen Geschäftsmann, der in unermüdlicher +Tätigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug +abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst +gehören sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine +Straße weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich +mit dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus eine +Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, daß +sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den schlimmen Einflüssen +zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der großen Stadt, in +einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während sich Herr Pfäffling dies +überlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurück, und nun stand er +vor Herrn Meier, in dem großen Saal. +</p> + +<p> +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die Dekoration +und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," sagte Herr +Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr +Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" +</p> + +<p> +Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem +anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie Platz nehmen?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er sagen +sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch begonnen, so trieb +ihn der Eifer im Zimmer hin und her. +</p> + +<p> +"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann sehen Sie +gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's +denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch +kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tüchtig arbeitet und dann +fröhlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen +sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das +Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein +Christ, denn er dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem +Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas +aus ihm werden, aber so nicht!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen nicht zu +Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kühl: "Ich muß +mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht +und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz flüchtig. Mir scheint, Sie +urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, daß mein Sohn der geborene +Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so +wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes +Kind wohl am besten und werde für sein Wohl sorgen." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser +vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt habe. Das +wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so +oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es die Menschen nicht +ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der +reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es +mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu +fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr +für seinen Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!" +</p> + +<p> +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende, +indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich +sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten." Er ging, +der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück. +</p> + +<p> +"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts +erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch er +sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in +Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen +ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit +sich selbst ebenso streng ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; +immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und +nachbedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, +auf die Leute einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." +</p> + +<p> +Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich +über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern. +Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte +in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, daß er nach +seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief: +</p> + +<p> +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie +sehen!" +</p> + +<p> +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse müssen +her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. "Warum denn, +warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie mußte die +Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinübertragen in des +Vaters Zimmer. +</p> + +<p> +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als sie +wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine List mit +der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend etwas ist sicher +nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar fatale Dreier da, oder +eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er überblickte die kleine +Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt +sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab +das Bild eines gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen +Sprachgelehrten. +</p> + +<p> +Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut brauchen, +wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Sünden anderer +gut machen. +</p> + +<p> +Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie +vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor, +aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von +Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig +verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit +ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst +darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu +gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich +schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer +zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. +</p> + +<p> +Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken +können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was für gute +Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser +als früher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein +Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika +zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch +genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der +Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse +auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel +Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo +war denn das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben? +Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm +ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im +Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und +wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe sich +auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht +heimbringen. +</p> + +<p> +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas +besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber +für die Mathematik fehlte das Verständnis. +</p> + +<p> +Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an seiner +Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als +sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte +dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran, daß morgen Weihnachten ist!" +und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie +freundlich an sich: "Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist +gut, daß du mich erinnerst." +</p> + +<p> +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden immer nur +von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." +</p> + +<p> +"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor Weihnachten +freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herüber, ich +will machen, daß sie sich freuen!" +</p> + +<p> +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister +zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem Trüppchen dem +Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drückten. Aus +diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen. +</p> + +<p> +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur gegen mich +dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja +keinen Sinn! Gegen den <i>Feind</i> verbindet man sich, nicht gegen den +<i>Freund</i>. Habt ihr einen treuern Freund als mich? Halte ich nicht immer zu +euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!" +</p> + +<p> +Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die +Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und +sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten +wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit +mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir möchte ich nie etwas +verheimlichen!" +</p> + +<p> +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch Gutes dabei +heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen, +wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, daß sie das nächste +Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind +unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr +weit her, aber wie wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter +Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich +darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von +diesem Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. +</p> + +<p> +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer +müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis +Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an +für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß sie am nächsten Tag +nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt, +dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder +nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich +in ihr Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein. +</p> + +<p> +"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den +Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie in der +Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" Während des +lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens fröhlichem Jauchzen +ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme +wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie +haben gar nicht 'herein' gerufen." +</p> + +<p> +Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte +sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die +Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte Augen und rief: "Nein, wie +viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen +hatte, waren alle sieben schon verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie +schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!" +</p> + +<p> +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als aber +Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, machte nur +einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf hereinschauen," und sie sah +dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll aus, daß das Verbot mit lautem Jubel +aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus +und sogar aus dem Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille +Nacht, heilige Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! +</p> + +<p> +"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur so auf +gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen <i>die</i> Noten +spielen, die da stehen." +</p> + +<p> +"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch nicht so +pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf +jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich weiter und nun, als +der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich auf und sagte: "Ich habe +mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum täglichen +Gebrauch, Herr Pfäffling." +</p> + +<p> +"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie ihren +Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie +werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird." +</p> + +<p> +"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?" +</p> + +<p> +"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer sein?" +</p> + +<p> +Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes +Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fräulein +Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen. +Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang +nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere +Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schülerin. +</p> + +<p> +In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt hoch in +seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das über einen +Meter lang herunter hing. +</p> + +<p> +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? Zu +einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, Cäcilie?" Da +wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke für das Klavier +erkannt. +</p> + +<p> +"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein +ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein Vernagelding, das +ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich bitte dich, nimm mir das +Ding da ab!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner +Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. Nun waren die +Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den Eltern am Tisch, und Herr +Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge im Zentralhotel. Er stellte sich +selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß +Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen +hätte. "Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte +sie. "Und wenige, die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte +lächelnd hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glückliches Paar, nicht wahr?" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater zu +ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, Cäcilie?" +</p> + +<p> +"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!" +</p> + +<p> +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein +Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine +Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich vorzustellen. +Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es war Regenwetter und ich +trug einen langen braunen Überrock und hatte den Regenschirm bei mir." +</p> + +<p> +"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, "einen +dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar +nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm trat dein Vater in +unser hübsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den +Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. +Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich +noch ein junges, dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich +alle Mühe hatte, mein Lachen zu unterdrücken." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, sondern +hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine +Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die +Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespräch, und +wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich +vor, daß du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun +kommt das Großartige. Als ich wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im +Nebenhaus bei Professer Lenz Besuch machen wollte." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter hatten, so +kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete. Ich dachte bei +mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm in der Hand bei +Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespött für den ganzen Kreis. +Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch +war ich schüchtern und ungeschickt." +</p> + +<p> +"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling ein, "ich +hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot +dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht lieber ihren Überrock und +Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu +Willen sein und machte Anstalt, meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit +deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, +sondern wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen +Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei, im +Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust." +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie haben +es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht gesagt.' Da verging +mir das Lachen, weil die Achtung kam." +</p> + +<p> +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr Pfäffling. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap08"></a>8. Kapitel<br/> +Endlich Weihnachten.</h2> + +<p> +Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist +Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an keinem +anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht und gern aus +den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und +hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der Mutter helfen aus +Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung +fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die +Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um +die Wette, wenn die Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas +Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der +treuen Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche +befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte. +</p> + +<p> +Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas +holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus dem Nebenhaus, +die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die allerlei zurechtgelegt +war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht +einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt ihr die Kleinen in euer Stübchen +und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg +waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst +sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir +einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die +Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's +kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter +und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. +Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa +Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen +Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend." +</p> + +<p> +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch +viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen Kindern einen +schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel—das +können Sie sich denken bei sieben—aber weil keines vorher ein Stückchen sieht, +so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns +einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor +dem heiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum +geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet +ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann +sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar +keine großen Geschenke daliegen." +</p> + +<p> +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen Sinn für +so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten." +</p> + +<p> +"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht und +Lichter dazu." +</p> + +<p> +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch +gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen +gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke mir, daß Sie +noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?" +</p> + +<p> +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie +habe etwas für mich und die Kinder." +</p> + +<p> +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie +alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so groß wie im +reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen." +</p> + +<p> +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag gezankt, +weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester +bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang +gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe." +</p> + +<p> +"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was +die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine Freude, wenn +die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein Mann auch den Sinn +für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, daß +Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, +verstecken, und dann eine schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder +bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" +</p> + +<p> +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" +</p> + +<p> +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem Christbaum +dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehört auch +zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige +übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen Kalender kaufen, oder +was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich +keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen +war." +</p> + +<p> +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen Sachen, +die Sie mir zusammengerichtet haben." +</p> + +<p> +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein, +und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie +machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins +Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die Reichen können die Armen nicht +glücklich machen, wenn die nicht selbst wollen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese +endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel +abgezogen. +</p> + +<p> +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu +betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der +Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt nur recht laut," sagte die +Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt's heute, +nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei +Pfäfflings ist's auch so." +</p> + +<p> +Da ergaben sich die Kinder. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher Stimmung. +"Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling und rief die +Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen. +</p> + +<p> +"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," sagte +sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben besorgen." Wilhelm +und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil +gespannt, an dem eine ungezählte Menge Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg +war eine große Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten +die hölzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt +waren. "Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm +fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," +so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto +gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei +allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs Bodenkammer +offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte, +ganz erschrocken über den plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr +denn aber da oben, ihr Kinder?" +</p> + +<p> +"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, wenn man +Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben darnach springen," +sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und mit einem Hochsprung hatte +er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der Strumpf fiel herunter. +</p> + +<p> +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. +</p> + +<p> +"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher grau und +schwarz, denen schadet das nichts." +</p> + +<p> +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken. +Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle Strümpfe schienen +zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten sonst noch da unten stehen +und auf die Hände der vielbeschäftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld +ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein +wenig zu helfen? +</p> + +<p> +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid herunter: Die +meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie müßten noch +hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und +dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz +Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und +Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie +den Vorrat auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: +Das gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. +</p> + +<p> +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein kärgliches +Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu: +"Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!" "Warum denn +nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich. +"Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es +nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte +das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf +den Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom +gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfäffling: +"Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein großes +Stück Braten denken!" +</p> + +<p> +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein +dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man +nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst! +</p> + +<p> +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen +Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfältig +verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nüssen +und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte +ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Häusern feiner geschmückte +Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten +Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das +Grün des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem +nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind +vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten +Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran ändern. +Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen +Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. +Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, +und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, +nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr +wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten +des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die +mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen begann, +dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm die Aufsicht +über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf +allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen +fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten +wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein +Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer +Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und +alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem +Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine Handvoll +Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: "Das ist etwas +zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen aus der Großmutter Paket +gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schürzen an und sagt auch +Walburg, daß sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der +Mutter Angesicht leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern +das gleiche Strahlen hervor. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen. +"Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den Baum anzünden?" +</p> + +<p> +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich bin so +müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen Jubel Kraft zu +sammeln." +</p> + +<p> +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl noch +eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schließe die +Augen." +</p> + +<p> +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur drei +Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder frisch, und ich +kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache Unruhe, die klopfenden +Herzen der Kinder da draußen, wir wollen anzünden." Bald strahlten die Lichter +an dem Baum, die großen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische +erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein +Glockenzeichen und die Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und +Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; +solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen +und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun +geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird das +Kinderglück. +</p> + +<p> +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber +es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den +Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater +dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den +Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Güte, wenn es einem der Geschwister ins +Gesicht sah, so glänzte dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft +des Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend! +</p> + +<p> +Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den Frieder!" +An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine +ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf +das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen +Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen: +</p> + +<p class="poem"> +Fideln darfst du, kleiner Mann,<br/> +Vater will dir's zeigen.<br/> +Aber merk's und denk daran:<br/> +Immerfort zu geigen<br/> +Tut nicht gut und darf nicht sein.<br/> +Halte fest die Ordnung ein:<br/> +Eine Stund' am Tag, auch zwei,<br/> +Doch nicht mehr, es bleibt dabei. +</p> + +<p> +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er drängte +sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich sie gleich +probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht +viel Platz ließen, drückte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte +an, leise über die Saiten zu streichen und zarte Töne hervorzulocken. Und er +sah und hörte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte +sich, denn er wollte <i>reine</i> Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern +sahen sich mit glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in +seinem Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen +kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" +</p> + +<p> +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" +</p> + +<p> +"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding geschickt!" +</p> + +<p> +"Was? Euch Kindern, was tut <i>ihr</i> denn damit?" +</p> + +<p> +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche." +</p> + +<p> +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!" +</p> + +<p> +Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre neuen +Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den +Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. "Man könnte meinen, es sei +ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz außer Rand und Band!" sagte Herr +Hartwig zu seiner Frau. "Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort +beschwichtigte den Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich +auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang +zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! +</p> + +<p> +In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie war +ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die +Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren großen, ernsten Zügen +malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in +ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, aber es hatte sich kein ruhiges +Viertelstündchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt +hätte sie vielleicht einen Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl +schwerlich kommen. Während Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz +von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf +Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das +Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war +noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber +unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu stehen? +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst +nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja +da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo ist denn die Mutter?" +Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurück mit dem Bescheid, die +Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst +nie. "Dann laßt sie nur ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal +redet, muß man froh sein." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit +herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drückte +sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: "Ich erzähle dir später!" +Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und +Marie sagte: "Unserer Walburg sieht man so gut an, daß heute Weihnachten ist." +</p> + +<p> +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich +nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis endlich Herr Pfäffling mit +seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch der Ruhe bedürftig sein," sagte er. +</p> + +<p> +"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie +erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die +schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem Jahr ihr Sohn Witwer +geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos +dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an +kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, daß sie nicht gut höre, +aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den +Feiertagen einmal herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die +Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg kennt den +Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu +sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut für Walburg!" +</p> + +<p> +"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem Haushalt +vorstehen können bei ihrer Taubheit?" +</p> + +<p> +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein +schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es rührend, daß der +Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen. +Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draußen viel besser, weil sie +ihren Dialekt reden." +</p> + +<p> +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, wenn +auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden." +</p> + +<p> +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag +möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch +nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurückkommt, sagen, daß +sie Braut ist." +</p> + +<p> +Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer +Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch +einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hölzernen Truhe, in der +ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit +Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, +jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da +draußen gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die +breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu +Ehren kommen! +</p> + +<p> +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in +ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat. +</p> + +<p> +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar +kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau +Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön aufzuräumen, so hatten +inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem großen +Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen und Apfelbutzen kein Ende. +Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte +sich bei der geringen Kälte nicht bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel +Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben +sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war +sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling nach den +Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten +Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch +mittun könne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. +Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur +die beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen +hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die +Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu +spielen. +</p> + +<p> +So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr +Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der Küche ein +Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel ließ sich auch +an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon +ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was <i>willst</i> du tun? Meistens drängten +sich die Geschäfte von selbst auf und hätten schon fertig sein sollen, ehe man +daran ging. Eine Weile ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr +klar, was sie tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich +komme zu dir!" +</p> + +<p> +Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen Jahren +hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jährige Frau konnte +<i>nicht mehr</i>, und die junge Frau konnte <i>noch</i> nicht die Reise wagen, +die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch +köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne. +Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit +den nötigsten Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, +wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und +es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich +aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht +sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in +dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und +davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch +festhielten: Ein jeder trage des andern Last. +</p> + +<p> +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags. +Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zündete ein einziges +Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und große breite Schatten von +Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine +feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfäffling sagte leise vor sich +hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch. +</p> + +<p> +Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und Bewegung +Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau Pfäffling. Sie +fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, fröhlich ging sie hinaus und +sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er +dich verlassen hat." Sie ging, ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber +nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Türe. +</p> + +<p> +"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst mit dem +letzten Zug erwartet." +</p> + +<p> +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln +zusetzen?" +</p> + +<p> +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles +gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich bin ganz allein zu +Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's nicht so arg gedacht, er +meint, für die Kinder wäre doch eine besser, die hört." Ohne ein weiteres Wort +wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den +bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, +versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage +glücklich gemacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, +setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen +auf die kahlen Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es +war so öde und leer in ihrem Herzen. +</p> + +<p> +Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet neben dem +Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du tust mir so leid," +sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. Walburg aber beherrschte ihre +Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: "Draußen habe ich selbst erst +gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, +sie haben mir's auf die Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So +wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld +hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und +sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie sich's gehört. Ich weiß +nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn +nicht wie früher auch?" +</p> + +<p> +"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir verstehen uns +und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, daß du uns +nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da wich der starre, traurige +Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der +Frau, die sich so bemühte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. +Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; +eilfertig griff sie nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der +Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so traurig +aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr +draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei uns recht heimisch fühlt." +</p> + +<p> +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört sie." +</p> + +<p> +Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen noch +geigen? Wie heißt dein Vers? +</p> + +<p class="poem"> +"'Eine Stund am Tag, auch zwei,<br/> +Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" +</p> + +<p> +Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden gespielt +hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben Violinübungen, die +sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Mädchen das Herz +leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe +Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr +als eine Verbindung mit den Mitmenschen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap09"></a>9. Kapitel<br/> +Bei grimmiger Kälte.</h2> + +<p> +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die +menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen +Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser +eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen +konnte. +</p> + +<p> +Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt +Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er mußte das +Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. "Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, +"Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die +Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.'" +</p> + +<p> +Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb daheim am +warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel +durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten mußte, bis +die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig +brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die +Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und +unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war +die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, +dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im +Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der +Trennung auch <i>einmal</i> wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der +alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus +in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein +eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter +beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig +sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu +denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich +die große Reise gar nicht lohnen." +</p> + +<p> +Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und +so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es +doch einmal geschah. +</p> + +<p> +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. +</p> + +<p> +"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr Pfäffling, +indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg +so zuverlässig ist." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem +Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es +sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da +wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab, +indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken, +wir wollen sehen, was der Januar bringt!" +</p> + +<p> +Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder. +So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich, +die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie +auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto +hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen +hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich +wird's nicht so arg frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und +Karl, obwohl er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war +schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß +doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so +dumm aus, wenn er allein keinen hat!" +</p> + +<p> +"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen +Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und +deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht +ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde +frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?" +</p> + +<p> +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ den +Mantel fahren und rannte davon. +</p> + +<p> +Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie +nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die +Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete +sich mit der Aussicht, daß nach den Osternferien auch sie mit den Großen den +Schulweg einschlagen würde. +</p> + +<p> +So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder +zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste +Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder angeregt und von +irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen würden. Um so mehr war +sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden +Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte +und die Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie +noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen +wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau +Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man +sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen +habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. +Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht. +</p> + +<p> +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine +Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. Aber +Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein +rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen, +jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr +alle heimkommt und von der Schule erzählt. Kommt, wir wollen beten: +</p> + +<p class="poem"> +"Herr wie schon vor tausend Jahren<br/> +Unsre Väter eifrig waren,<br/> +Dich als Gast zu Tisch zu bitten,<br/> +So verlangt uns noch heute,<br/> +Daß Du teilest unsre Freude.<br/> +Komm, o Herr in unsre Mitte!" +</p> + +<p> +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen. +Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die +Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr +Pfäffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehört, was ihn ganz +erfüllte: Ein Künstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. +Ein Künstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde +hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen Städte +Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum erstenmal +auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die +Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen des rührenden +Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache. +</p> + +<p> +Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß unser +Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares Vergnügen zu +gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in +solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten +erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen großen Kunstgenuß +hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen +und sagte: "Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem +Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die +Mutter muß sich zur Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der +Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. +</p> + +<p> +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war +krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu eingetreten, ein +anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit +zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken +weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier erzählt?" fragte er Otto. +</p> + +<p> +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." +</p> + +<p> +"Hast du nichts näheres darüber gehört?" +</p> + +<p> +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiß +nicht mehr." +</p> + +<p> +Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen +wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres erfahren. +</p> + +<p> +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen +Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die +russische Familie klagte über den kalten deutschen Winter. +</p> + +<p> +"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" meinte +Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. Alle +Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch +jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie keinen Pelz bei +solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn +Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie +gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein +Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch +gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich +spielen." +</p> + +<p> +Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. "Es war +sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der +viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist übrigens jetzt nicht mehr +hier." +</p> + +<p> +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht +hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er +kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben +hinein.'" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat recht," +fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig sind, ist es +besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land ungünstig sind, so wie +bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern +<i>Land</i> aufwachsen zu lassen. In Rußland haben wir ganz traurige Zustände, +die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, +Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne +haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. +Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen +Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl +in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit +in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt." +</p> + +<p> +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne standen +beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, daß diese +reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen +Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: "Jeder einzelne +leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. +Möchte das neue Jahr für Rußland bessere Zustände bringen!" +</p> + +<p> +Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit +Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zögerten +beide. Sie hatten <i>ein</i> gemeinsames Interesse, über das zu sprechen ihnen +nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die Sprache darauf zu bringen, +wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. Mit dem höflichen aber kühlen Gruß +des Gastwirts ging er vorüber, gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt +heute!" +</p> + +<p> +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie auseinander. +</p> + +<p> +Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl +sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, ein echter, +wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder +nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel +gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel +nach. Aus der Küche erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der +eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ +sich dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Nicht lange, Vater." +</p> + +<p> +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir +das genau?" +</p> + +<p> +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: "Aber +das ist doch noch nicht lang her?" +</p> + +<p> +"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute +nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da +stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch +ganz um die Geige! Gib sie her, in <i>der</i> Woche bekommst du sie nimmer!" +Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie +fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je +eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur +<i>ein</i> Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewußt die geliebte +Violine dem Vater hin und ergab sich. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden, +was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie +sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen füllten. Sie stellte ihr +Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: "Darfst du denn nicht +spielen?" +</p> + +<p> +"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton. +</p> + +<p> +"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr." +Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun +war sie ihm für eine ganze Woche genommen! +</p> + +<p> +Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen Stimmung. Ihm +war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte, +eine große Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit für ihn weg, und dazu +kam nun, daß er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, +die, nachdem er sie geöffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn +hinübertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau. +</p> + +<p> +"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein fand, +fragte er ungeduldig: +</p> + +<p> +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" +</p> + +<p> +"Sie ist draußen und bügelt." +</p> + +<p> +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" +</p> + +<p> +Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." Frau +Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich +muß nur den Kragen erst steif haben." +</p> + +<p> +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und in +diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie". +</p> + +<p> +Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfäffling kam +in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. "Ist denn das +nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen Bügelei," fragte Herr +Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf +diese gereizte Frage antwortete Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: +"Ist das die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" +</p> + +<p> +"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?" +</p> + +<p> +"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im +vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf +Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen besänftigten aber den +Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, du armer Wurm," sagte er, "du +kannst nichts dafür. Hast so viel Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch +so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und +wir wollen froh sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du +jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?" +</p> + +<p> +"Ja," schluchzte das Kind. +</p> + +<p> +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch +das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere Rechnungen, als die +vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es ist doch immer alles gleich +bezahlt worden?" +</p> + +<p> +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß diese +Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet wird. Ich war +damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so +schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die Schwestern ernsthaft +an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!" +</p> + +<p> +Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr der +Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling schon +wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: "Es ist doch +viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die einzige an Neujahr +ist." +</p> + +<p> +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als +wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder, +die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten bedenklich untereinander: +"Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?" Sie riefen Elschen herbei: +"Trage du dem Vater den Brief hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag +und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß +hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war +sie und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte Herrn +Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das anfangen, daß +sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche Ordnung und Sicherheit +auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und +her lief: "Else, hole mir die drei Großen herüber," sagte er, "aber schnell." +Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam +dann zur Mutter an den Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer +Rechnung," sagte sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind +gar nicht gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht +ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad Kälte +draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch zu bügeln, +heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es sind immer noch +viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus und sagte sich im +stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen +ausgespannt würde!" +</p> + +<p> +Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, und +Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt +hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte Ausgabe +benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er schon ärgerlich +und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem ältesten Bruder +beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein +Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertröstet, er bekomme bald eine +neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich +mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater +stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen +können?" +</p> + +<p> +"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden." +</p> + +<p> +"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich. +</p> + +<p> +"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen." +</p> + +<p> +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." +</p> + +<p> +"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; wie du +es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur, +wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen würdet. Wenn +man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen +brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr +müßt es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an +Weihnachten Geld geschickt bekommen?" +</p> + +<p> +"Ich habe keine drei Mark mehr." +</p> + +<p> +"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die Grammatik +geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder +meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt +nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am nächsten +Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, +nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig +abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum +Buchhändler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine +Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, auch +das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn freundlich an: "Es +ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da wäre +eben eine Droschke frei!" +</p> + +<p> +"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich +hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. Aber das Lachen +verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei zwanzig Grad Kälte! +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap10"></a>10. Kapitel<br/> +Ein Künstlerkonzert.</h2> + +<p> +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt hatten, +die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende Stimme der +Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah +und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen +solchen Reiz ausübte. +</p> + +<p> +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine +letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie +zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfäffling +Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer +lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Söhnen trennen zu sollen. Auf der +Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer +bedrückte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie +zurückkehren mußten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. +</p> + +<p> +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den großen +Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den beiden Männern +etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme +fanden und trennten sie sich. +</p> + +<p> +"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, "um sich +bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu überbringen. Übermorgen +werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhören, vielleicht sehen wir +uns im Saal!" +</p> + +<p> +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz machen. Ein +prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für das Empfangszimmer +des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem +ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling verwundert, als ihn der +Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht +einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe +eines Zimmers aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind +heute wieder vollauf in Anspruch genommen?" +</p> + +<p> +"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken als meine +Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am +nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen +Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, daß er seit Weihnachten bei +meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, +als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber +erfolgreiche Operation." +</p> + +<p> +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr +bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was +schreibt Ihr Sohn?" +</p> + +<p> +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber +nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über seine Tante, obwohl +diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluß +ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnügt er die +Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert." Herr Meier warf einen +Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn +vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und +ihm eine ganze Anzahl Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren. +</p> + +<p> +"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre Telegramme +beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das Telephon." +</p> + +<p> +"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur +Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie wissen, daß die +Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die +Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr +zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt." +</p> + +<p> +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur Zimmerbestellungen," +sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muß +für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf +fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde +Ihnen immer dankbar sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling." +</p> + +<p> +Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel +verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal einen +Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie wenig Unterschied +war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und +was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche +Geschäftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schließlich hatten sie alle +das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre +<i>Kinder</i> sorgten sie sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte +ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. +</p> + +<p> +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Frühlingsstraße, +um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war in der Musikschule, +seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schüler, die ihrem Lehrer +seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drückten sich nun +schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu +vermitteln und teilten ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage +verschoben hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für +die Stunden beilegen wollten. +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, wenn er +zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in der Musikschule +nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern +der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling kam später als sonst und nicht mit +seiner gewohnten fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der +Ansicht, daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der +Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige +Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben +worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. Manche +konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling +war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen +Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit +schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark +beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt hätten, das +hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun, +wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man auf das Stundenhonorar +wochenlang warten muß oder nicht! Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch +eine Freikarte mehr schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit +ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich +neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, soll +diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht +sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die +vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!" +</p> + +<p> +"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." +</p> + +<p> +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen +als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen +würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen Hausfrau folgte die Mutter +augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling sah ihr nach; von Erbitterung war +nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt +eine öde Zeit, wenn sie für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon +überstanden." +</p> + +<p> +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren +besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte, +neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das Künstlerkind wurde liebkost, +mit Bonbons überschüttet, aber dennoch langweilte es sich heute und war +verstimmt. Dem Fräulein, das für den kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn +an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht +gelingen. +</p> + +<p> +Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde +der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Künstlerin, um die +Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Sängerin zu hören +und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. "Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, +"unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem +Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es +versagen würde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so +verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn +aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder +verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis +es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, +und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor +allem lustige Kameraden!" +</p> + +<p> +"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und verließ das +Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das stand ein für +allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. "Wo +bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte er sich und dachte an seinen +Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so +viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei +diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam +ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und +munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder <i>dieses</i> Mannes +sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu +Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine +Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich bitten, mir +sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des +Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!" +</p> + +<p> +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, und der +Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis +drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie sollten dem kleinen +Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei." +</p> + +<p> +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie waren +gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? Marianne war +nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto, +Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, er geniere sich. Wilhelm +konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem +kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit +ihm treiben, daß er kreuzfidel würde!" +</p> + +<p> +"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch +zustande bringen. Und Frieder?" +</p> + +<p> +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. Wo ist +sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen +Gestältchen." +</p> + +<p> +"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu schüchtern? Wir +wollen sie fragen." +</p> + +<p> +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte +in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brüder +unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: "Leise, +leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. Frau Pfäffling beugte +sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach +dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so +traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm +spielen?" +</p> + +<p> +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann ich +schon fort." +</p> + +<p> +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze +Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen. +</p> + +<p> +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob +entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick von +Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus +dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das entspricht, wird +sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der +Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter +der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater, +langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, +Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein +wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. +Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er +will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch." +</p> + +<p> +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das "Herein", statt +dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber Edmund, wer wird denn die +Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn sonst tun?" hörte man eine +weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem +Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit +einem Purzelbaum herein kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut +heißen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" +war erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und +einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu +sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und +sagte: "Wie macht man denn das?" +</p> + +<p> +Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in ihrer +Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem nebenan liegenden +Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte freundlich und dankbar Herrn Meier +zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie +zuging. Das Kind hatte ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich +einführte, ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der +mütterlichen Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte +sie zu der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen +herein, bloß heute, weil er lustig sein will." +</p> + +<p> +"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist Edmund +versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz +gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein schien dieser +Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurück und die +Kinder blieben sich selbst überlassen. +</p> + +<p> +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas sehr +Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, blonde Locken +umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und wohlgepflegt. Das +ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, die mit ihrem +träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele mehr als andere +empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, +sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in +seinem Gesicht, die ihn viel älter erscheinen ließen. +</p> + +<p> +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich mit +diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir möchte ich +gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" +</p> + +<p> +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. +</p> + +<p> +"Was willst du tanzen?" +</p> + +<p> +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der +von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte. +</p> + +<p> +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum Tanz +führen. +</p> + +<p> +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen." +</p> + +<p> +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, für so +kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen. +</p> + +<p> +"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen Walzer +vorpfeifen." +</p> + +<p> +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im +Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das +Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. Edmund fuhr die Tanzlust +in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. Sie wäre ja keine Pfäffling +gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt hätte; niedlich tanzte das kleine +Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden +Wilhelm einher. Das Fräulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch +der Vater trat unter die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer +sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu +seiner Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er +das Fräulein. Sie wußte es nicht. +</p> + +<p> +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die Anmut +selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." +</p> + +<p> +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fräulein, +daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu +lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand alle Fröhlichkeit aus +seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen möge, sich nicht umkleiden und +seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernünftigen Vorstellungen des +Fräuleins, die zärtlichen Worte der Mutter hatten nur Tränen zur Folge. +</p> + +<p> +Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt doch +vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so +lange auf das Konzert!" +</p> + +<p> +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er +eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das Künstlerzimmer +kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, während du +singst und Papa spielt." +</p> + +<p> +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht kommen," +sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den +ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben für morgen." Da +flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er drückte sein Köpfchen an die +Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir +ist gar nicht gut." Es sah auch tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine +Bübchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie +Edmund verweint und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so +verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, +heute abend." +</p> + +<p> +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand und +hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern +besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon, +das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. Endlich wandte sich der +Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte er, "wenn du zu unserem Kleinen +in das Künstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest +eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, +kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, +wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt +noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." +</p> + +<p> +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein +Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," rief er, +"ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern +zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!" Und als er bemerkte, +wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen zum Lachen überging, sagte er zu +diesem: "Könntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und +sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn +er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du +so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut lachte +und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn rasch zum +Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde redete sie gütig zu: +"Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir." Darauf +hin folgte der Knabe willig dem Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. +"Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir +uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem +Künstlerzimmer fragen." +</p> + +<p> +"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt es." +</p> + +<p> +Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, "woher +weißt du das Zimmer?" +</p> + +<p> +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." +</p> + +<p> +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser Konzert?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr +darüber freuen, als mein Vater!" +</p> + +<p> +Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei schlüpfte sie, +so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld, +heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch +wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich +rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn +aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder +entlassen. +</p> + +<p> +Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, schnell, +Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um +halb acht Uhr geht das Konzert an!" +</p> + +<p> +So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr erreichte, +obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel. +</p> + +<p> +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." Wilhelm +wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und kommen viel +früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber die Hand des großen, +stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurück. +"Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine Droschke geholt werden soll, es ist +für dies kleine Mädchen ein weiter Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber +wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen +und einen Wagen holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde +im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen +Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge. +</p> + +<p> +"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen bis nach +Rußland." +</p> + +<p> +"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten Woche nach +Berlin reist." +</p> + +<p> +"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen." +</p> + +<p> +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah erstaunt auf +die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das gesagt?" +</p> + +<p> +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." +</p> + +<p> +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat +heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun +kommt schon dein Bruder mit der Droschke." +</p> + +<p> +Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu +setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der Wagenschlag +für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und sie selbst sorgsam +hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie +durch die schön beleuchteten Straßen, dann durch die stillen Gassen der +Vorstadt und endlich bogen sie in die Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater +nicht daheim ist, müssen alle auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl +und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß +das Billet zu rechter Zeit bekommen!" +</p> + +<p> +In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau Pfäffling, +die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie kommen!" Herr +Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine +Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestört wurde, wie +viel schöner es wäre, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als +über Musik zu lesen, Herr Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das +können die Kinder sein, ob <i>sie</i> wenigstens etwas gehört haben in der +Künstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich +fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem +Mann: "Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit +kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand +inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so +flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner +Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein +Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch +Herr Pfäffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm +erwartet hätte, enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser +fröhliche Ausruf der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um +möglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" +der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend. +</p> + +<p> +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal +überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau +Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht überrannt zu werden, wollte +eben die Haustüre zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen, +nachkommen sah. "Da hat es wieder so pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß +sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm +die Hand und schloß für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der +Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht +um sie gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und sagte, +auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie du das machen +mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du mußt nur dicke, +dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schöner +aus als das Holz da!" +</p> + +<p> +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." +</p> + +<p> +Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet hatte sich +allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die Erlebnisse im Zentralhotel +überstürzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen für das Abendessen +beschleunigt, damit Herr Pfäffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des +Konzertes kommen konnten. Frau Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und +auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl +fühlt," sagte sie zu Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit +Spässen bei guter Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und +war zu vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit dem +ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso strahlte, +während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann +unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert +richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte +Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm +allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem +Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen +willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber über dem +Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen +ein: "Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und +gelacht," sagte Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los +mit ihm." +</p> + +<p> +So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem schon +dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachträglich +zu verdienen. +</p> + +<p> +Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begrüßten hier +die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin allerlei Aufmerksamkeiten +und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweißem Anzug da und +lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid +reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds +Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja +keine Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. +</p> + +<p> +"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im Hintergrund +des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das +Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er +hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für Edmund mitgebracht, soll ich +ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" "Später, wenn wir allein sind und Edmund +schwierig wird," sagte das Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar +Augenblicke später kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es +Zeit, Herr Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre Plätze +im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide der Sängerin +glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der +der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," die Mutter drückte rasch +noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne +Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein +paar Stufen nach dem erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das +Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden +Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hörte das mächtige +Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann +hinter ihnen die Türe und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die +Menschenmenge entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das +Nebenzimmer. +</p> + +<p> +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat unser +kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte +er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund antwortete nicht. +</p> + +<p> +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat vorhin +darnach gesehen." +</p> + +<p> +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen +sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht ganz +dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. +</p> + +<p> +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn dich +Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu weinen. +Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, Kind," tröstete +sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit +verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die Tränen, Weismann hielt es für +klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm ließ den Kreisel tanzen; halb +widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen +geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich +horchte er auf. Ein Beifallssturm dröhnte aus dem Saal. +</p> + +<p> +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß noch +einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und +kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag +nicht gern wiederholen, aber man muß." +</p> + +<p> +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so etwas +habe ich noch gar nicht gehört." +</p> + +<p> +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher +schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun +die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von +Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer zurückkam, rief er ihr +fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die Mutter beugte sich zu ihm und +sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf +Wilhelm. +</p> + +<p> +Im Saal erklang der Konzertflügel. +</p> + +<p> +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an das +Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, wenn das +Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir bange, wenn ich +vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich spielt, hat diese große Angst +jede andere vertrieben. Wir hätten es nie anfangen sollen." Tröstend sprach das +junge Mädchen der Mutter zu: "So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn +alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, +mehr als über Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und +hat seine Sache immer gut gemacht." +</p> + +<p> +"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht auch +trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen Sie, Fräulein!" +</p> + +<p> +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen lassen." +</p> + +<p> +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen nicht +müde sein vor dem Violinspiel." +</p> + +<p> +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. Eine +gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als +verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er +aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also <i>mußten</i> ihm Gedanken +kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der +Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall +den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit +der Violine zu folgen. +</p> + +<p> +"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," sagte er +munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine +Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den Türspalt, wie er +seine Sache macht!" +</p> + +<p> +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie der +Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in kindlicher Weise +den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel +begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und +deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. +Mit denselben träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, +hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser Kleine +war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja +klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich eines Mannes. Aber +reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken und eine staunenswerte +Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den Zuhörerinnen war manche zu +Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein +Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das +Podium, um dem kleinen Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein +kindliches Alter berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, +waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, +die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes, +freundliches "Danke!" rufen. +</p> + +<p> +In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren, +und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: die Mutter war über +die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg glücklicher, als über den eigenen; +auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal +vorzuspielen, freilich ein schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne +Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die +begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer +eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und +siegesgewiß trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein +zurück bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden. +</p> + +<p> +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche +Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte sich buchstäblich +auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat, +setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an +das Fräulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er +schlief ein. Sie ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, +während sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das +Edmunds Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat +es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam +vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie das Kind +vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten ihm +Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf +gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, daß er noch +einmal vorspiele. +</p> + +<p> +Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große Menge +sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der Vater ihr +soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. +</p> + +<p> +"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner Frau, "sie +helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund reden." Er führte +das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen. +</p> + +<p> +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu Bette +gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein +ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur ein einziges Stück +spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben +die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafür Musik versprochen und muß +mein Versprechen halten. Du mußt das deinige auch halten, dann erst darfst du +dich zu Bette legen. Aber eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, +daß du dich tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des +schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die +du so gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht schön +vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist +es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, daß +du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte +der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab +dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. +"Vater," fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." +</p> + +<p> +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der Vater. +</p> + +<p> +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der +Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des Künstlers zugute zu +halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er möchte Ihnen lieber eine Romanze +von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches +Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß +ihnen damit die Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte +der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. +</p> + +<p> +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten hatten +keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und +seinem einschmeichelnden Spiel. +</p> + +<p> +Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen, +und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, die den Kleinen in +zärtlichen Armen empfing. +</p> + +<p> +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," sagte der +Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum Droschkenplatz, nicht +wahr?" +</p> + +<p> +Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor dem +Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu sehen. +Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam +hatte erwärmen lassen. +</p> + +<p> +Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts, +und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den +Masern erkrankt. +</p> + +<p> +Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank darnieder, +und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie manchmal mit +Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich auftreten mußte, ehe +es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. +</p> + +<p> +Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap11"></a>11. Kapitel<br/> +Geld- und Geigennot.</h2> + +<p> +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte täglich +und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß des russischen +Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden beigelegt sein sollte, aber +es kam nichts. So mußte die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben +haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die +Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden +sein. Herr Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit Familie +gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach Berlin, wo er +eine Woche verweilen wolle. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu +sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und +sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle geschäftlichen Angelegenheiten +aufs pünktlichste geregelt und großmütig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist +durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben." +</p> + +<p> +"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine +Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie das Honorar +überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die +Abreise sei verschoben worden, die Eltern würden deshalb noch schriftlich ihren +Dank machen. Glauben Sie, daß es von Berlin aus geschehen werde?" +</p> + +<p> +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, ohne +vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von +einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Söhne +ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld ist in den Händen der jungen +Herrn hängen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie +sind etwas leichtsinnig, die Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und +streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich +noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt +übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise +sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon über +der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein paar Tage +gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe +die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. +Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus +keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den +Hergang erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, +wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist +gut." +</p> + +<p> +In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren +Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er dann, "daß mein +Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir +brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Nötigerem als diese +leichtsinnigen Burschen." +</p> + +<p> +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter Stimmung, +langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," sagte er, "was +meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich ordentlich gegen das, was sie +schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht +ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der +verbrecherischen Handlung seiner Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut +hätte, sieht man ja, er hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er +das erfahren müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die +ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von +seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für Eltern. Soll +ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du, +Cäcilie?" +</p> + +<p> +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich +bringst," entgegnete Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz all dem +Leid, was daraus entstehen muß?" +</p> + +<p> +"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es heilsam, wenn +der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies ist ja immerhin die +Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder +verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Söhne über die +verschobene Abreise nicht erklären könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar +so nötig." +</p> + +<p> +"Also du würdest schreiben, Cäcilie?" +</p> + +<p> +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich würde +meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine Weile überlegend +auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren +alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den +Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun +machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert +Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen +das kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: +Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen +General ungeschrieben. +</p> + +<p> +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen +und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über die schnöde +Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters, +der aus Rücksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte, +priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen, +die die Eltern sich auflegen mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und +wandten sich am Schluß mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen +Leute mit der Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner +schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann +setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den +älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte +nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den +Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten sie sich nun +in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld zurückkommen, an dem +Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Überraschung, welche Freude mußte +das geben! +</p> + +<p> +Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz anders +erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am nächsten Morgen auf +dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum lassen wir eigentlich den +Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. +"Weil sonst keine Überraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich +sind und keinen Verdacht äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag +ist; weil der Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; +weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man +wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, nicht lange +vorher fragen." +</p> + +<p> +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den +Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brüder +drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht werden, sonst ist's ja +keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, was kann denn der Brief +schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt er nichts, aber schaden kann er +nichts, das mußt du selbst sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden +sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief +nicht herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte +er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir +heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es +doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen." +Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm +blieb dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem +dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es +gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte die +Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie +wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt +wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, +hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling +zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. +Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist +gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie gestern noch bei Nacht +geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg +mitgenommen hätten. Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die +Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwörung, das Geld +zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich angeführt. +</p> + +<p> +Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann +veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf +die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über diese Wirkung und +verstummten. +</p> + +<p> +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr auch an +Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die +Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der +Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt keinen Brief +mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. Nun erfährt er durch +euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte. +Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!" +</p> + +<p> +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort +fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht begierig, +Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu können. Da +drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: "Fort ist der Brief noch +nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!" +</p> + +<p> +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei schon +abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich gewesen für +den Vater, für den General und auch für euch, denn wir hätten nie mehr etwas in +eurer Gegenwart besprochen, hätten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr +euch heimlich in solche Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie +doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen! +</p> + +<p> +"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau Pfäffling, +"ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen Leute, aber was +nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewißheit wäre. +Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten Richter einen Menschen verurteilt +haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und später stellte sich +doch heraus, daß er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug +sein." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. "So, +wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, "so kann man +freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Söhne zu wenden, ist +vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der +Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte +verausgaben sollen. Ich müßte an sie schreiben, sobald der General und seine +Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen +Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in +dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern +gerne schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber +sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens +den Versuch machen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr +Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler willen. Aber wie eine +Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld +in den Schoß, rief vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick +schon wieder verschwunden. +</p> + +<p> +Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der +jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstück, +weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber +Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt +hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du +weißt nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur +kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber +nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm." +</p> + +<p> +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung +über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß es Herrn Pfäffling +nicht früher möglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen. +</p> + +<p> +Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der Pfäffling +nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?" +</p> + +<p> +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die sich +nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja bloß +Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß er seine zehn +Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die große Familie +aufnehmen wollte." +</p> + +<p> +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich keine +so gesalzene Rechnung geschickt!" +</p> + +<p> +"Du verwechselst auch alle Menschen!" +</p> + +<p> +"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich." +</p> + +<p> +"Gar nicht ähnlich." +</p> + +<p> +"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?" +</p> + +<p> +"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht." +</p> + +<p> +"Doch!" +</p> + +<p> +"Nein!" +</p> + +<p> +Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten +hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit einem +bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr." +</p> + +<p> +Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer Bett, hatte +aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich über den heutigen +Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte +sie sich an Frieder heran, der geigend in der Küche stand, und bat +schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und +spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör +auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er +endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die +Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu +Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!" +rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die Augen. +Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder +die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach +der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die +andere Türe hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und +spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. +"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du +hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger +ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen +hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele +bis ich fertig bin." +</p> + +<p> +In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen weinend +auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er tut's doch nicht, +vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!" +</p> + +<p> +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr +durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige sinken, legte +den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf. +</p> + +<p> +"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?" +fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du +über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, dann ist's wohl besser, das +Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich will hören, was der Vater meint." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was geschehen +würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die +Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im Zimmer. Frieder wagte +kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: "Es ist +mir leid." +</p> + +<p> +"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du bloß im +Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann könnte ich dir das +leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du aufhören solltest und +magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft +streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn +ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das +wäre gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern +jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen +folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer, +aber für Jahr und Tag. Gib sie her!" +</p> + +<p> +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie nun +plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen Schritt vom +Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so bestürzt, daß es fast +einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt +hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur +dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob +den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er +ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du +das?" und ernst fügte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun +gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten +sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern +zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument +leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist dir +deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in seiner +Stellung. +</p> + +<p> +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du auch +den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du +erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum Vorplatz weit +aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du fremdes Kind!" Da verließ +Frieder das Zimmer. +</p> + +<p> +Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die +Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfäffling ging erregt +hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter +Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das Kind da soll gehalten werden +wie ein armes Bettelkind. Es darf hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da +auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie +ihm den Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen +Vater und keine Mutter mehr hat." +</p> + +<p> +Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an sich, die +sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte sie, "Frieder +wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, daß er +sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles +wieder gut." +</p> + +<p> +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie +rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war, +ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf +dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte, +vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er +sonst bekommt," sagte Herr Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns +treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen." +</p> + +<p> +So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, kamen ihm +Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war +leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu +spielen. +</p> + +<p> +Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der Kinder. +Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche—dann +verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder wehgetan, er wußte nicht +warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem +Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich +die Musik das Menschenherz bewegen kann. +</p> + +<p> +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten +darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den Schwestern. +</p> + +<p> +"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr Pfäffling +verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige +auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu +ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile später, als Herr Pfäffling in seinem +Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und +trug mit beiden Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, +schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug +sah auch der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. +</p> + +<p> +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf +die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den Pack ab, +legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in +warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!" Und +Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus. +</p> + +<p> +Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder seine +Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie +zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen +angesehen!" +</p> + +<p> +Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie kann man +nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau Pfäffling, "mir +ist das ganz unverständlich." +</p> + +<p> +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte +nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das wäre, wie +wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist, +ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird +es leichter mit Maßen treiben." +</p> + +<p> +"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln können, daß +er einmal ein Musiker wird." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen." +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap12"></a>12. Kapitel<br/> +Ein Haus ohne Mutter.</h2> + +<p> +So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau Pfäfflings +Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer ausgemachten Sache, obwohl +niemand hätte sagen können, an welchem Tag sie die Ansicht aufgegeben hatte, +daß die Reise ganz unmöglich sei. +</p> + +<p> +Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, und +als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling sagen: +"Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid praktisch ist." +</p> + +<p> +"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu sehen, wie +sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, trug sie "auf alle +Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht reisen, wenn das Reisekleid +fertig im Schrank hängt und die besten Zugverbindungen herausgefunden sind? So +war es denn wirklich soweit gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar +für einen bestimmten Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, +die mit herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau +Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen +mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. +</p> + +<p> +Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große Aufregung in +die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle und Meinungen kund, +bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen aufgeregten Schwarm +hinausscheuchte. +</p> + +<p> +"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir entschlossen +sind," sagte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." +</p> + +<p> +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der Schule +sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling heißt!" +</p> + +<p> +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die Kinder +zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf sich gerichtet. +Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," sagte sie, "und ich +will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten Reise ist auch der +<i>halbe</i> Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn die gute Großmutter für +dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn +daheim die Türe aufmachen, wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? +Walburg hört das ja nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die +kommen. Du mußt unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht +daheim wärest, könnte ich gar nicht reisen." +</p> + +<p> +Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben mußte. +Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, denn was wußte +Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust und Erlebnissen? Für +sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und Merkwürdiges genug brachte. So +kam es zur Verwunderung der großen Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen +bei der kleinen Schwester, die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie +nicht mit hinunter gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! +</p> + +<p> +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es schwer ums +Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst hätte sie ihren +Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie sehnlich sie erwartet wurde, +es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles +voraus bedenkend, hin und her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, +Keller und Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, +überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so +nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes +Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, wo sie +oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. +</p> + +<p> +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" +</p> + +<p> +"Was denn, Kind?" +</p> + +<p> +Es wollte nicht über seine Lippen. +</p> + +<p> +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" +</p> + +<p> +"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." +</p> + +<p> +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater deine +Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir ja auch der +Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu meinem eigenen +Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so lieb hat, das verstehst +du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie +wird das köstlich werden!" +</p> + +<p> +So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich. +</p> + +<p> +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein Wort: +"Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig wegen seiner +Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders schwer." +</p> + +<p> +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es schon +gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, neigt den Kopf +nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, wie wenn er den Bogen +führte, und dann hört er die Melodien, das sieht man ihm gut an. Da tut er mir +oft leid." +</p> + +<p> +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die erste +Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und wenn nun der +Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am Kasernenhof turnen könnt, +dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm Lust. Und noch etwas: ich meine, +deine Mathematikstunden mit Wilhelm werden nimmer regelmäßig eingehalten." +</p> + +<p> +"O doch, Mutter." +</p> + +<p> +"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?" +</p> + +<p> +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht." +</p> + +<p> +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber nicht +genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm wieder eine so +schlechte Note bekäme!" +</p> + +<p> +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf verlassen!" +</p> + +<p> +Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in die +Holzkammer. +</p> + +<p> +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran dürft +ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in dieser Zeit +alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und Kohlen sorgen." +</p> + +<p> +Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie möglich +alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin." +</p> + +<p> +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" +</p> + +<p> +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die Stiefel +schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und anziehen, als es +darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag vom Kochen fortspringen +muß." +</p> + +<p> +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und am +Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch einmal Nadel +und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an einem Kinderkleid +auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja aus dem Wagenfenster +kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich der Zug durch eine kaum +hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache machte, daß Frau Pfäffling +verreist war. +</p> + +<p> +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine Weile im +alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr selbst nur das +Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts nützen konnte. Zugleich +verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen der Stadt, freie, noch mit +Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. +Da machte sie es sich bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab +sich darein, daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine +wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer +Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde. +</p> + +<p> +Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann mit den +Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie machten sich +an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten Gang. Nur Elschen +lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen Zimmer, die andern +empfanden die Lücke erst so recht bei dem Mittagessen. Es verlief auffallend +still. Eigentlich war ja Frau Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann +und ihre Kinder waren lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben +können, eine so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch +gegeben. Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu tun +machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein, daß Karl +für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und so nacheinander +herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem jüngern. Anfangs machte +es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so friedlich und so säuberlich zu +wie bei der Mutter, und Walburg wunderte sich, daß sie bald eine noch fast +gefüllte, bald eine ganz leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein +regelmäßiger Verbrauch mehr wie bisher. +</p> + +<p> +Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden, wo sie +allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten doch nicht +viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die +Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser +nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese +bildeten ein gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn. +</p> + +<p> +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes Wiedersehen +zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht ganz ohne Wehmut. +Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges Großmütterlein, das da im +Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe von einem Zimmer in das andere +zu gehen! Und wiederum, wo war Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch +deutliche Spuren hatte die Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen +eingegraben! +</p> + +<p> +Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach einigen +Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden wieder die +geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu trauriger +Empfindung da, denn die <i>alte</i> Frau hatte keine Schmerzen zu leiden, sie +genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege der unverheirateten +Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die <i>junge</i> Frau, wenn man +Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit solcher Liebe von ihrem großen +Familienkreis und schien so gereift durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen +deutlich zum Bewußtsein kam, das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit +Köstliches gebracht. +</p> + +<p> +Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, die noch +ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte die Schwester in +das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte Gastzimmer, zog sie an +sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun soll dir's gut gehen! Du +wirst sehen, wie ich dich pflege!" +</p> + +<p> +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." +</p> + +<p> +"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts tue ich +lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen und +herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das anschlägt, da +kann man viel erreichen in vier Wochen." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das nicht +in <i>drei</i> Wochen erreichen?" +</p> + +<p> +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" +</p> + +<p> +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich vier +Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an +vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du mich +darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen Haushalt, Mann, +sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. Es kommt so oft etwas +vor bei uns!" +</p> + +<p> +"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?" +</p> + +<p> +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber es ist +so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen haben könnte, +bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal anfängt, und selbst, +wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten +genug: Elschen muß vormittags immer allein die Türe aufmachen und Bescheid +geben, das ist unheimlich in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht +überzeugt bist, Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn +mein Mann einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!" +</p> + +<p> +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" +</p> + +<p> +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, wenn ich +etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der nächsten Woche komme. +Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so lebhaft wie früher und die +meisten unserer Kinder haben sein Temperament. Da gibt es nun bei solch einer +Nachricht immer gleich einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und +hören können!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches Leuchten +ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz jugendlich, gar nicht +pflegebedürftig aus. +</p> + +<p> +Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei Wochen +geeinigt. +</p> + +<p> +Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war für +Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der Mutter sitzen +zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles Verständnis war da zu finden +für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch stand die Mutter selbst schon fast +<i>über</i> dem Leben. Einen weiten Weg hatte sie in achtzig Jahren +zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, überblickte sie das Ganze wie aus der +Ferne. Da sieht sich manches anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der +Höhe herab erkennt man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören +wollte, der konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. +Frau Pfäffling war von denen, die hören wollten. +</p> + +<p> +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu diesem +Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings einziger Bruder +ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein +erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen +Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, +aber aus der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets +Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder +ins Auge zu sehen. +</p> + +<p> +"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu seiner +Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, eine +Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in einem kleinen +Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in diesem Februar noch +überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht streng, die Fahrt eine +Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten zurück, in dem mit andern Gästen +ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so +wohlerzogen. Wenn du meine Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein +wenig ungehobelt vor." +</p> + +<p> +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als du, sie +gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung." +</p> + +<p> +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird damit oft +kaum fertig." +</p> + +<p> +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel miteinander, +wie ist das bei euch?" +</p> + +<p> +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. Sie haben +ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur sollte man sich eben +mehr mit dem einzelnen abgeben können." +</p> + +<p> +"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. Ich +fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist das Fräulein +zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei Dienstmädchen, und mit unserem +Jungen werden sie oft alle drei nicht fertig." +</p> + +<p> +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören über +einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er beabsichtigte +in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, dabei durch +Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu besuchen. +</p> + +<p> +An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach dieser +Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein besprach. Wenn auf der +einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen wenig, auf der einen Seite +Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der andern alles reichlich, warum sollte +man nicht einen Ausgleich versuchen? Bruder und Schwägerin machten den +Vorschlag, einen der jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die +Sache wurde überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte +mit ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der +Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am +besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf der +Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein baldiges +Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und in der Umgebung +der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie erfuhr doch +nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die Losung ausgegeben: +"Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, sonst ist der Mutter der +Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst mündlich erzählt." So gingen denn +Nachrichten ab über gelungene Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über +einen Maskenzug und Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel +und über der Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. +</p> + +<p> +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr Pfäffling +von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: "Haben Sie heute nacht +nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen oder dergleichen?" +</p> + +<p> +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört." +</p> + +<p> +"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die zweite +Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der Kinder so +Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der Schlafzimmer kommt der +schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, ich habe schon die Kinder +danach gefragt, aber nichts erfahren können." +</p> + +<p> +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf. Er +fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die Tafelrunde an. +Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts verrieten von nächtlichem +Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings blaß und überwacht aus, ernst und +fast wie von Schmerz verzogen. Das war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er +beobachtete sie eine Weile und machte sich Vorwürfe, daß er das bisher +übersehen hatte. Wenn die Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch +ohne der Hausfrau Mitteilung. +</p> + +<p> +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die Schwestern +zurück. +</p> + +<p> +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. +</p> + +<p> +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot. +</p> + +<p> +"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr Pfäffling, +"weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch auch darüber gern +die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in den Augen den Kopf, und +Herr Pfäffling wußte, woran er war. +</p> + +<p> +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter nicht da +ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun auch und er +erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren bei Nacht heftig +geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das noch vom vergangenen +Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte alles nichts geholfen und +erst gegen Morgen waren die Schwestern eingeschlafen. So war es schon zwei +Nächte gewesen. Sie hatten es dem Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte +nicht zum Ohrenarzt geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete +auch die große Neujahrsrechnung. +</p> + +<p> +Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des Arztes. +Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern vorgehalten, daß +Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn etwas versäumt würde. +</p> + +<p> +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei Unzertrennlichen +rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so ängstlich aus wie die kranke, +sie zuckte wie diese beim Schmerz, und doch kam sie immer als treue +Begleiterin. Diesmal konnte er beide trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte +er, "das gibt keine so böse Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel +schüttet weg, das macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. +Wenn eure Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe noch auf +die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die gehört dazu." +</p> + +<p> +Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem +gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, daß +Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar nichts mehr?" +fragte er. +</p> + +<p> +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr sagen, aber +es wird alle Jahre schlimmer." +</p> + +<p> +"Geht sie nie zum Arzt?" +</p> + +<p> +Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz gewiß, daß +man ihr nicht helfen konnte. +</p> + +<p> +"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der Arzt, +"schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt daheim, das +gehe auch noch in die alte Rechnung." +</p> + +<p> +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten sie sich, +den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen sie es auch +Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um sie handelte, und +ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere Mutter zurückkommt, +werde ich so frei sein." +</p> + +<p> +Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören. +</p> + +<p> +Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum gestrigen +Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie volle acht Tage +früher heimkommen würde, als verabredet war. +</p> + +<p> +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen vom +Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, diese letzte +Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. +</p> + +<p> +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte einmal +Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn so zeitig? +Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, "ich habe es +manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum Frühstück gekommen?" Es +wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte es sich heraus, daß Frieder +immer schon abends den Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst +wohl, es kommt dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl +und wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er +Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg +mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt. +</p> + +<p> +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; ja im +Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die jungen +Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat gesorgt und Walburg +mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. Während dieser Zeit wurde +geklingelt und Elschen lief herzu, um aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn +Pfäffling, dann nach dessen Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß +sie alle fort seien, bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines +Briefchen an Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von +ihm, und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde. +Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den Schreibtisch, +wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte der Herr, "du kannst +nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, den Brief für deinen Vater +lasse ich hier liegen." Elschen verließ das Zimmer. Nach einer ganz kurzen +Weile kam der Herr wieder heraus. +</p> + +<p> +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam keine +Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die Treppe hinunter +und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben heraufkam. +</p> + +<p> +"Wer war da?" fragte diese. +</p> + +<p> +"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins Ohr; +weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen zu unbequem, +Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim Mittagessen fiel ihr die +Sache wieder ein und sie erzählte sie dem Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo +ist denn der Brief?" fragte er. Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu +finden! Und wo war denn—ja, wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade +jahraus, jahrein seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit +allen sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft +schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in dieser +Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was die Familie +Pfäffling am Leben erhielt. +</p> + +<p> +Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich eingeschlichen, +hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen Pfennig fürs tägliche +Brot! +</p> + +<p> +Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte ihr +gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die bestürzten +Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht +und fragte bloß: "Gestohlen?" +</p> + +<p> +Und nun flogen Vorwürfe hin und her. +</p> + +<p> +"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den Schreibtisch!" +warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja gar kein Dieb, es war +ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie nahm sie in Schutz. "Sie kann +nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz getragen habt, wegen euch hat +Walburg hinunter gemußt!" +</p> + +<p> +"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder. +</p> + +<p> +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder wagte +zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir wollen ihr +schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal niemand zu beruhigen, +es war so traurig, zu denken, daß man sie mit solch einer Botschaft empfangen +sollte! Karl und Marie hatten leise miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie +jetzt, "wir alle zusammen haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März +kommt wieder dein Gehalt. Wir sparen recht." +</p> + +<p> +"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe auch +noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die Steuer +zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel abgezogen hätte, wäre +vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin und wieder, bis ihn ein Wort +Walburgs stillstehen machte, das Wort: Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß +der Dieb ausfindig gemacht werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden +konnte. Ja, sofort Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. +Elschen sollte mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur +schnell, schon waren viele Stunden verloren! +</p> + +<p> +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie setzten +sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede knöpfte ihr einen +Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die Brüder wollten ihr die +Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, erklärten dann Handschuhe für ganz +übertrieben und die Kleine sprang ohne solche dem Vater nach, der schon an der +Treppe stand und nun mit so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, +daß das Kind an seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte. +</p> + +<p> +Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger Musiker, der +angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel betroffen worden und +mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn aufzufinden. +</p> + +<p> +Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling abgegangen +war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand schreiben mögen. So +aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in großer Trübsal waren, einen +dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem ihr eine ganze Anzahl +Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll Jubel über das unerwartet nahe +Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine Freude selbst aussprechen wollen. +Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim +inzwischen vollkommen umgeschlagen war. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich zu +erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker gefahndet +worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso am nächsten Tag +in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, wurde ihm bedeutet, daß er +sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm Nachricht zukommen. +</p> + +<p> +Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter mit einer +so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die rechte Freude +des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war unschlüssig, ob er die Nachricht +nicht doch vorher schriftlich mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der +Hoffnung auf Festnahme des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben +entschloß, daß der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der +Abreise seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der +Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen. +</p> + +<p> +Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," sagte +sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten Gruß von daheim +bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?" +</p> + +<p> +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die Mutter, "auch +dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das Wiedersehen nicht +verderben, wenn du nun siehst, daß manches in Unordnung geraten ist während +deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein hier war so schön, das ist doch auch +eines Opfers wert." +</p> + +<p> +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag irgend +etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du daheim bist. +Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht mehr als einundzwanzig +Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht beklagen, darfst nicht +behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und nicht gleich erklären: ich +reise nie mehr." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr fern, +nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich mit schwerem +Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester, die sie so treulich +gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem +abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise antrat. +</p> + +<p> +Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei Wochen +waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein Keimen und +Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch schien ihr die Zeit so +weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist war! Jetzt war ihr Herz noch +vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte sich schon und drängte gewaltig in den +Vordergrund die Freude auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der +so von Lieben zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen +wird. Wer kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim +reist? +</p> + +<p> +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes doch nicht +lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben können. Die Kleinen +hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis Samstag schon halb +vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, aber doch mit dem +unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her gehöre, je schwieriger die +Lage im Haus war. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als er am +Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof eilte. Er kam dort +fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in ungeduldiger Erwartung der Kinder, +die von der Schule aus kommen sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und +winkte mit seinen langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl +und Otto auftauchen sah. +</p> + +<p> +Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof begrüßen +sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, "und soll nicht +gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an den Marktplatz +entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der Frühlingsstraße und Elschen soll +die Mutter an der Treppe empfangen, denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause +sein." +</p> + +<p> +So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem Vater an +die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch sie nicht +vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges Vorrecht. Sie standen +alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, während der Zug einfuhr, +entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus dem Wagenfenster forschend nach +ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie sich dann plötzlich ihre Züge +verklärten, als sie den Vater erblickte, der, dem Schaffner zuvorkommend, die +Türe ausriß und mit froher Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half. +</p> + +<p> +Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen und +Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge hinaus auf den +Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, +denn die Verwunderung über der Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu +einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn +nicht Frau Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob +die Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung +erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam +aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob! +</p> + +<p> +"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch krank +sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer geschrieben +habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete ein wenig bedrückt. +Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen ist, bekümmert mich gar +nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. +"Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig +geworden auf der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, +wo ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und +jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. +</p> + +<p> +Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der Ecke der +Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte Frieder gewartet +und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem Augenblick, als die Familie +um die Ecke bog, sah er doch gerade in anderer Richtung. +</p> + +<p> +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o Mutter!" rief +er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn zärtlich und sagte ihm +freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines Dummerle, wir sind ja jetzt +wieder beisammen!" +</p> + +<p> +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber die +Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu ihr auf, ging +dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie, im Hausflur +angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die Jüngste +aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon auf der Treppe +mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum Empfang eine Torte +geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen +großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe. +</p> + +<p> +Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. Sie +hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen können, an +dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was konnte man von +Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling verlassen, ihr hatte sie +das Haus übergeben, und wenn sie nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen +hätte, so wäre kein Unglück geschehen. +</p> + +<p> +Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf dem +langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis erfahren +hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein Vorwurf sein würde. +Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort fürchtete sie zu hören, das sie +schon einmal schwer getroffen hatte, das Wort: "ich will lieber eine, die +hört!" Darum stand sie so starr und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr +erschrak, als sie nun an der Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick +durchzuckte sie der Gedanke: es ist <i>doch</i> etwas Schlimmes vorgefallen, +aber im nächsten Moment sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur +vergessen, wie groß, wie ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen +mit herzlichem Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den +Händedruck, den freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde +ihr leicht ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß +schloß mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr." +</p> + +<p> +Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe sie noch +nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern angerufen: "Dein Koffer +kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ ihn in das Schlafzimmer bringen +und nahm aus ihrem Täschchen ein Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der +neben ihr stand, sah begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch +viel Geld," rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein +Frieder nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die +Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie +nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel +verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber Vorwürfe. Aber +viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, dadurch sollte kein +Schatten auf das Wiedersehen fallen. +</p> + +<p> +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun kommt nur, +der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön gedeckt, Walburg hat +gewiß etwas Gutes gekocht." +</p> + +<p> +Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter wieder," +sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet ist." +</p> + +<p> +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau Pfäffling +und sie sprach mit innerer Bewegung: +</p> + +<p class="poem"> +"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute<br/> +Hier vor dir stehen!<br/> +Du schenkest uns die schönste Freude,<br/> +Das Wiedersehen.<br/> +Nun gehn wir wieder eng verbunden<br/> +Durch Lust und Leid,<br/> +In guten und in bösen Stunden<br/> +Gib uns Geleit!" +</p> + +<p> +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee machen +müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu gedeckt. "Sollen +wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," sagte die Mutter. "Nein, +erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein und schickte die Kinder hinaus. +"Zuerst kommt etwas anderes," sagte er nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine +Beichte," und er führte sie an den Schreibtisch und zog die kleine leere +Schublade auf, deckte auch das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte +lag. Dieser Stand der Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. +"Ich habe schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte +sie, "aber daß <i>gar</i> nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich +gehalten, wie <i>kann</i> man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja +gar nicht zustande!" +</p> + +<p> +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich gespart; +gestohlen ist es, gestohlen!" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die Nachricht +erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien festgenommen, aber das +Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung mehr, es zurück zu erhalten. Aber +unentbehrlich war es und mußte auf irgend eine Weise wieder hereingebracht +werden. +</p> + +<p> +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß derselben +war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es gelingen, das ist ein +guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: "Jetzt, Kinder, den Kaffee!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap13"></a>13. Kapitel<br/> +Ein fremdes Element.</h2> + +<p> +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag auch +den Kindern mitgeteilt werden. +</p> + +<p> +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur gleich im +rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. "Hört einmal," +sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch das sich der +Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können uns allen helfen. +Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!" +</p> + +<p> +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne sein," +schlug Karl vor. +</p> + +<p> +"Richtig geraten. Aber wie?" +</p> + +<p> +"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," meinte +Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die Blicke aller +anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in ihren vertragenen +schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre blonden Zöpfe waren mit +schmalen blauen Bändchen gebunden. +</p> + +<p> +"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr +Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn ihr eure +Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen etwas anderes." +</p> + +<p> +"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch mehr +einbringt." +</p> + +<p> +Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich will es +euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr Beiden zieht +in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an einen Zimmerherrn +vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das +muß euch doch freuen? Die Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer +herausräumen und eure Betten hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz +nach eurem Belieben einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand +darein; aus den alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur +wollt." +</p> + +<p> +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, aber +zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und betätigten: +"Ja, es wird sein!" +</p> + +<p> +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in Zukunft auch +ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in großer Begleitung. +Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die Hauptpersonen. Sie schlossen +ihr künftiges Revier auf. Es war ein kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und +einem Dachfenster. "Kalt ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im +Sommer ist's immer ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete +Marie. "Da hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch +das Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends kann +Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen in ihrer +Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr Häuschen gedrungen +ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und wie eine dicke Schlange +durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? Wie wäre sie glücklich gewesen +über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." +</p> + +<p> +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der Kammer +erfüllt. +</p> + +<p> +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis zu +sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese wiederum +mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts +davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn +zehn Leute den obern Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er +habe nie welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für +die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann +blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses +Frau Pfäffling mitteilen. +</p> + +<p> +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann sagt +ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er dabei. Er +meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht mehr 'ja' sagen, +sogar wenn er's möchte." +</p> + +<p> +Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr Pfäffling +konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich sehe, daß jemand +nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs Zimmerherrn nehmen, als in +Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft den Tisch umkreiste. "Nicht mehr +'ja' sagen dürfen, weil man vorher 'nein' gesagt hat? Soll sich darin die +Männlichkeit zeigen? Dann wäre jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das +nicht, ihr Buben," sagte er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, +was männlich ist: Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen +geht; aber <i>nachgeben</i>, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht +geurteilt hat." +</p> + +<p> +Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den Hausleuten +weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling zufällig oder +vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur zusammen. +</p> + +<p> +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn nehmen +durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge geraten. Aber +da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht plagen, und es ist ja +wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht heimkommen, Lärm machen und +dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt entschließen, eine ältere Dame als +Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist +nur für uns unbequemer und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie +uns ein wenig behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, +wären wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung +setzen?" +</p> + +<p> +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie +besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu wissen wie, +war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte Hausbewohnerin für +den obern Stock zu bemühen. +</p> + +<p> +Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und sie +bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und nun kamen +wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, wer die Türe +aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu zeigen. Allzuviele +erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, daß die Frühlingsstraße +"keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede von den wenigen, die sich +meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer vermieten, nicht eine +Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den +vertrauten Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die +Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu +ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand +das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber +niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn +haben." +</p> + +<p> +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine anspruchsvolle +Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann stört sie uns nicht," +lautete Herrn Pfäfflings Rat. +</p> + +<p> +Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften sich +glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete Dame, etwa +Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im Ausland, hatte +vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt, daß sie sich jetzt, +nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer +Rente leben konnte. Sie war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit +genießen, sich Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben +bis jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der +Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn +in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle +bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit dort +ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit +schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am +Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe. +</p> + +<p> +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte +seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den ganzen +Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da ist, aber ich +glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird." +</p> + +<p> +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für Fräulein +Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, wußte in +anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch auch für den +Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war zu bemerken, daß +sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen fühlte, daß sie +Verständnis hatte für des Hausherrn originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung +für der Kinder Bescheidenheit. Freilich waren auch alle sieben voll +Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer +gemietet trotz der vielen Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" +war. Überdies flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten +der ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und +wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort +"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann es den +Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte und tadelte +sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu sich in ihr Zimmer +und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren +Arbeiten sich bisher niemand bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen +gerne, auch Frau Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung +paßte doch nicht zum Ganzen. +</p> + +<p> +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit in +Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. "Marianne soll +herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu machen." Die Mädchen +standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann hielt sie zurück: "Das eilt +doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit geht allem vor, das habe ich allen +meinen Zöglingen eingeprägt. Die Ausgänge könnten doch auch von dem +Dienstmädchen gemacht werden." +</p> + +<p> +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch nicht +genug für manche Besorgungen." +</p> + +<p> +"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte +Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie möchte den +Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen." +</p> + +<p> +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen. +</p> + +<p> +"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," sagte Frau +Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?" +</p> + +<p> +"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue voraus +erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen überflügeln, und in +der Schule würde jedermann staunen über unsere Fortschritte." +</p> + +<p> +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar keine +Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum lernen da und +nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die Dunkelheit kommt mit +den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als es finster war. "Finden Sie +das passend?" fragte Fräulein Bergmann die Mutter, "sollten Sie nicht das +Dienstmädchen schicken?" +</p> + +<p> +"Walburg kann nicht alles besorgen." +</p> + +<p> +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie vollends +ganz taub ist, muß sie doch fort." +</p> + +<p> +Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte Walburg +in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie wohl bald ganz +taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, teilnehmenden Blick. "Willst du +mir was?" fragte sie und beugte sich zu ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und +sagte ihr ins Ohr: "Ich mag Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg +antwortete ausweichend: "Man muß froh sein, daß man sie hat." +</p> + +<p> +Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche Einmischung hin. +Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im Pfäffling'schen +Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer mit einem hellen +Wachstuch bedeckt worden. +</p> + +<p> +"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," bemerkte +Fräulein Bergmann. +</p> + +<p> +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen Haus," +entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit vermeiden und die +großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche." +</p> + +<p> +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." +</p> + +<p> +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an unserem +Tisch." +</p> + +<p> +Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer +regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit <i>einem</i> Ofen +heizen," erklärte Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, das +würde sich sehr fein machen." +</p> + +<p> +"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich mich +nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei reichen Leuten +leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn es nur immer zum +täglichen Brot reicht." +</p> + +<p> +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und ich +habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles verzichten, +woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie aus fein gebildeter +Familie stammen." +</p> + +<p> +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse +schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein Glück ruht +auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit gar nichts zu +tun." +</p> + +<p> +Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu einer +Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung wurde nun +elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder standen voll +Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum Ganzen, Fräulein +Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es sehen nun allerdings die +Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese +doch erneuert werden." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die Portiere +schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie mißliebig an. +</p> + +<p> +"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du solltest +ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." +</p> + +<p> +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen Sinn für +so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu unserer übrigen +Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr Zimmer hängen so viel +sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön genug sein, so wie sie sind." +</p> + +<p> +Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und sich +nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten hinzu. Walburg +hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller gewechselt. Die Kinder bekamen +immer nur <i>einen</i> Teller. +</p> + +<p> +"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die Kinder +alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein Bergmann +fragend an Frau Pfäffling. +</p> + +<p> +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller mehr +aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft." +</p> + +<p> +"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das Fräulein, "das +ist doch solch eine Kleinigkeit." +</p> + +<p> +Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, was in +unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, müssen Sie mit +unserer Art vorlieb nehmen." +</p> + +<p> +"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu sehen, +wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich werde gewiß nicht +mehr darein reden, kein Wort mehr." +</p> + +<p> +"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr Pfäffling, "und +übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles ordentlich, schön und rein und +ich möchte durchaus nicht, daß sie sich noch mehr Arbeit macht, und wenn meine +Kinder ihr nachschlagen, wird man sie überall gern sehen." +</p> + +<p> +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte gekränkt +hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief in +unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich Fräulein +Bergmann zurück. +</p> + +<p> +"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern zu. +</p> + +<p> +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt sie +sich ein!" +</p> + +<p> +"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!" +</p> + +<p> +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt und +haltet gar nicht zur Mutter!" +</p> + +<p> +Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr Pfäffling +bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," sagte er zu seiner +Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich jetzt schon besser in +acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und mir ist ihr Dareinreden nicht +so unangenehm, man macht doch seine Sache nicht vollkommen und da ist es gar +nicht übel, einmal zu erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel +mehr von der Welt gesehen als ich." +</p> + +<p> +Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden Frauen +standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann machte von der +Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen. +</p> + +<p> +"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man keinen +eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf diese Zeit der +Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht nach Herzenslust lesen, +zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem ich Muße dazu habe, so viel ich +nur will, hat es seinen Reiz verloren." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen: +</p> + +<p> +"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger Arbeit +beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine." +</p> + +<p> +"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar nicht. +Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner veränderten +Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle selbst, daß ich +unausstehlich bin." +</p> + +<p> +Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß Fräulein +Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr Kritik und +Einmischung gestattete. +</p> + +<p> +Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich kein +Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und brachte +Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein Bergmanns Ansicht +waren all diese kleinen Übelbefinden selbst verschuldet, sie behauptete, +solches bei ihren Zöglingen durch sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben. +</p> + +<p> +"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, "weißt du +noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben ausgezogen, +Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber dieses Jahr ist es so +kalt." +</p> + +<p> +"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, schöner +war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen Familienkreis. +</p> + +<p> +Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr +Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen lassen, +und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. +</p> + +<p> +"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein feststehendes +Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus vorgekommen. Das heutige hat +kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie eigentlich?" +</p> + +<p> +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man leichter mit +dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es nicht jeden Tag das +gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein Gebet gedankenlos gesprochen +wird." +</p> + +<p> +"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche Neuerungen. +Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war es mit Herrn +Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau liegt daran, in diese +Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, "und wenn Sie lieber die leere +Form haben, so brauchen Sie ja auf den Inhalt nicht zu horchen." +</p> + +<p> +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre Hand +auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm gemeint!" +</p> + +<p> +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend. Im +Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber nach Tisch +rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. "Das ist ein +unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist die verkörperte +Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas kann ich nicht +vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch +wieder eine andere Mieterin." +</p> + +<p> +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch leid für +sie, wie soll ich denn das machen?" +</p> + +<p> +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken. Aber +je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und mit ihr +reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" +</p> + +<p> +"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April mußt du +dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie ihrer Arbeit +nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend begründen könnte. +Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie +und Frieden im Hause mußte doch vorgehen. +</p> + +<p> +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein Bergmann +suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem Tisch lagen +Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte das Fräulein, +"hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen hervorgesucht, möchten +Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich ordentlich schäme über +die Zurechtweisung, die ich heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht +vorgekommen in den vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja +selbst, daß ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht +so, bitte, lesen Sie!" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele Jahre in +ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit war in den +Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt hervorgehoben. +</p> + +<p> +Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die Erklärung +dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann wieder in das +richtige Geleise zu bringen wäre. +</p> + +<p> +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und das ist +wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. Sie stehen im +gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn er schon aufhören +wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch sein Bestes leisten, und +so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, und haben eine reiche +Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes Hauswesen leiten, eine Schar +Kinder erziehen, und wollen hier in einem Stübchen hinter den Büchern sitzen! +Das ertragen Sie einfach nicht und das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun +in unser Hauswesen unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn +ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, +und zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, "so wird +es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie mir noch solch +eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur schäme ich mich vor all +meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen Entschluß mitgeteilt habe, zu +privatisieren. Es war mir damals eine verlockende Stelle als Hausdame +angetragen, ich habe sie abgelehnt." +</p> + +<p> +"Ist sie wohl schon besetzt?" +</p> + +<p> +"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später erfolgen." +</p> + +<p> +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" +</p> + +<p> +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich keine +passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?" +</p> + +<p> +"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen." +</p> + +<p> +Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, elastischen +Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. +</p> + +<p> +"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, "sie ist +gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; warum sie wohl +gerade heute so vergnügt ist?" +</p> + +<p> +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. Schon +zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte gemeinsame +Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im Freien, der +langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit der Sorge um das +Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am +Eßtisch. +</p> + +<p> +"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann, "dann +frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus. Ich kenne +niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen möchte, als Ihrer +lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine +Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner +Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik +ist ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. +Solange Sie <i>alles</i> tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir +in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel +geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns—" +</p> + +<p> +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies wissen Sie +wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen war." +</p> + +<p> +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie mir +nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, unseren +Gewohnheiten?" +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht aufrecht +erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig spöttischen Lächeln +fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur <i>eines</i>." +</p> + +<p> +"Und zwar?" +</p> + +<p> +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie jetzt eben +im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." +</p> + +<p> +Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. +</p> + +<p> +"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie es +noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter Ihnen, immer +die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen Zusammenstoß zu +vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck stehenbleiben. Es war sehr +drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig dabei." +</p> + +<p> +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle Kinder +folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich werde es mir +abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu solchen übeln +Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber—und nahm seinen Lauf um den +Tisch wieder auf. +</p> + +<p> +Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer. +</p> + +<p> +Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an Walburg. +"Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. +</p> + +<p> +"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage ihn +<i>gern</i> fort." +</p> + +<p> +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein Bergmann +über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert und war froh, daß +diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie nicht, fragte auch nicht +darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand unglücklich darüber war, Marianne +vielleicht ausgenommen, aber die würde sich bald trösten, und eine neue +Mieterin konnte sich nach Ostern finden. +</p> + +<p> +Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit zur Bahn. +Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als Herr Pfäffling +seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere abnehmen, daß man +wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe kann. Aber vorsichtig, die +Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut verwenden!" +</p> + +<p> +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig darauf +los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das offene Fenster von +der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach den Brüdern rief. Otto sah +durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder herein: "Fräulein Bergmann hat +ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst herauf!" +</p> + +<p> +"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den schmerzlichen +Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch schon ihre Stimme: "Ich +muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." Richtig, da stand er in der Ecke! +Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell rannte er durch die Türe und konnte diese +gerade noch hinter sich schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. +Sie hatte nichts gesehen und eilte davon. +</p> + +<p> +"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr Pfäffling +überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb unten, einen +traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können bis morgen." +</p> + +<p> +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald sah alles +im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam nicht wieder, +das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling kehrte mit Elschen allein +zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," berichtete sie, "ihr letztes Wort +war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch einmal ein schönes Tischgebet schicken!'" +</p> + +<p> +Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, "wir +singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu gekommen." Er +stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders frisch und fröhlich +klang, das war Fräulein Bergmann zu danken! +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div class="chapter"> + +<h2><a name="chap14"></a>14. Kapitel<br/> +Wir nehmen Abschied.</h2> + +<p> +Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, und das +leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der Kinder ahnte +etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen lernen und darnach +beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit sich nehmen würde. Sie +wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig geliebten Bruder erwartete, +und freuten sich alle auf den seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch +aus ihrer frühesten Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante +gekommen waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt worden +war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, auch war es +ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen Kind mehr +Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen Familie. Doch wollte er +den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines +der Kinder dem Geist des Elternhauses entfremdet würde. +</p> + +<p> +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während desselben +geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen zeigen. +</p> + +<p> +In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. Doch nur +für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht besser ausfiel +als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, schlimm auch um die +Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht Karls Liebhaberei, der junge +Lehrer und der Schüler hätten sie gleich gerne los gehabt. Darum strebten die +Brüder gleich aufeinander zu, als die Klassentüre sich auftat und die Schüler +herausdrängten. Über der andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne +Karl sein Zeugnis hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl +schon manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch zu +erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die Jungen mit +den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte er schon, daß es +Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine Durchschnittsnote nötig?" fragte er und +überblickte das Zeugnis, und war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder +waren enttäuscht, nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein +müssen. "Hast du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. +</p> + +<p> +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind wir noch +in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so vergnügt seid, ihr +meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, aber ganz kann ich euch noch +nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst gleich wieder rückfällig werden. +Sagen wir <i>einmal</i> statt zweimal in der Woche." Sie machten lange +Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte +der Vater hinzu. Da heiterten sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens +in den Ferien frei war, im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr +in einem hin. Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder +vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern +begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche Heftchen auf +des Vaters Tisch ausbreiteten. +</p> + +<p> +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie Elschen +ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die geheimnisvollen +Ziffern zu deuten. +</p> + +<p> +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen Übermut +hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a plus b ist? Das +weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen Vierer." Von allen Seiten +kamen nun solch verfängliche Fragen und es wurden ihr lauter Vierer prophezeit, +bis ihr angst und bang wurde, sie sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du +gibst mir dann jeden Tag Mathematikstunden!" +</p> + +<p> +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten sie +eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug gekommen. Sie +schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte. +</p> + +<p> +Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in Händen +hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm wieder das Bild vor +die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine mit dem Ausdruck tiefsten +Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein gewissenhafter und geschickter +Klavierspieler geworden, aber die Liebe, die er zu seiner Violine und auch zu +der Harmonika gehabt hatte, die brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem +Herzen war er nicht dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine +erwähnt. Ob sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater +hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine +Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an. +</p> + +<p> +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir nicht mehr +so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes Gesicht machte das +Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete er leise: "Ich möchte sie +gar nicht mehr haben." +</p> + +<p> +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören kann, +wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du <i>kannst</i> nicht, Frieder? Du +<i>willst</i> nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du nicht, daß +wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte nicht lieber selbst +weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde geben, wenn sie jetzt kommt? +Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach Tisch in ihren schönen Büchern +liest, nicht lieber weiterlesen als schon nach einer halben Stunde wieder das +Buch aus der Hand legen und die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten +nicht lieber auf den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben +unter unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet hat? Und +der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und sagen: 'Ich kann +nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor den Tierlein, vor den +Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich schämen!" +</p> + +<p> +"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim Geigen +nicht." +</p> + +<p> +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann mitten +im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir Mühe, und wenn du +dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage es mir, dann will ich dir +jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige geben." +</p> + +<p> +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank deutend, der +in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem Ton: "Da innen ist +sie!" +</p> + +<p> +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen Willen +bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; Fräulein +Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern mit Marianne, +ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt." +</p> + +<p> +Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei plaudernden +Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur Stunde. Noch rosiger +und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte solch eine wichtige Neuigkeit +unter vielem Erröten mitzuteilen! Die Karten waren ja schon in der Druckerei, +auf denen zu lesen stand, daß Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen +schönen, jungen, reichen, blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber +unmusikalisch war er leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er +doch der Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. +</p> + +<p> +"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner Schülerin, +"vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." +</p> + +<p> +"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht wahr, +wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute Freunde und +Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das gibt zwei süße +Brautfräulein!" +</p> + +<p> +"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die Marianne? +Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner Frau sprechen."— +</p> + +<p> +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. Alle +Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und zugleich für den +Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren des langen Winters waren +mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern +verschwunden, die Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, +Walburg brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine +mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden, +Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der Gast +ankommen. +</p> + +<p> +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," sagte Karl, +als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, Frau Pfäffling freute +sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in der alten Heimat schön +gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender sein, ihn im eigenen +Familienkreis zu haben. +</p> + +<p> +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle +miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, er war +nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und nur allmählich +erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe. +</p> + +<p> +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und sahen +begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten auf, und +jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen Kopf kleiner als +der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so schmal. Fein sah er aus im +eleganten Reiseanzug und daß er eine voll gepackte Ledertasche in der Hand +hatte, wurde von Elschen besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder +bemerkt worden sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte +sogar den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen +doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht so," +entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom Fenster, und +vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief +Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!" +</p> + +<p> +Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die Kinder +berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, in den Zügen, +in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie ihn, und auch er +fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen seiner Schwester, die +andern seinem Schwager ähnlich. +</p> + +<p> +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen den +Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den Gast voran +gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen Gefolge. "Wie komisch +sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der Mutter. +</p> + +<p> +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." +</p> + +<p> +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. "Cäcilie, nun +kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?" +</p> + +<p> +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine stattliche +Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die ungewöhnlich große +Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr habt euch wohl eine +besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen Schüsseln?" sagte er +spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme Dienerin? Wie schade um das +Mädchen!" +</p> + +<p> +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, "ich war +mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser werden." +</p> + +<p> +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal ein +Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel gefallen, es kommt +etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht, welches ich meine?" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es: +</p> + +<p class="poem"> +In größerem Kreise stehen wir heute<br/> +Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.<br/> +Aber die richtige fröhliche Stimmung<br/> +Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.<br/> +Nahe dich freundlich jedem von uns. +</p> + +<p> +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine Neffen +und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich alle beteiligen +konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, "die meinigen haben es +auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, bei dem es nur leider gar zu +leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie machten sich mit Eifer daran und +trieben es täglich fast mit Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den +Onkel, der, hinter der Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen +die zwei Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler +gleichmäßig verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, +Wilhelm, der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei +nehmen, sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam. +</p> + +<p> +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht immer +mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus der Hand und +gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner Zeitung hervor. Das Wort: +"Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch weiter zu wirken. "Hat jemand des +Vaters Brief auf die Post getragen?" fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das +könntest du besorgen, Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So +entfernten sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling +setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist +rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich +zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel aufgeben. Das +täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?" +</p> + +<p> +"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die Kinder +sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig werden, so helfen +sie mit." +</p> + +<p> +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und ich +sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger hervorgehen. Wie +die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie ihr eigenes Ich dem +allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und widerspruchslosen Gehorsam +sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß +sonst das ganze System in Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein +Mann ein so leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher +Minister. Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, +in ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." +</p> + +<p> +Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was kümmerte +sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des Onkels, die +traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer Kinder zu mir nehme," +hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören sollen, es war nur halblaut +gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts anmerken, aber lange konnte sie diese +Neuigkeit nicht bei sich behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle +unten am Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie +vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht +zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit, +fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer +ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte: +"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, der +doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er +<i>mich</i> mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für +ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die +fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so +glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor +die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein gestanden. +Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen +das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum +andern blickten, und da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht +missen mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle +geben wir nicht her!" +</p> + +<p> +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit Herrn +Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah hinunter, "Dort +steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, "eines dicht beim andern, +keinen Stecken könnte man dazwischen schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und +wie sie eifrig sprechen!" +</p> + +<p> +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen." +</p> + +<p> +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue Freunde +mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im Nest gesessen +waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich nun aber die Hand +ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest herausnehmen, dazu kann ich +mich immer schwerer entschließen. Geben wir doch den Plan auf! Lassen wir das +fröhliche Völklein beisammen, es kann nirgends besser gedeihen als daheim!" +</p> + +<p> +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft +unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" +</p> + +<p> +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht. Aber +den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut ist, die +Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist." +</p> + +<p> +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau +Pfäffling. +</p> + +<p> +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von Wilhelm. Du +kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen Lateinschüler findest, +der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er neulich tat bei unserem ersten +Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei meinen Kindern auch etwas von diesem Geist +zu spüren! Kehren wir doch die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen +einmal. In euren einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine +Ansprüche fallen lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern." +</p> + +<p> +Es blieb bei dieser Verabredung. +</p> + +<p> +Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war von +schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten plötzlich +Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten herauf. +</p> + +<p> +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr auch, +Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von euch wollte ich +mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für ein viertes, und eure +Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich tue es nicht. Wollt ihr hören +warum? Weil ihr es so schön und so gut habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen +Welt besser haben könnet. Ihr lacht? Es ist mein Ernst." +</p> + +<p> +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja wissen. +</p> + +<p> +Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du denn +mitgenommen?" fragte sie. +</p> + +<p> +"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und deutete +auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt! +</p> + +<p> +Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie stand mit +wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder für eine fremde +Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen mußte. In ihren +Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen Mann die Treppe +heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen, hörte Marie zum Vater +hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem +Gedankengang. +</p> + +<p> +Aber jetzt? +</p> + +<p> +Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie wollte +dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da stand er vor ihr +mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: +</p> + +<p> +"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht fassen und +glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es selbst schwarz +auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem gemieteten Lokal die +Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer Pfäffling zum Direktor ernannt +hätten. Es fehlte nichts mehr als seine Einwilligung, und auf diese brauchten +die Marstadter nicht lange zu warten! +</p> + +<p> +Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern herbeigelockt. +Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie die gute Kunde, sie +sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und immer wieder sagte: "Wie mag +ich dir das gönnen!" +</p> + +<p> +Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern widerstrahlte. +</p> + +<p> +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er mit +seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war. +</p> + +<p> +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch sagen!" +</p> + +<p> +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem Schrank +stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. +</p> + +<p> +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling. +</p> + +<p> +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" +</p> + +<p> +Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst du mir +am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten darin aufhören, +ich habe es probiert." +</p> + +<p> +"Wie hast du das probiert, Frieder?" +</p> + +<p> +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den Pfannenkuchen. +Die andern wissen es." +</p> + +<p> +"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine Tischnachbarn +Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling schloß den Schrank +auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, "dann warten wir gar nicht +bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies Festtag bei uns, du weißt wohl noch +gar nichts davon? Da hast du deine Violine, kleiner Direktorssohn!" +</p> + +<p> +Ja, das war ein seliger Tag! +</p> + +<p> +Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die +Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so fürchtete +sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, sah sie mit +herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr Direktor will auch +deinen Lohn erhöhen." +</p> + +<p> +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder allein +in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen Hände +ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" +</p> + +<p> +Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch Fremde die +Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen zusammen, und während sie +sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang herunter und Frau Pfäffling +erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann übte mit den Kindern den Chor mit +dem Endreim: +</p> + +<p class="poem"> +"Drum rufen wir mit frohem Sinn:<br/> +Es lebe die Direktorin!" +</p> + +<p> +Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe im Haus +gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte er eine kleine +Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und befestigte an der +Haustüre die Aufschrift: +</p> + +<p class="poem"> +<i>Wohnung zu vermieten</i>. +</p> + +<p> +Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf die +Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir die +Familie Pfäffling war!" +</p> + +</div><!--end chapter--> + +<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFÄFFLING ***</div> +<div style='text-align:left'> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Updated editions will replace the previous one—the old editions will +be renamed. +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United +States without permission and without paying copyright +royalties. 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Redistribution is subject to the trademark +license, especially commercial redistribution. +</div> + +<div style='margin:0.83em 0; font-size:1.1em; text-align:center'>START: FULL LICENSE<br /> +<span style='font-size:smaller'>THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE<br /> +PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK</span> +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free +distribution of electronic works, by using or distributing this work +(or any other work associated in any way with the phrase “Project +Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full +Project Gutenberg™ License available with this file or online at +www.gutenberg.org/license. +</div> + +<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> +Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +1.A. 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Information about the Mission of Project Gutenberg™ +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of +electronic works in formats readable by the widest variety of +computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It +exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations +from people in all walks of life. +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s +goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg™ and future +generations. 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Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread +public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine-readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. Compliance requirements are not uniform and it takes a +considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up +with these requirements. 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Thus, we do not +necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper +edition. +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +Most people start at our website which has the main PG search +facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. +</div> + +<div style='display:block; margin:1em 0'> +This website includes information about Project Gutenberg™, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. +</div> + +</div> + +</body> + +</html> + + diff --git a/old/old/10917-8.txt b/old/old/10917-8.txt new file mode 100644 index 0000000..579e664 --- /dev/null +++ b/old/old/10917-8.txt @@ -0,0 +1,7850 @@ +The Project Gutenberg eBook, Die Familie Pfäffling, by Agnes Sapper + + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + + + + +Title: Die Familie Pfäffling + +Author: Agnes Sapper + +Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFäFFLING*** + + +E-text prepared by Olaf Voss, Michael Wymann-Böni, and Project Gutenberg +Distributed Proofreaders + + + +Die Familie Pfäffling + +Eine deutsche Wintergeschichte + +von + +Agnes Sapper + +1909 + + + + + + +Meiner lieben Mutter + +zum Eintritt in das 80. Lebensjahr. + + +Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was +ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene +Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die +Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in +einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von Eltern, +die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was +ihnen versagt war. + +Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die +Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du +die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, +anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen +Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer +entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit. + +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte +möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen. + +Herbst 1906. + +Die Verfasserin. + + * * * * * + + +Inhalt + + +1 Wir schließen Bekanntschaft +2 Herr Direktor +3 Der Leonidenschwarm +4 Adventszeit +5 Schnee am unrechten Platz +6 Am kürzesten Tag +7 Immer noch nicht Weihnachten +8 Endlich Weihnachten +9 Bei grimmiger Kälte +10 Ein Künstlerkonzert +11 Geld- und Geigennot +12 Ein Haus ohne Mutter +13 Ein fremdes Element +14 Wir nehmen Abschied + + + + + +1. Kapitel + +Wir schließen Bekanntschaft. + + +Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit +hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in +die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die +Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz. +Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes +Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem +der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt. + +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz +für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen fröhlich +herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfäfflinge, +die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der +eine Kleine, den man täglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei +die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder +Pfäffling. + +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof +verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den +langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer +Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, +war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der +Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen +sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte +zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich +die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte +Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas näher in +die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, hätte +sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine runde +Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu +lassen als die andern. + +Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben +Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch +die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen, sowie +die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling atmete +auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen, bis der +letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine Unruhe all +die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend von einem +Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie war von +Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken, +aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen Familienkreis +gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende, +musizierende Menschen um sie herum. Während nun die Mutter sich der Ruhe +freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen +hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die großen +Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geärgert, wenn +sie ängstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, daß die +Brüder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte. +Jetzt hatte sie alle die Baumstämme allein zu ihrer Verfügung, aber nun +machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die +übereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett +querüberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der +Ziehharmonika saß. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, +war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die +Harmonika sei eine alte Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, +hätte sie auch die Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders +Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen--fast zum +weinen! + +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: +"Elschen, flink, Essig holen!" + +Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße hinunter, +zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum +nächsten Kaufmann. + +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. +Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben. Sie war +eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute +Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge nacheinander +die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: +"Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo +Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden, +daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird." +"Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der +Hausherr. + +"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja +rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert +ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie müssen immer +springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die +abgetretenen Stellen." + +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt +doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt, +was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges +Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und +jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch nicht übers +Herz." + +"Nein, nie! Aber du auch nicht." + +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue +Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand +bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die +Stufen, aber sie blieben doch abgetreten. + +Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine +vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und +erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das +Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren +die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der +Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch +Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe +ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen gar nicht voran. +Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Großen, jetzt muß ich +entgegen laufen." + +Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle +zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnügen +entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu +hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Händen +gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern Wohnung +aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre Mützen, +denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht +gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem +Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. + +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet +ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe +an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr +war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?" + +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan," fuhr +die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal +auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr +mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle +betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen +diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja wissen! In diesem +kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter Hauptregel ins +Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir +leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erlösende Wort: +"Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an, langsam und +behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und +Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und Anna mit +Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb +den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der verweilte +noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich +zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an +den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das +nicht denken? In der Mitte geht man wohl am öftesten." + +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und +indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich +herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's +recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung +zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie, +was kann man mehr verlangen? + +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn +ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" + +Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin +und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der Musikschule zu +berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so öfter lief ihm +eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen +großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es +schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen Augenblick lautloser +Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage +dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die +Kinder, welches sie gerne hörten und richtete sich darnach. Heute sprach +sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du gönnst uns die +Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." + +Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, +aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie +kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des +Wintersemesters. + +"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben." + +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf +ich nimmer mitbringen." + +"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand." + +"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben." + +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." + +"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend." + +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, +umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der +kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine +Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den +Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich +noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten. + +Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen, indem +er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer +war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die er prüfen +sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei +Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor +und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte +der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt +eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so +viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder +Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen, aber +jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine kleine +Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut +selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht +viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und +miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß +auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr +gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen +sie, ob das wohl recht viel kostet?" + +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab +und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. +Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade. + +Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen sich +wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu ihrem Mann +in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen +saßen. + +"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist +höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue +Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt +so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir nicht +leben." + +"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr +zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es +sorgliche Gedanken im Herzen bewegte. + +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der +wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene Fenster +und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist +doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag +keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben +hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie +sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern +herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug. + +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling, "daran +ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die +Treppe heraufkam--ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene +Stufen--streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die +geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und +vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!" + +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern +schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins Zimmer +lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd +vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte, rief immer +verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Mütze +hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe blieb er +aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was soll ich +denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm +nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief in seiner Angst +immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Vorübergehenden sahen +ihm mitleidig lächelnd nach--es war leicht zu erraten, was dem kleinen +Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die +Ecke der Frühlingsstraße bog. + +Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in +seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie +wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in +Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten +zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner +Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und +von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich +ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur +_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine +Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist doch +ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun +wurde die Harmonika eingeschlossen. + +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als +letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen Schwester, +was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen +sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, +und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es glimpflich abgehen +würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht +und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Jüngste heimkam und +ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, +zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das Spöttische verging ihnen +bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so kläglich verweint aus! +Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht +recht herausrücken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer +und das war in Erinnerung an sein zürnendes Gesicht und die weggenommene +Harmonika nicht aufmunternd für Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans +Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar +nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder +herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Mütterliches gegen die +Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzählte denn Frieder, daß der +Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte, sich auf seinen Platz zu setzen, +aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen müssen, ja und dann--dann +stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen +seine Hände in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. +"Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der +große. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte +Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule +vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen +und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf +einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um +und sagte: "Der war ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, +du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel +gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine +Harmonika wieder, aber--" + +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, +denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und +sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im +Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht +darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus +und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend: +"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist +da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun +fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. + +"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und +Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut, +die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz +zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling, +"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen, +sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist traurig, +zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich mit halbem +Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten geben." +Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen hatte, trat +ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie +bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große Brett voll +geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche hereintrug. Walburg +war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und ihr Gesicht hatte +einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie +aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden +Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie +dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfäffling +ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen +hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewöhnt. So tat sie +stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wußte viel von dem, +was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der +Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfäfflinge wach geworden +und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den +Bestecken, um sie einzuräumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, +und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt über die +ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte +Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann--" +"Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl. + +Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter +Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als +Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das +Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als +sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer, +wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama +nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog +auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den +Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt +man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich, +das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da +ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling seinen Bericht +und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drückten sich an die +Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen +Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte, begleitet von der Tochter, die +mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu sein schien. "Hat je eines von +euch schon diesen Namen gehört?" fragte Herr Pfäffling und hielt ihnen +die Visitenkarte der Dame hin. Sie schüttelten alle verneinend, der Name +war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere +Vernagelding_. + + + + +2. Kapitel + +Herr Direktor? + + +November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich leiden? +Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst +den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch +nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen Arbeit. + +Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen Tisch +unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Brüdern +schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte +französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte +nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte im +Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte +kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal +geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem +Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschäftigen +sollte, was aber nicht immer gelang. + +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten +ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie +ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der +Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wußten +sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rückten +sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten Schal um +sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine +Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es wäre ihnen +auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber +im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe. Sie mußte immer +brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang hinunter gehen +mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine Stunden gab. +Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich die Türe des +Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf eine Stunde +die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und +manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den Gang ging und +begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kühl. Schlimmer +war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde vorbei war und die +Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken sie sehr, stürzten +eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten, entschuldigten sich und +waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte. + +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding +hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen +das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. +Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater +noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?" + +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen +wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch zu +seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie sich +daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein +Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere +hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht +zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an +und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir +graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?" + +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen +Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die +Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in +Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das +Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre +verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher +Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen. + +So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der +eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in +der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben +schlechte Zeugnisse nach Hause. + +An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer +trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu +mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe +zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie +folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie +beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag +auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, +lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für seine +Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste Seite +ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt +schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle +mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte, +Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer +größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach +meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor +zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen; +Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit +fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man +nur so fragen!" + +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und +besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eröffnete. +Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und rief: +"Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln +kalt!" + +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend, +folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll +Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, +und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller +Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem +unsicheren Zukunftsplan erwähnten. + +Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung +hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren gut +bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei +diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit +auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen +und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger +Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte er +zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder hat, am +wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund +treten." + +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder +nicht," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder +können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen +gemütlichen Teetisch." + +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem +Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des +erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater +zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es euch +sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!" + +Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung herzustellen, +bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme. Das Wetter war +leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten. + +Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der Vater +in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn +auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und +verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit +dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den +Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und +weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich, +mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein +Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht +das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber +hinauf!" + +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich. + +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch +ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße +gut ab." + +Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht +recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den +Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch +lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die +Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die +Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für seine +kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die +Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den +Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die wollte er +auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und +hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von seinem +hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der +den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im +Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich ihre Turnübungen +ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter +Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich +ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in +Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von +großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte +freundschaftlich mit Karl. + +Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter +den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein +gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu +anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen +Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal mißlungen +war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß redlicher +Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten +machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge Bewegungen. Als +die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, mußten sie +nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing es an zu +regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, und die +kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über die +unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie +wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, +zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an +Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter +fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die +Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. +Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz +bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie +wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er +sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: +drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten! + +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben +die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, +die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß sie +erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, +erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise +nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte +sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor. + +"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, +da hört man uns nicht." + +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das +Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was +sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts +zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in +dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und durchkältet. "Wir +wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und +Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen +Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du +Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus dem +Weg." Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach. +Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, +weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen. + +In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos +seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie +miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre +dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner +Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_! + +Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des +gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen +Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe +besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige, Vater, +wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier gewesen," +dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete dadurch noch +einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch nie so +ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber. + +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur +Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im +Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch +war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und +was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja +nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen. + +Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als +er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und +betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie +nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige +Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei +diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, +sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit +weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?" + +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme +oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich +an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser +Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu +stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann +ist die Dunkelheit um so größer." + +Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute +Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten +Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern +am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es +wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; +manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute +Nacht". + +Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und +bewegten doch ungefähr denselben Gedanken. + +Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit +meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts +davon wissen. Er zog seine Taschenuhr--es war noch nicht spät. Dann ging +er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. + +Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein +sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, +diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und +nicht ahnt, daß er stört. + +Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater +schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden +sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine +besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf Minuten +seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und +die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich freiwillig gehe. Er +klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute +Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." + +"Gute Nacht, Karl." + +Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte +Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die +Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und +er hat gelesen." + +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling +lächelnd. + +"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief +seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett +gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: +"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater." + +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß +du Takt hast--übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier +bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir +besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun +bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns." + +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein +Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde +erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte. + +Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette +legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen +könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine +Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu +entreißen. + +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach +Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung +des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden +hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die +Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling +wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten habe. +Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling immer +kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, statt +dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich +seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen +Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden! + +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein +Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs +seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ Munde +lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum +Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die +Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und +von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch eine Stelle, +der sollte nur noch zehn Jahre warten! + +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am +Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner +hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz +unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß +an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?" + +"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich, +und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: +"Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren +knappen Verhältnissen." + +Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag +gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der +Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner +Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine +glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein +schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört +verschwenderischen Gabe einer Rose im November! + +Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit +seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die +geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch +die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde +es ins Ohr gerufen. + +Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den +Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen +Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde. + +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als +Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu +Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen +dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das +aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und +sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und von den +dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem +Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein bedenklich +langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde der +Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen, +umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein +paar Jahre warten wolle! + +Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen +weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er +dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach. + +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, +wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den +Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von +einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand! + +Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es wäre +viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher +ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher." + +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind +so--ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar nicht +sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!" + +Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre +wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es +ja nicht so sehr ferne gerückt!" + +"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfäffling, +"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter +und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, +Direktor bin ich _gewesen_." + +Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang +in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast +erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus +gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud +sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur gut +gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß wir +hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in der +Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen." + +"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den +schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht +anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich +kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, +aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört +auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was +Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit +es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. + +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann +deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt +auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab." + +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine +Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten +schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese +Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden. + +Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand +und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend +war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied +komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die +Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder +Vers ausgeht: + + "'Drum rufen wir mit frohem Sinn: + Es lebe die Direktorin!' + +"Nun muß es heißen: + + "'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn + Du wirst niemals Direktorin.'" + +"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es muß +ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." + +"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er trübselig, +"ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen." + +Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie +auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel +Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So +erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel. + +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe +eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?" + +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter +der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit +strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, +Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. +Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die +Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?" +fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil +ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von +unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus +und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann +kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut +aufgenommen worden. + +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling, +die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich +vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er +war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch +schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen, +gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem +festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung +unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu +seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern: + + "'Direktor her, Direktor hin, + Wir haben dennoch frohen Sinn.'" + +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau +Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein Vernagelding +sein?" + +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde, die +hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich die +jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst +nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das +Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit +verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und +Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen zurechtgesteckt +hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese +unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und +mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit mir +nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie, ich +war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in +Rosa." + +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits +etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht +mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht +immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon +wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an +den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn +strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, +daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht +süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte +er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, +das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim +für heute." + +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin +empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix. + +Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß +Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal +entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. + +Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube +aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe. + +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein," sagte +Frau Pfäffling besorgt. + +Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten +Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. +Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir müssen ihm +gelegentlich ein Präsent machen, Agathe." + + + + +3. Kapitel + +Der Leonidenschwarm. + + +Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau +Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die +Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob +sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den +Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die +Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten +geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden +konnte. + +Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten sorgen, +daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war. Das +hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher +Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als +Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen +Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil zu +spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen +versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er +herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei +Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Höhe +spannen ließ, ganz wie drüben auf dem Militärturnplatz, nur daß auf +kleinere Turner gerechnet werden mußte. Frieder wurde herbeigeholt. Er +war für einen Achtjährigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt +wie seine leichtfüßigen Brüder. Es zeigte sich, daß man das Seil noch +viel näher am Boden spannen mußte, und als er seine ersten +Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darüber sprang, +lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen früheren Kinderjahren, +das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht übel, um so weniger als +Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst +probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: +"Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem großen Instrument, gestern +haben ihm viele Soldaten zugehört, da hat's geklungen wie das Lied: +'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das +lernen wir jetzt in der Schule." + +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" + +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder +ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da +wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine +Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer nur +eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er +sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie +hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher +hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen Menschen, +und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber +doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während seine +Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern von +seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte +er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, +"vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren und die +Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft. Man hört +auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man +sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein +Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten +war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere +Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz +unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind +gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, +wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen über +den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und +zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir +zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn, dachte +ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich +zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das nicht, sie +meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer +nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es auch beobachtet und +fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklärt, daß +alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15. November herum so ein +Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der Leonidenschwarm. In manchen +Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach +Mitternacht und man sehe es nur selten so schön wie in der vergangenen +Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb seien. Wenn's heute nacht +hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis." + +Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle +mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie +sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und +von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis +der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es +war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen +dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das +praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht +ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts geschlossen." Also +mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der +Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett +in die Novembernacht hinaus würden sie sich erkälten. Und alle beide +fürchteten sie, die Hausleute möchten bei Nacht gestört werden. Dagegen +sagte der Vater, seine Buben dürften nicht so zimperlich sein, daß sie +nicht eine Stunde draußen in der Winternacht aushalten könnten, und die +Mutter erzählte, daß sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt +hätte, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder +versicherten, daß sie lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da +machte die kleine Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit +ihrer Bitte wohl durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: +"Also dann dürft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber +doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für +klug, nimmer auf das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend +an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand +dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu +Bett ging, bemerkte er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. +Wenn es nun doch möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und +konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus +wurde und die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am +Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern +leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster +huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste +Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer +fliegenden Kugel gesehen zu haben. + +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei +das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben +dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht +einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich +wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei +in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die +Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: +"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große +warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem +Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel +in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die +Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches +Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht +ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den +Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem +Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun +waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen. + +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas +gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber +sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich +im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton +der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb +derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat +nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr +unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche +Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch +entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre +vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus +herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon +herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem +Gewissen, der mochte klingeln. + +Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der +Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In +wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern +und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so +schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl, +"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich +reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß +einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da +droben alle so fest!" + +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. +Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen +dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die +riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine +Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend +sahen die Kinder hinauf: da--schon wieder eine Sternschnuppe, größer als +die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder +eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in +gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit +vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich +sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich aber +von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne +zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend, von der +die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden +Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein sollte, zog +sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit. + +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden +sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein +einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, +"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die +Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und +schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also +kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu. + +"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er." + +"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da +draußen bleiben in der Kälte!" + +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an +die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von +innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte +Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte +und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach. + +"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. + +"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch, +es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in +Ordnung, was hält die Türe zu?" + +In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat +etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder den +Riegel vorgeschoben." + +"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das +getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: +"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!" + +"Aber er hat es doch erlaubt!" + +"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" + +"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen." + +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein, +wer hätte es sonst tun sollen?" + +Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln +dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in +den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon +schlafen." + +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und +suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so +stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so +unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre! +Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal +reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber hin +und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß ich's +ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte stramm +hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber +nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war denn das? +Er kam näher zu den Brüdern her--wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte +ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und +klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner +unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fühlte sich Karl +als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett," sagte er sich, +"sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die +Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da waren die +Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des +Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so laut zu +rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß Hartwigs, die +unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne, Marianne," klang es +zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es hätte +gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und die Hausleute wachten +auf. + +Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun +möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten +Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder +erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich, +keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, +lauschte--sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute +Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir +wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie +tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der +Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es +unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen. + +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte +die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draußen +sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie besser!" +und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, +Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie +dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur +Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So +hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht, +denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht an +die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. + +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur +hinaus?" + +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie +vorwurfsvoll und schloß das Fenster. + +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, +"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da +schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen +Morgen?" + +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu +seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist. +Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts +geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute +bedanke ich mich!" + +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob +den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen +Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit +so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung +entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von der +Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig +und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei +ihm die Wohnung gekündigt." + +Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es +den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen +Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der +Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr +Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn +er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie +sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum +andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen +der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung herausbeschworen, +in ihren Augen das größte Familienunglück! + +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich +ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen +war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht +vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. +Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf. + +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine +Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem +Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, +als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön +heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei, +bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon +hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser +zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim +Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der +Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen. +Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt +werden, kommt!" + +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. +"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr +hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war aber +der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schön?" + +Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß +sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte gleich +Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht +gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?" + +"Das nicht." + +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und +sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir +hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken +gewesen--wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa +wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt." + +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus +einem Mund. + +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf +den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter +Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das +hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir +sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte +Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne. + +"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling. +"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich +würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So +aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb +geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?" + +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr +Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht +alles gesagt." + +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die +schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf +1. Januar sei gekündigt." + +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch +aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu +glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist, glaubst +du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man einmal im +Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal wecken und +ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er +denn sonst noch gesagt?" + +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's +schon vorher ausgedacht hätte." + +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? +Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die Marianne +rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" + +Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: +"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht +verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie +in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen." + +"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, +frühstückt!" + +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig +waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen +und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht +wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fühlte +er, daß es so sein müsse. + +Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, +so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, +seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um sich zum +täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst +eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn +zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner +wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie +Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ. + +So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei +Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken +an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt bei +Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch die +Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der +leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel +von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht deutlich, +eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz anders als je +für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau Pfäffling +besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging. + +Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie +hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des +echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie +stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht +hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen +einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau +Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die +beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg. + +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien +benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum +Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weißzeugs. +Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche hinaufgegangen, fing an, +das Rad zu drehen und zu mangen. + +Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch +sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören. + +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes +miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr und +sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer +miteinander verständigen würden. + +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht +gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der +Wache gesehen hat?" + +"Ja, du warst ja dabei." + +"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum +erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte +Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem +Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des +Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte. Sie +wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn treiben, zu +tun, was recht war. + +Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er +ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel +gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der +Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die +da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen +ausgingen. + +Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der +Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und +fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit +all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar nichts von +der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen Verein oder +dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas +dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht bös sein, +wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde. +Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!" + +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus. + +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen +sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller +einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," +sagte sie und gab jedem einen Apfel. + +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, +damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen +jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an der +Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so +hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu gehen, +setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und +kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der +erschrockenen Hausfrau. + +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser +sie's meinen, um so ärger poltert's." + + + + +4. Kapitel + +Adventszeit. + + +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne +Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen +Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender hing, +und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den Dezember +aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf. "Buben, +galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom Kampfplatz +zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das +Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es miteinander," sagten +sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es +war Sonntag, und kein gewöhnlicher Sonntag, sondern der erste Advent. +Die schönste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur +bei den Kindern. Herr Pfäffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung +an: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt +Verlangen, o meiner Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, +zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, +denn sie allein von der ganzen Familie war vollständig unmusikalisch und +sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie. + +Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit +sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige +nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute +mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Flüstern. +Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe +standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden wollten, fand +sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle sieben bereit +standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll dann +aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling bedenklich. + +"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der +Kinderchor. + +"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein. + +"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben. + +"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist, +hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die +ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von +ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche gesegnete +Andacht". + +Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe +herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche +einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben +ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der +Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach +einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er +nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu. + +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs +Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest +sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das +dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden +die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber +heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war +über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling +Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön +der Christbaum war?" + +Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand +sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit +leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine +Hauptperson, die allen die Freude erhöhte. + +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten +flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es durfte +kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld +kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst, in einen +Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht +Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!" +Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die +Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer +der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn +ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche, +wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und da +sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr drang, +schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr +niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche. + +Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder +wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte +er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen +und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte +sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner +Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es +ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, +bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der Hand, +den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße. + +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, +bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der +großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verließen und +die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht +so. + +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch +schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine +Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob +Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die +Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel +doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergaß +seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig +war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." + +Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten +und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du +das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte +Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst." + +"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen +nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand, "könntest +du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." +"Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, +"aber jetzt: auf eure Plätze." + +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte +spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und +die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die +Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer +riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie +geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder +zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog, gab sie +keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen +auf den kleinen Musikanten. + +"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und +wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte +keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er +drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber +er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer +zum Leben zu erwecken. + +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von +ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange +Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich +weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!" + +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein +Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, +bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz +enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er +selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte er +sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten +wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein +Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht +eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde. + +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. + +Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die +Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für +die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen +getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts +ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder +verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf +den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht." + +"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen +Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen +Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner +Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz +in das große Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner +Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie lösen würde. Auf der +Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte. +Der kleine Kopf war fest an der Arbeit. + +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister +um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, +streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da +nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht +erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne +Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim +Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das +schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei können +nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum müssen wir +solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, +Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen +rechten Sack voll." + +Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und +fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich +zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden +bist." + +"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga +darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle vergnügt. +"Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du deine +Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die andern +stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man +die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er sich +glücklich auch ohne Harmonika. + +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, +viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis +abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein. + +Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt +viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der +machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. +Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte +sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten es +erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und +wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß +sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen Tagen +von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als alle +andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen +schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben +herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die +gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen." + +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes +Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße +entgegengesetzt lag. + +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in +kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier +ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und +Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf +Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in +Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen +abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all dies +Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du mir +nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen +vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder +einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." + +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. +"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" +sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles +abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst." + +"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei +euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als +ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, +Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten +Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. +Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer. +Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld glücklich noch aus +Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die +Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man artig, das +begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie möchte +ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen +er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, +kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: +'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, +gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswürdigen +Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den +Unterricht in Gang zu bringen.' + +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner +militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem +Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die zwei +jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein +Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht? + +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es +hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen +Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug zu +laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl +noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine +Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln." + +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht--wenn das ein Pfäffling +hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den +Musikunterricht geben?" fragte er. + +"Weiß ich nicht." + +"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen." + +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche +Herrschaften muß man immer das feinste wählen." + +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." + +"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hören sie gern." + +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als +Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen +ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren +für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß." + +"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend, +"vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und +nicht bei den Professoren." + +"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt du +mit den Russen sprechen." + +"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast +keinen Begriff von Umgangsformen." + +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht, +aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen, +was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar +nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal +in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein +Schwindel." + +"Ich vermag viel im Hotel." + +"So beweise es!" + +"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen hast." + +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich +für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum +Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel +zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen +wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben. + +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag, in +einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater +empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" + +"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit kommt." + +Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und +erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause +vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest +das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So +möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er +soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater +viel zu vornehm." + +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern +der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." +So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß sie darüber +geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran, als eines +Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom Zentralhotel hat +diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort warten." + +Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses, +die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der +höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und +Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor +Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten, +flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der +Rudolf Meier! + +Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so +erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem +schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier senior +ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag +erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr." + +Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier +von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm +zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der +Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell +ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr +Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in +Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung +gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer weiß, +wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen dieser +Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht: "Das +erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten für +ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schüler +bekommen als Fräulein Vernagelding." + +"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr +Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für meine +Marterstunde." + +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die +andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen. + +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war +schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die +Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr Stübchen +geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit. Frau +Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute +schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte, +Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei. + +Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich +eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig +herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen +der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des +Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel +jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß Herr +Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber, lachte +und spaßte mit den Schwestern. + +"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen +heißt so?" + +"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es +eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie +und Anne, aber so ist's eben bei uns." + +Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes +Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt. + +"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu +spielen," richtete Marie aus. + +"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es +lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen +Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint +Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, +ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer. Die +Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch +nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den +Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" + +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch +zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloß +die, die recht musikalisch sind." + +Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so +plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner +Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen. +Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie +mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so +elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit mehr +verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ." + +"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch sagen, +ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick +nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres +Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß. + +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen +ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts +zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am +schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und +im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe das +Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein und +fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling lachte +vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es euch im +Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie, Cäcilie," und +seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche herbeigeholt werden. +Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum meine Tassen +abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel gut ausgefallen sein!" + +"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch +musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube +kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und ihre +Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß sein +wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich euch +erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen +empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf +Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon, spricht +mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, kein +Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so einem +Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte mir +nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor einzuführen, +und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach richten, die +Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen +Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich +die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier +fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich an und stellte mich +dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling vor. Eine Weile +blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz nahm, empfahl er +sich. + +"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht +mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen +durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei +jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle +ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in +die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt davon, +daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen sollten, und +ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die Unterhaltung war +auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig Deutsch, +versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch hörten, da +meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch. + +"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen +Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich kein +Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber +allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter +und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei +lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für +welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas +überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich +ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher +Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr +Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach ihr +um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich wäre +allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, aber +zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich. + +"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer +näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß wir +uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, +und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel ihre größte +Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei +Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der +war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung mochte ich nicht +machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine Hotelrechnung +stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, begleiteten die +Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit war vorbei und +die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich vergessen hatte. + +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er +hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in +der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er +ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien sich +wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und flüsterte mir +zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet worden, diese +Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich habe ihm auch +gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter sehe, werde ich +ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger Bursch bist, gib +dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du bist! Er +macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines +Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst durchschaut." + +"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man +sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben." + +"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden +bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges +Jubellied gesungen werden!" + +Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der +General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher +Deutscher." + +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen meinen +Aufsatz machen." + +Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die +Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau +Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer +Glacéhandschuhe." + + + + +5. Kapitel + +Schnee am unrechten Platz. + + +Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der +erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Flöckchen +stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen Tag das +ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der alles +verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und +glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die +Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen +des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. + +Dezember--Schnee--Tannenbaum--Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier +nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch +eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich +verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus. + +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden +Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie +wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen +Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, +klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke +herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter +ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er +sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu +dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im +Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet. + +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge +Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch +unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg. + +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem +Christbaum nicht den Platz? + + * * * * * + +Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch +den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit +dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die +Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren +die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee +bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt +werden. + +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da und +sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein +großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und von diesem +Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine hohe Mütze +auf. + +Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas +sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und +öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus +vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle +beladen mit Christbäumen. + +"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der +Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als +er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch +einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann +nach. + +Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem +richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand +voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und +richtete dadurch Unheil an. + +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo +einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein +hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer +der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, +indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, +seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die +anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn +nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit +warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde +eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht +der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig +auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz +für den Schnee! + +Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so +schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige +Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus +Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht +an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit. + +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht. +Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und +erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees +abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und +Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr +Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem +Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle +die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun +freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen +sahen, liefen auf und davon. + +Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach +seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der +Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören. + +"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete +die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. + +"Die Wohnung?" + +"Frühlingsstraße." + +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir +auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein +"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein +Name. + +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling +schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist +das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's: +fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich +aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie +ich." + +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser +Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig +zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder, +mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht +so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er unwillkürlich auf +seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen Bruders gutmütiges +Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte beugte, die vor ihm +lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken +saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu +dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren +Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er +achtete gar nicht darauf, daß Herr Pfäffling eintrat und gerade hinter +seinen Stuhl kam. + +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah +überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was +ist's, Vater?" fragte er. + +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da +und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du +angestellt?" + +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann +doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn +getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" + +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr +Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an +des Vaters Hand, daß es klatschte. + +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft +beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf +diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein +Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze Geschwisterschar +fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der trotzdem auf der +Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch +genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen +gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklären. "Muß ich +denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?" + +"Um 11 Uhr." + +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es dem +Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt die +Sache noch ins Zeugnis!" + +"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen +sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" + +Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du +nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu ihrem +Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?" + +Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der +Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein +ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um +einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar +nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!" + +"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen +haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert. +Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." + +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich: +"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr +niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude +aus dem Hause gewichen. + +Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen, +berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde, +und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und +sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der +Polizei hört, dann kündigt er uns!" + +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das +Schreckgespenst, die Kündigung! + +So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie +auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein +Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine +Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr +doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte +zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von +vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen." + +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu +erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die +übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! + +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu +Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." + +"Es ist nicht wahr." + +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es +deutlich gesehen." + +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als +der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner +Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn +Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte +er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hörte, daß +Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir auch +ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon +störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute, +wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich +sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" + +So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht +zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer +Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen +vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde. + +Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors +das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten +Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes +Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden. +Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er +ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz +fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster +Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um +ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun +war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr. l2. +Vor diesem Zimmer stand ein Mann--und das war Herr Pfäffling. + +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze +Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte +ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," +sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!" + +Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann. + +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: +Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit +Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das +Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe. + +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. + +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber +weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast +mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort +heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte +wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach +der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders, und Sie +werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem +Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär +Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines +Vergehens entschuldigt hat." + +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit +als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht +mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht +möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?" + +"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und +der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen +Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu +kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein." + +"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um +solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie +es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf der +Sache war." + +Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach +der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen +der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte +noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort, +indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn +gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort +aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, +der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf +Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in +aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich +nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den Schutzmann: +"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich gemacht?" Der +rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling, den ich +aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes +Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" + +"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir." + +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe +hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir +den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht +lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer +Klasse." + +"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich +kann ihn doch nicht angeben?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und +deine Menschenkenntnis ist nicht groß." + +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," +sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus +ist." + +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das +Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst +nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem +Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr euren +Schulhof!" + +Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater," rief +Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du gekommen +bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt." + +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal +erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel +besser vorgebracht." + +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht +glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft +möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke +ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann +schweige ich lieber." + +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau +mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge +Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern lassen. Wer +recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür fordern. Halte +du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu +demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber freilich mußt +du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt." + +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. + +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte +Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich mochte den +Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Nächstsitzenden etwas von +Familienverhältnissen und lief davon; wer weiß, was sie sich gedacht +haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er +es eben versteht." + +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz +gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des +Vaters Hand, küßte sie und lief davon. + +Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele +freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt +nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine +Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut +vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der +Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen +Schriftsteller. + +"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der +Professor nach der Stunde zu Wilhelm. + +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht +aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem +angegeben." + +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" + +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete +Wilhelm. + +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden +sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war +unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann +aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den +falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern +fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts +geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht +übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts +macht." + +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief +Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem +Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann +nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich +durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe +hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es +so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere +um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis +um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen +des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd +am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm +vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht _ein_ Gesicht +erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den +Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt sicher, daß +er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht entgehen. + +Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so +peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts getan, +was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: +'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung +alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am +liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte sich +sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: 'Wenn +Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu Hause +gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten, +wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld für +sie verwenden? + +In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr +nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter +das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft +hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten +die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn +sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die +doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob +nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer +daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen +gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder +fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war +schuld. + +Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. +Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief +die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte +heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie +nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze. + +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter +Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände +waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf +die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte +sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie +aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem +vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit +hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die +Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung +vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in +ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf +dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr +Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, sie +allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles gelöst +hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!" + +Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch +Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz +andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen +Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben +stand: + + Man bittet die Türe zu schließen! + +Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts +helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen. + +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel +ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig +flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind +manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß es +mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen." + +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die +Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam--eifriger sprechend als +sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen--noch flinker als gewöhnlich, +ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so +weit sie nur aufging. + +Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den +guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, daß +heute etwas besonderes los war. + +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas +kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." + +Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau +Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die +ganze Familie am Essen. Aber doch--zwischen Suppe und Fleisch--sagte die +Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter +geworfen?" + +"Vergessen!" + +"So geht jetzt und besorgt ihn." + +"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. + +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch +nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht +verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich +nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem +Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an. + +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer +es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast +jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr +Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren. + +"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, +wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders +für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn +Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn +ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter +machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen." + +Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt +werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der +Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem +Gymnasium ausgewiesen. + +Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock--eine +Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren. + +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling +sagen. + +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht +auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas +anderes gemeint? + + + + +6. Kapitel + +Am kürzesten Tag. + + +Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe +Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel +steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als +diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den +Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie +gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen +den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander +wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der +Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die +wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse +und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! +Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und +Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt +waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten. + +Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und +Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner +Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, +kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich nicht +trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er selbst, +saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser +Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie +standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen +gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. + +"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel +verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand +legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem +Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen +hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine +Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den +Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte die Frau und +legte ihm den Baum über die Schulter. + +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte +die Dame. + +"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume +geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm +heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. +"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur +nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch +unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der +Richtung, die er einzuschlagen hatte. + +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der +andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß +er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es +aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so +mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, +freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen +Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet +wären oder gar der Vater! + +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die +Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, +obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man mußte ihn +oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel +entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne +daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun +schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden +Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm +entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch +deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende schob ihm den Baum +unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du, +Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch +deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch +die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden +gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 +und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das mußte nicht schwer +zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen, +aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmädchen wußte es +ganz gewiß, der Baum gehörte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr +auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. +Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die +Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe +setzen, um auszuruhen. + +"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist +Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun +lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die +richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich +selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 +vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. +Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und +größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als er +wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt +hingehen wollte--heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die +Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts +mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! + +Und es war wirklich höchste Zeit. + +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber +Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder +hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag +weggeblieben!" + +"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. +Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern. + +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu +ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder--was sollte dem +zugestoßen sein--, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die +Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen sei. +"Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, als nun +die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von +Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, fröhlich +und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?" + +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört +hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch +in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man +nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl. + +"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg +zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der +Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht +machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den +Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, +den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen dürften." Da +sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu +Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart. + +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können ja +noch ein wenig mit dem Essen warten." + +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die +Kinder. + +So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er +es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und +bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling +merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da +stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf +der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?" + +Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie +man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn +nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie +meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, +"ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und +wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hören, +auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders +Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du +kleines Dummerle, du!" + +Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, läßt +sich denken. + +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner +rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit +Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling. + +"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus +zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen," +entgegnete Karl. + +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde +ich mich schämen." + +"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß wohl +ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke +stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte +spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle +nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'" + +"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird +so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein +Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie +schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte +sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies +oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht auslegen. +Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs Leben, fühlt +sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf Meier ab." + +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit Hilfe +dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der Baum in +die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte. + +Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir +nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht +gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet." + +"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir +ein Trinkgeld gibt," sagte Karl. + +"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen +Pfennig mehr." + +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins +Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so +lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem +alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." + +Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto +mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten. + +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen, als +Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: +"Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn +sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück kannst du +doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, +nicht?" + +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach +war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", +das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im zweiten Stock +stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Türe. + +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein +wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als +Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu gehen, +war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den Kleinen +zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße wollte er +mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich +auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war Frieder schon +längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war nicht so, das +konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten gefragt wurde: +wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich erzählen, daß er +nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum getragen, und dann mit +einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte man auch schon wieder +jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein, und dann war ja die +Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Unglücksmensch +und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. +"Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast +alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er würgte an den Tränen, die +kommen wollten, und preßte hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu +Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht +verstehen, warum er nicht oben oder unten bei anderen Hausbewohnern +angefragt hätte. Daran hatte er eben gar nicht gedacht. "Deshalb gibt +man solch einem kleinen Dummerle einen größeren Bruder mit," sagte Frau +Pfäffling, "aber wenn der freilich so treulos ist und vorher umkehrt, +dann ist der Kleine schlecht beraten." + +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem +Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurück," +und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von +seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig davon. + +In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und +sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch +noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo +bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar +nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht +mir." + +Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen +jungen Pfäfflingen gemacht hatte. + +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er +kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe +nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt, +ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da +konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr +wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken." + +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. + +"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten +kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen +Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?" + +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit +seinem Baum heimwärts. + +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter +angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe +geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, +und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie den Baum +sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins Zimmer. +"Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, der +unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht aufgemacht, +wenn man noch so oft klingelt!" + +Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab +ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, +Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim kam, +ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber er +merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte sie +eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte er +schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so gefürchtet, +daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann heiße ich +dich einen Feigling!" + +Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte +und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu +vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten +Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem +Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der +Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und +ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich +kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn +um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für +feig." + +"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar +schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen über +dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur +ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer sein +kannst." + +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten, +fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er +zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen +Musikalien auf. "Willst du etwas?" + +"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon +welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt +gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von +meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, +die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem +Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war +auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!" + + + + +7. Kapitel + +Immer noch nicht Weihnachten. + + +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der +Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade +das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das +Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie +zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die +schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von +Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß +die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen +redeten, die sie bekommen würden. + +Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß +morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig +und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es +gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?" + +"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel +ist zurzeit noch keine eröffnet." + +"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. +Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag +nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal +nichts zu machen war. + +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der +letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie +nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise +geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. +Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, +daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die geringste +Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl 4 war +bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen. "So dumm +sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß ein paar +Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht doch auf den +ersten Blick den Vierer." + +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." + +"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?" + +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater +darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du es +nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?" + +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren +inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brüder +auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, +ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie +fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, und der +Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon zufrieden sein." + +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." + +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. + +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen +soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" + +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und +zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und +dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz +des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt +sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen +anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in +einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter +nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben +werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte man +nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das beste +Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. + +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis +gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte +Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!" + +"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur +von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten +bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft +wieder, Karl?" + +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann." + +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat +sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus. + +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es +übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht +nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr +Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das +Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß er +in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse +bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was wir +für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen ist? +Magst du raten, Vater?" + +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte ich +es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis +drei vielleicht?" + +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" + +"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und +Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will +ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal +unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling +noch von der Treppe herauf. + +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber +sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da +niemand in die Hände fallen. + +Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, +denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten +und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal +stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer +waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels +stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt +seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling, +nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit herrschte +in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des Speisezimmers stand +ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm, einige Flaschen in der +Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume in den Saal getragen +wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm +ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen +feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den +Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling gewahrte, grüßte er sehr +artig und sagte: "Man hat seine Not mit den Leuten, heutzutage taugt das +Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt Rudolf nicht auf seine Rede, ohne +ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm vorbei, die Treppe hinauf. + +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf +seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den +Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm, +er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr +Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die Brüder +Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, sogar +Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch empfinden, es +mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter war! Der kleine +Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie geringschätzig Herr +Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas erzählten sich dann die +Dienstboten untereinander und spotteten über ihn, das wußte er wohl. Ja, +er hatte keine leichte Stellung im Haus. + +Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe +hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner +Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert. + +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte ihm +die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen +Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein +Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut +selbst keine! Der Sohn wird nichts." + +Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und +hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, über +den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: "Er +wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen +Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos +an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wußte +vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, +sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu +kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen. + +"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für andere +Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur +Arbeit." + +Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater +sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch +wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" + +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war +und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß +ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie +begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß. +Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her +sein." + +"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen +anleiten?" + +Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar +nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein +gewöhnlicher Schuljunge war? + +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien +Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt." + +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" + +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich +weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu +geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, +feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen können und darf +keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir +dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen uns manche +spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein +Welthotel so mit sich." + +Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und +der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er +offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor +der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. + +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, +die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand +auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte +Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen: + +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft +von den Gästen abgehalten wird." + +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern +kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem +Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen +Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der +von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht +merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in +Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit +gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit +dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus +eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du +siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den +schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von +der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während +sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins +Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen +Saal. + +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die +Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," +sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber +um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" + +Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach +einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie +Platz nehmen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er +sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch +begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her. + +"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann +sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr +Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie +ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der +tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von +beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den +Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein +Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er +dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort +von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus +ihm werden, aber so nicht!" + +Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen +nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und +kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles +sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur +ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, +daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus +vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie +sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde +für sein Wohl sorgen." + +Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie +dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie gekränkt +habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, +was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, daß es +die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und +wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das +eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind +ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum sind Sie gekränkt, wenn +ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen Charakter?' Darin kann ich +die Menschen nie verstehen!" + +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein +Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache +gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht +aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück. + +"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe nichts +erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun ärgerte auch +er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte +nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen +wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu +überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht: +"Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestüm wie +vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz aller +Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute +einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." + +Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er +sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen +Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis +zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon +war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg +lief, zurief: + +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich +will sie sehen!" + +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse +müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu. +"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List +mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck +und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer. + +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als +sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater." + +Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine +List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend +etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar +fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er +überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst +Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, +nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften +Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten. + +Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut +brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte +viele Sünden anderer gut machen. + +Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da +war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie +sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute +Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie +war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne +Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die +Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei diesen +Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die +Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und +recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer zwei I, +durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. + +Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes +entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und +staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! +Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung des Lehrers +waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das +nur? Es mußte wohl mit der Harmonika zusammenhängen, die ihm früher alle +Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling +hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien +vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall +gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte +er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn +das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er +warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang +ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr +Pfäffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so +schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie +dumm, zu meinen, der Vater ließe sich auf diese Weise überlisten! +Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen. + +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis +etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl +nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis. + +Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an +seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war +Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend +ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht daran, +daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und folgte +ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr, +Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich +erinnerst." + +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden +immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." + +"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor +Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal +alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!" + +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre +Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem +Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng +aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die +Durchschnittsnote hervorgegangen. + +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur +gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und +Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet +man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als +mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns +darf nichts treten, auch kein Vierer!" + +Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen +Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um +den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen +wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht +verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, +nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!" + +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch +Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann +kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was +machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden +kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit +meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie +wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast +das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen. +Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem +Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. + +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den +Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. +Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch +nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß +sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht +das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es +keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her, suchten die +geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und +Schüler zu sein. + +"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit +den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie +in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" +Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens +fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien +und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal +geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht 'herein' gerufen." + +Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch +immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie +nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte +Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie +langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon +verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen +geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!" + +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als +aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, +machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf +hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll +aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt +beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem +Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige +Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! + +"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur +so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_ +Noten spielen, die da stehen." + +"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch +nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch +nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich +weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich +auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit +zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling." + +"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie +ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, +denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird." + +"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?" + +"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer +sein?" + +Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in +rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte +zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. +Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und +diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu +haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer +und seiner Schülerin. + +In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt +hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das +über einen Meter lang herunter hing. + +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? +Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, +Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine +Tastendecke für das Klavier erkannt. + +"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein +ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein +Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich +bitte dich, nimm mir das Ding da ab!" + +Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, +seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. +Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den +Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge +im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, +aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines +Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig +Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige, +die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd +hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glückliches Paar, nicht wahr?" + +Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der Vater +zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, +Cäcilie?" + +"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!" + +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein +Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine +Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich +vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es +war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte den +Regenschirm bei mir." + +"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein, +"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man +sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm +trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes +Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als +mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu +Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, +dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe +hatte, mein Lachen zu unterdrücken." + +"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können, +sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und +um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine +Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein +gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich +warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst +dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich +wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz +Besuch machen wollte." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter +hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie fürchtete. +Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm +in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum +Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich +sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und ungeschickt." + +"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling +ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, +wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht +lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, +was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, +meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du +lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn +Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort +und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich sei, +im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der +Lachlust." + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie +haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht +gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam." + +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr +Pfäffling. + + + + +8. Kapitel + +Endlich Weihnachten. + + +Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute +ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an +keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht +und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so +dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch der +Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um 6 +Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne +eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt +wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke +ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet +werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Großmutter +Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche befriedigt +wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte. + +Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der +etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus +dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die +allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit +war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, "führt +ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich +sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfäffling: "Sie +hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was +sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir einen Puppenwagen +und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach," entgegnete die Frau, +"darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's +kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch +dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen +den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles +aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, daß +es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr +schön am heiligen Abend." + +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch +noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen +Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen +auch nicht viel--das können Sie sich denken bei sieben--aber weil keines +vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung doch groß. +Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas +von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen Abend? Das +käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf +keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet ist und +alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann +sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn +auch gar keine großen Geschenke daliegen." + +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen +Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten." + +"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling. + +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht +und Lichter dazu." + +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den +Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier +zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke +mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas +bekommen, oder nicht?" + +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein +kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder." + +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr +tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel +gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon +auch daran freuen." + +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag +gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der +Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie +haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan +habe." + +"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, +als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine +Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein +Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir +versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau +Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schöne +Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie +herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" + +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" + +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem +Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? +Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn +ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen +Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, +Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen +Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war." + +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen +Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben." + +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen +allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das +können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die +Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und die +Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht selbst +wollen." + +Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als +diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der +Schlüssel abgezogen. + +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, +darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie +gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt +nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus +hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr +dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so." + +Da ergaben sich die Kinder. + +Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher +Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfäffling +und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen. + +"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche," +sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben +besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien +Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge +Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und pflegte +das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen Klammern +nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren. "Einen Stuhl +holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das +unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," so +war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto +gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab +es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe von Frau Hartwigs +Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren +Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den plötzlichen +Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?" + +"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, +wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben +darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und +mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der +Strumpf fiel herunter. + +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. + +"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher +grau und schwarz, denen schadet das nichts." + +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre +Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle +Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten +sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten +Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob +es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen? + +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid +herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, +sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der +Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz entschlossen +den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und +ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es +sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das +Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch +eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. + +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein +kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den +Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel +nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam +von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch +nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. +Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling, +"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch knapp +sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den +Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste vom +gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr +Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf +dabei an ein großes Stück Braten denken!" + +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder +herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd +davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es +Ernst! + +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die +kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, +wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck +da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und +oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern +Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, +es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen +und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des Baumes kaum mehr +zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch +ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind vor dreißig +Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten +Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran +ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es +anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen +nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten +deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch +jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen +Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders +aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten des +Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die +mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen +begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm +die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in +Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, +als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes +Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so +feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das +Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch +des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten +Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. + +Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus +dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine +Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die +Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen +aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht +frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich bereit macht, +nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht leuchtete +verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen +hervor. + +Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten +Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den +Baum anzünden?" + +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich +bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen +Jubel Kraft zu sammeln." + +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich wohl +noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und +schließe die Augen." + +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur +drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder +frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache +Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen +anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in +den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen +Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die +Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter +ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange +er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen +und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, +nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird +das Kinderglück. + +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht +dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war +sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen +kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen +Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe +und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte dies +in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des Tannenbaums--ja +die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend! + +Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den +Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, +stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, +zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm +er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das +Verschen: + + Fideln darfst du, kleiner Mann, + Vater will dir's zeigen. + Aber merk's und denk daran: + Immerfort zu geigen + Tut nicht gut und darf nicht sein. + Halte fest die Ordnung ein: + Eine Stund' am Tag, auch zwei, + Doch nicht mehr, es bleibt dabei. + +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er +drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich +sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die +Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den +Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen +und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von dem, +was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte _reine_ +Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit glücklichem +Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem Leben," sagte +Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen kleinen +Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" + +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" + +"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding +geschickt!" + +"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?" + +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche." + +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!" + +Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre +neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch +gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. +"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz +außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. +"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den +Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es +wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles +gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! + +In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie +war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht +worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren +großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute +morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, +aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen. Wenn +jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen +Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während +Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern +in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs +Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Mädchen. +Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch +nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber +unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu +stehen? + +Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde +zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der +Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo +ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam +zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg +rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur +ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh +sein." + +Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen +Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im +Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: +"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten +sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht +man so gut an, daß heute Weihnachten ist." + +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie +wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis +endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch +der Ruhe bedürftig sein," sagte er. + +"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut +hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem +Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem +Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem +kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und +weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er +wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel. +Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal +herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit +festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg +kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz +entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das +freut für Walburg!" + +"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem +Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?" + +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht +kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es +rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten +Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da +draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden." + +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, +wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz +finden." + +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten +Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den +Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg +zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist." + +Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in +ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen +kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor +der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam +geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer +getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie +hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen gehören. +Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die breite +blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu +Ehren kommen! + +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste +sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat. + +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es +war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. +Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön +aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht +und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen +und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe +lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht +bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon +erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle +sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, +war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling +nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er +wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben +beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine Schulfreundin und +lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und +wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen übrig, +die begleiteten ein wenig traurig die Großen hinunter, kamen dann aber +um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie +eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen. + +So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; +ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus der +Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie +viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man +sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was +_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf und +hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte +sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie tun +wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme zu +dir!" + +Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen +Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 +jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ nicht +die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. +Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn +auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, +eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten Mitteilungen schicken +können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich +einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und es gab einen langen, +langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in +dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau +Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief +viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und +davon, daß ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch +festhielten: Ein jeder trage des andern Last. + +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen +Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und +zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und +große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des +Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau +Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich +zu euch. + +Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und +Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau +Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, +fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich +nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, ihm +und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt +hatten, Walburg stand vor der Türe. + +"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst +mit dem letzten Zug erwartet." + +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen. "Kartoffeln +zusetzen?" + +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, +wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich +bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's +nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser, +die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe +hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam +faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe und +legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte. Dann +schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die alte +Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen Wände +ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so öde und +leer in ihrem Herzen. + +Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet +neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du +tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. +Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen +Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir +geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die +Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl +recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat +er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die +Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie +sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch +auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?" + +"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir +verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's +lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da +wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll +Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der +Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie +freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie +nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt +und das Essen nicht gerichtet ist!" + +Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so +traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch +Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei +uns recht heimisch fühlt." + +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hört +sie." + +Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen +noch geigen? Wie heißt dein Vers? + + "'Eine Stund am Tag, auch zwei, + Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" + +Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden +gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben +Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem +traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit +des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit +auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den +Mitmenschen. + + + + +9. Kapitel + +Bei grimmiger Kälte. + + +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man +die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus +den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war +das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke +einschlagen, ehe man es benützen konnte. + +Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch +zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem +Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. +"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie +erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über +Nacht eingefroren.'" + +Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb +daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz +besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern +stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches +teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse +warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen +Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war +einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf +Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende +Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar +gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der +Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der +alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach +sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen +ein eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten +Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem +Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar +nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für +einige Tage würde sich die große Reise gar nicht lohnen." + +Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch +äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie Eindruck +machte, wenn es doch einmal geschah. + +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. + +"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr +Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder +groß sind und Walburg so zuverlässig ist." + +Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte +dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und +versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich +zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den +Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte +mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar +bringt!" + +Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen +wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den +Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei +Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute +hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem +er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und +Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg +frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl er +nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im +Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Laß +doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es +sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!" + +"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine großen +Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So +ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als +fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede +wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so zimpferlich?" + +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er ließ +den Mantel fahren und rannte davon. + +Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den +Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten +bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von +Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den +Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde. + +So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit +wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf +das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und Kinder +angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt, zurückkommen +würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne diesmal weinend nach +Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut mit Wintermänteln +versehen waren, weinten vor Kälte und die Fingerspitzen wurden in der +Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie noch klagend im Zimmer +herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. "Habt ihr +denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau Pfäffling. Da +kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Geständnis, daß man sich den +Mitschülerinnen mit den neuen, knapp anschließenden Glacéhandschuhen +habe zeigen wollen, die Fräulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt +hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht. + +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine +Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast. +Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist +gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, +ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben +uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzählt. +Kommt, wir wollen beten: + + "Herr wie schon vor tausend Jahren + Unsre Väter eifrig waren, + Dich als Gast zu Tisch zu bitten, + So verlangt uns noch heute, + Daß Du teilest unsre Freude. + Komm, o Herr in unsre Mitte!" + +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei +Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie +vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man +wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der +Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert +ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das +vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen +hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen +Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise +zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler +Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen Schilderungen +des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar +begabten Knaben mache. + +Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß +unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares +Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule +gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer +der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude +auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb +dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine +Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum +80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur +Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem +Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. + +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer +war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu +eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit +halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, +der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier +erzählt?" fragte er Otto. + +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." + +"Hast du nichts näheres darüber gehört?" + +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich +weiß nicht mehr." + +Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. +Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald näheres +erfahren. + +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, +im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, +und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen +Winter. + +"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?" +meinte Herr Pfäffling. + +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu schützen. +Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie +sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße. Warum tragen Sie +keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin, indem sie einen +Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen +Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Nötigere +anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe käme," sagte er, +"ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Hände +sind nicht steif, wir können gleich spielen." + +Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. +"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des +Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist +übrigens jetzt nicht mehr hier." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich +gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der +Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges +Familienleben hinein.'" + +Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat +recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig +sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land +ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser, +die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland haben +wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen +nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon +in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von dieser verdorbenen Luft +schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns +entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurückzulassen, +wenn wir nach Rußland zurückkehren, was wohl in der nächsten Zeit sein +muß. Wir stehen gegenwärtig über diese Angelegenheit in Briefwechsel mit +einer Berliner Anstalt." + +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne +standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte, +daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren +schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer +Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme +Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland +bessere Zustände bringen!" + +Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er +unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen +Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über +das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die +Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht. +Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber, +gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!" + +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie +auseinander. + +Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der kleine +Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Künstler, +ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie war denn +das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf +den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem +ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche erklang es. +Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein +herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich dadurch nicht +bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" fragte er. + +"Nicht lange, Vater." + +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? +Sage mir das genau?" + +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu: +"Aber das ist doch noch nicht lang her?" + +"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon +heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, +Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, +sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche +bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der +Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. +Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem +Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann +reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab +sich. + +Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht +verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie +sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Tränen +füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich und +fragte: "Darfst du denn nicht spielen?" + +"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton. + +"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die +Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner +Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen! + +Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen +Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie +zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme +fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im +Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet +und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das +Familienzimmer zu seiner Frau. + +"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein +fand, fragte er ungeduldig: + +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" + +"Sie ist draußen und bügelt." + +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" + +Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." +Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme +gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben." + +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und +in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie". + +Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau +Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der +Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen +Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso glücklich +in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete Frau +Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die Doktorsrechnung? Sie +kann doch nicht sehr hoch sein?" + +"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?" + +"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von +Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle +Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Tränen +besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, +du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel +Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber +sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh +sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt +wieder ganz gut, auch in der Schule?" + +"Ja," schluchzte das Kind. + +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja +noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere +Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es +ist doch immer alles gleich bezahlt worden?" + +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß +diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet +wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt +gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die +Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!" + +Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr +der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling +schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich sagte: +"Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die Doktorsrechnung die +einzige an Neujahr ist." + +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, +als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und +die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten +bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung +sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief +hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater +geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den +Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie +und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte +Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das +anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche +Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch +warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen +herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter Miene, +suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den +Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte +sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht +gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen +nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig Grad +Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch +zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es +sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte weiter, sah müde aus +und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es freilich sein, wenn +man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!" + +Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen angestellt, +und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik +geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte gerne die alte +Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er +schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem +ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, +dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch +vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr +geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die +alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater stammen?' So hat der +Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen können?" + +"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden." + +"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich. + +"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen." + +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." + +"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; +wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht +so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung +nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man +durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen +es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen. Darum zahle +du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt +bekommen?" + +"Ich habe keine drei Mark mehr." + +"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die +Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder +eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich +darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt +mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, +Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag +dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war. +Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler +tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke, +eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, +auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn +freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie +nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!" + +"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte +vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte. +Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei +zwanzig Grad Kälte! + + + + +10. Kapitel + +Ein Künstlerkonzert. + + +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt +hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende +Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die +Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische +Wunderkind einen solchen Reiz ausübte. + +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um +seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal +musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann +nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen +ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den +Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden +jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der +jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten. +Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. + +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den +großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den +beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und +warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich. + +"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, +"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu +überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch +anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!" + +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz +machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war für +das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und +Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfäffling +verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig +anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier +herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers aufmachend. "Ich +wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute wieder vollauf in +Anspruch genommen?" + +"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken +als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch +und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, +was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es +vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester +ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den +Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation." + +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir +sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen +habe. Was schreibt Ihr Sohn?" + +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben +finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über +seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er +ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, +wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern +schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner +Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte +ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl +Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren. + +"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre +Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das +Telephon." + +"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich +alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie +wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders +auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen +Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich +im Konzertsaal abspielt." + +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur +Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt +oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen. Mir +ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit +oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein für +Ihren Rat, Herr Pfäffling." + +Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel +verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal +einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie +wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit +zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. +Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte +Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. +Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie +sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer +Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. + +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der +Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war +in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden +Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die +jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache +aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit, +daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben hätten, +selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die Stunden +beilegen wollten. + +Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen, +wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in +der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte +Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfäffling +kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten fröhlichen Miene +heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, daß reich oder arm +nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der Direktor hatte +mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte, +auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der Musikschule abgegeben +worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung unter den Kollegen. +Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plätze verschaffen, für +Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte +einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu überreden. "Nein," sagte er, +"ich säße nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch +nicht einmal die 60 Mark beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute +das Geld geschickt hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute +sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich +wäre, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! +Und die Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr +schicken können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in +das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch +bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt, +soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und +warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei +man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man +nicht bitter werden!" + +"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." + +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. + +Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis +Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu +Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen +Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling +sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu lesen, +aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie für vier +Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden." + +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer +waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt, +alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das +Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch +langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den +kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune +erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen. + +Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele +Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der +Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche +Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. +"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht +in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn +das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde in dem +Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein +Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung, ihn aufzuheitern. +Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar muntere Kinder +verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen und ihn +zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie +mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas Spielzeug +wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!" + +"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und +verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das +stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also +auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte +er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte dieser +ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf +doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr +Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung: +Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft, +temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes sicherlich sein. Er +ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer +Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie ausrichten, der kleine +Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn Pfäffling freundlich +bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Mädchen, +zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber +rasch!" + +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor, +und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten +um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal, sie +sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider +sei." + +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie +waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu? +Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur +Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklärte, +er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich +genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich +Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er kreuzfidel +würde!" + +"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du +es auch zustande bringen. Und Frieder?" + +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten. +Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem +niedlichen Gestältchen." + +"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu +schüchtern? Wir wollen sie fragen." + +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, +hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und +Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte +bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. +Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges +Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem +wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt +kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?" + +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann +ich schon fort." + +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die +ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen. + +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, +ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der Anblick +von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn. Behutsam hob er +sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das +entspricht, wird sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit +Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen +gerafft und war schon unter der großen Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr +Meier an. "Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink," dachte er +und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst +einführen. Edmund heißt der Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, +aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von +Musik müßt ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur +spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch." + +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das +"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber +Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn +sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte +Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg Langeweile +haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen." Herr +Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte, aber er hatte +inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war erfolgt und durch +die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum +nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr +einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte +und sagte: "Wie macht man denn das?" + +Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in +ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem +nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte +freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt +entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte +ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte, +ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen +Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu +der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen +herein, bloß heute, weil er lustig sein will." + +"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist +Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder +nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fräulein +schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem +Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen. + +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas +sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche, +blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und +wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen, +die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese Kinderseele +mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern spielte, sah auch er +kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewöhnlicher +Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die ihn viel älter +erscheinen ließen. + +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte sich +mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir +möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" + +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. + +"Was willst du tanzen?" + +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, +der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewußt hatte. + +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen zum +Tanz führen. + +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen." + +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, +für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu +machen. + +"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen +Walzer vorpfeifen." + +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und +sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter +ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte. +Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin. +Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt +hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den +Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein +rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter +die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in +unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner +Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er +das Fräulein. Sie wußte es nicht. + +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist die +Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." + +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das +Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und +sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand +alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen +möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. +Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der +Mutter hatten nur Tränen zur Folge. + +Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt +doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen +sich schon so lange auf das Konzert!" + +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, +sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das +Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so +langweilig, während du singst und Papa spielt." + +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht +kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich +habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele +Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er +drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht +kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch +tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief +den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint und +jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verständig, +aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute +abend." + +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand +und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden +Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden +nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt. +Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte +er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den +Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal +bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl +tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten dir +dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt noch +leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." + +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein +Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," +rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben +darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch +arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom Weinen +zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei sein, +wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut! +Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen +Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du +so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad laut +lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen Sie ihn +rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem Kinde +redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute +abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fräulein +und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der +Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so +lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer fragen." + +"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt +es." + +Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, +"woher weißt du das Zimmer?" + +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." + +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser +Konzert?" + +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich +mehr darüber freuen, als mein Vater!" + +Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei +schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern +war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte +wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem Wilhelm fest +versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer einzufinden und +Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Lärm +zu machen, wurden die Kinder entlassen. + +Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, +schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist +schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!" + +So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr +erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die +Freitreppe vor dem Hotel. + +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren." +Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und +kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber +die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des +Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine +Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter +Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so +kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen +holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im +Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei riesigen +Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge. + +"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen +bis nach Rußland." + +"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten +Woche nach Berlin reist." + +"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen." + +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah +erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das +gesagt?" + +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." + +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General +selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen +vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke." + +Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung +zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der +Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und +sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht +ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen, dann +durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die +Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle +auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und +Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu +rechter Zeit bekommen!" + +In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau +Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte: "Sie +kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und +her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den +Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend Musik, +Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr Pfäffling +hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder sein, ob +_sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie, singen, +Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also: die Treppe +hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: "Es hält +eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt +ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling stand +inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber +so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen +seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja +ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Künstler +selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den Freudensprung +machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte, enttäuscht wäre +dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf der +Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst schnell +die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der durch +die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend. + +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es +diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag +herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht +überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die +Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so +pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen +hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß +für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden +verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie +gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und +sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie +du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont +wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel +und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!" + +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." + +Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet +hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die +Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die +Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling und +Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau +Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem +kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu +Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter +Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu +vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit +dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der ebenso +strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten +und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der +Familie für das Konzert richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder +nicht mehr spielen will," sagte Frau Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn +sich zu dir setzen und erzähle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika +und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn +du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, +mag man gar nicht lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder +ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht +krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte +Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm." + +So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem +schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet +nachträglich zu verdienen. + +Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn +begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin +allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand +in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter, +die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt +dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes +Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine Purzelbäume," +entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. + +"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im +Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben +hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt +hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel für +Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" +"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das +Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später +kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr +Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an ihre +Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am Kleide +der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge die Hand +des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," +die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des Kleinen, der +sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann öffnete Weismann +eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem erhöhten Teil des +Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm +konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, +aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar +empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe und von den +wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge entzückten, drangen +nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer. + +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat +unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine +deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?" Edmund +antwortete nicht. + +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat +vorhin darnach gesehen." + +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen +sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch, nicht +ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. + +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn +dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu +weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden, +Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall +klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die +Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm +ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte +er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er +vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm +dröhnte aus dem Saal. + +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß +noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens +hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch +manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß." + +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so +etwas habe ich noch gar nicht gehört." + +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es +nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem +Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl +geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer +zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die +Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt ist!" und +ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm. + +Im Saal erklang der Konzertflügel. + +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an +das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, +wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir +bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich +spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie +anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So +sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist +von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre +eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine +Sache immer gut gemacht." + +"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht +auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen +Sie, Fräulein!" + +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen +lassen." + +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen +nicht müde sein vor dem Violinspiel." + +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen. +Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber +ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem +Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also +_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und +sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in +der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er +Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen. + +"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," +sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr +war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den +Türspalt, wie er seine Sache macht!" + +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie +der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in +kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem +Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen +Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung +nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben +träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte +Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser +Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die +Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich +eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu wecken +und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände. Unter den +Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte Ton sanft +verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen +flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Künstler +ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet +war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren unter den +Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die +Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein schlichtes, +freundliches "Danke!" rufen. + +In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu +gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte: +die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg +glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das +Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein +schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie +war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten +Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und +von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß +trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück +bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden. + +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine +weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm mochte +sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte +er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm +zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte gar nicht +lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie ließen ihn +ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein Vater +allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds +Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat es +mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr +grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie +das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind, boten +ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus +dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen +vermocht, daß er noch einmal vorspiele. + +Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große +Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der +Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. + +"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner +Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit Edmund +reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die +Augen. + +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu +Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe +doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur +ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: +Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen +dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das +deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines +will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich tapfer +hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen +Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so +gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht +schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer +Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann +verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm +das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm +verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die +Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater," +fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." + +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der +Vater. + +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte +sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des +Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er +möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von +Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die +Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die +Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater +noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. + +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die meisten +hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem +Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel. + +Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit +erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter, +die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing. + +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," +sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum +Droschkenplatz, nicht wahr?" + +Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer vor +dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal zu +sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom +Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen. + +Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des +Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine +Geigenspieler sei an den Masern erkrankt. + +Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank +darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie +manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich +auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. + +Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. + + + + +11. Kapitel + +Geld- und Geigennot. + + +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte +täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß +des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden +beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische +Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte +sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder +aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr +Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit +Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach +Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle. + +Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar +zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich +handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle +geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig +jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so +werden auch sie ihn kennen gelernt haben." + +"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, +seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie +das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne +Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern +würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es +von Berlin aus geschehen werde?" + +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, +ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas +anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, +das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das Geld +ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus allem +hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Söhne, +und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint +mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich +mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt übergeben +wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die Abreise sei +verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die Eltern schon +über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie nicht noch ein +paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in +Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch +mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie +unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen +Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang erzählen, der +General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen +sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut." + +In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem +offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er +dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich +schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und +Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen." + +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter +Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie," +sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich +ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich +auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt +doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner +Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er hätte +ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren müssen, +unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose +Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können. Sich so von +seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser Schmerz für +Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu +retten, was sagst du, Cäcilie?" + +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über dich +bringst," entgegnete Frau Pfäffling. + +"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz +all dem Leid, was daraus entstehen muß?" + +"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es +heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies +ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben +und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die +unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären +könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig." + +"Also du würdest schreiben, Cäcilie?" + +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich +würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine +Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm +mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater +begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber +sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor +der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich +verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere +Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den +Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen +General ungeschrieben. + +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto +beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung über +die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck, den +Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die +Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, +schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen +mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß mit +volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der +Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner schönen, +schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten +alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den +älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es +fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er +in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer Befriedigung legten +sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin mußte das Geld +zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche +Überraschung, welche Freude mußte das geben! + +Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz +anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am +nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum +lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" +Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung +mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht +äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der +Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil dann +wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man +wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken, +nicht lange vorher fragen." + +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf +er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber +die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht +werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und ängstlich, +was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nützt +er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst sagen." Karl +wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus +auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. "Die Eltern sind +immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte er, "und es ist wahr, daß +schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben. +Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heißt es doch: Karl, du +bist der Älteste, du hättest es nicht erlauben sollen." Allmählich +brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb +dabei daß sie ganz übertrieben ängstlich seien, und machte bei dem +dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreißen. +Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, mußte +die Schlußberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben +war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser +schon abgeschickt wäre. Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte +man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn +vorzeigen. So wurde Frau Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch +einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei +Großen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief +erzählten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen +Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. +Die kräftigen Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der +jungen Russen und die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden +fast wörtlich angeführt. + +Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann +veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast +entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über +diese Wirkung und verstummten. + +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr +auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in +die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern +in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General übergibt +keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn zu lesen. +Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der +Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so +einzumischen in das, was euch nichts angeht!" + +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins +Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht +begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht +erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: +"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch +nicht so!" + +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei +schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir schrecklich +gewesen für den Vater, für den General und auch für euch, denn wir +hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten alles +Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge +mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe daran +gewesen, das Heimliche zu vollbringen! + +"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau +Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen +Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie +wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten +Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht +gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er unschuldig +war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein." + +Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber. +"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau, +"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die +Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch +unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in dieser +Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte an sie +schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der +Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der +General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung +einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne +schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung +unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu +bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen." + +Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen +Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner Schüler +willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages plötzlich vor +ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief vergnügt: "Das +Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden. + +Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief +der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines +Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken +gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch +gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, +einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie die Sache +zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil entstanden ist +aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat +nur Karl verdient, gib sie nur ihm." + +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer +Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß +es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe +zusammenzubringen. + +Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der +Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball +gegeben hat?" + +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die +sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja +bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß +er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand +die große Familie aufnehmen wollte." + +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich +keine so gesalzene Rechnung geschickt!" + +"Du verwechselst auch alle Menschen!" + +"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich." + +"Gar nicht ähnlich." + +"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?" + +"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht." + +"Doch!" + +"Nein!" + +Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens gestritten +hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld ein mit +einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr." + +Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer +Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich +über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei +waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in +der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich aufhöre und +mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig. +Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du hast schon zu lang +gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er endlich nach, und +Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren +Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar nicht zu Hause war, +nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Böser!" +rief die kleine Schwester und Tränen der Enttäuschung traten ihr in die +Augen. Als aber nach einer Weile draußen die Klingel ertönte, sah man +ihr schon wieder die Angst für den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief +sie und sah gespannt nach der Türe. Aber ehe diese aufging, war Frieder +mit seiner Violine durch die andere Türe hinausgegangen und nun +flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte +sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. "Frieder," sagte er, "ich rate +dir, daß du jetzt augenblicklich aufhörst, du hast gewiß schon drei +Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres +Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, +und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhören, ich spiele +bis ich fertig bin." + +In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen +weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er +tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!" + +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch +mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige +sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf. + +"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch +weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir +gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt, +dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich +will hören, was der Vater meint." + +Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was +geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, +und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im +Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, +denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid." + +"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du +bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann +könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß du +aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht +tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem +Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, +wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn bei dem +Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder spielte, wann +und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen folgen, mit deinem +Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für immer, aber für Jahr +und Tag. Gib sie her!" + +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie +nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen +Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so +bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!" + +Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines +gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und +dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine +langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in +die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst +du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er hinzu, als +er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir gutwillig deine +Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich nicht. Von allen +Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: "Gib +sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das Instrument +leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist +dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in +seiner Stellung. + +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du +auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind +bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe zum +Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du +fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer. + +Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen +schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr +Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er +Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das +Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier +außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts +ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Küchenschemel, daß +es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine +Mutter mehr hat." + +Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an +sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte +sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen ihn +jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die +Violine bringen, dann ist alles wieder gut." + +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für +Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der +zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als +ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die +ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. +"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr +Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es +tun und das Gewissen." + +So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging, +kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen +und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen +wollte er spielen, immerzu spielen. + +Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der +Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. +Drei Striche--dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder +wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie +mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er +auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz +bewegen kann. + +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er +mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den +Schwestern. + +"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr +Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, +wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick +ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile +später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein +sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden +Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen +Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch +der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. + +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend +auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling rasch den +Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an +sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist +wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen +Schmerz aus. + +Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder +seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst +wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit +so traurigen Augen angesehen!" + +Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie +kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte Frau +Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich." + +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und fügte +nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das +wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich +denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis +jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben." + +"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln +können, daß er einmal ein Musiker wird." + +Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen." + + + + +12. Kapitel + +Ein Haus ohne Mutter. + + +So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau +Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer +ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag +sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei. + +Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, +und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man Frau Pfäffling +sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als Reisekleid +praktisch ist." + +"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu +sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen, +trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht +reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten +Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit +gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten +Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit +herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau +Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr Elschen +mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. + +Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große +Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle +und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den ganzen +aufgeregten Schwarm hinausscheuchte. + +"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir +entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling. + +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." + +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in der +Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfäffling +heißt!" + +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die +Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf +sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," +sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer so weiten +Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn +die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich doch nicht +mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen, wenn es +klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja nicht und +sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt unsere +Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim wärest, +könnte ich gar nicht reisen." + +Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben +mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, +denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust +und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und +Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen +Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester, +die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter +gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! + +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es +schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren, sonst +hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte, wie +sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte jetzt +sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und her im +Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und Kammern, +folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte, überlegte oder +anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so nahe wie +möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes +Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, +wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. + +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" + +"Was denn, Kind?" + +Es wollte nicht über seine Lippen. + +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" + +"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." + +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater +deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir +ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein, daß ich zu +meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so +lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir +wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich werden!" + +So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich. + +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein +Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig +wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders +schwer." + +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es +schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte, +neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, +wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht +man ihm gut an. Da tut er mir oft leid." + +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die +erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und +wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am +Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm +Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm +werden nimmer regelmäßig eingehalten." + +"O doch, Mutter." + +"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?" + +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht." + +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist aber +nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm +wieder eine so schlechte Note bekäme!" + +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf +verlassen!" + +Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in +die Holzkammer. + +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran +dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muß in +dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz und +Kohlen sorgen." + +Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie +möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin." + +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" + +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die +Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und +anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am Vormittag +vom Kochen fortspringen muß." + +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und +am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch +einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an +einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja +aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen, bis endlich +der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache +machte, daß Frau Pfäffling verreist war. + +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine +Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr +selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts +nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und Anlagen +der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder tauchten +auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich bequem in dem +Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein, daß sie nicht +sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine wohltuende Ruhe, ein +Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer Tätigkeit mit +gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde. + +Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann +mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war. Sie +machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten +Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch die stillen +Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei dem +Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau +Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren +lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine +so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben. +Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu +tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch ein, +daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto und +so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern dem +jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht immer so +friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg wunderte +sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz leere +Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger Verbrauch +mehr wie bisher. + +Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten Abendstunden, +wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe gerückt und wußten +doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem +Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu +sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch +Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein gemeinsames Interesse +zwischen Vater und Sohn. + +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes +Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht +ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges +Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne Hilfe +von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war Frau +Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die +Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben! + +Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach +einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden +wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu +trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu +leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege +der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die +_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit +solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift durch +reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam, das +Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht. + +Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde, +die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte +die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte +Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie, nun +soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!" + +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." + +"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts +tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen +und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das +anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen." + +Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das +nicht in _drei_ Wochen erreichen?" + +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" + +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich +vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an +vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß du +mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen +Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen. +Es kommt so oft etwas vor bei uns!" + +"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?" + +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber +es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen +haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal +anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das Alltägliche +bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags immer allein +die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich in einer +großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist, Mathilde, +dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann +einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!" + +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" + +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, +wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der +nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so +lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein +Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich einen +Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!" + +Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches +Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz +jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus. + +Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei +Wochen geeinigt. + +Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war +für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der +Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles +Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und doch +stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten Weg +hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel, +überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches +anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt +man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der +konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau +Pfäffling war von denen, die hören wollten. + +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu +diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau Pfäfflings +einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer fünfzehnjährigen Tochter, +einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen. Diesen Bruder, der Professor +an einer norddeutschen Universität war, hatte Frau Pfäffling auch seit +vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus der Ferne hatte eines an des +andern Schicksal und Entwicklung stets Anteil genommen, und so war es +beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder ins Auge zu sehen. + +"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu +seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte, +eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in +einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in +diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht +streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten +zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend ist +sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine Kinder +daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor." + +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als +du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung." + +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird +damit oft kaum fertig." + +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel +miteinander, wie ist das bei euch?" + +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander. +Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur +sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können." + +"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel. +Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist +das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei +Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht +fertig." + +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören +über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er +beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, +dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu +besuchen. + +An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach +dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein +besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen +wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der +andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich +versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der jungen +Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde überlegt, +und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit ihrem Mann +darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der Bruder auf +der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der Kinder am +besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte er dann auf +der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein +baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und +in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es still wie vorher. + +Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie +erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die +Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, +sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst +mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene +Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und +Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der +Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. + +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr +Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: +"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen +oder dergleichen?" + +"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehört." + +"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die +zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der +Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der +Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in +Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren +können." + +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging hinauf. +Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die +Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts +verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings +blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das war +Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und machte +sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die Mutter +dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau Mitteilung. + +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die +Schwestern zurück. + +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. + +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot. + +"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr +Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte doch +auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit Tränen in +den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war. + +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter +nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun +auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren +bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt, das +noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das hatte +alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern +eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem +Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt +geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die große +Neujahrsrechnung. + +Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des +Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern +vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn +etwas versäumt würde. + +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei +Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so +ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und +doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide +trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse +Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das +macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure +Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe +noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die +gehört dazu." + +Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem +gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, +daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar +nichts mehr?" fragte er. + +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr +sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer." + +"Geht sie nie zum Arzt?" + +Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz +gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte. + +"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der +Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt +daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung." + +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten +sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen +sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um +sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere +Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein." + +Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören. + +Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum +gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie +volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war. + +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen +vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen, +diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. + +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte +einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es denn +so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, +"ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum +Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte +es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den Kalenderzettel abzog +und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt dann schneller der +1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und wehrte dem kleinen Bruder +nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er Heimweh hatte. Aber an diesem +Montag morgen ging er vergnügt seinen Schulweg mit den Geschwistern, die +Heimkehr der Mutter war ja plötzlich so nahegerückt. + +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; +ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die +jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat +gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. +Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um +aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen Frau +und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien, +bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an +Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm, und +er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde. +Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den +Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte +der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann, +den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das +Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus. + +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam +keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die +Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben +heraufkam. + +"Wer war da?" fragte diese. + +"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins +Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen +zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim +Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem +Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er. +Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn--ja, +wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein +seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen +sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft +schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in +dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was +die Familie Pfäffling am Leben erhielt. + +Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich +eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen, keinen +Pfennig fürs tägliche Brot! + +Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte +ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die +bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich genug; sie wurde +kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?" + +Und nun flogen Vorwürfe hin und her. + +"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den +Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja +gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie +nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein Holz +getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!" + +"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder. + +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder +wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir +wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal +niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit +solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise +miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen +haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein +Gehalt. Wir sparen recht." + +"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe +auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die +Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel +abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin +und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort: +Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht +werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort +Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte +mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, schon +waren viele Stunden verloren! + +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie +setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede +knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die +Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, +erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang +ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit so +langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an +seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte. + +Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger +Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel +betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn +aufzufinden. + +Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling +abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand +schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in +großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem +ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll +Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine +Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau +Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen umgeschlagen +war. + +Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich +zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker +gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso +am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien, +wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm +Nachricht zukommen. + +Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter +mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht die +rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war +unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich mitteilen +sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme des Diebes +und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß der Termin +doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise seiner Frau +ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der Heimkehrenden +schonend die Hiobspost mitzuteilen. + +Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," +sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen letzten +Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?" + +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die +Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das +Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in +Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein +hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert." + +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag +irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du +daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht +mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht +beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist, und +nicht gleich erklären: ich reise nie mehr." + +Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr +fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß sich +mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der Schwester, +die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war +ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise +antrat. + +Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei +Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein +Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch +schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher gereist +war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch rührte +sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude auf das +Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben zu Lieben +kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer kann sich +reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim reist? + +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes +doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben +können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis +Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran, +aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her +gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war. + +Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als +er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof +eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in +ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen +sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen langen +Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto auftauchen +sah. + +Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof +begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er, +"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an +den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der +Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen, +denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein." + +So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem +Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch +sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges +Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter, +während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus +dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie +sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte, +der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher +Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half. + +Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches Wiedersehen +und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge +hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte zufrieden sein +können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der Mutter frisches, +rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und hätte noch nicht so +schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau Pfäfflings ängstlich +klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die Kinder alle und auch +Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung erhielt, daß sich alle +frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise, da kam aus erleichtertem +Herzen ein dankbares: Gottlob! + +"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von euch +krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer +geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort lautete +ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen +ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte glücklich die Hand +ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder," sagte er lachend, "die +Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf der Reise." So kamen +sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo ganz brav, der +Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten und jetzt der +überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. + +Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der +Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte +Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem +Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in +anderer Richtung. + +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o +Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn +zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines +Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!" + +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber +die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu +ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis sie, +im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um darin die +Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon +auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß soeben zum +Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein Vernagelding, und +daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen gebacken habe. + +Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. +Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen +können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld war. Was +konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfäffling +verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie nicht die +Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein Unglück +geschehen. + +Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf +dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis +erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein +Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort +fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, das +Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr und +stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der +Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: es +ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment sagte +sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie ernst, +wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem Gruß die +Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den +freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht +ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß +mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr." + +Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe +sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern +angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ +ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein +Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah begierig +in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," rief er +freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder nach +Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die Großen +ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie +nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel +verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber +Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, +dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen. + +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun +kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön +gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht." + +Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter +wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet +ist." + +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau +Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung: + + "Von Dank bewegt, o Gott, wir heute + Hier vor dir stehen! + Du schenkest uns die schönste Freude, + Das Wiedersehen. + Nun gehn wir wieder eng verbunden + Durch Lust und Leid, + In guten und in bösen Stunden + Gib uns Geleit!" + +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee +machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu +gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," +sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein +und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er +nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an +den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch das +leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der Dinge +war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe schon +geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte sie, +"aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für möglich +gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das brächte ich ja +gar nicht zustande!" + +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich +gespart; gestohlen ist es, gestohlen!" + +Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die +Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien +festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung +mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf +irgend eine Weise wieder hereingebracht werden. + +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß +derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es +gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus: +"Jetzt, Kinder, den Kaffee!" + + + + +13. Kapitel + +Ein fremdes Element. + + +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten Tag +auch den Kindern mitgeteilt werden. + +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling. + +"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur +gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. +"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch +das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch können +uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet einmal!" + +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne +sein," schlug Karl vor. + +"Richtig geraten. Aber wie?" + +"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen," +meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die +Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in +ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre +blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden. + +"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr +Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn +ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen +etwas anderes." + +"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch +mehr einbringt." + +Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich +will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen: "Ihr +Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer Zimmer an +einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür einnehmen. Ist das +nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die Mutter will alles +Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten hineinstellen und +im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben einrichten; in eurem +Reich da oben redet euch niemand darein; aus den alten Kisten könnt ihr +Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt." + +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, +aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und +betätigten: "Ja, es wird sein!" + +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in +Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in +großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die +Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein +kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt +ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer +ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da +hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das +Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends +kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen +in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr +Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und +wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? +Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein! Ja, +Kinder, da habt ihr es schon besser." + +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der +Kammer erfüllt. + +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis +zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese +wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig +wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon +reichlich genug, wenn zehn Leute den obern Stock bewohnten und +Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie welche gehabt und +geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für die Familie +Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann blieb +bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses +Frau Pfäffling mitteilen. + +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann +sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er +dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er nachher nicht +mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte." + +Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr +Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich +sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs +Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft +den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher +'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre +jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte +er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist: +Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber +_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt +hat." + +Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den +Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling +zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur +zusammen. + +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn +nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge +geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht +plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht +heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt +entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen +ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer und auch +schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig behilflich +sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären wir Ihnen +recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung setzen?" + +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen." Sie +besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu +wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte +Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen. + +Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und +sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und +nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, +wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu +zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren, +daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede +von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das Zimmer +vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen Mittagstisch +haben, kein fremdes Element in den vertrauten Familienkreis aufnehmen. +Aber als auf wiederholte Ankündigung die Rechte sich nicht finden +wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und sagte zu ihrem Mann: "Mir +scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt irgend jemand das Zimmer +mietet, ich muß mich entschließen, auch die Kost zu geben. Aber niemand +begnügt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn +haben." + +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine +anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann +stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat. + +Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften +sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete +Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im +Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel zurückgelegt, +daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren fleißiger Arbeit, +zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie war gesund und +frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich Privatstudien und +Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis jetzt wenig Muße +gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der Kinderreichtum der +Familie Pfäffling, das war für sie ein Anziehungspunkt, denn in der +Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle +bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit +dort ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluß +fände. Mit schwerem Herzen machte ihr Frau Pfäffling das Zugeständnis, +daß sie am Mittagstisch der Familie teilnehmen dürfe. + +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte +seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den +ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da +ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird." + +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für +Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, +wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch +auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war +zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen angezogen +fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn originelle +Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit. Freilich +waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. +Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen Kinder, und +trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies flößten ihnen +die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der ehemaligen +Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und wäre auch +wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das Wort +"ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann +es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie ermahnte +und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu +sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben +machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand bekümmert +hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau Pfäffling war +anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte doch nicht zum +Ganzen. + +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit +in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. +"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu +machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann +hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit +geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die +Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden." + +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört auch +nicht genug für manche Besorgungen." + +"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe," sagte +Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie +möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen." + +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen. + +"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," +sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?" + +"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue +voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen +überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere +Fortschritte." + +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar +keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum +lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in die +Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim, als +es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann die +Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?" + +"Walburg kann nicht alles besorgen." + +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie +vollends ganz taub ist, muß sie doch fort." + +Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte +Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie +wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden, +teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu +ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag +Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend: +"Man muß froh sein, daß man sie hat." + +Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche +Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung im +Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer +mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden. + +"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen," +bemerkte Fräulein Bergmann. + +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen +Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit +vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche." + +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." + +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an +unserem Tisch." + +Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum Nebenzimmer +regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer mit _einem_ +Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling. + +"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen, +das würde sich sehr fein machen." + +"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann ich +mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr bei +reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn +es nur immer zum täglichen Brot reicht." + +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin, und +ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf vieles +verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß, daß Sie +aus fein gebildeter Familie stammen." + +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse +schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein +Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit +gar nichts zu tun." + +Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu +einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Türöffnung +wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus, die Kinder +standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht so recht zum +Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es +sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus," sagte sie, "aber +über kurz oder lang müßten diese doch erneuert werden." + +Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die +Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie +mißliebig an. + +"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du +solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." + +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen +Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu +unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in ihr +Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön +genug sein, so wie sie sind." + +Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und +sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten +hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller +gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller. + +"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die +Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fräulein +Bergmann fragend an Frau Pfäffling. + +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller +mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein Geschäft." + +"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das +Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit." + +Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen, +was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, +müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen." + +"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu +sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich +werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr." + +"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr +Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles +ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich +noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird man +sie überall gern sehen." + +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte +gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit verlief +in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog sich +Fräulein Bergmann zurück. + +"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern +zu. + +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt +sie sich ein!" + +"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!" + +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt +und haltet gar nicht zur Mutter!" + +Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr +Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," +sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird sich +jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und +mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine Sache +nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu erfahren, wie +andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der Welt gesehen als +ich." + +Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die beiden +Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein Bergmann +machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen. + +"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man +keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf +diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht +nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem +ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren." + +Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen: + +"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger +Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine." + +"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar +nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner +veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle +selbst, daß ich unausstehlich bin." + +Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß +Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr +Kritik und Einmischung gestattete. + +Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte sich +kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurück und +brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fräulein +Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst +verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch +sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben. + +"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März, +"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben +ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen. Aber +dieses Jahr ist es so kalt." + +"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein, +schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen +Familienkreis. + +Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr +Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen +lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. + +"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein +feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus +vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben Sie +eigentlich?" + +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man +leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es +nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein +Gebet gedankenlos gesprochen wird." + +"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche +Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war +es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau +liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft, +"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den +Inhalt nicht zu horchen." + +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend ihre +Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht schlimm +gemeint!" + +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling begütigend. +Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber +nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. +"Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist +die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie im Hause. So etwas +kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. +Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin." + +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch +leid für sie, wie soll ich denn das machen?" + +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kränken. +Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinüber und +mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" + +"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April +mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während sie +ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung schonend +begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die Rücksicht auf +ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch vorgehen. + +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein +Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem +Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen," sagte +das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen +hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen sagen, daß +ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich heute mittag +erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den vielen Jahren, +die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß ich unleidlich +bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, bitte, lesen +Sie!" + +Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele +Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit +war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt +hervorgehoben. + +Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die +Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann +wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre. + +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und +das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. +Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn +er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch +sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, +und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes +Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem +Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und +das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen unberufen +eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen einen Rat +geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und zwar eine +solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" + +Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt, +"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie +mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur +schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen +Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine +verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt." + +"Ist sie wohl schon besetzt?" + +"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später +erfolgen." + +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" + +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich +keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?" + +"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen." + +Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen, +elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. + +"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, +"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; +warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?" + +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. +Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten. Das letzte +gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich unten, im +Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau Pfäffling war mit +der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt, diese saß allein noch +mit Herrn Pfäffling am Eßtisch. + +"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein Bergmann, +"dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in Ihr Haus. +Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen +möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. +Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." +Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, +machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist ja sehr viel wert, wenn sie +nicht bloß aus schlechter Laune entspringt. Solange Sie _alles_ +tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir in friedlicher +Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr Urteil viel geben. +Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein bei uns--" + +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies +wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen +war." + +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie +mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen, +unseren Gewohnheiten?" + +Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht +aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig +spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur +_eines_." + +"Und zwar?" + +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie +jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." + +Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. + +"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie +es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter +Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen +Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck +stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig +dabei." + +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich alle +Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich +werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu +solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darüber--und +nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf. + +Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer. + +Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an +Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. + +"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage +ihn _gern_ fort." + +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein +Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert +und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie +nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand +unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die würde +sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern +finden. + +Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit +zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus, als +Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere +abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die Türe +kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen Stoff gut +verwenden!" + +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten lustig +darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das +offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die nach +den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder +herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst +herauf!" + +"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den +schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch +schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben." +Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell +rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich +schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts +gesehen und eilte davon. + +"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr +Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb +unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten können +bis morgen." + +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald +sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann kam +nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling +kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen," +berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch +einmal ein schönes Tischgebet schicken!'" + +Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, +"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu +gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders +frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken! + + + + +14. Kapitel + +Wir nehmen Abschied. + + +Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, +und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der +Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen +lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts mit +sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen, innig +geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den seltenen Gast. +Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten Kindheit eine +schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen waren und durch +schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. + +Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt +worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch, +auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen +Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen +Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder höchstens zwei +Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des Elternhauses +entfremdet würde. + +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während +desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen +zeigen. + +In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. +Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht +besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, +schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht +Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich +gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als +die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der +andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis +hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon +manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch +zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die +Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wußte +er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine +Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und war +zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht, nach +ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast du noch +etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. + +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind +wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so +vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig, +aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte sonst +gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal in der +Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, +zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten sich die +Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, im +Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. Und +übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder vergnügt +und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern +begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust sämtliche +Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten. + +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie +Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die +geheimnisvollen Ziffern zu deuten. + +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen +Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a +plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen +Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es +wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie +sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag +Mathematikstunden!" + +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten +sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug +gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte. + +Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in +Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm +wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine +mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein +gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe, +die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die +brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht +dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob +sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater hätte +es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine +Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf an. + +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir +nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes +Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete +er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben." + +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören +kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht, +Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst du +nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte +nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde +geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie nach +Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als schon +nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und die +Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf den +Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter unserem +Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet +hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und +sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor +den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich +schämen!" + +"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim +Geigen nicht." + +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann +mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir +Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage +es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige +geben." + +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank +deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zärtlichem +Ton: "Da innen ist sie!" + +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen +Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; +Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange plaudern +mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt." + +Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei +plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur +Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte +solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die +Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß +Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen, +blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er +leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der +Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. + +"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner +Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." + +"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht +wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute +Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das +gibt zwei süße Brautfräulein!" + +"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die +Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner +Frau sprechen."-- + +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte. +Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und +zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren +des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit Kohleneimern +und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die Frühlingssonne durfte die +hintersten Winkel bestrahlen, Walburg brauchte die Prüfung nicht zu +fürchten, alles war blank und rein. Eine mühevolle Zeit war das gewesen, +aber nun war sie glücklich überstanden, Feststimmung breitete sich schon +über das Haus und heute sollte der Gast ankommen. + +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," +sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, +Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in +der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel beglückender +sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben. + +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle +miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, +er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich verteilen und +nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein Gedränge gäbe. + +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und +sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten +auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen +Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur nicht so +schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er eine voll +gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen besonders +hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden sein, denn der +Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar den Hut als +Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen doch +entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht +so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe verschwanden vom +Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist +frisch geölt," rief Marie, "geht an der Seite, daß sie in der Mitte +schön bleibt!" + +Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die +Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war, +in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten sie +ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen +seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich. + +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen +den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den +Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen +Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der +Mutter. + +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." + +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück. +"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?" + +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine +stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die +ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr +habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen +Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme +Dienerin? Wie schade um das Mädchen!" + +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, +"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser +werden." + +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal +ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel +gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du nicht, +welches ich meine?" + +Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es: + + In größerem Kreise stehen wir heute + Am Gutes verheißenden festlichen Tisch. + Aber die richtige fröhliche Stimmung + Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben. + Nahe dich freundlich jedem von uns. + +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine +Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich +alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, +"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, +bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie +machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit +Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der +Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei +Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig +verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm, +der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen, +sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam. + +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch nicht +immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger aus +der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner +Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch +weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?" +fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen, Frieder," +sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten sich auch +diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling setzte sich ein +wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist rührend," +sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so selbstverständlich +zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne Widerspruch das Spiel +aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?" + +"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die +Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig +werden, so helfen sie mit." + +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und +ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger +hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie +ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und +widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt +entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in +Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so +leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister. +Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in +ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." + +Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was +kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des +Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer +Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht hören +sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich nichts +anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich behalten. +Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am Balkenplatz +zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie vertraute ihnen an, +was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand dicht zusammengedrängt +und besprach in lebhafter Erregung die Möglichkeit, fortzukommen. +Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer ungern? +Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel wählen? Ein jedes meinte: +"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, +der doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiß +will er _mich_ mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht +fort, für ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, +er fürchtete die fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will +er mitnehmen, so glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das +fremde Kind gewesen, vor die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher +war er ein wenig allein gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, +daß er fort von ihnen sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die +seelenvollen Augen, die angsterfüllt von einem zum andern blickten, und +da wurden sich alle bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen +mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle +geben wir nicht her!" + +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit +Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah +hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er, +"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen schieben! +Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!" + +"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen." + +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue +Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im +Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich +nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest +herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir +doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann +nirgends besser gedeihen als daheim!" + +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind oft +unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" + +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch nicht. +Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut +ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist." + +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte Frau +Pfäffling. + +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von +Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen +Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er +neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei +meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch +die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren +einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen +lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern." + +Es blieb bei dieser Verabredung. + +Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war +von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten +plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten +herauf. + +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr +auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von +euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für +ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich +tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut +habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr +lacht? Es ist mein Ernst." + +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja +wissen. + +Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du +denn mitgenommen?" fragte sie. + +"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und +deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt! + +Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie +stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es wieder +für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen +mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem Ohr einen +Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder schließen, +hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts besonderes, es +brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang. + +Aber jetzt? + +Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie +wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da +stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: + +"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht +fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es +selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem +gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer +Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine +Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu +warten! + +Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern +herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie +die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und +immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!" + +Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern +widerstrahlte. + +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er +mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war. + +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch +sagen!" + +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem +Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. + +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling. + +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" + +Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst +du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten +darin aufhören, ich habe es probiert." + +"Wie hast du das probiert, Frieder?" + +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den +Pfannenkuchen. Die andern wissen es." + +"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine +Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling +schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich, +"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies +Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine +Violine, kleiner Direktorssohn!" + +Ja, das war ein seliger Tag! + +Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die +Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so +fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, +sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr +Direktor will auch deinen Lohn erhöhen." + +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder +allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die fleißigen +Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" + +Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch +Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen +zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang +herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann +übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim: + + "Drum rufen wir mit frohem Sinn: + Es lebe die Direktorin!" + +Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe +im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte +er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und +befestigte an der Haustüre die Aufschrift: + + _Wohnung zu vermieten_. + +Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf +die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb mir +die Familie Pfäffling war!" + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFäFFLING*** + + +******* This file should be named 10917-8.txt or 10917-8.zip ******* + + +This and all associated files of various formats will be found in: +https://www.gutenberg.org/1/0/9/1/10917 + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + + + + +Title: Die Familie Pfaeffling + +Author: Agnes Sapper + +Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917] + +Language: German + +Character set encoding: US-ASCII + + +***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING*** + + +E-text prepared by Olaf Voss, Michael Wymann-Boeni, and Project Gutenberg +Distributed Proofreaders + + + +Die Familie Pfaeffling + +Eine deutsche Wintergeschichte + +von + +Agnes Sapper + +1909 + + + + + + +Meiner lieben Mutter + +zum Eintritt in das 80. Lebensjahr. + + +Die Familie Pfaeffling muss *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was +ich in diesem Buche zeigen moechte, das ist Deine eigene +Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen gefuehrt, welcher Segen die +Menschen durchs Leben begleitet, die im grossen Geschwisterkreis und in +einfachen Verhaeltnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluss von Eltern, +die mit Gottvertrauen und froehlichem Humor zu entbehren verstanden, was +ihnen versagt war. + +Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die +Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du +die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, +anspruchsloser Gesinnung ertraegst so ist das nach deinem eigenen +Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer +entbehrungsreichen und dennoch glueckseligen Jugendzeit. + +Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte +moechte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorfuehren. + +Herbst 1906. + +Die Verfasserin. + + * * * * * + + +Inhalt + + +1 Wir schliessen Bekanntschaft +2 Herr Direktor +3 Der Leonidenschwarm +4 Adventszeit +5 Schnee am unrechten Platz +6 Am kuerzesten Tag +7 Immer noch nicht Weihnachten +8 Endlich Weihnachten +9 Bei grimmiger Kaelte +10 Ein Kuenstlerkonzert +11 Geld- und Geigennot +12 Ein Haus ohne Mutter +13 Ein fremdes Element +14 Wir nehmen Abschied + + + + + +1. Kapitel + +Wir schliessen Bekanntschaft. + + +Ihr wollt die Familie Pfaeffling kennen lernen? Da muss ich euch weit +hinausfuehren bis ans Ende einer groesseren sueddeutschen Stadt, hinaus in +die aeussere Fruehlingsstrasse. Wir kommen ganz nahe an die +Infanteriekaserne, sehen den umzaeunten Kasernenhof und Exerzierplatz. +Aber vor diesem, etwas zurueck von der Strasse, steht noch ein letztes +Haus und dieses geht uns an. Es gehoert dem Schreiner Hartwig, bei dem +der Musiklehrer Pfaeffling mit seiner grossen Familie in Miete wohnt. + +Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz +fuer Balken und Bretter, auf denen Knaben und Maedchen froehlich +herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfaefflinge, +die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der +eine Kleine, den man taeglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei +die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder +Pfaeffling. + +Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist uebrigens der Hof +verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den +langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer +Pfaeffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, +war schon fruehzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der +Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen +sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Buecher und Hefte +zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange +Fruehlingsstrasse mussten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich +die Wege; die drei aeltesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte +Gymnasiumsgebaeude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas naeher in +die Toechterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, haette +sein Ziel am schnellsten erreichen koennen, aber das kleine runde +Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu +lassen als die andern. + +Im Hause Pfaeffling war nach dem lauten Abgang der sieben +Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch +die Mutter zurueck, und Elschen, das juengste niedliche Toechterchen, sowie +die treue Walburg, die in der Kueche wirtschaftete. Frau Pfaeffling atmete +auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das fuer ein Sturm gewesen, bis der +letzte die Tuere hinter sich zugemacht hatte, und was fuer eine Unruhe all +die Ferienwochen hindurch! Waehrend sie ordnend und raeumend von einem +Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtaeglich zu Mute. Sie war von +Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken, +aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen grossen Familienkreis +gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende, +musizierende Menschen um sie herum. Waehrend nun die Mutter sich der Ruhe +freute, wusste Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen +hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die grossen +Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geaergert, wenn +sie aengstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, dass die +Brueder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte. +Jetzt hatte sie alle die Baumstaemme allein zu ihrer Verfuegung, aber nun +machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die +uebereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett +querueberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der +Ziehharmonika sass. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, +war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die +Harmonika sei eine alte Kroete. Aber jetzt, wo es ueberall ganz still war, +haette sie auch die Harmonika gern gehoert. Sie setzte sich auf Frieders +Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen--fast zum +weinen! + +Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: +"Elschen, flink, Essig holen!" + +Einen Augenblick spaeter wanderte auch Else die Fruehlingsstrasse hinunter, +zwar nicht mit den Buechern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum +naechsten Kaufmann. + +Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. +Es waren schon aeltere Leute und er hatte das Geschaeft abgegeben. Sie war +eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute +Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfaefflinge nacheinander +die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: +"Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo +Pfaefflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden, +dass mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird." +"Verwehr's ihnen, dass sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der +Hausherr. + +"Ich will gar nicht behaupten, dass sie poltern, sie sind ja +ruecksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert +ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie muessen immer +springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die +abgetretenen Stellen." + +"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewoehnen, springt +doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewusst, +was es um so eine neunkoepfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges +Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und +jetzt haben wir sie, und zu kuendigen braechtest du doch nicht uebers +Herz." + +"Nein, nie! Aber du auch nicht." + +"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, dass er Bretter fuer neue +Boeden bereit haelt," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand +bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch ueber die +Stufen, aber sie blieben doch abgetreten. + +Die Vormittagsstunden waren endlich voruebergegangen, die kleine +vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Strasse hinunter und +erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das +Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Maedchengestalten auf, das waren +die Zwillingsschwestern, die elfjaehrigen, Marie und Anna, die der +Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch +Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe +ich auch, aber sie stehen bei andern Maedchen und machen gar nicht voran. +Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Grossen, jetzt muss ich +entgegen laufen." + +Die Schwestern hatten sich den Bruedern zugesellt und so kamen sie alle +zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnuegen +entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu +hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Haenden +gefasst und alle draengten der Treppe zu, als die Tuere der untern Wohnung +aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brueder ihre Muetzen, +denn die Ruecksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht +gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem +Bewusstsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. + +So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet +ein wenig, Kinder, ich muss euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe +an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr +war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?" + +Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Koepfe. "Das habt ihr getan," fuhr +die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal +auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr +mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle +betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen +diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau musste es ja wissen! In diesem +kritischen Moment kam Karl, dem grossen, der Mutter Hauptregel ins +Gedaechtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir +leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erloesende Wort: +"Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der grosse, an, langsam und +behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und +Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhoerbar Marie und Anna mit +Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb +den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen koennen, der verweilte +noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich +zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an +den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das +nicht denken? In der Mitte geht man wohl am oeftesten." + +"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und +indem er dicht am Gelaender hinaufstieg, rief er noch freundlich +herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schoen geschont?" "Ja, so ist's +recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung +zurueckkehrte, sprach sie so fuer sich hin: den guten Willen haben sie, +was kann man mehr verlangen? + +Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn +ins Zimmer und rief vergnuegt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" + +Den Esstisch hatte Frau Pfaeffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin +und hergelaufen und hatte ihr erzaehlt, was Neues von der Musikschule zu +berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so oefter lief ihm +eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen +grossen Haenden, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es +schnell ein Schieben und Stuhlruecken und einen Augenblick lautloser +Stille, waehrend die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage +dasselbe, sie wusste viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die +Kinder, welches sie gerne hoerten und richtete sich darnach. Heute sprach +sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du goennst uns die +Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." + +Das Essen, das die grosse Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, +aber das Tischgespraech wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie +kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des +Wintersemesters. + +"Wir muessen jetzt ein Physikbuch haben." + +"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf +ich nimmer mitbringen." + +"Zum Naehtuch brauchen wir ein Stueck feine neue Leinwand." + +"Bis Donnerstag muessen wir richtige Turnanzuege haben." + +"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." + +"Mein Reisszeug sei ganz ungenuegend." + +So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, +umdraengten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der +kleine Volksschueler, hatte keine derartigen Wuensche, er nahm seine +Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den +Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich +noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten. + +Herr Pfaeffling suchte sich dem Draengen seiner Grossen zu entziehen, indem +er hinueberfluechtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer +war. Dort wartete ein Stoss neuer Musikalien auf ihn, die er pruefen +sollte. Aber es waehrte nicht lang, so folgten ihm seine drei +Lateinschueler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor +und suchte zu beweisen, dass es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte +der Vater, "aber alles auf einmal koennen wir nicht anschaffen, ihr muesst +eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so +viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder +Stundenschueler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr +Atlas, Reisszeug und die neuesten Ausgaben der Schulbuecher bekommen, aber +jetzt reicht es nur fuer das dringendste." Herr Pfaeffling zog eine kleine +Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut +selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht +viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und +miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Fuer Marianne muss +auch noch etwas uebrig bleiben," bemerkte der eine der Brueder, "bei ihr +gibt es sonst gleich wieder Traenen. Leinwand zu einem Naehtuch wollen +sie, ob das wohl recht viel kostet?" + +So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab +und waren froh, dass das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. +Es blieb kein grosser Rest mehr in der kleinen Schublade. + +Als kurze Zeit darauf die Lateinschueler und die Toechterschuelerinnen sich +wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfaeffling zu ihrem Mann +in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen +sassen. + +"Sieh nur, Caecilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist +hoechste Zeit, dass wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue +Schueler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt +so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein koennten wir nicht +leben." + +"Es werden gewiss welche kommen," sagte Frau Pfaeffling, aber sehr +zuversichtlich klang es nicht und eines wusste von dem andern, dass es +sorgliche Gedanken im Herzen bewegte. + +In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der +wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfaeffling trat ans offene Fenster +und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist +doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag +keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben +hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie +sahen sich nur bestuerzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern +herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug. + +"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfaeffling, "daran +ist wieder nur das verwuenschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die +Treppe heraufkam--ohne jegliche Ruecksicht auf abgetretene +Stufen--streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die +geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und +vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darueber vergisst!" + +Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern +schon fort? Ist's schon arg spaet?" fragte er, waehrend er ins Zimmer +lief, um seine Buecher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd +vor Aufregung dabei, waehrend er seine Hefte zusammenpackte, rief immer +verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Muetze +hin, bis er endlich ohne Gruss davoneilte. Auf halber Treppe blieb er +aber noch einmal stehen und rief klaeglich herauf: "Mutter, was soll ich +denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm +nach. So rannte er die Fruehlingsstrasse hinunter und rief in seiner Angst +immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Voruebergehenden sahen +ihm mitleidig laechelnd nach--es war leicht zu erraten, was dem kleinen +Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die +Ecke der Fruehlingsstrasse bog. + +Herr Pfaeffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in +seinen Schrank schloss. "Redlich abgenuetzt ist sie," sagte er sich, "sie +wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in +Versuchung fuehren. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten +zwei Jahren, an dem er sie nicht benuetzt hat. Er ist ein kleiner +Kuenstler auf dem Instrument, aber er weiss es nicht und das ist gut und +von den Geschwistern hoert er auch keine Schmeicheleien, sie aergern sich +ja nur ueber den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich haette auch nur +_einen_ Schueler, der so begabt waere wie Frieder! Aber dass er seine +Schule ueber der Musik versaeumt oder ganz vergisst wie heute, das ist doch +ein starkes Stueck am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun +wurde die Harmonika eingeschlossen. + +War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als +letzter heraus. Die Geschwister daheim hoerten von der kleinen Schwester, +was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen +sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, +und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafuer, dass es glimpflich abgehen +wuerde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht +und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Juengste heimkam und +ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, +zum Teil auch ein wenig spoettisch an. Aber das Spoettische verging ihnen +bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so klaeglich verweint aus! +Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht +recht herausruecken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer +und das war in Erinnerung an sein zuernendes Gesicht und die weggenommene +Harmonika nicht aufmunternd fuer Frieder. Aber Herr Pfaeffling ging ans +Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar +nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder +herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Muetterliches gegen die +Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzaehlte denn Frieder, dass der +Lehrer ihm zuerst nur gewinkt haette, sich auf seinen Platz zu setzen, +aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen muessen, ja und dann--dann +stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen +seine Haende in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. +"Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der +grosse. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzaehlte +Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule +vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen +und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hoerte auf +einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um +und sagte: "Der war ein Luegner und das ist der Frieder nicht. Geh her, +du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel +gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine +Harmonika wieder, aber--" + +Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, +denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfaeffling und +sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im +Buegelzimmer das Klingeln gehoert und ihr seid vornen und achtet nicht +darauf!" Schuldbewusst liefen die der Tuere am naechsten Stehenden hinaus +und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkuendend: +"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fraeulein ist +da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun +fortgegangen waeren!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. + +"Manchmal ist's recht unbequem, dass Walburg taub ist," meinte Anne und +Else fuegte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmaedchen, die hoeren ganz gut, +die hoeren sogar das Klingeln, wenn wir so eine haetten!" "Seid ihr ganz +zufrieden, dass wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfaeffling, +"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, koennten wir gar keine nehmen, +sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist traurig, +zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muss sie sich mit halbem +Lohn begnuegen. Wenn ich koennte, wuerde ich ihr den doppelten geben." +Unvermutet ging die Tuere auf und die, von der man gesprochen hatte, trat +ein. Unwillkuerlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie +bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das grosse Brett voll +geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Kueche hereintrug. Walburg +war eine ungewoehnlich grosse, kraeftige Gestalt und ihr Gesicht hatte +einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie +aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden +Schwerhoerigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie +dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfaeffling +ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen +hoerte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewoehnt. So tat sie +stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wusste viel von dem, +was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der +Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfaefflinge wach geworden +und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den +Bestecken, um sie einzuraeumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, +und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt ueber die +ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte +Frau Pfaeffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann--" +"Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl. + +Unser Musiklehrer kam vergnuegt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter +Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als +Schuelerin angetragen. Zwei Stunden woechentlich in unserem Haus. Das +Fraeulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als +sei es noch ein dummes Gaenschen, aber ein freundliches, es lacht immer, +wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama +nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog +auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zaehlte das Geld auf den +Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt +man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich, +das Fraeulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da +ist das Geld, wirst's noetig haben," schloss Herr Pfaeffling seinen Bericht +und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drueckten sich an die +Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen +Kleid durch die Fruehlingsstrasse rauschte, begleitet von der Tochter, die +mehr noch ein Kind als ein Fraeulein zu sein schien. "Hat je eines von +euch schon diesen Namen gehoert?" fragte Herr Pfaeffling und hielt ihnen +die Visitenkarte der Dame hin. Sie schuettelten alle verneinend, der Name +war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere +Vernagelding_. + + + + +2. Kapitel + +Herr Direktor? + + +November! Du duesterer, nebeliger, nasskalter Monat, wer kann dich leiden? +Ich glaube, unter allen zwoelfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst +den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch +nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmaessigen Arbeit. + +Was wurde allein in der Familie Pfaeffling gearbeitet an dem grossen Tisch +unter der Haengelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Bruedern +schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte +franzoesisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte +nach geistreichen Gedanken fuer den Aufsatz, der andere blaetterte im +Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwoertern, der vierte +kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal +geplaudert und gefragt, gestossen und aufbegehrt, auch gehustet und +gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter sass mit dem +Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschaeftigen +sollte, was aber nicht immer gelang. + +Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, sassen selten dabei. Sie hatten +ein Schlafzimmer fuer sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie +ungestoert ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der +Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wussten +sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rueckten +sie ihre Stuehle dicht zusammen, wickelten einen grossen alten Schal um +sich und waermten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine +Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es waere ihnen +auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber +im Vorplatz auf dem Schraenkchen stand eine Ganglampe. Sie musste immer +brennen wegen der Stundenschueler, die den langen Gang hinunter gehen +mussten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfaeffling seine Stunden gab. +Hatte aber ein Schueler den Weg gefunden und hinter sich die Tuere des +Musikzimmers geschlossen, so konnten die Maedchen wohl auf eine Stunde +die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und +manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es ueber den Gang ging und +begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kuehl. Schlimmer +war's, wenn sie etwa ueberhoerten, dass die Musikstunde vorbei war und die +Schueler im Finstern tappen mussten. Dann erschraken sie sehr, stuerzten +eilig hinaus, um zum Schluss noch zu leuchten, entschuldigten sich und +waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte. + +Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fraeulein Vernagelding +hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hoerten die Maedchen +das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. +Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hoerten den Vater +noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heisst denn diese Note?" + +"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen +wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfaeffling sagte nur noch etwas rasch zu +seiner Schuelerin: "Ich glaube, es ist genug fuer heute, besinnen Sie sich +daheim, wie diese Note heisst," und gleich darauf kam Fraeulein +Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere +haette ihren Rueckweg im Dunkeln gesucht, aber das Fraeulein gehoerte nicht +zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an +und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfaeffling, mir +graut so vor dem langen dunkeln Gang, wuerden Sie nicht Licht machen?" + +Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner aengstlichen +Schuelerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die +Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in +Gegenwart von Fraeulein Vernagelding gezankt, so dass dieser ganz das +Lachen verging und sie so schnell wie moeglich durch die Treppentuere +verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer musste also mit mancher +Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen. + +So lernten denn die jungen Pfaefflinge an den langen Winterabenden, der +eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in +der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben +schlechte Zeugnisse nach Hause. + +An einem solchen Novemberabend war es, dass Herr Pfaeffling in das Zimmer +trat und seiner Frau zurief: "Caecilie, komme doch einen Augenblick zu +mir herueber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Tuere +zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie +folgte ihm ueber den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie +beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag +auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, +lies nur!" und als er sah, dass sie mit der fremden Handschrift fuer seine +Ungeduld nicht schnell genug vorwaerts kam, sprach er: "Die erste Seite +ist nebensaechlich, die Hauptsache ist eben: Kraussold aus Marstadt +schreibt, es solle dort eine Musikschule gegruendet werden, und er wolle +mich, wenn ich Lust haette, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust haette, +Caecilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust haette, in einer +groesseren aufbluehenden Stadt eine Musikschule zu gruenden, alles nach +meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor +zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und aehnlichen zu plagen; +Caecilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit +froehlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust haette? Wie kann man +nur so fragen!" + +Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und +besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eroeffnete. +Und sprachen so lang, bis Elschen heruebergesprungen kam und rief: +"Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln +kalt!" + +"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfaeffling neckend, +folgte Mutter und Toechterchen und war den ganzen Abend voll +Froehlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, +und die glueckliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller +Uebereinkunft die Eltern zunaechst vor den Kindern noch nichts von dem +unsicheren Zukunftsplan erwaehnten. + +Herr Kraussold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung +hervorgebracht hatte, war Herrn Pfaeffling aus frueheren Jahren gut +bekannt, doch hatte er die Familie Pfaeffling noch nie besucht. Bei +diesem Anlass nun kuendigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit +auf den naechsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen +und mit dem fuenf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfaeffling war in einiger +Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwoehnter Herr," sagte er +zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn fuer Kinder hat, am +wenigsten fuer sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund +treten." + +"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stoeren die Kinder +nicht," sagte Frau Pfaeffling. + +"Aber zum Tee moechte ich ihn herueber ins Esszimmer bringen. Die Kinder +koennen ja irgendwo anders sein, dann richtest du fuer uns drei einen +gemuetlichen Teetisch." + +Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, dass sie an diesem +Nachmittag moeglichst unhoerbar und unsichtbar sein sollten wegen des +erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater +zu den Kleinen: "Lasst euch nur nicht blicken, wer weiss, wie es euch +sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!" + +Zunaechst mussten alle zusammen helfen, die schoenste Ordnung herzustellen, +bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein kaeme. Das Wetter war +leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten. + +Am Fenster stand immer einer der Brueder als Posten und als nun der Vater +in der Fruehlingsstrasse in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn +auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und +verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit +dem zaeh an den Fusssohlen haftenden Lehm liess sich nicht gut auf den +Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und +weinte klaeglich, denn sie sah uebel aus. Die Schwestern bemuehten sich, +mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu saeubern. Da tat sich ein +Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht +das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur +herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber +hinauf!" + +"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen klaeglich. + +"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch +ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Fuesse +gut ab." + +Die Maedchen liessen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wusste nicht +recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den +Bruedern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch +lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die +Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die +Tuere hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra fuer seine +kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die +Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den +Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choraele eingeuebt, die wollte er +auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und +hatte kein Verlangen mehr nach den Bruedern, obwohl er sie von seinem +hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der +den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im +Oktober waren neue Rekruten eingerueckt, die nun taeglich ihre Turnuebungen +ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter +Bekannter, ein frueherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich +ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in +Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von +grossem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte +freundschaftlich mit Karl. + +Aufmerksam sahen die jungen Pfaefflinge nach dem Turnplatz hinueber. Unter +den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung ueber ein +gespanntes Seil ueben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu +anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen +Anlauf, um ueber die Schnur zu kommen und wenn es ihm fuenfmal misslungen +war, so kam er doch das sechste mal darueber und der Schweiss redlicher +Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten +machten gleichgueltige, stoerrische Gesichter und traege Bewegungen. Als +die Abteilung zur Kaserne zurueck kommandiert wurde, mussten sie +nachexerzieren. Das war nun kein schoener Anblick. Dazu fing es an zu +regnen, grosse waesserige Schneeflocken mischten sich darunter, und die +kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespraech ueber die +unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie +wollten all diese Uebungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, +zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an +Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, dass Schnee und Regen herunter +fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die +Brueder ueber ihn. Er wuerde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. +Welche Schande, wenn ein Pfaeffling so schlecht auf dem Turnplatz +bestuende. Es durfte nicht sein, dass er immer nur Harmonika spielte, sie +wollten ihn auch springen lehren, er musste mittun, gleich morgen. Er +sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: +drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten! + +Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben +die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Maedchen, +die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, dass sie +erkundigen sollten, wie es oben stuende. Marie wagte sich hinauf, +erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise +nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte +sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor. + +"Er ist im Wohnzimmer," fluesterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, +da hoert man uns nicht." + +Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das +Eckzimmer. Dort fuehlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was +sie gerne gehabt haetten, von Buechern und Heften oder Spielen hier nichts +zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in +dem kuehlen Zimmer zu frieren, denn sie waren nass und durchkaeltet. "Wir +wollen miteinander ringen, dass es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und +Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen +Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du +Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stuehle aus dem +Weg." Sie taten es und dann machten sie es den grossen Geschwistern nach. +Das gab ein Gelaechter und Gekreisch und aber auch einen grossen Plumps, +weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen. + +In diesem Augenblick ging die Tuere auf; Herr Pfaeffling hatte ahnungslos +seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie +miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch fuer einen Kinderfreund waere +dieser Knaeuel sich balgender Knaben und ringender Maedchen kein schoener +Anblick gewesen, und nun erst fuer den Kinder_feind_! + +Er prallte ordentlich zurueck. Elschen schrie beim Anblick des +gefuerchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen +Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Tuere +besann sich Karl, kehrte zurueck, gruesste und sagte: "Entschuldige, Vater, +wir wollten drueben nicht stoeren, deshalb sind wir alle hier gewesen," +dann stellte er rasch die Stuehle an ihren Platz und rettete dadurch noch +einigermassen die Ehre der Pfaefflinge, die sich wohl noch nie so +unguenstig praesentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenueber. + +Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfaeffling zur +Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem grossen Tisch im +Wohnzimmer und sassen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch +war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und +was er sagen wuerde bei seiner Rueckkehr von der Bahn; die Mutter war ja +nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen. + +Nun kam der Vater heim. Eine merkwuerdige Stille herrschte im Zimmer, als +er ueber die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und +betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie +nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige +Laemmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drueben!" Bei +diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, +sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit +weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schoen da, wo er hin gehoert?" + +"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er kaeme +oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfaeffling hinzu, indem er sich +an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Muehe mehr, unser +Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in kuenstliches Licht zu +stellen, denn so ein kuenstliches Licht verloescht doch ploetzlich und dann +ist die Dunkelheit um so groesser." + +Ein paar Stunden spaeter, als Elschen laengst schlief, die Schwestern Gute +Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten +Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, sass Karl noch allein mit den Eltern +am Tisch. Seit seinem fuenfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es +wurde allmaehlich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewuenscht; +manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute +Nacht". + +Die drei, die nun noch am Tische sassen, waren ganz schweigsam und +bewegten doch ungefaehr denselben Gedanken. + +Herr Pfaeffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, dass ich mit +meiner Frau von Marstadt reden koennte. Die Kinder sollen ja noch nichts +davon wissen. Er zog seine Taschenuhr--es war noch nicht spaet. Dann ging +er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. + +Frau Pfaeffling dachte: Meinem Mann ist es laestig, dass wir nicht allein +sind, aber er moechte Karl doch nicht so frueh zu Bett schicken. Nein, +diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und +nicht ahnt, dass er stoert. + +Darin taeuschte sich aber Frau Pfaeffling, denn Karl dachte: Der Vater +schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Tuere hinausginge, wuerden +sie reden, ueber Herrn Kraussold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine +besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fuenf Minuten +seine Uhr. Er moechte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und +die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, dass ich freiwillig gehe. Er +klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute +Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." + +"Gute Nacht, Karl." + +Sie waren ueberrascht, dass er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte +Herr Pfaeffling. "Oder hat er gemerkt, dass er uns stoert," meinte die +Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und +er hat gelesen." + +"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfaeffling +laechelnd. + +"Das muss ich noch erfahren," sagte Herr Pfaeffling lebhaft und rief +seinen Jungen noch einmal zurueck: "Sage offen, warum du so bald zu Bett +gehst?" Einen Augenblick zoegerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: +"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater." + +"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, dass +du Takt hast--uebrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier +bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir +besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfaeffling, "er wird nun +bald sechzehn Jahre. Komm, Grosser, setze dich noch einmal zu uns." + +Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fuehlte er sich wie ein +Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde +erfuhr er, was seine Eltern gegenwaertig freudig bewegte. + +Als er sich aber eine Stunde spaeter leise neben seine Brueder zu Bette +legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen +koennte, das Vertrauen der Eltern zu taeuschen, und er fuehlte, dass keine +Lockung noch Drohung stark genug waere, ihm das anvertraute Geheimnis zu +entreissen. + +In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach +Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die ueber die Ernennung +des Direktors fuer die neu zu gruendende Musikschule zu entscheiden +hatten. Es kam noch ein anderer, juengerer Mann aus Marstadt fuer die +Stelle in Betracht, und nun musste sich's zeigen, ob Herr Pfaeffling +wirklich, wie sein Freund Kraussold meinte, die besseren Aussichten habe. +Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfaeffling immer +kleinmuetiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, waehlen, statt +dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich +seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen +Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen wuerden! + +In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein +Freund Kraussold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs +seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ Munde +lautete das Urteil ueber seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum +Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes ueber die +Strasse ging, sah er selbst den Juengling, der sein Mitbewerber war, und +von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann fuer solch eine Stelle, +der sollte nur noch zehn Jahre warten! + +In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am +Bahnhof von Marstadt bot ein Maedchen Blumen an. In seiner +hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz +unerhoerten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraussold sah ihn gross +an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?" + +"Fuer die zukuenftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfaeffling froehlich, +und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: +"Weisst du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren +knappen Verhaeltnissen." + +Sie verabschiedeten sich und Kraussold versprach, am naechsten Donnerstag +gleich nach Schluss der Sitzung ihm den Entscheid ueber die Besetzung der +Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfaeffling seiner +Frau die Rose reichte, wusste sie alles, auch ohne Worte: seine +glueckselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, dass er auch ihr ein +schoeneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhoert +verschwenderischen Gabe einer Rose im November! + +Die Sache blieb nicht laenger Geheimnis. Herr Pfaeffling besprach sie mit +seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt ueber die +geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch +die Kinder hoerten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde +es ins Ohr gerufen. + +Je naeher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den +Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraussold ein, der keinen +Zweifel mehr darueber liess, dass Pfaeffling einstimmig gewaehlt wuerde. + +Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als +Herr Pfaeffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu +Tisch wie gewoehnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen +duerfte, wenn der Telegraphenbote klingeln wuerde. Die Mutter hatte das +aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Loeffel aus der Hand und +sagte: "Er kommt." Einen Augenblick spaeter klingelte es, und von den +dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem +Vater, der rasch den Umschlag zerriss. Es war ein langes, ein bedenklich +langes Telegramm. Es besagte, dass noch in der letzten Stunde der +Beschluss, im naechsten Jahre schon eine Musikschule zu gruenden, +umgestossen worden sei und man eines guenstigen Bauplatzes wegen noch ein +paar Jahre warten wolle! + +Herrn Pfaeffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Fuessen +weggezogen haette, als er las, dass die ganze Musikschule, die er +dirigieren wollte, wie ein Luftschloss zusammenbrach. + +O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestuerzt sahen die Eltern aus, +wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den +Maedchen die Traenen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von +einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand! + +Frieder, der neben der Mutter sass, wandte sich halblaut an sie: "Es waere +viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher +ausgemacht haetten, und das mit dem Vater erst nachher." + +"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, dass alle +erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug waeren wie du, aber die sind +so--ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man ueberhaupt gar nicht +sagen, dafuer gibt es keinen Ausdruck!" + +Frau Pfaeffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre +wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann waere es +ja nicht so sehr ferne gerueckt!" + +"Es koennen auch fuenf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfaeffling, +"inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter +und ich komme darueber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, +Direktor bin ich _gewesen_." + +Mit diesen Worten verliess er das Zimmer, und man hoerte ihn ueber den Gang +in das Musikzimmer gehen. Die Kinder assen, was auf ihren Tellern fast +erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraussold waere gar nie in unser Haus +gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud +sich ueber ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraussold hat es nur gut +gemeint. Ihr Kinder habt ueberdies allen Grund, froh zu sein, dass wir +hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier aussen in der +Fruehlingsstrasse. Fuer euch waere es kein Gewinn gewesen." + +"Aber fuer den Vater und fuer dich," sagte Karl, und er dachte an den +schoenen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht +anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich +kommen darueber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, +aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehoert +auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen muessen, wie alles, was +Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muss ich's anpacken, damit +es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. + +"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann +deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinuebergehen. Nehmt +auch die Rose mit hinaus, die Blaetter fallen ab." + +Im Eckzimmer wanderte Herr Pfaeffling auf und ab und wartete auf seine +Frau, denn er wusste ganz gewiss, dass sie zu ihm kommen wuerde. Sie hatten +schon manches Schwere miteinander getragen, und nun musste auch diese +Enttaeuschung gemeinsam durchgekaempft werden. + +Als Frau Pfaeffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand +und reichte es ihr mit schmerzlichem Laecheln: "Da sieh, gestern abend +war ich so zuversichtlich, da habe ich fuer dich ein kleines Lied +komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die +Kinder haetten im Chor den Schlussreim mitsingen duerfen, auf den jeder +Vers ausgeht: + + "'Drum rufen wir mit frohem Sinn: + Es lebe die Direktorin!' + +"Nun muss es heissen: + + "'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn + Du wirst niemals Direktorin.'" + +"Nein, nein," wehrte Frau Pfaeffling, "du musst es anders umaendern, es +muss ausgedrueckt sein, dass wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." + +"Fuer den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er truebselig, +"ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen." + +Sie sprachen noch lange von der grossen Enttaeuschung, und dann kamen sie +auf den beginnenden Winter zu sprechen, fuer den noch nicht so viel +Stunden angesagt waren als noetig erschien, um gut durchzukommen. So +erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel. + +Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Tuere +eine Kinderstimme: "Duerfen wir herein?" + +"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter +der Tuere erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit +strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, +Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. +Die zwei Grossen sahen zaghaft aus, wussten nicht recht, wie die +Ueberraschung wohl aufgenommen wuerde. "Was faellt euch denn ein, Kinder?" +fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die +Traenen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil +ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne fluesterte der Mutter zu: "Von +unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus +und hoerten eben unter der Tuere, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann +kann ich freilich nicht zanken," so war also die Ueberraschung gut +aufgenommen worden. + +Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfaeffling, +die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich +vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er +war sich keiner festtaeglichen Stimmung bewusst! Aber man musste es doch +schon den Kindern zuliebe tun, sicher wuerde Marie, das Hausmuetterchen, +gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem +festtaeglichen Kaffee gegenueber wich die graue Novemberstimmung +unwillkuerlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu +seiner Frau: "Man muesste eben den Schlussreim so veraendern: + + "'Direktor her, Direktor hin, + Wir haben dennoch frohen Sinn.'" + +Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau +Pfaeffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fraeulein Vernagelding +sein?" + +"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglueckselige Stunde, die +hatte ich total vergessen, muss die auch gerade heute sein! Wenn ich die +jetzt vertrage, Caecilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst +nicht, wie unmusikalisch das Fraeulein ist!" Frau Pfaeffling hatte das +Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war laengst damit +verschwunden, bis Fraeulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und +Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Loeckchen zurechtgesteckt +hatte. Herr Pfaeffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese +unbegabteste aller Schuelerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und +mit holdem Laecheln sagte: "Heute duerfen Sie es nicht so streng mit mir +nehmen, Herr Pfaeffling, ich konnte nicht so viel ueben, denken Sie, ich +war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in +Rosa." + +"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfaeffling und trippelte bereits +etwas nervoes mit seinem rechten Fuss. "Aber jetzt wollen wir gar nicht +mehr an den Ball denken, sondern bloss an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht +immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich fuer mich. Schon +wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an +den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfaeffling," entgegnete sie und sah ihn +strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, +dass ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergruen. Ist das nicht +suess?" Herr Pfaeffling sprang vom Stuhl auf. "Suess, ja suess!" +wiederholte er, "aber zwischen zwei Baellen Sie mit der G-dur Tonleiter +zu plagen, das waere grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie +lieber heim fuer heute." + +"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schuelerin +empfahl sich mit dankbarem Laecheln und Knix. + +Als Frau Pfaeffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, dass +Fraeulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal +entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. + +Herr Pfaeffling erzaehlte, dass ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube +aber nicht, dass es das Fraeulein uebelgenommen habe. + +"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekraenkt sein," sagte +Frau Pfaeffling besorgt. + +Unnoetige Sorge! Als das tanzlustige Fraeulein daheim von der abgekuerzten +Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. +Er goennt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnuegen. Wir muessen ihm +gelegentlich ein Praesent machen, Agathe." + + + + +3. Kapitel + +Der Leonidenschwarm. + + +Samstag nachmittag war's und eifrige Taetigkeit in Haus und Hof. Frau +Pfaeffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die +Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob +sie gerne das Geschirr in der Kueche abtrockneten und mit Vorliebe den +Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die +Lampen, das wusste niemand, aber das wussten alle, dass diese Arbeiten +geschehen mussten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden +konnte. + +Die Brueder hatten auch fuer etwas einzustehen im Haus: Sie mussten sorgen, +dass in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorraetig war. Das +hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in froehlicher +Taetigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als +Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen +Pfaefflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich muehsam ein Sprungseil zu +spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen +versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er +heruebergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei +Pfaehle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Hoehe +spannen liess, ganz wie drueben auf dem Militaerturnplatz, nur dass auf +kleinere Turner gerechnet werden musste. Frieder wurde herbeigeholt. Er +war fuer einen Achtjaehrigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt +wie seine leichtfuessigen Brueder. Es zeigte sich, dass man das Seil noch +viel naeher am Boden spannen musste, und als er seine ersten +Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darueber sprang, +lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen frueheren Kinderjahren, +das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht uebel, um so weniger als +Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst +probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: +"Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem grossen Instrument, gestern +haben ihm viele Soldaten zugehoert, da hat's geklungen wie das Lied: +'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das +lernen wir jetzt in der Schule." + +"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" + +"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder +ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da +wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine +Mitschueler." Frieder machte grosse Augen. Daheim war eigentlich immer nur +eine Stimme des Aergers ueber sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er +sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie +hoeren wuerden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher +hatten sie sich immer moeglichst miteinander entfernt von allen Menschen, +und nun sollten sie sich vordraengen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber +doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, waehrend seine +Brueder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzaehlte gern von +seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte +er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, +"vor dem Kasernentor. Da blaest einem der Wind eisig um die Ohren und die +Fuesse werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her laeuft. Man hoert +auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man +sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein +Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten +war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere +Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz +unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind +gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, +wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in grossem Bogen ueber +den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und +zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir +zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet waere, denn, dachte +ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich +zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzaehlst du das nicht, sie +meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer +naechtlichen Felddienstuebung heim und die hatten es auch beobachtet und +fingen gleich davon an zu erzaehlen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklaert, dass +alle Jahre in den Naechten um den 12. bis 15. November herum so ein +Sternschnuppenschwarm sei, der heisse der Leonidenschwarm. In manchen +Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach +Mitternacht und man sehe es nur selten so schoen wie in der vergangenen +Nacht, weil die Novembernaechte meistens trueb seien. Wenn's heute nacht +hell waere, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis." + +Karl, der grosse, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle +mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mussten sie +sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und +von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis +der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es +war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen +dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das +praktische Hausmuetterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht +ohne Hausschluessel geht, die Haustuere wird nachts geschlossen." Also +musste man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der +Jugend den Hausschluessel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett +in die Novembernacht hinaus wuerden sie sich erkaelten. Und alle beide +fuerchteten sie, die Hausleute moechten bei Nacht gestoert werden. Dagegen +sagte der Vater, seine Buben duerften nicht so zimperlich sein, dass sie +nicht eine Stunde draussen in der Winternacht aushalten koennten, und die +Mutter erzaehlte, dass sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt +haette, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brueder +versicherten, dass sie lautlos die Treppe hinunterschleichen wuerden. Da +machte die kleine Else, die gespannt zugehoert hatte, ob die Brueder mit +ihrer Bitte wohl durchdringen wuerden, den Schluss, indem sie erklaerte: +"Also dann duerft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber +doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brueder hielten es fuer +klug, nimmer auf das Gespraech zurueckzukommen. Ueberdies fing es am Abend +an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand +dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu +Bett ging, bemerkte er, dass am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. +Wenn es nun doch moeglich wuerde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und +konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Waehrend nun Stille im ganzen Haus +wurde und die Nacht weiter vorrueckte, loesten und verteilten sich am +Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern +leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster +huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen waere, strahlte ihm der klarste +Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer +fliegenden Kugel gesehen zu haben. + +Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei +das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glueck lag das Bubenzimmer nicht neben +dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brueder hatten nicht +einmal mehr Lust zu dem naechtlichen Unternehmen, aber die stellte sich +wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei +in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Ploetzlich ging die +Tuere leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: +"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde gefluestert; das grosse +warme Tuch flog herein, die Tuere ging leise wieder zu. Mit klopfendem +Herzen nahm Karl den Hausschluessel vom Nagel, in Struempfen, die Stiefel +in der Hand, schlichen sie alle Drei ueber den Gang, und die Treppe +hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mussten doch die +Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches +Geraeusch, nicht ohne Gefluester. Auch der Schluessel bewegte sich nicht +ohne metallenen Klang im Schloss und die Tuere nicht ohne Knarren in den +Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem +Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun +waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen. + +Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas +gehoert. Sie wusste zunaechst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber +sie hatte das Gefuehl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich +im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton +der sich schliessenden Haustuere und dann ein Fluestern ausserhalb +derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat +nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr +unerklaerlich. "Es ist ungehoerig," sagte sie sich, "wer solch naechtliche +Spaziergaenge macht, der soll nur draussen bleiben," und rasch +entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustuere +vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus +herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon +herausbringen, wer hinausgeschluepft war. War es jemand mit gutem +Gewissen, der mochte klingeln. + +Auf Frieders hohem Brettersitz sassen die drei Brueder in der Stille der +Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In +wunderbarer Klarheit woelbte er sich ueber ihnen. Das war ein Schimmern +und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so +schoen gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen waere," sagte Karl, +"so wuerde mich's doch nicht reuen, dass ich aufgestanden bin." "Mich +reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, dass +einer von den Sternen auf einmal anfaengt zu fliegen. Die stehen da +droben alle so fest!" + +"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. +Ein heller, weissglaenzender Stern schoss am Firmament in weitem Bogen +dahin und war dann ploetzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die +riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine +Strecke gewesen sein, groesser als das ganze Deutsche Reich. Staunend +sahen die Kinder hinauf: da--schon wieder eine Sternschnuppe, groesser als +die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder +eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in +gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zaehlen, aber als die Zeit +vorrueckte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die +Sternschnuppen immer haeufiger, oft waren zwei oder drei zugleich +sichtbar, es war ueber alles Erwarten schoen. Allmaehlich schoben sich aber +von Westen herauf immer groessere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne +zu verdunkeln. Endlich kam das Gewoelk bis an die Himmelsgegend, von der +die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden +Blicken nicht laenger das schoene Schauspiel vergoennt sein sollte, zog +sich eine dichte Decke ueber die ganze Herrlichkeit. + +Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken wuerden +sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein +einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, +"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollstaendig Nacht, und die +Brueder empfanden auf einmal, dass es kalt war und sie selbst mued und +schlaefrig. Jetzt ins warme Bett zu schluepfen, musste koestlich sein! Also +kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu. + +"Hast du doch den Schluessel, Karl?" "Jawohl, da ist er." + +"Das waere kein Spass, wenn du den verloren haettest und wir muessten da +draussen bleiben in der Kaelte!" + +Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an +die Tuere. Karl schloss auf und klinkte an der Schnalle, aber die von +innen verriegelte Tuere ging nicht auf. "Was ist denn das?" fluesterte +Karl, drehte den Schluessel noch einmal im Schloss auf und zu und klinkte +und drueckte gegen die Tuere, aber die gab nicht nach. + +"Lass doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch +herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. + +"Lasst doch, ihr verdreht das Schloss noch," sagte Karl, "ihr seht doch, +es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloss ist doch in +Ordnung, was haelt die Tuere zu?" + +In leisem Fluesterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat +etwas vor die Tuere gestellt, damit wir nicht hereinkoennen." "Oder den +Riegel vorgeschoben." + +"Ja, ja, den Riegel. Natuerlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das +getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: +"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!" + +"Aber er hat es doch erlaubt!" + +"Ich weiss nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" + +"Wir haetten vielleicht um den Hausschluessel bitten sollen." + +"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehoert, hat gemerkt, dass wir +ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muss ja so sein, +wer haette es sonst tun sollen?" + +Nach einigem Nachdenken ueber diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln +duerfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in +den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon +schlafen." + +So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Suender ums Haus herum und +suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so +stockfinster gewesen waere und die Bretter so nass und so hart und so +unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen waere! +Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal +reicht doch nicht fuer drei, ihr koennt ihn haben und ich laufe lieber hin +und her, wie wenn ich Wache haette. Wer weiss, in drei Jahren muss ich's +ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brueder in das Tuch, wanderte stramm +hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber +nach einer kleinen Weile hoerte er einen seltsamen Ton. Was war denn das? +Er kam naeher zu den Bruedern her--wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte +ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und +klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner +unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fuehlte sich Karl +als Aeltester verantwortlich: "Die muessen ins Bett," sagte er sich, +"sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die +Marianne wach rufen koennen, damit sie uns ausriegelt." Da waren die +Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des +Hauses, wo das Schlafzimmer der Maedchen lag, und nun galt es so laut zu +rufen, dass diese aufwachten, und zugleich so leise, dass Hartwigs, die +unter ihnen schliefen, nichts hoerten. "Marianne, Marianne," klang es +zuerst leise und allmaehlich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es haette +gehen sollen, die Schwestern hoerten nichts und die Hausleute wachten +auf. + +Die Hausfrau laechelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun +moechte man wieder herein." Sie erzaehlte ihrem Mann von der verriegelten +Tuere. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brueder +erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hoerten. Keiner ruehrte sich, +keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, +lauschte--sah nichts, hoerte nichts und schloss das Fenster. Eine gute +Weile blieben unsere drei Ausgestossenen wie angewurzelt stehen. "Wir +wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie +tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der +Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es +unbegreiflich, dass die Schwestern so fest schliefen. + +"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfaeffling erkannt," sagte +die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draussen +sein in der kalten Nacht? Lass mich mal rufen, mich kennen sie besser!" +und leise oeffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, +Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie +dreistimmig, naeherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur +Marianne rufen, damit sie uns hereinlaesst." Die Hausfrau erschrak. So +hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Boesen hatte sie gedacht, +denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln wuerden, aber nicht an +die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. + +"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur +hinaus?" + +"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie +vorwurfsvoll und schloss das Fenster. + +"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, +"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da +schwaermen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen +Morgen?" + +Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu +seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was noetig ist. +Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiss, ob das Haus nachts +geschlossen bleibt, dann hoert ja alles auf. Fuer solche Mietsleute +bedanke ich mich!" + +Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob +den Riegel der Haustuere zurueck. Die drei frierenden, uebernaechtigen +Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig mass sie mit +so veraechtlichem Blick, dass ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung +entfiel, sie standen vor ihm wie das boese Gewissen. Er schob sie von der +Tuere weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig +und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei +ihm die Wohnung gekuendigt." + +Ach, auf den nassen, harten Brettern draussen in der Winterkaelte war es +den drei Bruedern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen +Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der +Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr +Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie musste er erst zuernen, wenn +er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie +sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum +andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen +der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kuendigung herausbeschworen, +in ihren Augen das groesste Familienunglueck! + +Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fuehlten sich +ein wenig gedeckt dadurch, dass Karl, der grosse, der Anfuehrer gewesen +war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht +vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. +Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf. + +Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine +Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, dass sie alle schwer aus dem +Bett kamen, bedrueckt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, +als die Schwestern durch die Tuerspalte hereinriefen: "War's recht schoen +heute nacht?" Als er aber gern erfahren haette, von was die Rede sei, +bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon +hoeren." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser +zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim +Fruehstueck waren und von Marie und Anne wussten, dass die Brueder in der +Nacht fort gewesen waren. Diese zoegerten aber immer noch, zu kommen. +Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muss es gesagt +werden, kommt!" + +Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das +Wohnzimmer, wo Herr Pfaeffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. +"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglueckt? Heute nacht um 11 Uhr +hat sich der Himmel so schoen aufgeklaert, da dachte ich an euch, war aber +der Meinung, ihr wuerdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schoen?" + +Die drei waren so betroffen ueber die unerwartet freundliche Anrede, dass +sie zunaechst gar keiner Antwort faehig waren. Frau Pfaeffling ahnte gleich +Boeses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht +gut? Oder habt ihr den Hausschluessel verloren?" + +"Das nicht." + +"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl naeher und +sagte: "Ich will es ganz erzaehlen wie es war. Um ein Uhr sind wir +hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken +gewesen--wie schoen es da war, sage ich spaeter. Um halb drei Uhr etwa +wollen wir wieder ins Haus, da ist die Tuere von innen zugeriegelt." + +"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus +einem Mund. + +"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurueck, wollten auf +den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter +Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das +hoerte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir +sagten, wo wir herkaemen und dass wir nicht hereinkoennten. Da riegelte +Herr Hartwig die Haustuere auf und liess uns herein." Karl hielt inne. + +"So habt ihr richtig die Hausleute gestoert!" sagte Frau Pfaeffling. +"Haettet ihr mir doch gesagt, dass ihr in dieser Nacht fort wollt, ich +wuerde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So +aber waren sie wohl aengstlich, als sie etwas hoerten und haben deshalb +geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?" + +"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Koepfe. Herr +Pfaeffling sah seine Soehne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht +alles gesagt." + +"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die +schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr laesst dir sagen, auf +1. Januar sei gekuendigt." + +Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der +Jammerschrei: "O haetten wir doch das Rufen gehoert, waeren wir doch +aufgewacht!" Herr Pfaeffling aber straeubte sich, die Nachricht zu +glauben. "Es ist doch gar nicht moeglich, dass das sein Ernst ist, glaubst +du das, Caecilie? Kann das wirklich sein? Kuendigt man, weil man einmal im +Schlaf gestoert wird? Taeten wir das? Mich duerfte man zehnmal wecken und +ich daechte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er +denn sonst noch gesagt?" + +"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's +schon vorher ausgedacht haette." + +"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu +beguetigen? Ihr Stoepsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? +Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Laeuten? Die Marianne +rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" + +Frau Pfaeffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: +"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht +verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie +in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen." + +"Wie die Leintuecher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, +fruehstueckt!" + +So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten +wirklich ihr Fruehstueck brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto +verschlangen ihr Teil mit wahrem Heisshunger, und als sie damit fertig +waren, griffen sie noch ueber zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen +und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht +wehrte gegen den Uebergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fuehlte +er, dass es so sein muesse. + +Herr Pfaeffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, +so dass es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, +seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verliess das Zimmer, um sich zum +taeglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst +eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn +zu begegnen. Aber da waere gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner +wuenschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie +Pfaeffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verliess. + +So gab es zwei Maenner im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei +Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken +an die Sorge, die der Familie Pfaeffling auferlegt wurde, jetzt bei +Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttaeuschung durch die +Direktorsstelle. Und es kraenkte sie, dass ihr Mann mit Recht von der +leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel +von der Familie gehalten, ja, sie spuerte es erst jetzt recht deutlich, +eine wahre Liebe hatte sie fuer sie alle empfunden, ganz anders als je +fuer fruehere Mietsleute. Sie musste das alles mit Frau Pfaeffling +besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, dass sie hinaufging. + +Frau Pfaeffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie +hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des +echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewaehrt hatten. Wie +stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht +hinauszuschliessen und dann noch zu kuendigen, und das alles bloss wegen +einer gestoerten Nachtruhe! Sie musste sich das erklaeren lassen von Frau +Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die +beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg. + +Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien +benuetzten. Das war der grosse Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum +Waeschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weisszeugs. +Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Waesche hinaufgegangen, fing an, +das Rad zu drehen und zu mangen. + +Frau Pfaeffling konnte das unten gut hoeren. Nicht lange, so stieg auch +sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hoeren. + +Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen froehlichen Sinnes +miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Missverstaendnis mehr und +sie waren der guten Zuversicht, dass sich auch die beiden Maenner +miteinander verstaendigen wuerden. + +Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht +gestern Remboldt erzaehlt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der +Wache gesehen hat?" + +"Ja, du warst ja dabei." + +"Weisst du, wie man diese Sternschnuppen heisst? Ich habe es heute zum +erstenmal gehoert, die heisst man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte +Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem +Mann zu denken gab. Sie wusste ja, dass mit dem richtigen Verstaendnis des +Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfaeffling schwinden musste. Sie +wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefuehl wuerde ihn treiben, zu +tun, was recht war. + +Am Nachmittag fasste er die drei Lateinschueler ab, als sie heimkamen. Er +liess sich von ihnen genau erzaehlen, wie herrlich der Sternenhimmel +gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der +Leonidenschwarm hiessen. Das wusste Karl: weil diese Sternschnuppen, die +da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Loewen +ausgingen. + +Waehrend sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, dass der +Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und +fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit +all seiner frueheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiss eben gar nichts von +der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm fuer einen Verein oder +dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas +dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht boes sein, +wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde. +Sagt nur eurem Vater: die Kuendigung gilt nicht!" + +Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, +Freundschaft und Froehlichkeit im ganzen Haus. + +Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnuebungen zurueckkehrten, trafen +sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller +einen Vorrat Aepfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," +sagte sie und gab jedem einen Apfel. + +"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, +damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen +jetzt immer ganz nahe am Gelaender und wir Buben muessen ganz dicht an der +Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so +hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu gehen, +setzte er einen Fuss vor den andern, verlor das Gleichgewicht und +kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Fuesse der +erschrockenen Hausfrau. + +Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung +zurueckkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser +sie's meinen, um so aerger poltert's." + + + + +4. Kapitel + +Adventszeit. + + +"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reissen, das duenne +Blaettchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhuellt?" Die jungen +Pfaefflinge standen alle in die eine Ecke gedraengt, wo der Kalender hing, +und stritten sich, halb im Spass, halb im Ernst darum, wer den Dezember +aufdecken duerfe. Die Eltern, am Fruehstueckstisch, sahen auf. "Buben, +galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brueder vom Kampfplatz +zurueck. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das +Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es miteinander," sagten +sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es +war Sonntag, und kein gewoehnlicher Sonntag, sondern der erste Advent. +Die schoenste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur +bei den Kindern. Herr Pfaeffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung +an: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt +Verlangen, o meiner Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, +zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, +denn sie allein von der ganzen Familie war vollstaendig unmusikalisch und +sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie. + +Bald darauf war es fuer diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit +sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige +nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfaeffling wollte heute +mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Fluestern. +Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe +standen und sich von den Zurueckbleibenden verabschieden wollten, fand +sich's, dass es heute gar keine solchen gab, dass alle sieben bereit +standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll dann +aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfaeffling bedenklich. + +"Es klingelt fast nie waehrend der Kirchenzeit," versicherte der +Kinderchor. + +"Aber wir koennen doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze +Prozession!" wandte Herr Pfaeffling ein. + +"Wir gehen drueben, auf der anderen Seite der Strasse," sagten die Buben. + +"Aber Walburg muss wenigstens wissen, dass sie ganz allein zu Hause ist, +hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfaeffling. Als das Maedchen die +ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wusste sie schon, was man von +ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wuensche gesegnete +Andacht". + +Draussen schien die Wintersonne auf bereifte Daecher, Sonntagsruhe +herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche +einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben +liessen aber, ihrem Versprechen gemaess, die ganze Breite der +Fruehlingsstrasse zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach +einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er +nicht laenger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu. + +Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs +Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest +sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das +dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden +die Kleinen ungeduldig." So haette sie auch gestern noch gesagt, aber +heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war +ueber Nacht ganz nahe gerueckt. Im Daemmerstuendchen zog Frau Pfaeffling +Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weisst du denn noch, wie schoen +der Christbaum war?" + +Sie wusste es wohl noch, und als nun die Geschwister ueber Weihnachten +plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand +sie nicht hinter den Grossen zurueck, im Gegenteil, wenn sie mit +leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine +Hauptperson, die allen die Freude erhoehte. + +Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten +fluesternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken koennten. Es durfte +kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld +kosteten, sprachen sie ganz veraechtlich. "Es ist keine Kunst, in einen +Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht +Eigenartiges, Schoenes und Nuetzliches zu bescheren, das ist eine Kunst!" +Ja, eine so schwere Kunst ist das, dass sich die Beratung sehr in die +Laenge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer +der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er musste ihn +ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, dass ungnaedige +Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Kueche, +wo Walburg sass und in ihrem Gesangbuch las. Sie hoerte diese Toene, und da +sie sich in ihrer Taubheit ueber alles freute, was bis an ihr Ohr drang, +schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, dass er sich bei ihr +niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Kueche. + +Am naechsten Tag mussten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den +Hintergrund treten, denn in die Schule passten sie nicht. Nur Frieder +wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte +er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen +und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hoerte es und wunderte +sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordraengen wollen mit seiner +Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hoeren zu lassen. Sie mochte es +ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, +bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner grossen Harmonika in der Hand, +den Schulranzen auf dem Ruecken, durch die Fruehlingsstrasse. + +Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, +bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der +grossen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verliessen und +die Schueler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht +so. + +Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch +schon ein paar kecke Buerschchen zu: "Der Pfaeffling hat seine +Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob +Frieder denn mit dem grossen Instrument zurechtkaeme. Nun stiessen ihn die +Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel +doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergass +seine vielen Zuhoerer, vergass die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig +war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." + +Der Lehrer liess ihn gewaehren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhoerten +und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du +das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte +Frieder, "Harmonika muss man nicht lernen, das geht von selbst." + +"Das geht vielleicht bei euch Pfaefflingen von selbst, aber bei anderen +nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am naechsten stand, "koenntest +du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." +"Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, +"aber jetzt: auf eure Plaetze." + +Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und musste +spielen. Es kamen auch groessere Schueler von anderen Klassen herbei und +die wollten nicht nur hoeren, die wollten es auch probieren. Die +Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer +riss sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie +geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder +zurueck und als er sie ansah, wurde er blass und als er sie zog, gab sie +keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen +auf den kleinen Musikanten. + +"Wer hat's getan?" hiess es nun. Die Frage ging von einem zum andern und +wurde zum Streit, aber Frieder kuemmerte sich nicht darum, er verwandte +keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand ueber sie, er +drueckte sie zaertlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber +er wusste es ja schon vorher, dass ihre Stimme erloschen war und nimmer +zum Leben zu erwecken. + +Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder +neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hoeren und nichts sehen von +ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange +Fruehlingsstrasse nach Hause, rief die Mutter und drueckte sich bitterlich +weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!" + +Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein +Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Haende, +bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und liess sie dann ganz +enttaeuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er +selbst hatte ja seine Freundin den boesen Buben ausgeliefert. Haette er +sie in der Stille fuer sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten +wollen, so waere sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein +Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, dass er vielleicht +eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen wuerde. + +Aber etwas anderes half ganz unvermutet. + +Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die +Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks fuer +die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen +getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr ueben, so zog ihn nichts +ab. Er hatte still zugehoert, wie allerlei Vorschlaege gemacht und wieder +verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf +den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht." + +"So geh du hinunter und denke dir etwas fuer mich aus," sagte eines der +Geschwister. "Fuer mich auch!" "Und fuer mich," hiess es nun von allen +Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren grossen +Schal mit hinunter. Er ging auf das Plaetzchen, das er so gern mit seiner +Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz +in das grosse Tuch, sass da allein, war vollstaendig erfuellt von seiner +Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, dass er sie loesen wuerde. Auf der +Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte. +Der kleine Kopf war fest an der Arbeit. + +Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister +um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das grosse Wort gefuehrt hatte, +streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da +nun gar kein Zweifel mehr sein koennte: "Du, Karl, musst ein Gedicht +erdichten und du, Wilhelm, auf einen so grossen Bogen Papier schoene +Sachen abzeichnen und Otto muss so laut, wie es der Rudolf Meier beim +Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das +schoenste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei koennen +nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum muessen wir +solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, +Nussschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zuendhoelzer, einen +rechten Sack voll." + +Jedes der Kinder dachte nach ueber den Befehl, den es erhalten hatte, und +fand ihn ausfuehrbar. "Ich weiss, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich +zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden +bist." + +"Und ich mache ein Gedicht ueber unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga +darin vorkommt, dann gefaellt es dem Vater." Sie waren alle vergnuegt. +"Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid fuer dich, dass du deine +Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die andern +stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man +die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fuehlte er sich +gluecklich auch ohne Harmonika. + +Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, +viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis +abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein. + +Unter den jungen Pfaefflingen war Otto der beste Schueler, und er galt +viel in seiner Klasse. Nun sass hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der +machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. +Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte +sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mussten es +erfahren, wenn hohe Persoenlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und +wenn gar Fuerstlichkeiten erwartet wurden, fuehlte er sich so stolz, dass +sich's die andern zur Ehre rechnen mussten, wenn er sich an solchen Tagen +von ihnen die Aufgaben machen liess. Er war aelter und groesser als alle +andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen +schaemte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben +herab: "In solch einem Welthotel muesse selbstverstaendlich die +gewoehnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurueckstehen." + +Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gruende, warum er heute ein ganzes +Stueck Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Fruehlingsstrasse +entgegengesetzt lag. + +Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in +kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier +ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestaerkten Manschetten und +Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf +Groessere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in +Verlegenheit, Pfaeffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen +abliefern sollen. Es ist gegenwaertig keine Moeglichkeit bei uns, all dies +Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Wuerdest du mir +nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, dass ich einige Stellen +vergleichen koennte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder +einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze +deine Unterschrift unter den Klex." + +Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. +"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" +sagte Otto aergerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles +abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, dass du das magst." + +"Weil du nicht weisst, wie es bei uns zugeht, Pfaeffling, anders als bei +euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als +ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, +Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehoeren zur feinsten +Aristokratie. Haben fuenf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. +Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer. +Werden wohl die Revolution fuerchten, haben ihr Geld gluecklich noch aus +Russland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die +Dinge in Russland gestalten. Gegen solche Gaeste ist man artig, das +begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie moechte +ihren beiden Soehnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen +er wohl empfehlen koennte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, +kommt natuerlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heisst es: +'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfaecher, +gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswuerdigen +Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den +Unterricht in Gang zu bringen.' + +"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine +Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spuerst gleich, dass du mit +wirklich Adeligen zu tun hast, und der grosse Herr mit seiner +militaerischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem +Seidenkostuem imponieren dir, du musst dich schon zusammennehmen. Die zwei +jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein +Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht? + +"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblueffen. Es +hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen +Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, dass ich genug zu +laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl +noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine +Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln." + +Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht--wenn das ein Pfaeffling +hoert, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den +Musikunterricht geben?" fragte er. + +"Weiss ich nicht." + +"Meier, da koenntest du meinen Vater empfehlen." + +"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heisst, fuer solche +Herrschaften muss man immer das feinste waehlen." + +"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." + +"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so +etwas, das hoeren sie gern." + +"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als +Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen +ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren +fuer ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muss." + +"Dann kann ich wohl etwas fuer ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend, +"vorausgesetzt, dass sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und +nicht bei den Professoren." + +"Dem musst du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, musst du +mit den Russen sprechen." + +"Meinst du, da koennte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast +keinen Begriff von Umgangsformen." + +"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muss, weiss ich freilich nicht, +aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann moechte ich wohl wissen, +was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar +nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal +in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein +Schwindel." + +"Ich vermag viel im Hotel." + +"So beweise es!" + +"Werde ich auch. Vergiss nicht, dass du mir deine Hefte versprochen hast." + +So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnuegt heim, rief die +Geschwister zusammen und erzaehlte von der schoenen Moeglichkeit, die sich +fuer den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum +Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel +zu und kamen ueberein, dass sie den Eltern zunaechst kein Wort sagen +wollten, es sollte nicht wieder eine Enttaeuschung geben. + +Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am naechsten Tag, in +einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater +empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" + +"_Zehn_ Aufsaetze," sagte Otto, "mach aber, dass es _bald_ so weit kommt." + +Einen Augenblick spaeter traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und +erzaehlte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause +vorueber war, fasste er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest +das zuruecknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So +moechte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er +soll seine Aufsaetze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater +viel zu vornehm." + +Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern +der Aerger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." +So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, dass sie darueber +geschwiegen hatten. Sie dachten laengst nicht mehr daran, als eines +Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom Zentralhotel hat +diesen Brief fuer dich abgegeben, er soll auf Antwort warten." + +Frau Pfaeffling begriff nicht die Blicke gluecklichen Einverstaendnisses, +die die Kinder wechselten, waehrend ihr Mann die Karte las, auf der +hoeflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und +Klavierstunden vorstellen moechte. Die Karte war an Herrn Direktor +Pfaeffling adressiert, und als die Brueder diese Aufschrift bemerkten, +fluesterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der +Rudolf Meier! + +Der Diener des Zentralhotels bekam fuer die Ueberbringung einer so +erwuenschten Botschaft ein so schoenes Trinkgeld, wie er es von dem +schlichten Musiklehrer nie erwartet haette, und als er Herrn Meier senior +ausrichtete, dass Herr Direktor Pfaeffling noch diesen Nachmittag +erscheinen werde, fuegte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr." + +Bei Pfaefflings war grosse Freude. Otto erzaehlte alles, was Rudolf Meier +von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hoerten ihm +zu, er war stolz und gluecklich und konnte gar nicht erwarten, bis der +Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell +ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr +Pfaeffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in +Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttaeuschung +gibt," sagte er, waehrend er sich eine seine Krawatte knuepfte, "wer weiss, +wie die hohen Aristokraten sich in der Naehe ausnehmen, mit denen dieser +Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfaeffling hatte aber gute Zuversicht: "Das +erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten fuer +ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schueler +bekommen als Fraeulein Vernagelding." + +"Ach, die Unglueckselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr +Pfaeffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurueck sein, fuer meine +Marterstunde." + +Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die +andern, er fuehlte sich doch als der Anstifter des ganzen. + +Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war +schon der Abenddaemmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die +Ganglampe war schon angezuendet und von Marie und Anne in ihr Stuebchen +geholt worden. Um fuenf Uhr war Fraeulein Vernageldings Zeit. Frau +Pfaeffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute +schien er sich doch zu verspaeten. Nun schlug es fuenf Uhr, es klingelte, +Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei. + +Zwischen Fraeulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmaehlich +eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig +herbeikamen mit der Lampe und gefaellig Hilfe leisteten bei dem Anziehen +der Gummischuhe, dem Zuknoepfen der Handschuhe und dem Aufstecken des +Schleiers, so freute dies das Fraeulein und es plauderte mit den viel +juengern Maedchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hoerte, dass +Herr Pfaeffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnuegt darueber, +lachte und spasste mit den Schwestern. + +"Herr Pfaeffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen +heisst so?" + +"So heissen wir bloss miteinander," antworteten sie, "wir koennen es +eigentlich nicht leiden, jede moechte lieber ihren eigenen Namen, Marie +und Anne, aber so ist's eben bei uns." + +Das fand nun Fraeulein Vernagelding so komisch, dass ihr etwas albernes +Lachen ueber den ganzen Gang toente. Sie hatte inzwischen abgelegt. + +"Mutter sagte, Sie moechten nur einstweilen anfangen, Klavier zu +spielen," richtete Marie aus. + +"Ach nein," entgegnete das Fraeulein, "ich moechte viel lieber mit Ihnen +plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muss doch sein. Es +lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnaediges Fraeulein spielen +Klavier? und man muss antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint +Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, +ich sei unmusikalisch. Herr Pfaeffling ist schon mein vierter Lehrer. Die +Herrn wollen immer nur musikalische Schuelerinnen, es kann aber doch +nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muss es doch auch den +Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" + +"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da waere es doch +zuviel fuer den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloss +die, die recht musikalisch sind." + +Die drei Maedchen, an der Tuere stehend, fuhren ordentlich zusammen, so +ploetzlich stand Herr Pfaeffling bei ihnen. Im Bewusstsein seiner +Verspaetung war er mit wenigen grossen Saetzen die Treppe heraufgekommen. +Fraeulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie +mich erschreckt, Herr Pfaeffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so +elegant." Herr Pfaeffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit mehr +verlieren, bitte um Entschuldigung, dass ich Sie warten liess." + +"O, es war ein so reizendes Viertelstuendchen," hoerte man sie noch sagen, +ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick +nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres +Zeichen war, dass Fraeulein Vernagelding am Klavier sass. + +"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen +ist?" wurden Marie und Anne von den Bruedern gefragt. Sie wussten nichts +zu sagen, man musste sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am +schwersten, und er passte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und +im selben Augenblick, wo Fraeulein Vernagelding durch die eine Tuere das +Zimmer verliess, schluepfte er schon durch den andern Eingang hinein und +fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfaeffling lachte +vergnuegt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzaehle es euch im +Wohnzimmer," und schon unter der Tuer rief er: "Caecilie, Caecilie," und +seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Kueche herbeigeholt werden. +Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum meine Tassen +abstellen darf, dann muss es auch im Zentralhotel gut ausgefallen sein!" + +"Ueber alles Erwarten," rief Herr Pfaeffling, "eine durch und durch +musikalische Familie, die beiden Soehne feine Violinspieler, ich glaube +kaum, dass wir _einen_ solchen Schueler in der Musikschule haben, und ihre +Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, dass es ein Hochgenuss sein +wird, mit ihr zusammen vierhaendig zu spielen. Aber nun will ich euch +erzaehlen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen +empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf +Meier erkannt habe. Der fuehrt mich nun in einen kleinen Salon, spricht +mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, kein +Mensch denkt, dass man einen Schuljungen vor sich hat, der von so einem +Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte mir +nun, er habe es fuer besser gehalten, mich als Herr Direktor einzufuehren, +und ich moechte nur auch meine Honoraransprueche darnach richten, die +Familie wuerde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen +Leuten gegenueber muesse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich +die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier +fuehlte sich ganz als mein Fuehrer, klopfte fuer mich an und stellte mich +dem russischen General als Herrn Direktor Pfaeffling vor. Eine Weile +blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz nahm, empfahl er +sich. + +"Der General ist schon ein aelterer Herr mit grauem Bart und ist nicht +mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen +durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei +jungen Soehnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle +ziemlich zurueckhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in +die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt davon, +dass die Soehne spaeter vielleicht einige Violinstunden nehmen sollten, und +ich hatte das Gefuehl: es wird nichts daraus werden. Die Unterhaltung war +auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht gelaeufig Deutsch, +versuchten es mit Franzoesisch, als sie aber mein Franzoesisch hoerten, da +meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch. + +"Mir wurde die Sache ungemuetlich, es beengten mich auch die ungewohnten +Glacehandschuhe, dazu musste ich in einem weich gepolsterten, niedrigen +Lehnsessel ruhig sitzen und wusste gar nicht, wohin mit meinen langen +Beinen, dabei war es mir immer, als muessten sie mir ansehen, dass ich kein +Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worueber +allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter +und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei +lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, fuer +welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas +ueberrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich +ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher +Oper sie etwas hoeren wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr +Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach ihr +um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfaeffling; ich waere +allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, aber +zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich. + +"Es war ein praechtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer +naeher heran und hoerten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, dass +wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann +Violine, und die Dame versicherte mich, dass vierhaendiges Klavierspiel +ihre groesste Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag +ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach dem +Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung mochte ich +nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine Hotelrechnung +stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, begleiteten die +Herren mich ganz freundlich an die Tuere, alle Steifheit war vorbei und +die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich vergessen hatte. + +"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er +hat offenbar die Verhandlungen von aussen beobachtet und wird morgen in +der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er +ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmuetiger Mensch, schien sich +wirklich zu freuen, dass die Sache gut abgelaufen war, und fluesterte mir +zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Tuere begleitet worden, diese +Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich habe ihm auch +gedankt fuer seine Vermittlung, und wenn ich ihn oefter sehe, werde ich +ihm einmal sagen: Sei doch froh, dass du noch ein junger Bursch bist, gib +dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du bist! Er +macht sich ja nur laecherlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines +Geschaeftsmannes? Der General hat ihn natuerlich laengst durchschaut." + +"Ja, ja," stimmte Frau Pfaeffling zu, "er soll von dir lernen, dass man +sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhoeht haben." + +"Ja," sagte Pfaeffling vergnuegt, "und dass man trotz allem Stunden +bekommt. Kinder, kommt mit herueber, jetzt muss noch ein gehoeriges +Jubellied gesungen werden!" + +Waehrend im Haus Pfaeffling in froehlichem Chor gesungen wurde, sagte der +General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher +Deutscher." + +Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfaeffling wird mir morgen meinen +Aufsatz machen." + +Und Fraeulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die +Marianne ist suess, ich moechte ihr etwas schenken." Da ueberlegte Frau +Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer +Glacehandschuhe." + + + + +5. Kapitel + +Schnee am unrechten Platz. + + +Der Dezember war schon zur Haelfte vorueber, bis endlich, endlich der +erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Floeckchen +stundenlang gleichmaessig zur Erde faellt und in einem einzigen Tag das +ganze Land ueberzieht mit seiner weichen, weissen Decke; der alles +verhuellt, was vorher braun und haesslich war, der alles rundet und +glaettet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schoen, die +Schneelandschaft, aber am allerschoensten doch, wenn das lautlose Fallen +des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen +Weihnacht. + +Dezember--Schnee--Tannenbaum--Weihnacht, ihr gehoert zusammen bei uns in +Deutschland. In manchen Laendern hat man versucht, unsere Feier +nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude goennen, aber solch +eine Sitte muss aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie kuenstlich +verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus. + +Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die +Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden +Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie +wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen +Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, +klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke +herunter, die man fuer sie hinaufgehaengt hatte. Dann wurden die Lichter +ausgeblasen, damit kein Aestchen anbrenne und der Diener gerufen, dass er +sogleich den Baum, der in einem Kuebel voll Erde steckte, zuruecktrage zu +dem Gaertner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im +Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet. + +"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge +Deutsche und sah ihm wehmuetig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch +unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg. + +Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie goennt dem +Christbaum nicht den Platz? + + * * * * * + +Im Dunkel des fruehen Dezembermorgens waren die jungen Pfaefflinge durch +den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit +dickbeschneiten Maenteln und Muetzen angekommen. Im Schulhof flogen die +Schneeballen hin und her, und bis zu der grossen Pause um 10 Uhr waren +die zahllosen Spuren der Kinderfuesse schon wieder von frischem Schnee +bedeckt und die groessten Schneeballenschlachten konnten ausgefuehrt +werden. + +Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerueckt, kniete da und +sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein +grosser weisser Wall vor dem Kasernenzaun aufgetuermt lagen. Und von diesem +Zaun hatte jeder Stecken sein Kaeppchen, jeder Pfosten seine hohe Muetze +auf. + +Frau Pfaeffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas +sehen," und schnell fuehrte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und +oeffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus +vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle +beladen mit Christbaeumen. + +"Christbaeume, Christbaeume," jubelte Elschen so laut, dass einer der +Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als +er das glueckselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Fuer dich ist auch +einer dabei!" Die Kleine ergluehte vor Freude und winkte dem Schneemann +nach. + +Aber alles auf der Welt ist nur dann schoen und gut, wenn es an seinem +richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand +voll von diesem schoenen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und +richtete dadurch Unheil an. + +Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Strassenecke, wo +einige Lateinschueler mit Realschuelern zusammentrafen, gab es ein +hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfaeffling war auch dabei. Einer +der Realschueler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, +indem er sich hinter der Strassenecke verbarg, dann rasch hervortrat, +seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die +anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn +nehmen. Es waren ihm einige tuechtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit +warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken liesse. Jetzt wurde +eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht +der Realschueler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen +flogen dicht an seinem Kopf vorueber, zwei trafen ihn ganz gleichmaessig +auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz +fuer den Schnee! + +Herr Sekretaer Flossmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so +schlecht empfangen wurde, stand still, warf boese Blicke und kraeftige +Worte nach den Jungen. Dass sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus +Ungeschick geschehen, dass nun aber einige laut darueber lachten und dicht +an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit. + +Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehoert, zu den frechen nicht. +Nach Pfaefflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und +erklaerte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees +abschuetteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und +Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, dass Herr +Sekretaer Flossmann, als er ein paar Haeuser weit gegangen war, einem +Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle +die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun +freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen +sahen, liefen auf und davon. + +Aber einen von Wilhelms Kameraden fasste er doch noch ab und fragte nach +seinem Namen. Der zoegerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der +Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hoeren. + +"Also, dein Name," draengte der Schutzmann. "Wilhelm Pfaeffling," lautete +die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. + +"Die Wohnung?" + +"Fruehlingsstrasse." + +"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir +auf die Polizei willst." Er liess sich's nicht zweimal sagen. Ein +"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfaeffling. Baumann war sein +Name. + +"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfaeffling +schadet das nichts, der ist ueberall gut angeschrieben, aber bei mir ist +das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heisst's: +fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich +aufgeschrieben werden sollte, der Pfaeffling hat ebensogut geworfen wie +ich." + +Ahnungslos und mit dem besten Gewissen sass am naechsten Abend unser +Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig +zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemueht, seinen Frieder, +mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht +so ausgefallen, dass allen davor graute. Nun musste er unwillkuerlich auf +seinem Fliessblatt Studien machen ueber des kleinen Bruders gutmuetiges +Gesichtchen, das sich ueber die biblische Geschichte beugte, die vor ihm +lag. Dazu kam, dass die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken +sassen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu +dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren +Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er +achtete gar nicht darauf, dass Herr Pfaeffling eintrat und gerade hinter +seinen Stuhl kam. + +"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah +ueberrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was +ist's, Vater?" fragte er. + +"Das frage ich dich," sagte Herr Pfaeffling, "ein Polizeidiener war da +und hat dich vorgeladen, fuer morgen, auf die Polizei. Was hast du +angestellt?" + +"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann +doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn +getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" + +"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet +ungeschickt geworfen haben. Koennt ihr nicht aufpassen?" rief Herr +Pfaeffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an +des Vaters Hand, dass es klatschte. + +"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschaeft +beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf +diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein +Moeglichstes getan, dass man ihm glauben musste. Die ganze Geschwisterschar +fing nun an, aufzubegehren ueber den unguten Mann, der trotzdem auf der +Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch +genau hoeren, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen +gewusst habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklaeren. "Muss ich +denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?" + +"Um 11 Uhr." + +"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muss ich es dem +Professor sagen, dann erfaehrt es der Rektor und schliesslich kommt die +Sache noch ins Zeugnis!" + +"Natuerlich erfaehrt das der Rektor," sagte Herr Pfaeffling, "die anderen +sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" + +Es war eine Weile still, jedes dachte ueber den Fall nach. "Koenntest du +nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfaeffling zu ihrem +Mann, "und ein gutes Wort fuer ihn einlegen?" + +Herr Pfaeffling ueberlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der +Musikschule, da kann ich unmoeglich fort. Das muss er schon allein +ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um +einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiss sonst gar +nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!" + +"Gar nichts, als dass die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen +haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geaergert. +Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." + +"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heisst es mitgefangen, +mitgehangen." Elschen drueckte sich an die Mutter und sagte klaeglich: +"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schoen." Und es widersprach ihr +niemand, fuer diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude +aus dem Hause gewichen. + +Noch spaet abends, im Bett, fluesterten die beiden Schwestern zusammen, +berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt wuerde, +und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und +sagte: "Das aergste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der +Polizei hoert, dann kuendigt er uns!" + +Da war es denn schon wieder in der Familie Pfaeffling, das +Schreckgespenst, die Kuendigung! + +So bangen Herzens, wie am naechsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie +auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein +Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine +Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr +doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte +zufaellig gehoert, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von +vier Buben muss sich auf allerlei gefasst machen." + +In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Uebeltaetern zu +erkundigen. "Muesst ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die +uebrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! + +"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu +Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." + +"Es ist nicht wahr." + +"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Naehe und habe es +deutlich gesehen." + +Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als +der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner +Schueler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn +Pfaefflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte +er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hoerte, dass +Pfaeffling der einzige sei, sagte er: "Dann moechte ich mir auch +ausbitten, dass die anderen sich nicht darum kuemmern. Es ist schon +stoerend genug, dass einer vor Schluss der Stunde fort muss, gerade heute, +wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich +sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken +zusammen!" + +So wurde aeusserlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht +zu bemerken, wie dem einen Schueler das Herz klopfte vor innerer +Entruestung, dass er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen +vor Angst darueber, dass sein Betrug an den Tag kommen wuerde. + +Kurz vor elf Uhr verliess Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors +das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten +Gaengen und auf der breiten Treppe, die nicht fuer so ein einzelnes +Buerschlein berechnet war, sondern fuer einen Trupp froehlicher Kameraden. +Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei musste er +ganz allein tun. Und nun betrat er das grosse Gebaeude, in dem er ganz +fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster +Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kuemmerte sich um +ihn; vor mancher Zimmertuere standen Maenner und Frauen und warteten. Nun +war er bei Nr. 10, die uebernaechste Tuere musste die richtige sein, +Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann--und das war Herr Pfaeffling. + +"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze +Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erloesung. Herr Pfaeffling fasste +ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," +sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, dass wir bald fertig werden!" + +Im Zimmer Nr. 12 sass ein Polizeiamtmann. + +Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: +Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretaer Flossmann mit +Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das +Schneeballenwerfen in unmittelbarer Naehe fortgesetzt habe. + +"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. + +"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber +weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfaeffling ins Gespraech: "Du hast +mir erzaehlt, dass du dich ausdruecklich entschuldigt habest und sofort +heimgegangen seiest." Da laechelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte +wohl der Vater besaenftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach +der Aussage des Herrn Sekretaers und des Schutzmanns ganz anders, und Sie +werden begreifen, dass ich diesen mehr Glauben schenke als dem +Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretaer +Flossmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines +Vergehens entschuldigt hat." + +"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfaeffling, "dass sowohl Frechheit +als Luege auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich waere sonst nicht +mit ihm gekommen, sondern haette mich seiner geschaemt. Waere es nicht +moeglich, den Herrn Sekretaer oder den Schutzmann zu sprechen?" + +"Gewiss," sagte der Amtmann, "Herr Sekretaer hat seine Kanzlei oben und +der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen +Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretaer Flossmann, einen Augenblick zu +kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein." + +"Wir machen zwar gewoehnlich nicht so viel Umstaende, wenn es sich um +solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie +es wuenschen, koennen Sie von den beiden selbst hoeren, wie der Verlauf der +Sache war." + +Ein paar Minuten spaeter trat der Sekretaer Flossmann und gleich darnach +der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen +der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte +noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretaer Flossmann ins Wort, +indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn +gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort +aufgehoert hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, +der mir selbst noch den Schnee abgeschuettelt hat?" und indem er auf +Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in +aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich +nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann aergerlich an den Schutzmann: +"Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie moeglich gemacht?" Der +rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfaeffling, den ich +aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes +Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" + +"Nein, aber es heisst keiner Wilhelm Pfaeffling ausser mir." + +"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe +hinaus, das muss ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir +den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht +lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer +Klasse." + +"Wie heisst er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zoegernd: "Ich +kann ihn doch nicht angeben?" + +"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "du weisst es ja doch nicht gewiss, und +deine Menschenkenntnis ist nicht gross." + +"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," +sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus +ist." + +Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfaeffling: "Ich bedaure das +Versehen," sagte er, und Wilhelm entliess er mit den Worten: "Du kannst +nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und pass auf mit dem +Schneeballenwerfen, in den Strassen ist das verboten, dazu habt ihr euren +Schulhof!" + +Vater und Sohn verliessen miteinander das Polizeigebaeude. "O Vater," rief +Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, dass du gekommen +bist! Mir allein haette der Polizeiamtmann nicht geglaubt." + +"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal +erzaehlt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel +besser vorgebracht." + +"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spuere, dass man mir doch nicht +glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft +moechte ich etwas erzaehlen oder erklaeren, wie es gemeint war, dann denke +ich: ihr haltet das doch nur fuer Schwindel und Ausreden, und dann +schweige ich lieber." + +"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau +mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge +Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschuechtern lassen. Wer +recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafuer fordern. Halte +du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu +demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber freilich musst +du sicher sein, dass er darauf 'nein' sagt." + +Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege +auseinandergingen. + +"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte +Wilhelm. "Hoellisch ungeschickt!" sagte Herr Pfaeffling, "ich mochte den +Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Naechstsitzenden etwas von +Familienverhaeltnissen und lief davon; wer weiss, was sie sich gedacht +haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er +es eben versteht." + +"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz +gegen die Gewohnheit der Familie Pfaeffling griff er rasch nach des +Vaters Hand, kuesste sie und lief davon. + +Als Herr Pfaeffling zu der musikalischen Jugend zurueckkam, sah er viele +freundlich laechelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon +erfahren, dass du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt +nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine +Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut +voruebergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der +Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen +Schriftsteller. + +"Dir ist es offenbar gnaedig gegangen auf der Polizei," sagte der +Professor nach der Stunde zu Wilhelm. + +"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht +aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem +angegeben." + +"Wer? Einer aus meiner Klasse?" + +"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete +Wilhelm. + +Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden +sich um Wilhelm draengten und naeheres erfahren wollten, auch Baumann war +unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, dass Baumann +aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den +falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern +fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfaeffling hat das doch nichts +geschadet, fuer mich waere es viel schlimmer gewesen. Du musst mir's nicht +uebelnehmen, Pfaeffling, ich habe ja vorher gewusst, dass dir das nichts +macht." + +"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief +Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Luegner, das sage ich dir; aber dem +Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann +nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, dass du dich +durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe +hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es +so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Groessere +um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis +um die naechste Strassenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen +des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd +am Tor. Da, ploetzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoss an ihm +vorbei, in solcher Geschwindigkeit, dass er auch nicht _ein_ Gesicht +erkannt hatte. Aergerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den +Uebeltaeter auch noch nicht fassen koennen, das war ihm jetzt sicher, dass +er zu dieser Klasse gehoerte, und er sollte ihm nicht entgehen. + +Wie war fuer Frau Pfaeffling dieser Vormittag daheim so lang und so +peinlich! Immer musste sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiss nichts getan, +was strafwuerdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: +'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in froehlicher Stimmung +alles vorbereitet fuer das Weihnachtsgebaeck, heute haette sie es am +liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie muehte sich +sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: 'Wenn +Mann und Kinder heimkommen von fleissiger Arbeit, sollen sie es zu Hause +gemuetlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten, +wenn sie draussen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld fuer +sie verwenden? + +In dieser Stimmung sah Frau Pfaeffling diesen Morgen manches, was ihr +nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter +das Bett geschleudert; haesslich niedergetreten waren sie auch, wie oft +hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den haetten +die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn +sehen muessen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die +doch als Maedchen allmaehlich ein wenig selbst daran denken sollten, ob +nichts zu besorgen waere! Das waren lauter Pflichtversaeumnisse, und wer +daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draussen +gegen die Ordnung verstossen. Aber freilich muesste die Mutter ihre Kinder +fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war +schuld. + +Elschen, die nicht wusste oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute +bedrueckte, kam in der froehlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. +Walburg hatte ihr die Teigschuessel ausscharren lassen. "Mutter," rief +die Kleine, "die Backroehre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte +heute einen unglueckseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie +nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schuerze. + +"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter +Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Haende +waschen, und nicht an die Schuerze wischen," und sie patschte fest auf +die kleinen Haende. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte +sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie +aber doch zum Backen in die Kueche, das angefangene musste trotz allem +vollendet werden. Sie wollte den Schluessel zum Kuechenschrank mit +hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekuemmert: 'Wo die +Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhaelt, muss freilich die ganze +Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung +vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in +aengstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf +dem Heimweg zusammengefunden und in der Fruehlingsstrasse holte auch Herr +Pfaeffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, sie +allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles geloest +hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!" + +Aber nicht nur Frau Pfaeffling passte auf die eilig Heimkehrenden, auch +Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz +andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustuere einen grossen Bogen +Papier genagelt, auf dem mit handgrossen roten Buchstaben geschrieben +stand: + + Man bittet die Tuere zu schliessen! + +Darueber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es wuerde gar nichts +helfen, die Pfaefflinge wuerden die Tuere offen stehen lassen. + +Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel +ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig +fluechtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Maedchen sind +manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hoert, dass es +mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustuere wird geschlossen." + +Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die +Familie Pfaeffling sieben Mann hoch heim kam--eifriger sprechend als +sonst, hoerte sie die Treppe hinauf gehen--noch flinker als gewoehnlich, +ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustuere offen stehend, so +weit sie nur aufging. + +Kopfschuettelnd schloss sie selbst die Tuere. Aber sie verlor nicht den +guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, dass +heute etwas besonderes los war. + +Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas +kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." + +Droben herrschte nach ueberstandener Angst grosse Freude; auch Frau +Pfaeffling war es wieder leicht ums Herz, gluecklich und dankbar sass die +ganze Familie am Essen. Aber doch--zwischen Suppe und Fleisch--sagte die +Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter +geworfen?" + +"Vergessen!" + +"So geht jetzt und besorgt ihn." + +"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. + +"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch +nicht helfen, ich haette gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht +verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich +nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Maedchen gingen mit dem +Brief, Herr Pfaeffling sah seine Frau verwundert an. + +Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer +es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast +jetzt noch die Traenen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr +Pfaeffling in das Wohnzimmer zurueck, wo die Grossen noch beisammen waren. + +"Hoert, ich moechte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, dass vor +Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiss, +wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders +fuer die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn +Sekretaer Flossmann entschuldigen, sonst werde es schlimm fuer ihn +ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee fuer die Mutter +machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen." + +Einer von Herrn Pfaefflings guten Ratschlaegen konnte nicht ausgefuehrt +werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der +Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem +Gymnasium ausgewiesen. + +Am Abend ueberbrachte ein Dienstmaedchen einen schoenen Blumenstock--eine +Musikschuelerin liess Frau Pfaeffling gratulieren. + +"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," liess Herr Pfaeffling +sagen. + +Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht +auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas +anderes gemeint? + + + + +6. Kapitel + +Am kuerzesten Tag. + + +Es war der 21. Dezember, der kuerzeste Tag des Jahres. Um dieselbe +Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fuenf Stunden am Himmel +steht, sass man heute noch bei der Lampe am Fruehstueckstisch, und als +diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trueb und daemmerig in den +Haeusern. Allmaehlich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie +gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schraegen Strahlen +den Menschenkindern, die heute so besonders geschaeftig durcheinander +wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der +Thomastag, ein Feiertag fuer die Schuljugend. Jedermann wollte die +wenigen hellen Stunden benuetzen, um Einkaeufe zu machen. Wieviel Gaense +und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbaeume! +Auf den Plaetzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und +Tannen, von den kleinsten bis zu den grossen stattlichen, die bestimmt +waren, Kirchen oder Saele zu beleuchten. + +Mitten zwischen diesen Baeumen, von ihrem weihnaechtlichen Duft und +Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner +Frieder. Er hatte fuer den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, +kam nun heimwaerts ueber den Christbaummarkt und konnte sich nicht +trennen. Nun stand er vor einem Baeumchen, nicht groesser als er selbst, +saftig gruen und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser +Bub und dies Baeumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie +standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen +gehoerten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. + +"Du! dich meine ich, hoerst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel +verdienen!" sagte ploetzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand +legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem +Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenueber. Die ihn angerufen +hatte, war eine grosse, derbe Person, eine Verkaeuferin. Die andere eine +Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den +Baum heimtragen, du weisst doch die Luisenstrasse?" sagte die Frau und +legte ihm den Baum ueber die Schulter. + +"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte +die Dame. + +"O bewahre," meinte die Haendlerin, "der hat schon ganz andere Baeume +geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm +heim gehen." "Luisenstrasse 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. +"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur +nicht auf, dass dich's nicht in die Haende friert." Da Frieder immer noch +unbeweglich stand, gab ihm die Verkaeuferin einen kleinen Anstoss in der +Richtung, die er einzuschlagen hatte. + +Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der +andern, trabte der Luisenstrasse zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, dass +er mehr aus Missverstaendnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wusste es +aber nicht gewiss. Die Damen konnten die Baeume nicht selbst tragen, so +mussten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbaeumen laufen, +freilich meist groessere. Er war eigentlich stolz, dass man ihm einen +Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brueder begegnet +waeren oder gar der Vater! + +Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die +Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmaehlich drueckte der Baum, +obwohl er nicht gross war, unbarmherzig auf die Schulter, man musste ihn +oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel +entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne +dass die steife, von der Kaelte erstarrte Hand es empfunden haette. Nun +schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden +Haenden. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm +entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch +deinen Baum hinter dich, so!" und der Voruebergehende schob ihm den Baum +unter den Arm. Nach kuerzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du, +Kleiner, du kehrst ja die Strasse mit deinem Christbaum, halte doch +deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch +die Luisenstrasse gluecklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden +gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 +und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das musste nicht schwer +zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen, +aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmaedchen wusste es +ganz gewiss, der Baum gehoerte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr +auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. +Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die +Traenen, und eine mitleidige Frau hiess ihn sich ein wenig auf die Treppe +setzen, um auszuruhen. + +"In der Luisenstrasse wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist +Dr. Weber in Nr. 24, bei dem musst du fragen." Unser Frieder haette nun +lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die +richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich +selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 +vorbei bis an Nr. 24 und hoerte dort von dem Dienstmaedchen der Frau Dr. +Weber, sie haetten laengst einen Baum und einen viel schoeneren und +groesseren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Traenen herunter, und als er +wieder auf der Strasse stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt +hingehen wollte--heim zur Mutter. Es musste ja schon spaet sein, +vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die +Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es duerfe nichts, gar nichts +mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! + +Und es war wirklich hoechste Zeit. + +Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber +Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder +hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag +weggeblieben!" + +"Er ist gewiss schon laengst bei den Bruedern, im Hof, auf der Schleife. +Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern. + +Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu +aengstigen, nicht sowohl fuer den kleinen Bruder--was sollte dem +zugestossen sein--, aber wenn er nicht zu Mittag kaeme, wuerden sich die +Eltern sorgen und darueber aergern, dass doch wieder etwas vorgekommen sei. +"Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, als nun +die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von +Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, froehlich +und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?" + +"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehoert +hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch +in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man +nur das Essen ein wenig verzoegern koennte," sagte Karl. + +"Das will ich machen," fluesterte Marie, ging in die Kueche, zog Walburg +zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der +Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht +machen, dass man spaeter isst?" Walburg nickte freundlich, ging an den +Herd, deckte ihre Toepfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, +den Linsen taete es gut, wenn sie noch eine Weile kochen duerften." Da +sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu +Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart. + +"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir koennen ja +noch ein wenig mit dem Essen warten." + +"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die +Kinder. + +So vergingen fuenf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er +es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und +bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfaeffling +merkte jetzt, dass etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da +stand Frieder ganz ausser Atem, mit gluehenden Backen, den Christbaum auf +der Schulter und fragte aengstlich: "Isst man schon?" + +Als er aber hoerte, dass die Mutter ihn nicht vermisst hatte, und sah, wie +man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn +nur ab, du gluehst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie +meinten alle, der Christbaum gehoere Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, +"ich muss ihn einer Frau bringen, ich weiss nur nimmer, wie sie heisst und +wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hoeren, +auch Herr Pfaeffling war hinzu gekommen und hoerte von Frieders +Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du +kleines Dummerle, du!" + +Die Linsen waren nun ploetzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, laesst +sich denken. + +Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner +rechtmaessigen Besitzerin bringen koenne. "Einer von euch Grossen muss mit +Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfaeffling. + +"Aber wir Lateinschueler koennen doch nicht in der Luisenstrasse von Haus +zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbaeume austragen," +entgegnete Karl. + +"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem wuerde +ich mich schaemen." + +"So, so," sagte Herr Pfaeffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muss wohl +ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke +stand, hob ihn frei hinaus, dass er die Decke streifte und sagte +spassend: "So werde ich durch die Luisenstrasse ziehen, eine Schelle +nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehoert, der soll sich melden.'" + +"Ich denke doch," sagte Frau Pfaeffling, "einer von unseren dreien wird +so gescheit sein und sich nicht darum bekuemmern, wenn auch je ein +Kamerad denken sollte, dass er fuer andere Leute Gaenge macht." Sie +schwiegen aber. Da setzte Herr Pfaeffling den Baum wieder ab und sagte +sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, dass ihr meint: dies +oder jenes passt sich nicht, das koennten die Kameraden schlecht auslegen. +Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs Leben, fuehlt +sich immer gebunden und haengt schliesslich von jedem Rudolf Meier ab." + +Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adressbuch gebeten und mit Hilfe +dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, dass der Baum in +die Luisenstrasse Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehoerte. + +Die drei grossen Brueder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir +nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich haette gar nicht +gedacht, dass es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt haettet." + +"Aber wenn du hinkommst, musst du dich darauf gefasst machen, dass man dir +ein Trinkgeld gibt," sagte Karl. + +"Um so besser, wenn's nur recht gross ist, ich habe ohnedies keinen +Pfennig mehr." + +Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins +Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so +lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem +alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." + +Diesem bestimmten Befehl gegenueber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto +musste sich bequemen, Frieder zu begleiten. + +Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstrasse gekommen, als +Otto ploetzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: +"Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn +sie meinen, ich muesse den Dienstmann machen. Das letzte Stueck kannst du +doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, +nicht?" + +"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach +war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", +das stimmte alles ganz gut mit dem Adressbuch und oben im zweiten Stock +stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Tuere. + +Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein +wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht frueher als +Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloss, heim zu gehen, +war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, dass er den Kleinen +zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Fruehlingsstrasse wollte er +mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich +auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war Frieder schon +laengst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war nicht so, das +konnte er gleich daran merken, dass er von allen Seiten gefragt wurde: +wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun musste er freilich erzaehlen, dass er +nur bis in die Naehe des Hauses Nr. 43 den Baum getragen, und dann mit +einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hoerte man auch schon wieder +jemand vor der Glastuere, das konnte Frieder sein, und dann war ja die +Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Ungluecksmensch +und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. +"Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast +alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er wuergte an den Traenen, die +kommen wollten, und presste hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu +Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht +verstehen, warum er nicht oben oder unten bei anderen Hausbewohnern +angefragt haette. Daran hatte er eben gar nicht gedacht. "Deshalb gibt +man solch einem kleinen Dummerle einen groesseren Bruder mit," sagte Frau +Pfaeffling, "aber wenn der freilich so treulos ist und vorher umkehrt, +dann ist der Kleine schlecht beraten." + +"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem +Baum und das duerft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurueck," +und flink fasste er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von +seiner Schoenheit eingebuesst hatte, und sprang leichtfuessig davon. + +In der Luisenstrasse Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und +sofort rief das Dienstmaedchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch +noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo +bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar +nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehoert nicht +mir." + +Wilhelm erzaehlte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen +jungen Pfaefflingen gemacht hatte. + +"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er +kam, war ich wohl mit meinem Maedchen wieder auf dem Markt, ich habe +naemlich nicht gedacht, dass er noch kommt, und habe einen andern geholt, +ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da +konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr +wohl schon einen zu Haus? Ich wuerde euch den gern schenken." + +"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. + +"Also, das ist ja schoen, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten +kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, moechte ich noch einen +Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?" + +Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnuegt mit +seinem Baum heimwaerts. + +Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter +angezuendet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe +geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, +und liessen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie den Baum +sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Maedchen ins Zimmer. +"Unmoeglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, der +unglueckselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht aufgemacht, +wenn man noch so oft klingelt!" + +Aber Wilhelm lachte, zog vergnuegt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab +ihn Frieder: "Der ist fuer dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, +Mutter, der gehoert uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfaeffling heim kam, +ergoetzte er sich an der Kinder Erzaehlung von dem Christbaum, aber er +merkte, dass es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte sie +eben deshalb genauer hoeren. "Also so hat sich's verhalten," sagte er +schliesslich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so gefuerchtet, +dass du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann heisse ich +dich einen Feigling!" + +Weiter wurde nichts mehr ueber die Sache gesprochen, aber dies eine Wort +"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte +und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu +vergessen. Es war auch am naechsten Morgen, an dem vierten +Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem +Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der +Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, dass er ihr nachging, und +liess sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich +kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn +um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er haelt mich doch fuer +feig." + +"Ja, Otto, er muss dich dafuer halten, denn du bist es gewesen und zwar +schon manchmal in dieser Art. Immer abhaengig davon, wie die anderen ueber +dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur +ankaempfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, dass du auch tapfer sein +kannst." + +Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurueckkehrten, +fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde spaeter heim und dann suchte er +zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfaeffling sah von seinen +Musikalien auf. "Willst du etwas?" + +"Ja, dich bitten, Vater, dass du das Wort zuruecknimmst. Du weisst schon +welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt +gestanden und habe dann fuer jemand einen Baum heimgetragen. Drei von +meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, +die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfaeffling mit froehlichem, warmem +Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war +auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!" + + + + +7. Kapitel + +Immer noch nicht Weihnachten. + + +Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der +Familie Pfaeffling am meisten freute auf den Schulschluss, das war gerade +das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das +Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie +zurueckdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die +schoensten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von +Aufgaben ueber die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, dass +die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen +redeten, die sie bekommen wuerden. + +Sie sassen jetzt beim Fruehstueck, aber es wurde hastig eingenommen, die +Schulbuecher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, dass +morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig +und missmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es +gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?" + +"O doch," antwortete Herr Pfaeffling, "in der Wueste Sahara zum Beispiel +ist zurzeit noch keine eroeffnet." + +"Da musst du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. +Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, dass der Vorschlag +nichts taugte, und sie sah wieder, dass gegen die Schule ein fuer allemal +nichts zu machen war. + +Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der +letzten Schulstunde den grossen Bruedern froehlich entgegenkam, wurde sie +nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise +gefuehrtem Gespraech und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. +Es waren naemlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, +dass Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die geringste +Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl 4 war +bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfaefflinge vorgekommen. "So dumm +sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, dass ein paar +Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht doch auf den +ersten Blick den Vierer." + +"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schoensten +Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." + +"Wenn wir es nur einrichten koennten, dass wir die Zeugnishefte erst nach +Weihnachten zeigen muessten. Meint ihr, das geht?" + +"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, dass der Vater +darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; haettest du es +nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen koennen?" + +Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren +inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brueder +auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, +ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie +fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, und der +Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon zufrieden sein." + +"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." + +"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. + +"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen +soll, dass der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" + +Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und +zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezaehlt und +dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese musste, trotz +des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so dass die Eltern wohl befriedigt +sein konnten. Die Mutter hatte ueberdies selten Zeit, die Heftchen +anzusehen, und dem Vater wollte man die schoene Durchschnittsnote in +einem geschickten Augenblick mitteilen, dann wuerde er nicht weiter +nachfragen; erst nach Neujahr mussten die Zeugnisse unterschrieben +werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte man +nicht. Wilhelm war sehr vergnuegt ueber den Gedanken, Otto, der das beste +Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber +ueberstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. + +Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis +gezeigt, nun wurde es ihm von den Bruedern abgenommen. "Seht nur," sagte +Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!" + +"Dafuer kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur +von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten +bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft +wieder, Karl?" + +"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, dass ich rechnen kann." + +"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie muetterlich, "das Elschen hat +sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Tuere hinaus. + +Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es +uebernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, dass er gewiss nicht +nach den Heften fragen wuerde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr +Pfaeffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das +Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, dass er +in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse +bekommen und die Noten zusammengezaehlt. Dann hat Karl berechnet, was wir +fuer eine Durchschnittsnote haben, weisst du, was da herausgekommen ist? +Magst du raten, Vater?" + +"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muss fort, aber hoeren moechte ich +es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis +drei vielleicht?" + +"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" + +"Recht gut," sagte Herr Pfaeffling; er hatte nun schon den Hut auf und +Marie bemerkte noch schnell unter der Tuere: "Die Zeugnisheftchen will +ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, dass du sie dann einmal +unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfaeffling +noch von der Treppe herauf. + +Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfaeltig, aber +sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht wuerden sie da +niemand in die Haende fallen. + +Herr Pfaeffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, +denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten +und so betrat er auch heute in froehlicher Stimmung das Hotel. Diesmal +stand die grosse Fluegeltuere des untern Saales weit offen, Tapezierer +waren beschaeftigt, die Waende zu dekorieren, der Besitzer des Hotels +stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt +seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfaeffling, +nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Grosse Taetigkeit herrschte +in den untern Raeumen. An der angelehnten Tuere des Speisezimmers stand +ein kleiner Kellner, die Serviette ueber dem Arm, einige Flaschen in der +Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbaeume in den Saal getragen +wurden. Aber ploetzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm +ertoente eine scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen +feil, mach dass du an dein Geschaeft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den +Saeumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfaeffling gewahrte, gruesste er sehr +artig und sagte: "Man hat seine Not mit den Leuten, heutzutage taugt das +Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt Rudolf nicht auf seine Rede, ohne +ein Wort ging Herr Pfaeffling an ihm vorbei, die Treppe hinauf. + +Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm oefters vor, dass er auf +seine verstaendigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den +Leuten, die er hoch stellte. Andere ruehmten ihn ja oft und sagten ihm, +er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr +Pfaeffling noch groessere Ansprueche machten? Rudolf stellte sich die +Brueder Pfaeffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, +sogar Karl, der aelteste; diesen Unterschied musste ihr Vater doch +empfinden, es musste ihm doch imponieren, dass er schon so viel weiter +war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie +geringschaetzig Herr Pfaeffling an ihm voruebergegangen war: so etwas +erzaehlten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten ueber +ihn, das wusste er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. + +Indessen war Herr Pfaeffling die ihm laengst vertraute Treppe +hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner +Schueler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert. + +"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzaehlte ihm +die Generalin am Schluss der Stunde, "es soll sehr schoen werden." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Muehe, seinen +Gaesten viel zu bieten, er ist ein tuechtiger Mann und versteht sein +Geschaeft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut +selbst keine! Der Sohn wird nichts." + +Als Herr Pfaeffling sich fuer die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und +hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, ueber +den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefaellt war: "Er +wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen +Menschenkind gegenueber? Herr Pfaeffling konnte diesmal nicht teilnahmslos +an ihm voruebergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufaellig da. Er wusste +vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Beduerfnis, +sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu +kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen. + +"Wuensche froehliche Feiertage," redete er Herrn Pfaeffling an. "Fuer +andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, fuer uns bringt so ein Fest +nur Arbeit." + +Herr Pfaeffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, dass Ihr Vater +sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gaeste versorgt sind, haben Sie doch +wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" + +"Ne, das gibt es bei uns nicht. Frueher war das ja so, als ich klein war +und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, dass +ich jetzt so etwas fuer mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie +begreifen, dass ich als einziger Sohn des Hauses ueberall nachsehen muss. +Die Dienstboten sind so unzuverlaessig, man muss immer hinter ihnen her +sein." + +"Lassen sich die Dienstboten von einem fuenfzehnjaehrigen Schuljungen +anleiten?" + +Rudolf Meier war ueber diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar +nicht gelingen, diesem Manne verstaendlich zu machen, dass er eben kein +gewoehnlicher Schuljunge war? + +"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien +Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschaeftigt." + +"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" + +"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut ueber alle Gottesdienste +unterrichtet. Wir haben oft Gaeste, die sich dafuer interessieren, und ich +weiss auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu +geben ueber Zeit und Ort des Gottesdienstes, ueber beliebte Prediger, +feierliche Messen und dergleichen. Man muss allen dienen koennen und darf +keine Vorliebe fuer die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir +duerfen ja auch Auslaender nicht verletzen und muessen uns manche +spoettische Aeusserung ueber die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein +Welthotel so mit sich." + +Herr Pfaeffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das +"Welthotel" war immer der hoechste Trumpf, den er ausspielen konnte, und +der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfaeffling hatte er +offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschaetzige Blick, den er vor +der Stunde fuer ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. + +Unten, im Hausflur, stand noch immer die Tuere zu dem grossen Saal offen, +die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand +auf der Schwelle und ueberblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hoerte +Herr Pfaeffling ihn zu einem Tapezierer sagen: + +"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft +von den Gaesten abgehalten wird." + +Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schuelern +kam, die schoensten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem +Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tuechtigen +Geschaeftsmann, der in unermuedlicher Taetigkeit sein Hotel bestellte, der +von seinen Gaesten jeden schaedlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht +merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehoeren sollte, in +Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfaeffling war eine Strasse weit +gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rueckwaerts. "Sprich mit +dem Mann ein Wort ueber seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus +eine Gefahr drohte, wuerdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du +siehst, dass sein Kind Schaden nimmt, dass es hoechste Zeit waere, es den +schlimmen Einfluessen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von +der grossen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhaeltnisse!" Waehrend +sich Herr Pfaeffling dies ueberlegte, ging er raschen Schritts ins +Zentralhotel zurueck, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem grossen +Saal. + +Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich fuer die +Dekoration und forderte ihn hoeflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," +sagte Herr Pfaeffling, "ich sah schon vorhin, wie huebsch das wird, aber +um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" + +Aeusserst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach +einem anstossenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestoert. Wollen Sie +Platz nehmen?" + +"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich stehe lieber," eigentlich haette er +sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespraech +begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her. + +"Ich meine," sagte er, "ueber all Ihren Leistungen als Geschaeftsmann +sehen Sie gar nicht, was fuer ein schlechtes Geschaeft bei all dem Ihr +Kind macht. Ist's denn ueberhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie +ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der +tuechtig arbeitet und dann froehlich spielt. Er aber tut keines von +beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den +Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein +Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er +duenkt sich ueber alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort +von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da koennte noch etwas aus +ihm werden, aber so nicht!" + +Herr Pfaeffling hatte so eifrig gesprochen, dass sein Zuhoerer dazwischen +nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und +kuehl: "Ich muss mich wundern, Herr Pfaeffling, dass Sie mir das alles +sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur +ganz fluechtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, +dass mein Sohn der geborene Geschaeftsmann ist und schon jetzt einem Haus +vorstehen koennte. Wenn er Ihnen so wenig gefaellt, dann bitte kuemmern Sie +sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde +fuer sein Wohl sorgen." + +Herr Pfaeffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie +dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, dass ich Sie gekraenkt +habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, +was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schueler erfahren habe, dass es +die Menschen nicht ertragen, wenn man offen ueber ihre Kinder spricht und +wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das +eine, warum wuerden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind +ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum sind Sie gekraenkt, wenn +ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr fuer seinen Charakter?' Darin kann ich +die Menschen nie verstehen!" + +Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, +verlangten Bescheid, und Herr Pfaeffling machte rasch der Unterredung ein +Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache +gekommen, ich sehe, Sie sind draussen unentbehrlich und will Sie nicht +aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurueck. + +"Diese Sache ist misslungen," sagte sich Herr Pfaeffling, "ich habe nichts +erreicht, als dass sich der Mann ueber mich aergert." Und nun aergerte auch +er sich, aber nur ueber sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte +nicht erst in Ruhe ueberlegt und schonend vorgebracht, was er sagen +wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwuerfen zu +ueberschuetten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht: +"Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestuem wie +vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz aller +Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute +einzuwirken, so lass die Hand davon; kuemmere dich um deine eigenen +Kinder, wer weiss, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." + +Nachdem sich Herr Pfaeffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er +sich ueber Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen +Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfaefflingsche Note in den Sinn: eins bis +zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon +war, dass er nach seiner Rueckkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg +lief, zurief: + +"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich +will sie sehen!" + +Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse +muessen her, der Vater will sie sehen!" fluesterte eines dem andern zu. +"Warum denn, warum?" Niemand wusste Antwort, aber jetzt half keine List +mehr, Marie musste die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck +und sie hinuebertragen in des Vaters Zimmer. + +"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als +sie wieder herueberkam, "vielleicht uebersieht es der Vater." + +Herr Pfaeffling kannte seine Kinder viel zu gut, als dass er ihre kleine +List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut haette. "Irgend +etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiss sind ein paar +fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung ueber das Betragen." Er +ueberblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst +Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, +nie vorzueglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften +Schuelers, aber nicht eines grossen Sprachgelehrten. + +Dann Otto. In den meisten Faechern I. So einen konnte man freilich gut +brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte +viele Suenden anderer gut machen. + +Maries Heftchen zeigte die groesste Verschiedenheit in den Noten. Wo die +Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da +war sie vorzueglich, in Handarbeit, Schoenschreiben, Zeichnen, da tat sie +sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute +Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie +war von der Natur ein wenig verkuerzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne +Maries Hilfe waere sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die +Lehrer und Lehrerinnen hatten sich laengst darein gefunden, bei diesen +Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die +Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und +recht miteinander durch und unter Annes Noten glaenzten doch immer zwei I, +durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. + +Bis jetzt hatte Herr Pfaeffling noch nichts Neues oder Besonderes +entdecken koennen und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und +staunte. Was fuer gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! +Fast in jedem Fach besser als frueher und in einer Bemerkung des Lehrers +waren seine Fortschritte und sein Fleiss besonders anerkannt! Wie kam das +nur? Es musste wohl mit der Harmonika zusammenhaengen, die ihm frueher alle +Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfaeffling +hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien +vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall +gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte +er schon gesehen? Fuenf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn +das? Ah, hinter den Buechern, hatte es sich wohl zufaellig verschoben? Er +warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang +ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr +Pfaeffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so +schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie +dumm, zu meinen, der Vater liesse sich auf diese Weise ueberlisten! +Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen. + +Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis +etwas besser als die frueheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl +nicht, aber fuer die Mathematik fehlte das Verstaendnis. + +Eine Weile war Herr Pfaeffling auf und ab gegangen, da hoerte er jemand an +seiner Tuere vorbeigehen und oeffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war +Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend +ins Gesicht und sagte dann betruebt: "Vater, du denkst gar nicht daran, +dass morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und folgte +ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr, +Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, dass du mich +erinnerst." + +"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden +immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." + +"So?" sagte Herr Pfaeffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor +Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal +alle sechs herueber, ich will machen, dass sie sich freuen!" + +Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre +Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig aengstlich auf einem +Trueppchen dem Vater gegenueber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng +aneinander drueckten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die +Durchschnittsnote hervorgegangen. + +"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur +gegen mich duerft ihr euch nicht verbinden, mit List und +Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet +man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als +mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehoeren zusammen, zwischen uns +darf nichts treten, auch kein Vierer!" + +Da loeste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen +Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um +den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen +wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht +verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, +nein, vor dir moechte ich nie etwas verheimlichen!" + +"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfaeffling, "was kaeme denn auch +Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann +kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was +machen wir, dass sie das naechste Mal besser ausfaellt? Nachhilfstunden +kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit +meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie +waere es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast +das alles erst voriges Jahr gelernt, du koenntest dich darum annehmen. +Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem +Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. + +"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den +Vierer muessen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. +Von jetzt bis Ostern streichen wir fuenfundzwanzig oder meinetwegen auch +nur zwanzig Tage an fuer eine Mathematikstunde. Faellt eine aus, so muss +sie am naechsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht +das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es +keinen Vierer mehr." Die Brueder nahmen den Kalender her, suchten die +geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und +Schueler zu sein. + +"So," sagte Herr Pfaeffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit +den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schoen wie +in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" +Waehrend des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens +froehlichem Jauchzen ging leise die Tuere auf, ein Lockenkoepfchen erschien +und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal +geklopft, Herr Pfaeffling, aber Sie haben gar nicht 'herein' gerufen." + +Es war Fraeulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch +immer hatte sie Herrn Pfaeffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie +nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie grosse, erstaunte +Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie +langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon +verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen +geht, Herr Pfaeffling, ich finde das so reizend!" + +Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Kueche. Als +aber Frau Pfaeffling die Kinder kommen hoerte, liess sie sie nicht ein, +machte nur einen Spalt der Tuere auf und rief: "Niemand darf +hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheissungsvoll +aus, dass das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt +beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem +Musikzimmer ertoente nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige +Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! + +"Fraeulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur +so auf gut Glueck, aber Sie haben einmal kein Glueck, Sie muessen _die_ +Noten spielen, die da stehen." + +"Ach Herr Pfaeffling," bat das Fraeulein schmeichelnd, "seien Sie doch +nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch +nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie froehlich +weiter und nun, als der Schlussakkord kommen sollte, hoerte sie ploetzlich +auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit +zu machen zum taeglichen Gebrauch, Herr Pfaeffling." + +"Den Schlussakkord, Fraeulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie +ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, +denn Sie werden immer am meisten boese, wenn der letzte Ton falsch wird." + +"Aber Sie koennen ihn doch nicht einfach weglassen?" + +"Nicht? Das Lied koennte doch auch um so ein kleines Stueckchen kuerzer +sein?" + +Darauf wusste Herr Pfaeffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in +rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Paeckchen in Empfang und sagte +zuletzt zu Fraeulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. +Januar wieder zu kommen. Darueber hatte sie eine kindliche Freude, und +diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu +haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer +und seiner Schuelerin. + +In vergnuegter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herueber. Er hielt +hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das +ueber einen Meter lang herunter hing. + +"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? +Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schoen, kannst du es verwenden, +Caecilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine +Tastendecke fuer das Klavier erkannt. + +"Und das soll ich in taeglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tuechlein +ausbreiten?" rief Herr Pfaeffling erschreckt; "nein, Fraeulein +Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Caecilie, ich +bitte dich, nimm mir das Ding da ab!" + +Herr Pfaeffling hatte bis zum spaeten Abend keine Gelegenheit gefunden, +seiner Frau von dem Gespraech mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzaehlen. +Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein sass noch mit den +Eltern am Tisch, und Herr Pfaeffling berichtete getreulich die Vorgaenge +im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, +aber Frau Pfaeffling war der Ansicht, dass Herr Meier die Kritik seines +Sohnes wohl auch in milderer Form uebelgenommen haette. "Es gibt so wenig +Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige, +die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfaeffling und fuegte laechelnd +hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein +glueckliches Paar, nicht wahr?" + +Frau Pfaeffling wusste, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah +verstaendnislos darein. "Du weisst nicht, was wir meinen," sagte der Vater +zu ihm, "soll ich es dir erzaehlen, oder ist er noch zu jung dazu, +Caecilie?" + +"O nein," rief Karl, "bitte, erzaehle es!" + +"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Maedchen war und dein +Grossvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine +Universitaetsstadt und machte ueberall meine Aufwartung, um mich +vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Grosseltern Besuch. Es +war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Ueberrock und hatte den +Regenschirm bei mir." + +"Du musst auch sagen, was fuer einen Schirm," fiel Frau Pfaeffling ein, +"einen dicken baumwollenen gruenen, so ein rechtes Familiendach, wie man +sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Ueberrock und diesem Schirm +trat dein Vater in unser huebsches, mit Teppichen belegtes +Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als +mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu +Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, +dummes Maedchen war, kam das so furchtbar komisch vor, dass ich alle Muehe +hatte, mein Lachen zu unterdruecken." + +"Ja," sagte Herr Pfaeffling, "du hast es auch nicht verbergen koennen, +sondern hast mich fortwaehrend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und +um deine Mundwinkel hat es immerwaehrend gezuckt. Ich aber hatte keine +Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein +gelehrtes Gespraech, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich +warf, so kam es mir wunderlich vor, dass du wie die Heiterkeit selbst +dabei warst. Aber nun pass auf, Karl, nun kommt das Grossartige. Als ich +wieder aufstand, aeusserte ich, dass ich im Nebenhaus bei Professer Lenz +Besuch machen wollte." + +"Ja," sagte Frau Pfaeffling "und ich wusste, dass Lenzens zwei Toechter +hatten, so kleinlich lieblos und spoettisch, dass jedermann sie fuerchtete. +Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Ueberrock und mit dem Schirm +in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum +Gespoett fuer den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich +sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schuechtern und ungeschickt." + +"Du hast mich auch bis an die Tuere gehen lassen," fiel Herr Pfaeffling +ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, +wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfaeffling, wollen Sie nicht +lieber ihren Ueberrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, +was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, +meinen Ueberrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du +lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn +Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort +und setzte mir hoeflich auseinander, dass es allerdings gebraeuchlich sei, +im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der +Lachlust." + +"Ja," sagte Frau Pfaeffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede +Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin ueber den Ruepel, Sie +haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst haetten Sie ihm das nicht +gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam." + +"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloss Herr +Pfaeffling. + + + + +8. Kapitel + +Endlich Weihnachten. + + +Gibt es ein schoeneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute +ist Weihnachten? Die jungen Pfaefflinge kannten kein schoeneres, und an +keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schluepften sie so leicht +und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so +dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man musste doch der +Mutter helfen aus Leibeskraeften, damit sie ganz gewiss bis abends um 6 +Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewoehnlichen Tagen schob gerne +eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt +wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke +ertoente, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet +werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Grossmutter +Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswuensche befriedigt +wurden, zu deren Erfuellung die Kasse der Eltern nie gereicht haette. + +Zunaechst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der +etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus +dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und fuer die +allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit +war Frau Pfaeffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, "fuehrt +ihr die Kleinen in euer Stuebchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich +sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfaeffling: "Sie +haetten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was +sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, dass wir einen Puppenwagen +und allerlei Spielzeug fuer sie haben?" "Ach," entgegnete die Frau, +"darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's +kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch +dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen +den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles +aufgegessen, was man etwa Gutes fuer sie bekommen hat. Ich weiss wohl, dass +es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr +schoen am heiligen Abend." + +"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch +noch viel aermer waere, das weiss ich doch ganz gewiss, dass ich meinen +Kindern einen schoenen heiligen Abend machen wuerde. Meine Kinder bekommen +auch nicht viel--das koennen Sie sich denken bei sieben--aber weil keines +vorher ein Stueckchen sieht, so ist dann die Ueberraschung doch gross. +Glauben Sie, dass irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas +von dem Weihnachtsgebaeck versuchen wuerde vor dem heiligen Abend? Das +kaeme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf +keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezuendet ist und +alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann +sind sie so ueberrascht, dass sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn +auch gar keine grossen Geschenke daliegen." + +"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfaeffling, mein Mann hat keinen +Sinn fuer so etwas und will kein Geld ausgeben fuer Weihnachten." + +"Haben Sie kein Baeumchen kaufen duerfen?" fragte Frau Pfaeffling. + +"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht +und Lichter dazu." + +"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den +Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier +zusammen gerichtet habe, das waere schon genug fuer Kinder, aber ich denke +mir, dass Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas +bekommen, oder nicht?" + +"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein +kommen, sie habe etwas fuer mich und die Kinder." + +"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr +tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel +gerade so gross wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon +auch daran freuen." + +"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag +gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der +Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie +haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan +habe." + +"Aber Schmidtmeierin, da wuerde ich doch lieber tun, was der Mann will, +als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was waere das jetzt fuer eine +Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch laegen! So wuerde mein +Mann auch den Sinn fuer Weihnachten verlieren. Das muessen Sie mir +versprechen, Schmidtmeierin, dass Sie meine Sachen, und die von Frau +Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schoene +Bescherung halten. Wo koennen denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie +herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" + +"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" + +"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: koennen die Kinder nicht unter dem +Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? +Das gehoert auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn +ein paar Pfennige uebrig haetten, dann sollten Sie fuer den Mann noch einen +Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzaehlen Sie mir, +Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen +Abend, und ob es nicht schoen bei Ihnen war." + +"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfaeffling, und ich danke fuer die vielen +Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben." + +"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen +allein, und wenn es noch viel mehr waeren, machen kein schoenes Fest, das +koennen nur Sie machen fuer Ihre Familie; fremde Leute koennen die +Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muss die Mutter tun, und die +Reichen koennen die Armen nicht gluecklich machen, wenn die nicht selbst +wollen." + +Frau Pfaeffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurueck; als +diese endlich heimkamen, waren alle Schaetze im Schrank verborgen und der +Schluessel abgezogen. + +Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, +darum zu betteln und schliesslich laut zu heulen. Damit setzten sie +gewoehnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "bruellt +nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus +hoert. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schoenes, erst am Abend, wenn ihr +dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfaefflings ist's auch so." + +Da ergaben sich die Kinder. + +Frau Pfaeffling und Walburg hatten noch alle Haende voll zu tun mit +Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in froehlicher +Stimmung. "Man muss sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfaeffling +und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Maedchen. + +"Oben auf dem Boden haengen noch die Struempfe von der letzten Waesche," +sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das koennt ihr Buben +besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien +Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezaehlte Menge +Pfaeffling'scher Struempfe hing. Walburg war eine grosse Person und pflegte +das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hoelzernen Klammern +nicht erreichen, mit denen die Struempfe angeklemmt waren. "Einen Stuhl +holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das +unnoetig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," so +war es lustiger. Er probierte das Kunststueck und brachte es fertig, Otto +gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab +es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, dass die Tuere von Frau Hartwigs +Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren +Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken ueber den ploetzlichen +Laerm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?" + +"Wir nehmen bloss die Struempfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, +wenn man Struempfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir muessen eben +darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und +mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer gluecklich erfasst, der +Strumpf fiel herunter. + +"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. + +"Es sind ja nur Struempfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher +grau und schwarz, denen schadet das nichts." + +Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre +Gedanken. Welche Arbeit, fuer soviel Fuesse sorgen zu muessen! Fast alle +Struempfe schienen zerrissen! Und welche Koerbe voll Flickwaesche mochten +sonst noch da unten stehen und auf die Haende der vielbeschaeftigten +Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte fuer Flickerinnen! Ob +es nicht Christenpflicht waere, da ein wenig zu helfen? + +Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brueder mit dem Bescheid +herunter: Die meisten Struempfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, +sie muessten noch haengen bleiben. Frau Pfaeffling achtete im Drang der +Arbeit kaum darauf und dachte nicht, dass Frau Hartwig kurz entschlossen +den ganzen Schatz Pfaeffling'scher Struempfe heruntergenommen hatte, und +ihnen nun mit Trocknen und Buegeln viel mehr Ehre erwies, als diese es +sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das +Noetige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch +eine Weihnachtsueberraschung und wird nach Jesu Sinn keine +Feiertags-Entheiligung sein. + +Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfaefflings ein +kaergliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den +Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel +nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam +von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weisst du das noch +nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. +Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfaeffling, +"und selbst wenn sie Zeit haette, heute Mittag muesste das Essen doch knapp +sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den +Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewaermte Reste vom +gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr +Pfaeffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf +dabei an ein grosses Stueck Braten denken!" + +"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder +herein duerft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd +davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es +Ernst! + +Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die +kleinen Schaeden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, +wurden sorgfaeltig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck +da, mit goldenen Nuessen und rotbackigen Aepfeln, mit bunten Lichtern und +oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern +Haeusern feiner geschmueckte Tannenbaeume mit Winterschnee und Eiszapfen, +es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen +und Flittergold so ueberladen waren, dass das Gruen des Baumes kaum mehr +zur Geltung kam. Pfaefflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch +ebenso, wie ihn Grossvater Pfaeffling und Grossmutter Wedekind vor dreissig +Jahren ihren Kindern geschmueckt hatten, und weil ihre seligsten +Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran +aendern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es +anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehoerten, standen +nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten +deutschen Kuenstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch +jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen +Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders +aufgestellt, das war Herrn Pfaefflings Anteil an dem Herrichten des +Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die +muehsame Arbeit des Einraeumens von Puppenzimmer, Kueche und Kaufladen +begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und uebernahm +die Aufsicht ueber die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in +Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, +als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes +Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so +feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das +Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch +des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten +Zuhoerer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. + +Frau Pfaeffling hoerte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus +dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Tuerspalt, es war eine +Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die +Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen +aus der Grossmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht +frische Schuerzen an und sagt auch Walburg, dass sie sich bereit macht, +nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht leuchtete +verheissungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen +hervor. + +Herr Pfaeffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten +Vorbereitungen. "Jetzt waeren wir so weit," sagte er, "koennen wir den +Baum anzuenden?" + +"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich +bin so mued und moechte nur ein ganz klein wenig ruhen, um fuer den grossen +Jubel Kraft zu sammeln." + +"Freilich, freilich," sagte Herr Pfaeffling, "die Kinder koennen sich wohl +noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und +schliesse die Augen." + +"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurueck. Aber nur +drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder +frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spuere die siebenfache +Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draussen, wir wollen +anzuenden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die grossen Kerzen in +den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen +Lichtchen in Puppenstube und Kueche. Und nun ein Glockenzeichen und die +Tuere weit auf! Sie draengen alle herein, die Kinder und Walburg hinter +ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange +er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen +und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, +nun geht die beschauliche Freude ueber, immer lauter und jubelnder wird +das Kinderglueck. + +War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht +dabei, aber es war alles ueberraschend und jedes kleine Geschenk war +sinnig auf den Empfaenger berechnet und manches erhielt durch einen +kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen +Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe +und Guete, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glaenzte dies +in Glueck und Freude, und ueber all dem lag der Duft des Tannenbaums--ja +die Fuelle des Glueckes bringt der Weihnachtsabend! + +Frau Pfaeffling beruehrte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den +Frieder!" An dem Plaetzchen des grossen Tisches, das ihm angewiesen war, +stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, +zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm +er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das +Verschen: + + Fideln darfst du, kleiner Mann, + Vater will dir's zeigen. + Aber merk's und denk daran: + Immerfort zu geigen + Tut nicht gut und darf nicht sein. + Halte fest die Ordnung ein: + Eine Stund' am Tag, auch zwei, + Doch nicht mehr, es bleibt dabei. + +"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er +draengte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich +sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die +Geschwister ihm nicht viel Platz liessen, drueckte er sich hinter den +Christbaum und fing ganz sachte an, leise ueber die Saiten zu streichen +und zarte Toene hervorzulocken. Und er sah und hoerte nichts mehr von dem, +was um ihn vorging, und muehte und muehte sich, denn er wollte _reine_ +Toene, dieser kleine Pfaeffling. Die Eltern sahen sich mit gluecklichem +Laecheln an: "Dies Weihnachten vergisst er nicht in seinem Leben," sagte +Frau Pfaeffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen kleinen +Schueler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" + +"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, +Marianne?" + +"Ein Paeckchen feinste Glacehandschuhe hat uns Fraeulein Vernagelding +geschickt!" + +"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?" + +"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche." + +"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muss!" + +Es gab jetzt ein grosses Durcheinander, denn die Brueder probierten ihre +neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch +gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Haengelampe. +"Man koennte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz +ausser Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. +"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den +Hausherrn. Auch hoerte das Getrampel der Kinderfuesse ploetzlich auf, es +wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den +untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen +Ueberraschungen fuer die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem +Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles +gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! + +In ihrer Kueche stand Walburg und sorgte fuer das Abendessen. Auch fuer sie +war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht +worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren +grossen, ernsten Zuegen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute +morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen haette, +aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstuendchen finden lassen. Wenn +jetzt Frau Pfaeffling herauskaeme, jetzt haette sie vielleicht einen +Augenblick Zeit fuer sie, aber sie wuerde wohl schwerlich kommen. Waehrend +Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfaeffling ganz von ihren Kindern +in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufaellig auf Walburgs +Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Maedchen. +Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch +nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber +unter den gluecklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Kueche zu +stehen? + +Frau Pfaeffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde +zuerst nicht vermisst, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der +Vater war ja da, aber allmaehlich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo +ist denn die Mutter?" Herr Pfaeffling schickte Frieder hinaus. Er kam +zurueck mit dem Bescheid, die Kuechentuere sei ganz fest zu und Walburg +rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann lasst sie nur +ungestoert," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muss man froh +sein." + +Frau Pfaeffling brachte aus der kalten Kueche einen warmen, sonnigen +Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im +Vorbeigehen drueckte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: +"Ich erzaehle dir spaeter!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten +sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht +man so gut an, dass heute Weihnachten ist." + +An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie +wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spaet, bis +endlich Herr Pfaeffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch +der Ruhe beduerftig sein," sagte er. + +"Ja, aber eines muss ich dir noch erzaehlen, was mir Walburg anvertraut +hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem +Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, dass vor einem +Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem +kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er muesse wieder eine Frau haben, und +weil er Walburg von klein an kenne, moechte er am liebsten sie haben. Er +wisse wohl, dass sie nicht gut hoere, aber das mache weiter nicht viel. +Wenn sie einverstanden sei, moege sie in den Feiertagen einmal +herausfahren, dass man die Verlobung feiern koenne und die Hochzeit +festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten +hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Haelfte bezahlen. Walburg +kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz +entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das +freut fuer Walburg!" + +"Das ist freilich ein unerhofftes Glueck, aber wird sie denn einem +Haushalt vorstehen koennen bei ihrer Taubheit?" + +"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht +kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich fuer sie, aber ich finde es +ruehrend, dass der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten +Eigenschaften willen. Uebrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da +draussen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden." + +"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es fuer die treue Person, +wenn auch nicht fuer uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz +finden." + +"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten +Feiertag moechte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den +Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg +zurueckkommt, sagen, dass sie Braut ist." + +Waehrend unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in +ihrer Kammer noch taetig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen +kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor +der hoelzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten saeuberlich und sorgsam +geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer +getragen, die in ihrem Dorf gebraeuchlich war, jetzt wollte sie sie +hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draussen gehoeren. +Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Haeubchen und die breite +blauseidene Schuerze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu +Ehren kommen! + +Am zweiten Weihnachtsfeiertag, frueh morgens, noch ehe es tagte, reiste +sie in ihrem laendlichen Staat in ihre Heimat. + +Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es +war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. +Wenn Frau Pfaeffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schoen +aufzuraeumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht +und auf dem grossen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nussschalen +und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlaerm. Die Schlittschuhe +lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kaelte nicht +bilden, und Frau Pfaeffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon +erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle +sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter +warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, +war sie fast zu muede, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfaeffling +nach den Wolken am Himmel, erklaerte, das Wetter helle sich auf und er +wolle einen weiten Marsch mit den grossen Kindern machen. Als eben +beraten wurde, ob Marianne auch mittun koenne, kam eine Schulfreundin und +lud die beiden Maedchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und +wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen uebrig, +die begleiteten ein wenig traurig die Grossen hinunter, kamen dann aber +um so vergnuegter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie +eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen. + +So geschah es, dass Frau Pfaeffling an diesem Nachmittag ganz allein war; +ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so dass nicht einmal aus der +Kueche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie +viel liess sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man +sonst nicht kam! Es war schon ein Genuss, sich sagen zu duerfen: was +_willst_ du tun? Meistens draengten sich die Geschaefte von selbst auf und +haetten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte +sie in traeumerischem Sinnen und ueber dem wurde ihr klar, was sie tun +wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme zu +dir!" + +Frau Pfaefflings Mutter lebte im fernen Ostpreussen, und seit vielen +Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 +jaehrige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ nicht +die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. +Aber es war doch koestlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn +auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, +eilig geschriebene Briefe mit den noetigsten Mitteilungen schicken +koennen, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich +einmal wieder bei der geliebten Mutter waere. Und es gab einen langen, +langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in +dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau +Pfaeffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief +viel von Glueck und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und +davon, dass ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch +festhielten: Ein jeder trage des andern Last. + +Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen +Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und +zuendete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und +grosse breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des +Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau +Pfaeffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich +zu euch. + +Eine Viertelstunde spaeter mahnte die Glocke, dass wieder Leben und +Bewegung Einlass begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau +Pfaeffling. Sie fuehlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, +froehlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich +nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, ihm +und den Kindern zu oeffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt +hatten, Walburg stand vor der Tuere. + +"Du kommst schon?" rief Frau Pfaeffling erstaunt, "wir haben dich erst +mit dem letzten Zug erwartet." + +"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Maedchen. "Kartoffeln +zusetzen?" + +"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, +wie alles gegangen ist," und da Walburg zoegerte, fuegte sie hinzu, "ich +bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's +nicht so arg gedacht, er meint, fuer die Kinder waere doch eine besser, +die hoert." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe +hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den braeutlichen Putz ablegen. Sorgsam +faltete sie die blauseidene Schuerze, versenkte sie in die Truhe und +legte den Brief dazu, der sie zwei Tage gluecklich gemacht hatte. Dann +schluepfte sie in ihre alltaeglichen Kleider, setzte sich auf die alte +Truhe und sah mit traurigen, aber traenenlosen Augen auf die kahlen Waende +ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so oede und +leer in ihrem Herzen. + +Da ging die Tuere auf, Frau Pfaeffling kam herein und stand unvermutet +neben dem Maedchen, das ihren Schritt nicht gehoert hatte. "Walburg, du +tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht traenenleer. +Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen +Art: "Draussen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir +geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die +Tafel schreiben muessen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl +recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat +er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot +mitgegeben. Sonst waere alles recht gewesen, nur gerade eben die +Taubheit. Und sie sagen auch, ich koennte gar nicht mehr so reden wie +sich's gehoert. Ich weiss nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch +auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie frueher auch?" + +"Fuer uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir +verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's +lieb, dass du uns nicht verlaesst, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da +wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll +Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemuehte, ihr, der +Tauben, Trostreiches zu Gehoer zu bringen. Worte des Dankes fand sie +freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie +nach ihrer Hausschuerze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt +und das Essen nicht gerichtet ist!" + +Frau Pfaeffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so +traurig aus ihrer Heimat zurueckgekehrt, sie hat weder Eltern noch +Geschwister mehr draussen, wir wollen uns Muehe geben, dass sie sich bei +uns recht heimisch fuehlt." + +"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hoert +sie." + +Da warnte Herr Pfaeffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen +noch geigen? Wie heisst dein Vers? + + "'Eine Stund am Tag, auch zwei, + Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" + +Aber Frieder konnte nachweisen, dass er heute noch nicht zwei Stunden +gespielt hatte, ging hinaus in die Kueche und machte mit denselben +Violinuebungen, die sonst die Zuhoerer in Verzweiflung bringen, dem +traurigen Maedchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhaenglichkeit +des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit +auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den +Mitmenschen. + + + + +9. Kapitel + +Bei grimmiger Kaelte. + + +Das Neujahrsfest brachte grimmige Kaelte, brachte Eis, mehr als zum +Schlittschuhlaufen noetig gewesen waere. Schon beim Erwachen empfand man +die menschenfeindliche Luftstroemung und es gehoerte Heldenmut dazu, aus +den warmen Betten zu schlupfen. In Pfaefflings kalten Schlafzimmern war +das Waschwasser eingefroren, und man musste erst die Eisdecke +einschlagen, ehe man es benuetzen konnte. + +Als die Familie sich mit Neujahrswuenschen am Fruehstueckstisch +zusammenfand, galt Herrn Pfaefflings erster Blick dem Thermometer vor dem +Fenster, und er musste das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. +"Zwanzig Grad Kaelte," verkuendete er, "Kinder, das habt ihr noch nie +erlebt; und Walburgs Neujahrsgruss lautete: 'Die Wasserleitung ist ueber +Nacht eingefroren.'" + +Die Strassen waren ungewoehnlich still, wer nicht hinaus musste, blieb +daheim am warmen Ofen und wer, wie die Brieftraeger, am Neujahrstag ganz +besonders viel durch die kalten Strassen laufen und vor den Haeusern +stehend warten musste, bis die Tueren geoeffnet wurden, der hoerte manches +teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse +warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfaeffling hatte ihr Paeckchen +Glueckwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war +einer, der noch mehr als Glueckwuensche enthielt. Es war die Antwort auf +Frau Pfaefflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende +Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar +gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der +Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der +alten Heimat vereinigt waeren. So viel Liebe und Anhaenglichkeit sprach +sich aus in den Briefen von Frau Pfaefflings Bruder und Schwester, denen +ein eigenhaendiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruss der alten +Mutter beigesetzt war, dass Frau Pfaeffling tief bewegt war und zu ihrem +Mann wehmuetig sagte: "Ach, wenn es nur moeglich waere, aber es ist ja gar +nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn fuer +einige Tage wuerde sich die grosse Reise gar nicht lohnen." + +Es kam ganz selten vor, dass Frau Pfaeffling fuer sich einen Wunsch +aeusserte, und so war es nur natuerlich, dass es der ganzen Familie +Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah. + +"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. + +"So ganz unmoeglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr +Pfaeffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder +gross sind und Walburg so zuverlaessig ist." + +Frau Pfaeffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte +dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und +versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich +zugehen, wie wenn sie da waere. Aber sie schuettelte dazu unglaeubig den +Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kaelte +mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar +bringt!" + +Zunaechst brachte er den Abschluss der Ferienzeit, die Schulen begannen +wieder. So warm wie moeglich eingepackt machten sich die Kinder auf den +Weg. Freilich, die drei grossen Brueder besassen zusammen nur zwei +Wintermaentel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute +haette jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem +er ihn schon vor dem Fruehstueck angezogen hatte. Nun standen Karl und +Wilhelm vor dem einen, der noch uebrig war. "Dich wird's nicht so arg +frieren wie mich," sagte Wilhelm zum groesseren Bruder und Karl, obwohl er +nicht recht wusste, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im +Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Lass +doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es +sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!" + +"Dumm?" sagte Herr Pfaeffling, "es sieht eben aus, als seien keine grossen +Kapitalien da, mit denen man ungezaehlte Maentel beschaffen koennte. So +ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Uebrigens, laenger als +fuenfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede +wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muss? Seid ihr so zimpferlich?" + +"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwoelf Minuten," er liess +den Mantel fahren und rannte davon. + +Elschen war diesmal nicht so ungluecklich wie frueher ueber den +Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten +bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von +Buchstaben kannte, und troestete sich mit der Aussicht, dass nach den +Osternferien auch sie mit den Grossen den Schulweg einschlagen wuerde. + +So wohl es Frau Pfaeffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit +wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf +das erste Heimkommen, denn sie wusste aus Erfahrung, dass Mann und Kinder +angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfuellt, zurueckkommen +wuerden. Um so mehr war sie ueberrascht, dass Marianne diesmal weinend nach +Hause kam. Die beiden Maedchen, obgleich sie gut mit Wintermaenteln +versehen waren, weinten vor Kaelte und die Fingerspitzen wurden in der +Waerme nur noch schmerzhafter, so dass sie noch klagend im Zimmer +herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. "Habt ihr +denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau Pfaeffling. Da +kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Gestaendnis, dass man sich den +Mitschuelerinnen mit den neuen, knapp anschliessenden Glacehandschuhen +habe zeigen wollen, die Fraeulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt +hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Bruedern ausgelacht. + +"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfaeffling. "Wenn du keine +Glacehandschuhe traegst, so kommt es gewiss nur daher, dass du keine hast. +Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist +gar kein rechter Pfaeffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, +ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben +uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzaehlt. +Kommt, wir wollen beten: + + "Herr wie schon vor tausend Jahren + Unsre Vaeter eifrig waren, + Dich als Gast zu Tisch zu bitten, + So verlangt uns noch heute, + Dass Du teilest unsre Freude. + Komm, o Herr in unsre Mitte!" + +Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfaeffling erwartet hatte, allerlei +Mitteilungen. Ueber Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie +vergraben, jetzt, durch die Beruehrung mit der Aussenwelt, erfuhr man +wieder, was vor sich ging. Herr Pfaeffling hatte vom Direktor der +Musikschule etwas gehoert, was ihn ganz erfuellte: Ein Kuenstlerkonzert +ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Kuenstlerpaar, das +vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen +hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch +meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die grossen +Staedte Europas sich hoeren lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise +zum erstenmal auch der kleine Sohn des Kuenstlerpaares als Violinspieler +Anteil, und die Zeitungen waren voll von ueberschwaenglichen Schilderungen +des ruehrenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar +begabten Knaben mache. + +Freilich waren die Preise fuer diesen Kunstgenuss so hoch gestellt, dass +unser Musiklehrer nicht daran gedacht haette, sich ein solch kostbares +Vergnuegen zu goennen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule +gegeben werden, und in solchem Fall war es ueblich, dass die Hauptlehrer +der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude +auf diesen grossen Kunstgenuss hin, umkreiste vergnuegt den Tisch, blieb +dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine +Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum +80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muss sich zur +Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem +Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. + +Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer +war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schueler war neu +eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfaeffling hatte nur mit +halber Aufmerksamkeit zugehoert, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, +der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier +erzaehlt?" fragte er Otto. + +"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." + +"Hast du nichts naeheres darueber gehoert?" + +"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich +weiss nicht mehr." + +Herr und Frau Pfaeffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. +Gesprochen wurde nichts darueber, Herr Pfaeffling sollte aber bald naeheres +erfahren. + +Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, +im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, +und selbst die russische Familie klagte ueber den kalten deutschen +Winter. + +"Sie muessen von Russland doch noch an ganz andere Kaelte gewoehnt sein?" +meinte Herr Pfaeffling. + +"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiss man sich besser zu schuetzen. +Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie +sehen auch jedermann in Pelze gehuellt auf der Strasse. Warum tragen Sie +keinen Pelz bei solcher Kaelte?" fragte die Generalin, indem sie einen +Blick auf Herrn Pfaefflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen +Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Noetigere +anzuschaffen, ehe ein Pelzrock fuer mich an die Reihe kaeme," sagte er, +"ich kann uebrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Haende +sind nicht steif, wir koennen gleich spielen." + +Am Schluss der Stunde erzaehlten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. +"Es war sehr huebsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des +Besitzers, der viel juenger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist +uebrigens jetzt nicht mehr hier." + +"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich +gedacht haette. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der +Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges +Familienleben hinein.'" + +Herr Pfaeffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat +recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhaeltnisse im Haus unguenstig +sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land +unguenstig sind, so wie bei uns in Russland, so ist es wohl auch besser, +die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Russland haben +wir ganz traurige Zustaende, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen +nichts als Verderbnis ueberall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon +in den Schulen. Unsere eigenen Soehne haben von dieser verdorbenen Luft +schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns +entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurueckzulassen, +wenn wir nach Russland zurueckkehren, was wohl in der naechsten Zeit sein +muss. Wir stehen gegenwaertig ueber diese Angelegenheit in Briefwechsel mit +einer Berliner Anstalt." + +Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer +gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Soehne +standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfaeffling fuehlte, +dass diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren +schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer +Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme +Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Moechte das neue Jahr fuer Russland +bessere Zustaende bringen!" + +Als Herr Pfaeffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er +unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen +Augenblick zoegerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, ueber +das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier waere es gewesen, die +Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zuernte. Er tat es nicht. +Mit dem hoeflichen aber kuehlen Gruss des Gastwirts ging er vorueber, +gewohnheitsmaessig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!" + +"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfaeffling, und dann gingen sie +auseinander. + +Daheim angekommen, hoerte Herr Pfaeffling Frieders Violine. Wie der kleine +Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Kuenstler, +ein echter, wahrer, gottbegnadeter Kuenstler wuerde? Aber wie war denn +das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf +den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem +ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Kueche erklang es. +Neben Walburg, die da buegelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein +herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfaeffling liess sich dadurch nicht +bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" fragte er. + +"Nicht lange, Vater." + +"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? +Sage mir das genau?" + +"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fuegte etwas unsicher hinzu: +"Aber das ist doch noch nicht lang her?" + +"Das ist ueber zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon +heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, +Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, +sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche +bekommst du sie nimmer!" Herr Pfaeffling streckte die Hand aus nach der +Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. +Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem +Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann +reichte er schuldbewusst die geliebte Violine dem Vater hin und ergab +sich. + +Herr Pfaeffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht +verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie +sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Traenen +fuellten. Sie stellte ihr Buegeleisen ab, zog den Kleinen an sich und +fragte: "Darfst du denn nicht spielen?" + +"Nicht laenger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in klaeglichem Ton. + +"Sei nur zufrieden," troestete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die +Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner +Violine, und nun war sie ihm fuer eine ganze Woche genommen! + +Aber auch Herr Pfaeffling war nicht in seiner gewohnten froehlichen +Stimmung. Ihm war es leid, dass der Unterricht in der russischen Familie +zu Ende gehen sollte, eine grosse Freude und eine bedeutende Einnahme +fiel damit fuer ihn weg, und dazu kam nun, dass er auf dem Tisch im +Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geoeffnet +und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinuebertrieb in das +Familienzimmer zu seiner Frau. + +"Caecilie," rief er schon unter der Tuere, und als er die Kinder allein +fand, fragte er ungeduldig: + +"Wo ist denn die Mutter schon wieder?" + +"Sie ist draussen und buegelt." + +"So ruft sie herein, schnell, Marianne!" + +Die Maedchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." +Frau Pfaeffling buegelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme +gleich; ich muss nur den Kragen erst steif haben." + +"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und +in diesem Augenblick ertoente ein lautes "Caecilie". + +Daraufhin wurde der halb gebuegelte Kragen im Stich gelassen. Frau +Pfaeffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der +Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnoetige Komoedie mit der ewigen +Buegelei," fragte Herr Pfaeffling, "die Kinder waeren doch ebenso +gluecklich in ungebuegelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage +antwortete Frau Pfaeffling bloss wieder mit einer Frage: "Ist das +die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" + +"Sechzig Mark! Haettest du das fuer moeglich gehalten?" + +"Unmoeglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von +Anne im vorigen Sommer fuenfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle +Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Traenen +besaenftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, +du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafuer. Hast so viel +Schmerzen aushalten muessen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber +sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh +sein, dass du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hoerst du jetzt +wieder ganz gut, auch in der Schule?" + +"Ja," schluchzte das Kind. + +"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja +noch das Honorar zu erwarten fuer die Russenstunden und andere +Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Caecilie, es +ist doch immer alles gleich bezahlt worden?" + +"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, dass +diese Ohrenbehandlung foermlich als Operation aufgefuehrt und angerechnet +wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt +gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die +Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!" + +Als Frau Pfaeffling nach einer Weile wieder beim Buegeln stand, war ihr +der Kummer ueber die sechzig Mark noch anzusehen, waehrend Herr Pfaeffling +schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurueckkehrte und sich sagte: +"Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, dass die Doktorsrechnung die +einzige an Neujahr ist." + +Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, +als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und +die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, fluesterten +bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung +sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief +hinueber." Das Kind uebernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater +geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riss hastig den +Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhaendler war sie +und lautete nur auf vier Mark, fuer eine Grammatik, aber sie empoerte +Herrn Pfaeffling fast mehr als die grosse Rechnung. "Wenn die Buben das +anfangen, dass sie auf Rechnung etwas holen, dann hoert ja jegliche +Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch +warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Grossen +herueber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter Miene, +suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den +Buegeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte +sie, "und die Grossen muessen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht +gern hinuebergegangen," fuegte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen +nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei +wischte sie sich doch den Schweiss von der Stirne, trotz der zwanzig Grad +Kaelte draussen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch +zu buegeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es +sind immer noch viele da." Frau Pfaeffling buegelte weiter, sah muede aus +und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat muesste es freilich sein, wenn +man einmal ein paar Wochen ausgespannt wuerde!" + +Inzwischen hatte Herr Pfaeffling ein Verhoer mit seinen Soehnen angestellt, +und Otto hatte gestanden, dass er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik +geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich haette gerne die alte +Ausgabe benuetzt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er +schon aergerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem +aeltesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, +dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch +vertroestet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr +geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die +alte Auflage muss wohl noch von deinem Grossvater stammen?' So hat der +Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen koennen?" + +"Mir haettest du das gleich sagen sollen, dann waere sie bezahlt worden." + +"Du hast damals gar nichts davon hoeren wollen," sagte Otto klaeglich. + +"Dann haettest du es der Mutter sagen sollen." + +"Die Mutter schickt uns immer zu dir." + +"Ach was," entgegnet Herr Pfaeffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; +wie du es haettest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht +so. Denkt nur, wohin das fuehren wuerde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung +nehmen wuerdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man +durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen +es immer zustande ohne solche, und ihr muesst es auch lernen. Darum zahle +du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt +bekommen?" + +"Ich habe keine drei Mark mehr." + +"Dann helfen die Brueder. Ihr habt es doch wohl gewusst, dass Otto die +Grammatik geholt hat? Also, dann koennt ihr auch zahlen helfen. Jeder +eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich +darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhaendler, zahlt und bringt +mir die Quittung, und am naechsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, +Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag +dankbar entgegen und waren froh, dass die Sache gnaedig abgelaufen war. +Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhaendler +tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustuere eine Droschke, +eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah +Fraeulein Vernageldings Lockenkoepfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, +auch das noch!" musste Otto denken. Aber das Fraeulein sprach ihn +freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuss zu gehen, wollen Sie +nicht auch fahren? Da waere eben eine Droschke frei!" + +"Danke, nein, ich gehe zu Fuss," entgegnete Otto, lief davon und lachte +vor sich hin ueber den Einfall, dass er zum Buchhaendler fahren sollte. +Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Strasse bei +zwanzig Grad Kaelte! + + + + +10. Kapitel + +Ein Kuenstlerkonzert. + + +Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem +bevorstehenden seltenen Kunstgenuss. Die schon frueher Gelegenheit gehabt +hatten, die Kuenstler zu hoeren, stritten darueber, ob die entzueckende +Stimme der Saengerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die +Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische +Wunderkind einen solchen Reiz ausuebte. + +Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt fuer die Kuenstlerfamilie und ihre +Begleitung. Herr Pfaeffling wusste das nicht, als er dem Hotel zuging, um +seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal +musizierten sie zusammen, weit ueber die festgesetzte Zeit hinaus, dann +nahm Herr Pfaeffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen +ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den +Soehnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden +jungen Leute in Berlin zuruecklassen. Schwer bedrueckte sie auch der +jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurueckkehren mussten. +Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. + +Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den +grossen Abstand der aeusseren Stellung und Lebensverhaeltnisse zwischen den +beiden Maennern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und +warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich. + +"Unsere Soehne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, +"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu +ueberbringen. Uebermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch +anhoeren, vielleicht sehen wir uns im Saal!" + +Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, +verabschiedete sich Herr Pfaeffling. Auf der Treppe musste er Platz +machen. Ein praechtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war fuer +das Empfangszimmer des Kuenstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und +Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfaeffling +verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig +anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier +herein zu kommen?" fragte er, die Tuere eines Zimmers aufmachend. "Ich +wohl," sagte Herr Pfaeffling, "aber Sie sind heute wieder vollauf in +Anspruch genommen?" + +"Allerdings, und man sollte meinen, ich haette keinen anderen Gedanken +als meine Gaeste, aber auch uns Geschaeftsleuten steht das eigene Fleisch +und Blut doch am naechsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, +was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es +vielleicht, dass er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester +ist. Sie, Herr Pfaeffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den +Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation." + +"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir +sehr bewusst, dass ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen +habe. Was schreibt Ihr Sohn?" + +"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben +finden, aber nun sollten Sie hoeren, wie er begeistert schreibt ueber +seine Tante, obwohl diese ihn fest fuehrt, wie wichtig es ihm ist, ob er +ihr zum Quartalsabschluss ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, +wie vergnuegt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern +schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner +Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte +ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl +Telegramme ueberreichte, die eben eingetroffen waren. + +"Ich will Sie nicht laenger aufhalten," sagte Herr Pfaeffling. "Ihre +Telegramme beunruhigen mich, auch hoere ich unten immerfort das +Telephon." + +"Fuer dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich +alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde moechten da absteigen, wo sie +wissen, dass die Kuenstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders +auch die Berichterstatter fuer die Zeitungen, diese hoffen im gleichen +Hause etwas mehr zu hoeren und zu sehen von den Kuenstlern, als was sich +im Konzertsaal abspielt." + +Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur +Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt +oder vorausbestellt. Ich muss fuer Aufnahme in anderen Haeusern sorgen. Mir +ist es lieb, zu denken, dass Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit +oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein fuer +Ihren Rat, Herr Pfaeffling." + +Die beiden Maenner trennten sich und als Herr Pfaeffling das Zentralhotel +verliess, dessen schoene Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal +ueberschritten hatte, wandte er sich unwillkuerlich und warf noch einmal +einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurueck. Wie +wenig Unterschied war doch im Grund bei aller aeusseren Verschiedenheit +zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. +Der russische General, der reiche Geschaeftsmann und er, der schlichte +Musiklehrer, schliesslich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. +Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie +sich, tuechtige Soehne wollten sie alle, und das konnte ein armer +Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. + +Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der +Fruehlingsstrasse, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfaeffling war +in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden +Schueler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die +jungen Leute drueckten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache +aus, baten Frau Pfaeffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit, +dass die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben haetten, +selbst noch einen Gruss schreiben und diesem das Honorar fuer die Stunden +beilegen wollten. + +Unser Musiklehrer haette sie noch in der Fruehlingsstrasse treffen muessen, +wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen waere. Aber es hatte heute in +der Musikschule nach Schluss des Unterrichts eine sehr erregte +Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfaeffling +kam spaeter als sonst und nicht mit seiner gewohnten froehlichen Miene +heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, dass reich oder arm +nicht viel zum Glueck des Menschen ausmache! Der Direktor hatte +mitgeteilt, dass zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte, +auf seinen Namen lautend, fuer die Lehrer der Musikschule abgegeben +worden sei. Darueber herrschte grosse Entruestung unter den Kollegen. +Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plaetze verschaffen, fuer +Herrn Pfaeffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte +einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu ueberreden. "Nein," sagte er, +"ich saesse nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch +nicht einmal die 60 Mark beisammen fuer den Arzt! Wenn die Russen heute +das Geld geschickt haetten, das haette mich vielleicht verfuehrt. Die Leute +sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich +waere, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muss oder nicht! +Und die Kuenstler! Wie leicht haetten sie noch eine Freikarte mehr +schicken koennen! Weisst du, dass Fraeulein Vernagelding mit ihrer Mutter +in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, dass ich neidisch +bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, +das junge Gaenschen, das nicht hoert, was recht und was falsch klingt, +soll diesen Kunstgenuss haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und +warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei +man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man +nicht bitter werden!" + +"Bitter?" wiederholte Frau Pfaeffling, "du und bitter? Das ist gar nicht +zusammen zu denken." + +Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. + +Frau Pfaeffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis +Elschen als schuechterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu +Mittag gegessen wuerde? Mit dem schlechten Gewissen einer saeumigen +Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfaeffling +sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zuegen zu lesen, +aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine oede Zeit, wenn sie fuer vier +Wochen verreist, ich wollte, es waere schon ueberstanden." + +Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer +waren besetzt, Kunstverstaendige waren von nah und fern herbei geeilt, +alte Bekannte, neue Groessen suchten das Kuenstlerpaar auf und das +Kuenstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons ueberschuettet, aber dennoch +langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fraeulein, das fuer den +kleinen Kuenstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune +erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen. + +Am Nachmittag liess die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele +Fremde der Stadt haetten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der +Kuenstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche +Stimme der Saengerin zu hoeren und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. +"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht +in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn +das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen wuerde in dem +Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein +Fraeulein ist selbst ganz nervoes von der Anstrengung, ihn aufzuheitern. +Nun moechte ich Sie bitten, dass Sie mir ein paar muntere Kinder +verschaffen, Knaben oder Maedchen, die mit ihm spielen und ihn +zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie +mir dafuer, nicht wahr, und so bald wie moeglich. Auch etwas Spielzeug +wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!" + +"Ich werde dafuer sorgen, gnaedige Frau," versicherte Herr Meier, und +verliess das Zimmer. Die Wuensche der Gaeste mussten befriedigt werden, das +stand ein fuer allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also +auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte +er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Faellen hatte dieser +ihm oft Rat gewusst, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf +doch tatsaechlich nuetzlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr +Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung: +Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft, +temperamentvoll mussten die Kinder _dieses_ Mannes sicherlich sein. Er +ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer +Pfaeffling in die Fruehlingsstrasse. Lassen Sie ausrichten, der kleine +Kuenstler habe Langeweile und ich liesse Herrn Pfaeffling freundlich +bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Maedchen, +zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber +rasch!" + +So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Fruehlingsstrasse vor, +und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten +um zwei bis drei Stueck Kinder, Buben oder Maedel, das sei egal, sie +sollten dem kleinen Kuenstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider +sei." + +Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfaeffling, und sie +waren gleich bereit, die Bitte zu erfuellen. Wer passte am besten dazu? +Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur +Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklaerte, +er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich +genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich +Purzelbaeume vormachen und Spass mit ihm treiben, dass er kreuzfidel +wuerde!" + +"Gut," sagte Herr Pfaeffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du +es auch zustande bringen. Und Frieder?" + +"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher wuerde ich zu Elschen raten. +Wo ist sie denn? Ein Kuenstlerkind hat vielleicht Freude an dem +niedlichen Gestaeltchen." + +"Meinst du?" sagte Herr Pfaeffling zweifelnd, "ist sie nicht zu +schuechtern? Wir wollen sie fragen." + +Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, +hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und +Brueder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte +bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. +Frau Pfaeffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges +Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem +wir dir erzaehlt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt +kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?" + +"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schlaeft jetzt, da kann +ich schon fort." + +Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug +herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die +ganze Stadt, voll Freude ueber das unverhoffte Vergnuegen. + +Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, +ob entsprechendes herauskommen wuerde. Er oeffnete den Schlag. Der Anblick +von Elschens lieblichem kleinem Persoenchen erfreute ihn. Behutsam hob er +sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das +entspricht, wird sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit +Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen +gerafft und war schon unter der grossen Haustuere. Laechelnd sah ihn Herr +Meier an. "Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink," dachte er +und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst +einfuehren. Edmund heisst der Kleine. Er ist ein wenig muede von der Reise, +aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von +Musik muesst ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur +spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch." + +Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das +"Herein", statt dessen hoerten sie die Stimme eines Fraeuleins. "Aber +Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn +sonst tun?" hoerte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte +Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muss freilich arg Langeweile +haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen." Herr +Meier wusste nicht recht, ob er das gut heissen sollte, aber er hatte +inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war erfolgt und durch +die geoeffnete Tuere kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum +nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr +einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte +und sagte: "Wie macht man denn das?" + +Das Fraeulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Abloesung in +ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Saengerin, die aus dem +nebenan liegenden Zimmer unter die Tuere getreten war, laechelte +freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt +entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte +ein Gefuehl dafuer, dass die Art, wie ihr Bruder sich einfuehrte, +ungewoehnlich und vielleicht nicht passend war, und in der muetterlichen +Art, die sie von ihrer aelteren Schwester ueberkommen hatte, sagte sie zu +der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewoehnlich nicht mit Purzelbaeumen +herein, bloss heute, weil er lustig sein will." + +"Ein suesses Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fraeulein. "nun ist +Edmund versorgt und wir koennen ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder +nur ganz gewaehren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fraeulein +schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem +Buch zurueck und die Kinder blieben sich selbst ueberlassen. + +Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Kuenstler hatte etwas +sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Aeusseres. Weiche, +blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schoen und +wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine grossen, tiefblauen Augen, +die mit ihrem traeumerischen Ausdruck ahnen liessen, dass diese Kinderseele +mehr als andere empfand. Waehrend er mit den Kindern spielte, sah auch er +kindlich-froehlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewoehnlicher +Ernst und eine Fruehreife in seinem Gesicht, die ihn viel aelter +erscheinen liessen. + +Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spaessen und ergoetzte sich +mit diesem, waehrend Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir +moechte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" + +"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. + +"Was willst du tanzen?" + +"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, +der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewusst hatte. + +"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Daemchen zum +Tanz fuehren. + +"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muss mir das erst vormachen." + +Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, +fuer so kleine Taenzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu +machen. + +"Bei Walzer zaehlt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen +Walzer vorpfeifen." + +Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und +sich im Kreis zu drehen. Das Fraeulein, im Hintergrund, verbarg hinter +ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schuettelte. +Edmund fuhr die Tanzlust in die Fuesse, er ergriff seine kleine Taenzerin. +Sie waere ja keine Pfaeffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfasst +haette; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den +Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fraeulein +rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter +die Tuere, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in +unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner +Frau, "das gaebe einen Jubel! Wem gehoeren denn diese Kinder?" fragte er +das Fraeulein. Sie wusste es nicht. + +"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Maedchen ist die +Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." + +Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das +Fraeulein, dass es Zeit fuer Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und +sich umkleiden zu lassen fuer das Konzert. Als er das hoerte, verschwand +alle Froehlichkeit aus seinem Gesicht, er erklaerte, dass er nichts essen +moege, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. +Die vernuenftigen Vorstellungen des Fraeuleins, die zaertlichen Worte der +Mutter hatten nur Traenen zur Folge. + +Wilhelm versuchte seinen Einfluss auf den kleinen Kameraden. "Du musst +doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen +sich schon so lange auf das Konzert!" + +"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, +sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das +Kuenstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so +langweilig, waehrend du singst und Papa spielt." + +Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir koennen nicht +kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich +habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele +Aufgaben fuer morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Traenen, er +drueckte sein Koepfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht +kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch +tatsaechlich ein wenig elend aus, das kleine Buebchen. Seine Mutter rief +den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint und +jaemmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verstaendig, +aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute +abend." + +Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuss. Edmund ergriff Wilhelms Hand +und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden +Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden +nichts davon, das Gespraech wurde in italienischer Sprache gefuehrt. +Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir waeren sehr froh," sagte +er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Kuenstlerzimmer kommen und den +Abend bei ihm bleiben wolltest. Du muesstest eben deine Aufgaben einmal +bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl +tun? Wir verlangen auch diese Gefaelligkeit nicht umsonst, wir bieten dir +dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiss jetzt noch +leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." + +Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein +Billet, fuer den Vater natuerlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," +rief er, "ja, ja, fuer ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben +darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch +arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine ploetzlich vom Weinen +zum Lachen ueberging, sagte er zu diesem: "Koenntest du nur dabei sein, +wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut! +Mein Vater ist wohl so gross wie die Tuere da, und wenn er einen +Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weisst du +so!" und Wilhelm fing an, Spruenge zu machen, dass der kleine Kamerad laut +lachte und seine Mutter leise zu dem Fraeulein sagte: "Nun fuehren Sie ihn +rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnuegt ist," und dem Kinde +redete sie guetig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute +abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fraeulein +und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der +Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so +lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Kuenstlerzimmer fragen." + +"O, ich weiss es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt +es." + +Der Kuenstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, +"woher weisst du das Zimmer?" + +"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort +abgeholt." + +"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen fuer unser +Konzert?" + +"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich +mehr darueber freuen, als mein Vater!" + +Auch Elschen stimmte zu mit einem froehlichen "ja, ja!" und dabei +schluepfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern +war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte +wurde ihnen denn auch wirklich eingehaendigt und nachdem Wilhelm fest +versprochen hatte, sich rechtzeitig im Kuenstlerzimmer einzufinden und +Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Laerm +zu machen, wurden die Kinder entlassen. + +Wilhelm fasste die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, +schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiss zu Hause ist, es ist +schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!" + +So rasch eilten sie am Portier vorueber, dass dieser sie kaum mehr +erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die +Freitreppe vor dem Hotel. + +"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr duerft wieder heim fahren." +Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und +kommen viel frueher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber +die Hand des grossen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des +Knaben und hielt ihn zurueck. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, dass eine +Droschke geholt werden soll, es ist fuer dies kleine Maedchen ein weiter +Weg und draussen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so +kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen +holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im +Portierzimmer ein Sessel zurecht gerueckt. Da sass sie neben zwei riesigen +Reisekoffern, und betrachtete die glaenzenden Metallbeschlaege. + +"Das sind grosse Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen +bis nach Russland." + +"Dann gehoeren sie dem General," sagte Elschen, "der in der naechsten +Woche nach Berlin reist." + +"Weisst du davon? Du hast ganz recht, das heisst, er reist schon morgen." + +"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah +erstaunt auf die Kleine. "Das waere das neueste, wer hat denn das +gesagt?" + +"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." + +"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General +selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen +vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke." + +Wilhelm haette mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung +zu setzen als die eines mueden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr +einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, dass der +Wagenschlag fuer sie aufgerissen wurde wie fuer ein kleines Daemchen und +sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht +ausgleite. Nun fuhren sie durch die schoen beleuchteten Strassen, dann +durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die +Fruehlingsstrasse ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, muessen alle +auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und +Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muss das Billet zu +rechter Zeit bekommen!" + +In der Fruehlingsstrasse war abends kein grosser Wagenverkehr, und Frau +Pfaeffling, die bei den Kindern am Tisch sass, horchte auf und sagte: "Sie +kommen!" Herr Pfaeffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und +her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den +Gedanken gestoert wurde, wie viel schoener es waere, heute abend Musik, +Musik erster Klasse, zu hoeren, als ueber Musik zu lesen, Herr Pfaeffling +hoerte auch das Geraeusch des Wagens: "Das koennen die Kinder sein, ob +_sie_ wenigstens etwas gehoert haben in der Kuenstlerfamilie, singen, +Klavier oder Violine?" Das musste er doch gleich fragen, also: die Treppe +hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: "Es haelt +eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt +ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfaeffling stand +inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber +so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen +seiner Kinder: "Wie gut, dass du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja +ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Kuenstler +selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfaeffling nicht den Freudensprung +machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet haette, enttaeuscht +waere dieser doch nicht gewesen, denn dieser froehliche Ausruf der +Ueberraschung, dieses stuermische Stufenueberspringen, um moeglichst +schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Caecilie!" der +durch die ganze Wohnung klang, war auch ergoetzlich und herzerfreuend. + +Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es +diesmal ueberlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag +herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht +ueberrannt zu werden, wollte eben die Haustuere zumachen, als sie die +Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so +pressiert," sagte sie vor sich hin, "dass sich keines die Zeit genommen +hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloss +fuer sie die Haustuere, waehrend oben schon die Tritte der Hinauseilenden +verhallten. Elschen fand es ganz natuerlich, dass man sich nicht um sie +gekuemmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, +der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich gruesste sie die Hausfrau und +sagte, auf der Treppe zurueckblickend: "Jetzt weiss ich es, Hausfrau, wie +du das machen musst, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont +wird, du musst nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel +und es sieht auch viel schoener aus als das Holz da!" + +"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken +Teppiche, damit ich sie legen kann." + +Bei Pfaefflings war grosse Bewegung, die Freude ueber das Konzertbillet +hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten ueber die +Erlebnisse im Zentralhotel ueberstuerzten sich, zugleich wurden die +Vorbereitungen fuer das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfaeffling und +Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau +Pfaeffling hoerte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem +kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fuehlt," sagte sie zu +Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spaessen bei guter +Laune erhalten koennen!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu +vergnuegt ueber die Freikarte, als dass er von dem heutigen Abend irgend +etwas anderes als Erfreuliches haette erwarten koennen. Er strahlte mit +dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinueber, der ebenso +strahlte, waehrend sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten +und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der +Familie fuer das Konzert richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder +nicht mehr spielen will," sagte Frau Pfaeffling zu Wilhelm, "so lass ihn +sich zu dir setzen und erzaehle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika +und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn +du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weisst du, wenn man unwohl ist, +mag man gar nicht lachen, aber ueber dem Erzaehlen vergessen die Kinder +ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht +krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte +Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm." + +So gingen Vater und Sohn froehlich und guter Dinge miteinander nach der +Musikschule und trennten sich, Herr Pfaeffling, um seinen Platz in dem +schon dicht gefuellten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet +nachtraeglich zu verdienen. + +Er fand das Kuenstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn +begruessten hier die Kuenstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Saengerin +allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand +in schneeweissem Anzug da und lehnte das Lockenkoepfchen an seine Mutter, +die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt +dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes +Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine Purzelbaeume," +entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. + +"Das waere hier wohl auch nicht gut moeglich," sagte der Vater. Im +Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben +hielt sich das Fraeulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt +hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel fuer +Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" +"Spaeter, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das +Fraeulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke spaeter +kam geschaeftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr +Weismann?" frug ihn der Kuenstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die +anwesenden Herrn verliessen nun rasch das Kuenstlerzimmer, um sich an ihre +Plaetze im Saal zu begeben, das Fraeulein strich noch die Falten am Kleide +der Saengerin glatt, der Vater loeste mit einer gewissen Strenge die Hand +des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," +die Mutter drueckte rasch noch einen Kuss auf die Stirn des Kleinen, der +sie betruebt, aber doch ohne Widerspruch losliess. Dann oeffnete Weismann +eine Seitentuere, von der aus ein paar Stufen nach dem erhoehten Teil des +Saals fuehrten, auf dem nun das Kuenstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm +konnte von dem tieferliegenden Kuenstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, +aber er hoerte das maechtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar +empfangen wurde, dann schloss Weismann hinter ihnen die Tuere und von den +wunderbaren Toenen, die nun im Saal die Menschenmenge entzueckten, drangen +nur einzelne Klaenge herunter in das Nebenzimmer. + +Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat +unser kleiner Kuenstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine +deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schoen im Stande?" Edmund +antwortete nicht. + +"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fraeulein, "sein Vater hat +vorhin darnach gesehen." + +"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen +sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weisst doch noch, nicht +ganz dicht am Fluegel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. + +"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fraeulein, "wenn +dich Papa so saehe!" Da liess der Kleine den Kopf haengen und fing au zu +weinen. Erschrocken zog ihn das Fraeulein an sich. "Sei nur zufrieden, +Kind," troestete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall +klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die +Traenen, Weismann hielt es fuer klueger, sich zurueck zu ziehen, Wilhelm +liess den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte +er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er +vertiefte sich in das Spiel. Ploetzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm +droehnte aus dem Saal. + +"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Tuere. "Nein, sie muss +noch einmal wiederholen," fuegte er nach einer Weile gespannten Horchens +hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurueck. "Bei mir ist das auch +manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muss." + +"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so +etwas habe ich noch gar nicht gehoert." + +"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es +nachher schon hoeren," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem +Kreisel, und als nun die Saengerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl +geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Kuenstlerzimmer +zurueckkam, rief er ihr froehlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die +Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, dass er vergnuegt ist!" und +ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm. + +Im Saal erklang der Konzertfluegel. + +"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an +das Fraeulein wendend, fuegte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, +wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Frueher war es mir +bange, wenn ich vorsingen musste, aber seitdem das Kind oeffentlich +spielt, hat diese grosse Angst jede andere vertrieben. Wir haetten es nie +anfangen sollen." Troestend sprach das junge Maedchen der Mutter zu: "So +sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist +von dem Kleinen, sind Sie doch gluecklich und stolz, mehr als ueber Ihre +eigenen Erfolge. Er ist nun schon fuenfmal aufgetreten und hat seine +Sache immer gut gemacht." + +"Aber heute wird es anders werden," fluesterte die Mutter, "hat er nicht +auch truebe Augen? Edmund, gib mir deine Haende. Sie sind heiss, fuehlen +Sie, Fraeulein!" + +"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Haende jetzt ruhen +lassen." + +"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Haende duerfen +nicht muede sein vor dem Violinspiel." + +Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschaeftigung zu wissen. +Eine gelernte Kindergaertnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber +ihm war, als verloere sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem +Augenblick an, wo er aufhoeren wuerde, den Jungen zu unterhalten. Also +_mussten_ ihm Gedanken kommen, Einfaelle, um die Zeit zu vertreiben, und +sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in +der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er +Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen. + +"Nun wirst du hoeren, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," +sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr +war es seine Mutter. Sie fluesterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den +Tuerspalt, wie er seine Sache macht!" + +Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Kuenstlern, sah, wie +der Kleine, der mit freundlichem Beifall begruesst worden war, in +kindlicher Weise den Gruss erwiderte und, von seinem Vater auf dem +Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen +Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung +nicht so wunderbar vor wie den Zuhoerern im Saal. Mit denselben +traeumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte +Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. +Freilich war Frieder erst ein Anfaenger auf diesem Instrument und dieser +Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die +Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kraeftigen Strich +eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Toene wusste er zu wecken +und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Haende. Unter den +Zuhoererinnen war manche zu Traenen geruehrt, und als der letzte Ton sanft +verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen +flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Kuenstler +ein Fuellhorn zu ueberreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet +war, denn waehrend es nur mit Rosen gefuellt schien, waren unter den +Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die +Schaetze zu sammeln. Man hoerte die helle Kinderstimme ein schlichtes, +freundliches "Danke!" rufen. + +In das Kuenstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu +gratulieren, und es kam so, wie das junge Maedchen voraus gesagt hatte: +die Mutter war ueber die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg +gluecklicher, als ueber den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das +Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein +schwieriges und laengeres Musikstueck und ganz ohne Begleitung, aber sie +war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten +Schilderungen einiger Freunde, die in das Kuenstlerzimmer eindrangen und +von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Froehlich und siegesgewiss +trat das Kuenstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurueck +bei dem Fraeulein und dem treuen Kameraden. + +Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine +weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reissen, Wilhelm mochte +sich buchstaeblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte +er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm +zu erzaehlen. Der lehnte sich an das Fraeulein, und es dauerte gar nicht +lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie liessen ihn +ruhen, aber gegen den Schluss des Konzertabends, waehrend sein Vater +allein spielte und schon am Ende des Stueckes war, auf das Edmunds +Auftreten folgen sollte, musste er doch geweckt werden. Die Mutter tat es +mit schwerem Herzen und unter zaertlichen Liebkosungen. Es kam ihr +grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, dass sie +das Kind vorspielen lasse. Sie bemuehten sich zu dritt um das Kind, boten +ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus +dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen +vermocht, dass er noch einmal vorspiele. + +Draussen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige +Erwartung des kleinen Kuenstlers, auf dessen Wiedererscheinen die grosse +Menge sich mehr freute als ueber die grossartigen Kompositionen, die der +Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Kuenstlerzimmer, herrschte +Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. + +"Lass nun einmal die zaertlichen Worte," sagte der Kuenstler zu seiner +Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; lass mich allein mit Edmund +reden." Er fuehrte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die +Augen. + +"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und moechtest lieber zu +Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe +doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du musst nur +ein einziges Stueck spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: +Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen +dafuer Musik versprochen und muss mein Versprechen halten. Du musst das +deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines +will ich fuer dich tun, wenn du mir versprichst, dass du dich tapfer +haeltst, ich will dir erlauben, dass du anstatt des schwierigen +Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so +gut kannst. Ich will es den Zuhoerern sagen; wenn du das Stueck recht +schoen vortraegst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer +Viertelstunde ist es ueberstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann +verzeihen sie es dir, dass du so ein kurzes Stueck spielst." Und er nahm +das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm +verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die +Violine, die er folgsam nahm und fuehrte ihn die Stufen hinauf. "Vater," +fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, +auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." + +"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der +Vater. + +Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das +Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte +sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des +Kuenstlers zugute zu halten, dass er sein Programm nicht einhaelt. Er +moechte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von +Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die +Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wussten, dass ihnen damit die +Freude verkuerzt wurde. "Nun mach es um so besser," fluesterte der Vater +noch seinem Kind zu und stellte sich so, dass sie einander im Auge +behielten. Ihm war es, als muesste er unablaessig durch seinen Blick die +Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. + +"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhoerer, aber die meisten +hatten keinen Blick fuer den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem +Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel. + +Es ging vorueber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit +erschienen, und diesmal kamen Beide wie traeumend zurueck zu der Mutter, +die den Kleinen in zaertlichen Armen empfing. + +"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," +sagte der Vater zu dem Fraeulein, "Wilhelm begleitet Sie hinueber zum +Droschkenplatz, nicht wahr?" + +Am Schluss des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhoerer vor +dem Kuenstlerzimmer, sie hofften, auch das Kuenstlerkind noch einmal zu +sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom +Zentralhotel sorgsam hatte erwaermen lassen. + +Am naechsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des +Konzerts, und am uebernaechsten folgte eine Notiz: der kleine +Geigenspieler sei an den Masern erkrankt. + +Acht Tage spaeter lag auch seine kleine Taenzerin Elschen masernkrank +darnieder, und wenn Frau Pfaeffling an ihrem Bettchen sass, dachte sie +manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon oeffentlich +auftreten musste, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. + +Ueber diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. + + + + +11. Kapitel + +Geld- und Geigennot. + + +Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfaeffling hatte +taeglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheissenen Abschiedsgruss +des russischen Generals gewartet, dem das Honorar fuer die Stunden +beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So musste die russische +Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte +sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder +aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr +Pfaeffling wollte sich endlich Gewissheit verschaffen und suchte Herrn +Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, dass der General mit +Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunaechst nach +Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle. + +Herr Pfaeffling zoegerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar +zu sprechen, aber der Geschaeftsmann erriet sofort, worum es sich +handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle +geschaeftlichen Angelegenheiten aufs puenktlichste geregelt und grossmuetig +jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so +werden auch sie ihn kennen gelernt haben." + +"Ja, aber wie erklaeren Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, +seine Soehne wuerden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, dass sie +das Honorar ueberbringen wuerden. Sie sind auch gekommen, aber ohne +Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern +wuerden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, dass es +von Berlin aus geschehen werde?" + +"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, +ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas +anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, +das haben die Soehne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fuerchte, das Geld +ist in den Haenden der jungen Herrn haengen geblieben, das geht aus allem +hervor, was Sie mir erzaehlen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Soehne, +und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint +mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich +mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt uebergeben +wurden, und rechneten darauf, dass Sie, in der Meinung, die Abreise sei +verschoben, sich erst um Ihr Geld melden wuerden, wenn die Eltern schon +ueber der russischen Grenze waeren. Es ist gut, dass Sie nicht noch ein +paar Tage gezoegert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in +Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch +mitteilen, Herr Pfaeffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie +unverzueglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen +Herrn auszusprechen, es genuegt, wenn Sie den Hergang erzaehlen, der +General ergaenzt sich das uebrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen +sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut." + +In voller Entruestung erzaehlte unser Musiklehrer daheim von dem +offenbaren Betrug seiner jungen Schueler. "Es ist ein Glueck," sagte er +dann, "dass mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich +schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und +Noetigerem als diese leichtsinnigen Burschen." + +Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfaeffling in ganz veraenderter +Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurueck. "Caecilie," +sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder straeubt sich +ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich +auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt +doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner +Soehne. Dass er ihnen so etwas nie zugetraut haette, sieht man ja, er +haette ihnen sonst das Geld nicht uebergeben. Nun soll er das erfahren +muessen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose +Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen koennen. Sich so von +seinen Kindern trennen muessen, das ist ein namenloser Schmerz fuer +Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu +retten, was sagst du, Caecilie?" + +"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, dass du es ueber dich +bringst," entgegnete Frau Pfaeffling. + +"Und du? Wuerdest du es ueber dich bringen? Wuerdest du schreiben, trotz +all dem Leid, was daraus entstehen muss?" + +"Ich wuerde vielleicht denken, frueher oder spaeter werden die Eltern doch +erfahren, wie ihre Soehne sind, und fuer die Jungen selbst waere es +heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe fuer sie hinginge. Ueberdies +ist ja immerhin die Moeglichkeit, dass wir einen falschen Verdacht haben +und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die +unwahre Aussage der Soehne ueber die verschobene Abreise nicht erklaeren +koennte. Die hundert Mark sind uns auch gar so noetig." + +"Also du wuerdest schreiben, Caecilie?" + +Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiss nicht, ich +wuerde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfaeffling noch eine +Weile ueberlegend auf und ab. Die Augen seiner grossen Kinder folgten ihm +mit Spannung. Sie waren alle empoert ueber den Betrug, der an ihrem Vater +begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater moechte schreiben. Aber +sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor +der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich +verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere +Uebel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den +Naechsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen +General ungeschrieben. + +Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefasst. In ihrem kalten +Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto +beisammen und schrieben an die Soehne des Generals. Ihrer Entruestung ueber +die schnoede Handlungsweise gaben sie in kraeftigen Worten Ausdruck, den +Edelmut des Vaters, der aus Ruecksicht auf den General diesem die +Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, +schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen +mussten, wenn eine so grosse Summe wegfiel, und wandten sich am Schluss mit +volltoenenden Worten an das Ehrgefuehl der jungen Leute mit der +Aufforderung, das Geld zurueckzuerstatten. Otto musste mit seiner schoenen, +schulgemaessen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten +alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den +aelteren der beiden Brueder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es +fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er +in den Schalter geworfen werden. Mit grosser innerer Befriedigung legten +sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin musste das Geld +zurueckkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche +Ueberraschung, welche Freude musste das geben! + +Es ist aber merkwuerdig, wie die Dinge bei nuechternem Tageslicht so ganz +anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brueder am +naechsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum +lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" +Wilhelm und Otto wussten Gruende genug. "Weil sonst keine Ueberraschung +mehr dabei ist; weil die Eltern so aengstlich sind und keinen Verdacht +aeussern wollen, waehrend doch alles so klar wie der Tag ist; weil der +Vater die schoensten Saetze ueber seinen Edelmut streichen wuerde; weil +dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts wuerde; nein, wenn man +wollte, dass der Brief abging, so musste man ihn heimlich abschicken, +nicht lange vorher fragen." + +Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf +er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber +die Brueder drangen in ihn: "Jede Ueberraschung muss heimlich gemacht +werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und aengstlich, +was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nuetzt +er nichts, aber schaden kann er nichts, das musst du selbst sagen." Karl +wusste auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus +auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. "Die Eltern sind +immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte er, "und es ist wahr, dass +schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben. +Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heisst es doch: Karl, du +bist der Aelteste, du haettest es nicht erlauben sollen." Allmaehlich +brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb +dabei dass sie ganz uebertrieben aengstlich seien, und machte bei dem +dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreissen. +Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, musste +die Schlussberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben +war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzaehlen, wie wenn dieser +schon abgeschickt waere. Hatte sie dann nur Freude darueber, dann konnte +man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn +vorzeigen. So wurde Frau Pfaeffling zugefluestert, sie moechte nach Tisch +einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei +Grossen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief +erzaehlten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen +Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen haetten. +Die kraeftigen Ausdruecke der Verachtung gegen die Handlungsweise der +jungen Russen und die Beschwoerung, das Geld zurueckzuerstatten, wurden +fast woertlich angefuehrt. + +Im ersten Augenblick hoerte Frau Pfaeffling mit Interesse zu, aber dann +veraenderte sich ploetzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast +entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blass. Sie erschraken ueber +diese Wirkung und verstummten. + +"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr +auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in +die Hand, die Soehne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern +in der Erziehungsanstalt und das koennt ihr glauben, der General uebergibt +keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Soehne, ohne ihn zu lesen. +Nun erfaehrt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der +Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so +einzumischen in das, was euch nichts angeht!" + +Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins +Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfaeffling war nicht +begierig, Entschuldigungen zu hoeren, und anderes glaubte sie nicht +erwarten zu koennen. Da drueckte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: +"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch +nicht so!" + +"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfaeffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei +schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es waere mir schrecklich +gewesen fuer den Vater, fuer den General und auch fuer euch, denn wir +haetten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, haetten alles +Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge +mischt!" Sie standen beschaemt, denn wie waren sie doch so nahe daran +gewesen, das Heimliche zu vollbringen! + +"Spaeter, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau +Pfaeffling, "ich kann mir ja denken, dass ihr empoert seid ueber die jungen +Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie +wenn es Gewissheit waere. Wisst ihr nicht, dass oft schon die kluegsten +Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht +gegen ihn vorlag, und spaeter stellte sich doch heraus, dass er unschuldig +war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein." + +Herr Pfaeffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darueber. +"So, wie die Kinder gerne geschrieben haetten," sagte er zu seiner Frau, +"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die +Soehne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch +unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wuesste nicht, wie sie in dieser +Zeit das unterschlagene Geld haette verausgaben sollen. Ich muesste an sie +schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der +Abschied wird den jungen Leuten gewiss einen tiefen Eindruck machen, der +General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung +einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne +schonen moechte, ist es nicht unmoeglich, dass sie ihr Unrecht wieder gut +machen. Sie moegen ja schwach sein und leicht einer Versuchung +unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemuets und zum Guten zu +bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen." + +Frau Pfaeffling sass in dieser Zeit viel am Bett der kleinen +Masernkranken. Ihr Mann musste das Krankenzimmer meiden um seiner Schueler +willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages ploetzlich vor +ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoss, rief vergnuegt: "Das +Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden. + +Seine drei grossen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief +der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines +Geldstueck, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken +gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch +gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, +einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weisst nicht so genau, wie die Sache +zugegangen ist. Ich bin schon froh, dass nur kein Unheil entstanden ist +aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat +nur Karl verdient, gib sie nur ihm." + +Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer +Entschuldigung ueber die Verzoegerung und der aufrichtigen Bemerkung, dass +es Herrn Pfaeffling nicht frueher moeglich gewesen sei, die Summe +zusammenzubringen. + +Der Arzt sass schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der +Pfaeffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball +gegeben hat?" + +"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die +sich nicht durch Liebenswuerdigkeit auszeichnete. "Der Pfaeffling ist ja +bloss Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzaehlt hat, dass +er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand +die grosse Familie aufnehmen wollte." + +"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewusst haette, dem haette ich +keine so gesalzene Rechnung geschickt!" + +"Du verwechselst auch alle Menschen!" + +"Die Menschen nicht, bloss die Namen; der Direktor heisst ganz aehnlich." + +"Gar nicht aehnlich." + +"Nicht? Ich meine doch. Wie heisst er eigentlich?" + +"Mir faellt der Name gerade nicht ein, aber aehnlich ist er gar nicht." + +"Doch!" + +"Nein!" + +Nachdem sie noch eine Weile ueber die Aehnlichkeit eines Namens gestritten +hatten, den sie beide nicht wussten, schob der Arzt das Geld ein mit +einem bedauernden: "Aendern laesst sich da nichts mehr." + +Elschens Krankheit war gnaedig voruebergegangen. Sie war wieder ausser +Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich +ueber den heutigen Lichtmessfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei +waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in +der Kueche stand, und bat schmeichelnd, dass er nun endlich aufhoere und +mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig. +Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hoer auf, du hast schon zu lang +gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er endlich nach, und +Elschen folgte ihm froehlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren +Platz hatte. Als Frieder aber sah, dass der Vater gar nicht zu Hause war, +nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Boeser!" +rief die kleine Schwester und Traenen der Enttaeuschung traten ihr in die +Augen. Als aber nach einer Weile draussen die Klingel ertoente, sah man +ihr schon wieder die Angst fuer den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief +sie und sah gespannt nach der Tuere. Aber ehe diese aufging, war Frieder +mit seiner Violine durch die andere Tuere hinausgegangen und nun +fluechtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte +sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. "Frieder," sagte er, "ich rate +dir, dass du jetzt augenblicklich aufhoerst, du hast gewiss schon drei +Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres +Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, +und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhoeren, ich spiele +bis ich fertig bin." + +In diesem Augenblick kam Frau Pfaeffling herein, da stuerzte sich Elschen +weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhoeren und er +tut's doch nicht, vielleicht hoert er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!" + +Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch +mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, liess die Geige +sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewusst den Kopf. + +"Hast du gewusst, dass es ueber die Zeit ist und hast dennoch +weitergespielt?" fragte Frau Pfaeffling. "Das haette ich nicht von dir +gedacht, Frieder, wenn du ueber deiner Violine allen Gehorsam vergisst, +dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hoert ganz auf. Bleib hier, ich +will hoeren, was der Vater meint." + +Frau Pfaeffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die +Geschwister sammelten sich allmaehlich um ihn, sie berieten, was +geschehen wuerde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, +und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwuele Stimmung im +Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, +denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid." + +"Das muss dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du +bloss im Eifer vergessen haettest, dass du ueber die Zeit spielst, dann +koennte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, dass du +aufhoeren solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht +tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem +Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, +wenn jeder taete, was ihm gut duenkt? Das waere gerade, wie wenn bei dem +Orchester keiner auf den Dirigenten saehe, sondern jeder spielte, wann +und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder muessen folgen, mit deinem +Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen fuer immer, aber fuer Jahr +und Tag. Gib sie her!" + +Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drueckte sie +nun ploetzlich an sich, verschraenkte beide Arme darueber und wich einen +Schritt vom Vater zurueck. Sie waren alle ueber diesen Widerstand so +bestuerzt, dass es fast einstimmig ueber aller Lippen kam: "Aber Frieder!" + +Herr Pfaeffling sah mit masslosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der +gutmuetigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines +gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und +dann, ohne nur dem zurueckweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine +langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in +die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst +du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fuegte er hinzu, als +er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir gutwillig deine +Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes loesten sich nicht. Von allen +Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: "Gib +sie her!" und als Frau Pfaeffling sah, wie er das Instrument +leidenschaftlich an sich presste, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist +dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in +seiner Stellung. + +"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du +auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind +bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Tuere zum +Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du +fremdes Kind!" Da verliess Frieder das Zimmer. + +Draussen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen +schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr +Pfaeffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er +Walburg mit so lauter Stimme, dass es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das +Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier +aussen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts +ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Kuechenschemel, dass +es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine +Mutter mehr hat." + +Hierauf ging er hinueber in sein Zimmer. Frau Pfaeffling zog Elschen an +sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte +sie, "Frieder wird bald einsehen, dass er folgen muss. Wir lassen ihn +jetzt ganz allein, dass er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die +Violine bringen, dann ist alles wieder gut." + +Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch fuer +Frieder. Sie rechneten alle, dass er kommen wuerde. Herr Pfaeffling, der +zum Essen gerufen war, ging zoegernd, langsam an Frieder vorbei, der als +ein jammervolles Haeufchen auf dem Schemel sass und die Gelegenheit, die +ihm der Vater geben wollte, voruebergehen liess. Er kam nicht zu Tisch. +"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr +Pfaeffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es +tun und das Gewissen." + +So ass der Kleine aussen im Vorplatz und so oft die Zimmertuere aufging, +kamen ihm Traenen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen +und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen +wollte er spielen, immerzu spielen. + +Im Zimmer horchten sie ploetzlich auf. "Er spielt!" fluesterte eines der +Kinder. Von draussen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. +Drei Striche--dann verstummte die Musik. Die drei Toene hatten Frieder +wehgetan, er wusste nicht warum. Der kleine Geiger hatte frueher noch nie +mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er +auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz +bewegen kann. + +Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er +mitten darin ab. Denen, die ihm zuhoerten, ging es nahe, vor allem den +Schwestern. + +"Die Marianne moechte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr +Pfaeffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, +wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick +ansah. Sie setzten sich zu ihm und fluesterten mit ihm. Eine Weile +spaeter, als Herr Pfaeffling in seinem Musikzimmer war, kam ein +sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden +Haenden etwas, das eingehuellt war in Mariannens grossen, schwarzgrauen +Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch +der kleine Traeger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. + +"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend +auf die merkwuerdige Umhuellung sah. Da nahm ihm Herr Pfaeffling rasch den +Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an +sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist +wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen +Schmerz aus. + +Spaeter erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder +seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst +wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit +so traurigen Augen angesehen!" + +Als Frieder laengst schlief, sprachen seine Eltern noch ueber ihn. "Wie +kann man nur so leidenschaftliche Liebe fuer die Musik haben," sagte Frau +Pfaeffling, "mir ist das ganz unverstaendlich." + +"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfaeffling und fuegte +nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das +waere, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich +denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis +jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Massen treiben." + +"Ja, und lernen muss er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln +koennen, dass er einmal ein Musiker wird." + +Unser Musiklehrer sagte schwermuetig: "Es wird wohl so kommen." + + + + +12. Kapitel + +Ein Haus ohne Mutter. + + +So ganz allmaehlich und unmerklich war es gekommen, dass von Frau +Pfaefflings Reise zur Grossmutter gesprochen wurde als von einer +ausgemachten Sache, obwohl niemand haette sagen koennen, an welchem Tag +sie die Ansicht aufgegeben hatte, dass die Reise ganz unmoeglich sei. + +Nur "auf alle Faelle" entschloss sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, +und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hoerte man Frau Pfaeffling +sagen: "Nicht zu lang, damit es noetigenfalls auch als Reisekleid +praktisch ist." + +"Auf alle Faelle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu +sehen, wie sich die Reise praktisch machen liesse, und was sie gesehen, +trug sie "auf alle Faelle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht +reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank haengt und die besten +Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit +gekommen, dass sich Frau Pfaeffling anfangs Februar fuer einen bestimmten +Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit +herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloss, ob Frau +Pfaeffling nicht mit leichterem Herzen reisen wuerde, wenn sie ihr Elschen +mitnaehme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. + +Diese Karte, die Herr Pfaeffling im Zimmer vorlas, brachte grosse +Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefuehle +und Meinungen kund, bis der Vater die Tuere weit aufmachte und den ganzen +aufgeregten Schwarm hinausscheuchte. + +"Du haettest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir +entschlossen sind," sagte Frau Pfaeffling. + +"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir +herueberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." + +"Ja, ja," erwiderte Frau Pfaeffling laechelnd, "und warten, bis sie in der +Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfaeffling +heisst!" + +Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die +Kinder zurueck. Frau Pfaeffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf +sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," +sagte sie, "und ich will dir auch erklaeren warum. Bei einer so weiten +Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn +die gute Grossmutter fuer dich zahlen wollte, koennte ich dich doch nicht +mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Tuere aufmachen, wenn es +klingelt, waehrend alle in der Schule sind? Walburg hoert das ja nicht und +sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du musst unsere +Pfoertnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim waerest, +koennte ich gar nicht reisen." + +Das kleine Juengferchen war verstaendig, es sah ein, dass es zurueckbleiben +musste. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, +denn was wusste Elschen von fremden Laendern und Menschen, von Reiselust +und Erlebnissen? Fuer sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und +Merkwuerdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der grossen +Geschwister nicht einmal zu ein paar Traenen bei der kleinen Schwester, +die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter +gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! + +Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfaeffling war es +schwer ums Herz. Gut, dass Tag und Stunde laengst festgesetzt waren, sonst +haette sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wusste, wie +sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurueck mehr, es musste jetzt +sein. Geschaeftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und her im +Haus. Aber ueberall, wo sie auch war, in Kueche, Keller und Kammern, +folgte ihr Frieder. Er stoerte sie nicht, wenn sie raeumte, ueberlegte oder +anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so nahe wie +moeglich. Sie spuerte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes +Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, +wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. + +"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" + +"Was denn, Kind?" + +Es wollte nicht ueber seine Lippen. + +"Was, mein Kind, komm, sage es mir!" + +"Dass ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." + +"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater +deine Violine gegeben. Ich weiss gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir +ja auch der Abschied weh. Aber es muss doch auch einmal sein, dass ich zu +meinem eigenen Muetterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so +lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir +wieder zusammen kommen! Wie wird das koestlich werden!" + +So troestete die Mutter den Kleinen und troestete sich selbst zugleich. + +Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein +Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig +wegen seiner Violine, darum faellt ihm auch der Abschied besonders +schwer." + +"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es +schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige haette, +neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, +wie wenn er den Bogen fuehrte, und dann hoert er die Melodien, das sieht +man ihm gut an. Da tut er mir oft leid." + +"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die +erste Klavierstunde geben, darueber wird er die Violine vergessen. Und +wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am +Kasernenhof turnen koennt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm +Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm +werden nimmer regelmaessig eingehalten." + +"O doch, Mutter." + +"Oder sie sind so kurz, dass man nicht viel davon bemerkt?" + +"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewoehnlich nicht." + +"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fuenfzehn Minuten; das ist aber +nicht genug, ihr muesst eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm +wieder eine so schlechte Note bekaeme!" + +"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf +verlassen!" + +Bald nachher rief Frau Pfaeffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in +die Holzkammer. + +"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran +duerft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muss in +dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch fuer Holz und +Kohlen sorgen." + +Und nun ging's an die Maedchen. "Marianne, ihr muesst Walburg soviel wie +moeglich alle Gaenge abnehmen, solange ich fort bin." + +"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" + +"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die +Stiefel schon ausgezogen. Ihr muesst lieber die Stiefel dreimal aus- und +anziehen, als es darauf ankommen lassen, dass Walburg mitten am Vormittag +vom Kochen fortspringen muss." + +So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und +am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfaeffling noch +einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an +einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja +aus dem Wagenfenster kamen noch hausmuetterliche Ermahnungen, bis endlich +der Zug durch eine kaum hoerbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache +machte, dass Frau Pfaeffling verreist war. + +Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine +Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, dass all dies Denken ihr +selbst nur das Herz schwer machen und den Zurueckgebliebenen nichts +nuetzen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Haeuser und Anlagen +der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Aecker und Felder tauchten +auf, eine stille, einfoermige Natur. Da machte sie es sich bequem in dem +Wagen, lehnte sich behaglich zurueck, ergab sich darein, dass sie nicht +sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine wohltuende Ruhe, ein +Gefuehl der Erholung, waehrend sie der Staette ihrer Taetigkeit mit +gewaltiger Eile immer weiter entfuehrt wurde. + +Manches Dorf war schon an Frau Pfaeffling voruebergesaust, bis ihr Mann +mit den Kindern nur wieder in die Fruehlingsstrasse zurueckgekehrt war. Sie +machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten +Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Traenen durch die stillen +Zimmer, die andern empfanden die Luecke erst so recht bei dem +Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau +Pfaeffling keine sehr gespraechige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren +lebhaftere Naturen; heute haette man das Gegenteil glauben koennen, eine +so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben. +Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschaeftigung +hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu +tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so fuehrte er den Brauch ein, +dass Karl fuer Wilhelm die Suppe ausschoepfen musste, Wilhelm fuer Otto und +so nacheinander herunter, immer das aeltere unter den Geschwistern dem +juengern. Anfangs machte es den Kindern Spass, aber es ging nicht immer so +friedlich und so saeuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg wunderte +sich, dass sie bald eine noch fast gefuellte, bald eine ganz leere +Suppenschuessel abzutragen hatte; da war gar kein regelmaessiger Verbrauch +mehr wie bisher. + +Ganz kurios erschienen Herrn Pfaeffling und Karl die spaeten Abendstunden, +wo sie allein beisammen sassen. Sie waren sich so nahe gerueckt und wussten +doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem +Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu +sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch +Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein gemeinsames Interesse +zwischen Vater und Sohn. + +Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglueckendes +Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht +ganz ohne Wehmut. Was war es fuer ein gealtertes, pflegebeduerftiges +Grossmuetterlein, das da im Lehnstuhl sass, nicht mehr imstande, ohne Hilfe +von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war Frau +Pfaefflings Jugendbluete geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die +Muehsal des Lebens auf ihren feinen Zuegen eingegraben! + +Aber dieser erste wehmuetige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach +einigen Stunden hatten sie sich an die Veraenderung gewoehnt und fanden +wieder die geliebten, vertrauten Zuege heraus. Es war auch kein Grund zu +trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu +leiden, sie genoss dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege +der unverheirateten Tochter, die bei ihr und fuer sie lebte. Und die +_junge_ Frau, wenn man Frau Pfaeffling noch so nennen wollte, sprach mit +solcher Liebe von ihrem grossen Familienkreis und schien so gereift durch +reiche Lebenserfahrung, dass es allen deutlich zum Bewusstsein kam, das +Leben habe ihr mit all seiner Muehe und Arbeit Koestliches gebracht. + +Am wenigsten veraendert hatte sich Frau Pfaefflings Schwester, Mathilde, +die noch ebenso frisch und kraeftig erschien, wie vor Jahren. Sie fuehrte +die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwaermte +Gastzimmer, zog sie an sich, kuesste sie herzlich und sagte: "Caecilie, nun +soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!" + +"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." + +"Nein, das ist ja eben das Gute, dass du nur ueberanstrengt bist. Nichts +tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen +und herausfuettern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das +anschlaegt, da kann man viel erreichen in vier Wochen." + +Frau Pfaeffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das +nicht in _drei_ Wochen erreichen?" + +"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" + +"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als dass ich +vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an +vorgenommen, nach drei Wochen zurueckzukommen, und habe gehofft, dass du +mich darin unterstuetzest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen +Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Maedchen zu verlassen. +Es kommt so oft etwas vor bei uns!" + +"Was soll denn vorkommen? Was fuerchtest du?" + +"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiss es ja selbst nicht vorher, aber +es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen +haben koennte, bald hoert einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal +anfaengt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkaeme, das Alltaegliche +bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muss vormittags immer allein +die Tuere aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich in einer +grossen Stadt. Und wenn du immer noch nicht ueberzeugt bist, Mathilde, +dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann +einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist +das wirklich genug und es waere an der Zeit, dass ich wieder kaeme!" + +"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" + +"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, +wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, dass ich schon in der +naechsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so +lebhaft wie frueher und die meisten unserer Kinder haben sein +Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich einen +Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hoeren koennen!" + +Frau Pfaeffling sah im Geist ihre froehliche Schar, und ein glueckliches +Leuchten ging ueber ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz +jugendlich, gar nicht pflegebeduerftig aus. + +Als die Schwestern das Gastzimmer verliessen, hatten sie sich auf drei +Wochen geeinigt. + +Die ersten Tage vergingen in stillem, gluecklichem Beisammensein. Es war +fuer Frau Pfaeffling eine Wonne, so ganz ohne haeusliche Sorgen bei der +Mutter sitzen zu duerfen und zu erzaehlen. Teilnahme und volles +Verstaendnis war da zu finden fuer alles, was ihr Leben erfuellte, und doch +stand die Mutter selbst schon fast _ueber_ dem Leben. Einen weiten Weg +hatte sie in achtzig Jahren zurueckgelegt und nun, nahe dem Ziel, +ueberblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches +anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Hoehe herab erkennt +man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hoeren wollte, der +konnte hier manch guten Rat fuer den eigenen Lebensweg bekommen. Frau +Pfaeffling war von denen, die hoeren wollten. + +In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu +diesem Familienfest fand sich unter andern Gaesten auch Frau Pfaefflings +einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer fuenfzehnjaehrigen Tochter, +einem lieblichen, fein erzogenen Maedchen. Diesen Bruder, der Professor +an einer norddeutschen Universitaet war, hatte Frau Pfaeffling auch seit +vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus der Ferne hatte eines an des +andern Schicksal und Entwicklung stets Anteil genommen, und so war es +beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder ins Auge zu sehen. + +"Wir muessen auch ein Stuendchen herausfinden, um allein miteinander zu +plaudern," sagte der Bruder waehrend des festlichen Mittagsmahls zu +seiner Schwester. Und als nach Tisch, waehrend die Geburtstaegerin ruhte, +eine Schlittenfahrt unternommen wurde, sassen Bruder und Schwester in +einem kleinen Schlitten allein. Hier, im noerdlichen Deutschland, lag in +diesem Februar noch ueberall Schnee, die Bahn war glatt, die Kaelte nicht +streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfaeffling sah nach dem Schlitten +zurueck, in dem mit andern Gaesten ihre junge Nichte sass. "Wie reizend ist +sie," sagte Frau Pfaeffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine Kinder +daneben sehen wuerdest, kaemen sie dir ein wenig ungehobelt vor." + +"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als +du, sie gibt sich auch viel Muehe mit der Erziehung." + +"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem groebsten, und man wird +damit oft kaum fertig." + +"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel +miteinander, wie ist das bei euch?" + +"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnuegt miteinander. +Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur +sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben koennen." + +"Hat man fuer die deinigen zu wenig Zeit, so fuer die unserigen zu viel. +Ich fuerchte, dass sie gar zu sorgfaeltig beachtet werden. Jederzeit ist +das Fraeulein zu ihrer Verfuegung, ausserdem haben wir noch zwei +Dienstmaedchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht +fertig." + +So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die +haeuslichen Verhaeltnisse, und dann wollte Frau Pfaeffling Naeheres hoeren +ueber einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwaehnt hatte. Er +beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, +dabei durch Sueddeutschland zu kommen und die Familie Pfaeffling zu +besuchen. + +An diesen Plan schloss sich noch ein weiterer an, den der Professor nach +dieser Schlittenfahrt fasste und zunaechst mit seiner Frau allein +besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen +wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der +andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich +versuchen? Bruder und Schwaegerin machten den Vorschlag, einen der jungen +Pfaefflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde ueberlegt, +und es sprach viel fuer den Plan. Frau Pfaeffling wollte mit ihrem Mann +darueber sprechen, und wenn er einverstanden waere, sollte der Bruder auf +der Osterreise sich selbst umsehen und waehlen, welches der Kinder am +besten zu den seinigen passen wuerde. Das Auserlesene sollte er dann auf +der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein +baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und +in der Umgebung der achtzigjaehrigen Mutter wurde es still wie vorher. + +Frau Pfaeffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie +erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die +Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, +sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst +muendlich erzaehlt." So gingen denn Nachrichten ab ueber gelungene +Mathematikarbeiten und neue Klavierschueler, ueber einen Maskenzug und +Fastnachtskrapfen, ueber Frieders regelmaessiges Klavierspiel und ueber der +Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese +Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb +verschwiegen. + +Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr +Pfaeffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: +"Haben Sie heute nacht nichts gehoert, Herr Pfaeffling, nicht ein Stoehnen +oder dergleichen?" + +"Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehoert." + +"Aber es muss doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die +zweite Nacht, dass ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, dass eines der +Kinder so Heimweh hat, dass es bei Nacht laut weint? Aus einem der +Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in +Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren +koennen." + +"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfaeffling und ging hinauf. +Er fragte zunaechst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die +Tafelrunde an. Frische, froehliche Gesichter waren es, die nichts +verrieten von naechtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings +blass und ueberwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das war +Anne. Ihr musste etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und machte +sich Vorwuerfe, dass er das bisher uebersehen hatte. Wenn die Mutter +dagewesen waere, die haette es bemerkt, auch ohne der Hausfrau Mitteilung. + +Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die +Schwestern zurueck. + +"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. + +"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde ueber und ueber rot. + +"Du meinst wohl, in dem Punkt duerfe man luegen," entgegnete Herr +Pfaeffling, "weil ich lieber hoere, dass du wohl bist. Aber ich moechte +doch auch darueber gern die Wahrheit hoeren." Da senkte sie schon mit +Traenen in den Augen den Kopf, und Herr Pfaeffling wusste, woran er war. + +"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter +nicht da ist, muesst ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun +auch und er erfuhr, dass Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren +bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingetraeufelt, das +noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschlaege gemacht, aber das hatte +alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern +eingeschlafen. So war es schon zwei Naechte gewesen. Sie hatten es dem +Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt +geschickt werden, sie fuerchtete die Behandlung, fuerchtete auch die grosse +Neujahrsrechnung. + +Am Nachmittag sassen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des +Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern +vorgehalten, dass Anne so schwerhoerig wie Walburg werden koennte, wenn +etwas versaeumt wuerde. + +Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei +Unzertrennlichen ruehrten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so +aengstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und +doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide +troesten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so boese +Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schuettet weg, das +macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure +Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es +selbst eintraeufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruss, und das gehe +noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die +gehoert dazu." + +Darueber wurden die Schwestern so vergnuegt, dass sie anfingen, mit dem +gefuerchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, +dass Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hoert die denn gar +nichts mehr?" fragte er. + +"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr +sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer." + +"Geht sie nie zum Arzt?" + +Davon hatten die Schwestern nicht reden hoeren, aber sie wussten ganz +gewiss, dass man ihr nicht helfen konnte. + +"Manchmal kann man so ein Uebel doch zum Stillstand bringen," sagte der +Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt +daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung." + +Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten +sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen +sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, dass es sich um +sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere +Mutter zurueckkommt, werde ich so frei sein." + +Das naechtliche Stoehnen war bald nimmer zu hoeren. + +Die letzte Woche von Frau Pfaefflings Abwesenheit war angebrochen, zum +gestrigen Sonntag hatte sie die froehliche Botschaft gesandt, dass sie +volle acht Tage frueher heimkommen wuerde, als verabredet war. + +In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blaettchen +vom Kalender rechtzeitig abzureissen. Sie sollte nur schnell vergehen, +diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. + +"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Fruehstueck komme," sagte +einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschaeft gewesen, wer tut es denn +so zeitig? Der Kalender gehoert eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, +"ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum +Fruehstueck gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte +es sich heraus, dass Frieder immer schon abends den Kalenderzettel abzog +und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt dann schneller der +1. Maerz und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und wehrte dem kleinen Bruder +nicht, dem war ja immer anzumerken, dass er Heimweh hatte. Aber an diesem +Montag morgen ging er vergnuegt seinen Schulweg mit den Geschwistern, die +Heimkehr der Mutter war ja ploetzlich so nahegerueckt. + +Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; +ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die +jungen Kohlentraeger und Holzlieferanten nicht genuegend fuer Vorrat +gesorgt und Walburg musste hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. +Waehrend dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um +aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfaeffling, dann nach dessen Frau +und nach den Geschwistern. Als er hoerte, dass sie alle fort seien, +bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an +Herrn Pfaeffling schreiben koenne, er sei ein guter Bekannter von ihm, und +er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen wuerde. +Elschen fuehrte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den +Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte +der Herr, "du kannst nun hinausgehen, dass ich ungestoert schreiben kann, +den Brief fuer deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verliess das +Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus. + +"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam +keine Antwort, der Herr schien grosse Eile zu haben, ging rasch die +Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben +heraufkam. + +"Wer war da?" fragte diese. + +"Bloss ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins +Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzaehlen war dem kleinen Persoenchen +zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim +Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzaehlte sie dem +Vater. Dem kam es verdaechtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er. +Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn--ja, +wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein +seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen +sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft +schon war er duenn besetzt gewesen, aber so oede hatte es noch nie in +dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was +die Familie Pfaeffling am Leben erhielt. + +Ein Dieb, ein Betrueger, ein schaendlicher Mensch hatte sich +eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurueckgelassen, keinen +Pfennig fuers taegliche Brot! + +Walburg wurde hereingeholt und ueber den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte +ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die +bestuerzten Gesichter sprachen auch fuer sie deutlich genug; sie wurde +kreideweiss im Gesicht und fragte bloss: "Gestohlen?" + +Und nun flogen Vorwuerfe hin und her. + +"Du bist die rechte Pfoertnerin, fuehrst den Dieb selbst an den +Schreibtisch!" warfen die Brueder der kleinen Schwester vor. "Es war ja +gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie +nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafuer, aber ihr, weil ihr kein Holz +getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemusst!" + +"Haette ich den Schluessel abgezogen, o, haette ich ihn doch nicht stecken +lassen!" rief Herr Pfaeffling immer wieder. + +Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder +wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir +wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal +niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, dass man sie mit +solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise +miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen +haben doch noch genug fuer eine Woche, und am 1. Maerz kommt wieder dein +Gehalt. Wir sparen recht." + +"Ja, ja," sagte Herr Pfaeffling, "verhungern muessen wir nicht, ich habe +auch noch etwas im Beutel, aber alles, was fuer die Miete und fuer die +Steuer zurueckgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schluessel +abgezogen haette, waere vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin +und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort: +Polizei. Es war ja eine Moeglichkeit, dass der Dieb ausfindig gemacht +werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort +Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte +mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, schon +waren viele Stunden verloren! + +Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie +setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede +knoepfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Haeubchen, die +Brueder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, +erklaerten dann Handschuhe fuer ganz uebertrieben und die Kleine sprang +ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit so +langen Schritten die Fruehlingsstrasse hinunterging, dass das Kind an +seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln musste. + +Von der Polizei brachten sie guenstigen Bescheid zurueck. Ein junger +Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel +betroffen worden und mochte wohl der Missetaeter sein. Man hoffte, ihn +aufzufinden. + +Es war gut, dass am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfaeffling +abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen haette niemand +schreiben moegen. So aber kam es, dass sie gerade, waehrend ihre Lieben in +grosser Truebsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem +ihr eine ganze Anzahl Briefblaettchen entgegen flatterten, alle voll +Jubel ueber das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine +Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau +Pfaeffling, dass die Stimmung daheim inzwischen vollkommen umgeschlagen +war. + +Herr Pfaeffling ging gleich am naechsten Morgen auf die Polizei, um sich +zu erkundigen. Er erfuhr, dass bisher vergeblich nach dem jungen Musiker +gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso +am naechsten Tag in fruehester Morgenstunde auf der Polizei erschien, +wurde ihm bedeutet, dass er sich nicht mehr bemuehen moechte, es wuerde ihm +Nachricht zukommen. + +Darueber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, dass man die Mutter +mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, liess gar nicht die +rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfaeffling war +unschluessig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich mitteilen +sollte, zoegerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme des Diebes +und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloss, dass der Termin +doch schon verpasst sei und der Brief erst nach der Abreise seiner Frau +ankommen wuerde. So blieb denn nichts uebrig, als der Heimkehrenden +schonend die Hiobspost mitzuteilen. + +Fuer Frau Pfaeffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," +sagte sie zu Mutter und Schwester, "dass ich nicht noch einen letzten +Gruss von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?" + +"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die +Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Lass dir nur das +Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, dass manches in +Unordnung geraten ist waehrend deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein +hier war so schoen, das ist doch auch eines Opfers wert." + +"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, dass jeden Tag +irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du +daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht +mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht +beklagen, darfst nicht behaupten, dass dein Wegsein daran schuld ist, und +nicht gleich erklaeren: ich reise nie mehr." + +Frau Pfaeffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr +fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riss sich +mit schwerem Herzen los von dem geliebten Muetterlein, von der Schwester, +die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war +ihr letzter Gruss aus dem abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise +antrat. + +Noch immer war es draussen in der Natur kahl und winterlich, die drei +Wochen waren anscheinend spurlos voruebergegangen, noch war nirgends ein +Keimen und Sprossen, eine Fruehlingsandeutung zu bemerken. Und doch +schien ihr die Zeit so weit zurueck zu liegen, seitdem sie hieher gereist +war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch ruehrte +sich schon und draengte gewaltig in den Vordergrund die Freude auf das +Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben zu Lieben +kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer kann sich +reicher fuehlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim reist? + +Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes +doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben +koennen. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis +Samstag schon halb vergessen. Die Grossen dachten ja wohl noch daran, +aber doch mit dem unbestimmten Gefuehl, dass die Mutter um so mehr her +gehoere, je schwieriger die Lage im Haus war. + +Herr Pfaeffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als +er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof +eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu fruehe an, lief in +ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen +sollten, vor dem Bahnhofgebaeude hin und her und winkte mit seinen langen +Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto auftauchen +sah. + +Er hatte angeordnet, dass nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof +begruessen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewoehnt," sagte er, +"und soll nicht gleich so ueberfallen werden. Marianne kann uns bis an +den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der +Fruehlingsstrasse und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen, +denn etwas Liebes muss auch noch zu Hause sein." + +So war es denn festgesetzt worden, dass bloss die drei Grossen mit dem +Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch +sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfaeffling als alleiniges +Vorrecht. Sie standen alle drei spaehend hinter dem eisernen Gitter, +waehrend der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus +dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie +sich dann ploetzlich ihre Zuege verklaerten, als sie den Vater erblickte, +der, dem Schaffner zuvorkommend, die Tuere ausriss und mit froher +Begruessung seiner Frau aus dem Wagen half. + +Mitten im Menschengewuehl und Gedraenge gab es ein glueckliches Wiedersehen +und Willkommenheissen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge +hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde haette zufrieden sein +koennen mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung ueber der Mutter frisches, +rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und haette noch nicht so +schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau Pfaefflings aengstlich +klingende Frage dazwischen gekommen waere, ob die Kinder alle und auch +Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung erhielt, dass sich alle +frisch und wohl befaenden wie bei ihrer Abreise, da kam aus erleichtertem +Herzen ein dankbares: Gottlob! + +"Ich habe schon gefuerchtet, da keine Karte kam, es moechte eines von euch +krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer +geschrieben habe," entgegnete Herr Pfaeffling und seine Antwort lautete +ein wenig bedrueckt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen +ist, bekuemmert mich gar nicht," sagte sie und drueckte gluecklich die Hand +ihres Mannes. Das freute ihn. "Hoert nur, Kinder," sagte er lachend, "die +Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf der Reise." So kamen +sie, froehlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo ganz brav, der +Verabredung gemaess, die zwei Schwestern gewartet hatten und jetzt der +ueberraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. + +Nun nahmen diese beiden der Mutter Haende in Beschlag, bis sie an der +Ecke der Fruehlingsstrasse von einem andern verdraengt wurden. Dort hatte +Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem +Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in +anderer Richtung. + +"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o +Mutter!" rief er, drueckte sich an sie und schluchzte. Sie kuesste ihn +zaertlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines +Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!" + +"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber +die Traenen versiegten schon, verklaert sah er mit noch nassen Augen zu +ihr auf, ging dicht neben ihr her und liess ihre Hand nicht los, bis sie, +im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben musste, um darin die +Juengste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon +auf der Treppe mit froehlichem Plappermaeulchen erzaehlte, dass soeben zum +Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fraeulein Vernagelding, und +dass Frau Hartwig einen grossen, grossen Kaffeekuchen gebacken habe. + +Unter ihrer Kuechentuere stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. +Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen +koennen, an dem nach ihrer Ueberzeugung nur sie allein schuld war. Was +konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfaeffling +verlassen, ihr hatte sie das Haus uebergeben, und wenn sie nicht die +Kleine allein im Stockwerk gelassen haette, so waere kein Unglueck +geschehen. + +Walburg hatte nicht an die Moeglichkeit gedacht, dass Frau Pfaeffling auf +dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis +erfahren haette. Sie erwartete, dass Frau Pfaefflings erstes Wort ein +Vorwurf sein wuerde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort +fuerchtete sie zu hoeren, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, das +Wort: "ich will lieber eine, die hoert!" Darum stand sie so starr und +stumm, dass Frau Pfaeffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der +Kuechentuere vorueber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: es +ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im naechsten Moment sagte +sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie gross, wie ernst, +wie stumm sie ist, und sie reichte dem Maedchen mit herzlichem Gruss die +Hand. Walburg hoerte den Gruss nicht, aber den Haendedruck, den +freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht +ums Herz, die Dankbarkeit loeste ihr die Zunge und ihr Gegengruss schloss +mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht fuer das Vierteljahr." + +Das waren freilich unverstaendliche Worte fuer Frau Pfaeffling, aber ehe +sie noch nach Erklaerung fragen konnte, wurde sie von den Kindern +angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie liess +ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Taeschchen ein +Geldstueck fuer den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah begierig +in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," rief er +freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder nach +Geld?" sagte Frau Pfaeffling und bemerkte, als sie aufsah, dass die Grossen +ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie +nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel +verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darueber +Vorwuerfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, +dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen. + +"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun +kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schoen +gedeckt, Walburg hat gewiss etwas Gutes gekocht." + +Nun standen sie alle um den grossen Esstisch. "Heute betet die Mutter +wieder," sagte der Vater, "wir wollen hoeren, was ihr erstes Tischgebet +ist." + +"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau +Pfaeffling und sie sprach mit innerer Bewegung: + + "Von Dank bewegt, o Gott, wir heute + Hier vor dir stehen! + Du schenkest uns die schoenste Freude, + Das Wiedersehen. + Nun gehn wir wieder eng verbunden + Durch Lust und Leid, + In guten und in boesen Stunden + Gib uns Geleit!" + +Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch fuer die Eltern Kaffee +machen muessen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu +gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," +sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfaeffling ein +und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er +nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er fuehrte sie an +den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch das +leere Kaesschen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der Dinge +war schlimmer, als Frau Pfaeffling gefuerchtet hatte. "Ich habe schon +geahnt, dass mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte sie, +"aber dass _gar_ nichts mehr da ist, haette ich doch nicht fuer moeglich +gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das braechte ich ja +gar nicht zustande!" + +"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich +gespart; gestohlen ist es, gestohlen!" + +Herr Pfaeffling erzaehlte den Hergang und auch, dass er gestern die +Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien +festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung +mehr, es zurueck zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und musste auf +irgend eine Weise wieder hereingebracht werden. + +Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluss +derselben war, dass Herr Pfaeffling lebhaft rief: "Ja, so kann es +gelingen, das ist ein guter Plan!" Und froehlich klang sein Ruf hinaus: +"Jetzt, Kinder, den Kaffee!" + + + + +13. Kapitel + +Ein fremdes Element. + + +Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am naechsten Tag +auch den Kindern mitgeteilt werden. + +"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfaeffling. + +"Nein," entgegnete Herr Pfaeffling, "aber man muss ihnen die Sache nur +gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. +"Hoert einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch +das sich der Geldverlust wieder hereinbringen laesst. Zwei von euch koennen +uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Gluecklichen? Ratet einmal!" + +Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne +sein," schlug Karl vor. + +"Richtig geraten. Aber wie?" + +"Wenn sie nicht immer so schoene Kleider und seidene Zopfbaender tragen," +meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die +Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Maedchen standen da in +ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schuerzen, und ihre +blonden Zoepfe waren mit schmalen blauen Baendchen gebunden. + +"Da werden wir keine grossen Summen heraus sparen koennen," meinte Herr +Pfaeffling, "eher koenntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn +ihr eure Anzuege besser schonen wuerdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen +etwas anderes." + +"Etwas," setzte Frau Pfaeffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch +mehr einbringt." + +Nun waren sie alle aufs aeusserste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich +will es euch sagen," und Herr Pfaeffling wandte sich an die Maedchen: "Ihr +Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann koennen wir euer Zimmer an +einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafuer einnehmen. Ist das +nicht ein feiner Plan? Das muss euch doch freuen? Die Mutter will alles +Geruempel aus der Kammer herausraeumen und eure Betten hineinstellen und +im uebrigen duerft ihr alles ganz nach eurem Belieben einrichten; in eurem +Reich da oben redet euch niemand darein; aus den alten Kisten koennt ihr +Tische machen und Stuehle und was ihr nur wollt." + +Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, +aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und +betaetigten: "Ja, es wird sein!" + +Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschluessel, der sollte in +Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in +grosser Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die +Hauptpersonen. Sie schlossen ihr kuenftiges Revier auf. Es war ein +kleines Kaemmerchen mit schraegen Waenden und einem Dachfenster. "Kalt +ist's da oben," meinte einer der Brueder. "Aber im Sommer ist's immer +ganz warm, das weiss ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da +hast du recht," bestaetigte laechelnd der Vater, "und seht nur durch das +Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schoenste +Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends +kann Schnee oder Regen durch; wisst ihr noch, wie Frau von Falkenhausen +in ihrer Lebensgeschichte erzaehlt, dass ihr in Afrika der Regen in ihr +Haeuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und +wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? +Wie waere sie gluecklich gewesen ueber ein so gutverwahrtes Kaemmerlein! +Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." + +Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der +Kammer erfuellt. + +Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis +zu sichern. Frau Pfaeffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese +wiederum mit ihrem Mann. Da stiess die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig +wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon +reichlich genug, wenn zehn Leute den obern Stock bewohnten und +Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie welche gehabt und +geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein fuer die Familie +Pfaeffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann blieb +bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses +Frau Pfaeffling mitteilen. + +"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann +sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er +dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, duerfe er nachher nicht +mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's moechte." + +Dieser Bescheid war eine grosse Enttaeuschung fuer die Familie. Herr +Pfaeffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich +sehe, dass jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs +Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft +den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen duerfen, weil man vorher +'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Maennlichkeit zeigen? Dann waere +jedes eigensinnige Kind 'maennlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte +er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was maennlich ist: +Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber +_nachgeben_, sobald man einsieht, dass man falsch oder unrecht geurteilt +hat." + +Als zwei Tage ueber die Sache hingegangen waren, ohne dass mit den +Hausleuten weiter darueber gesprochen worden waere, traf Frau Pfaeffling +zufaellig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur +zusammen. + +"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "dass wir keinen Zimmerherrn +nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge +geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, moechte ich Sie nicht +plagen, und es ist ja wahr, dass manche Zimmerherrn spaet in der Nacht +heimkommen, Laerm machen und dergleichen. So muessen wir uns eben jetzt +entschliessen, eine aeltere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen +ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur fuer uns unbequemer und auch +schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig behilflich +sein moechten, eine passende Hausgenossin zu finden, waeren wir Ihnen +recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung setzen?" + +"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel fuehren." Sie +besprachen noch ein wenig die naeheren Bedingungen und ohne recht zu +wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte +Hausbewohnerin fuer den obern Stock zu bemuehen. + +Das seitherige Zimmer der beiden Maedchen wurde huebsch hergerichtet und +sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und +nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, +wer die Tuere aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu +zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfaeffling musste erfahren, +dass die Fruehlingsstrasse "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede +von den wenigen, die sich meldeten, erwuenscht; sie wollte nur das Zimmer +vermieten, nicht eine Kostgaengerin an ihrem einfachen Mittagstisch +haben, kein fremdes Element in den vertrauten Familienkreis aufnehmen. +Aber als auf wiederholte Ankuendigung die Rechte sich nicht finden +wollte, wurde Frau Pfaeffling kleinmuetig und sagte zu ihrem Mann: "Mir +scheint, wir muessen froh sein, wenn ueberhaupt irgend jemand das Zimmer +mietet, ich muss mich entschliessen, auch die Kost zu geben. Aber niemand +begnuegt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn +haben." + +"So machst du eben immer besondere Leckerbissen fuer solch eine +anspruchsvolle Dame und deckst fuer sie in ihrem eigenen Zimmer, dann +stoert sie uns nicht," lautete Herrn Pfaefflings Rat. + +Drei Tage spaeter bezog Fraeulein Bergmann das Zimmer. Pfaefflings durften +sich gluecklich schaetzen ueber diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete +Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im +Ausland, hatte vorzuegliche Stellen innegehabt und so viel zurueckgelegt, +dass sie sich jetzt, nach etwa fuenfundzwanzig Jahren fleissiger Arbeit, +zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie war gesund und +frisch und wollte nun ihre Freiheit geniessen, sich Privatstudien und +Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis jetzt wenig Musse +gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der Kinderreichtum der +Familie Pfaeffling, das war fuer sie ein Anziehungspunkt, denn in der +Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle +bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit +dort ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluss +faende. Mit schwerem Herzen machte ihr Frau Pfaeffling das Zugestaendnis, +dass sie am Mittagstisch der Familie teilnehmen duerfe. + +"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fuegte +seufzend hinzu: "Urspruenglich wollten wir freilich einen Herrn, der den +ganzen Tag fort waere und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da +ist, aber ich glaube, dass sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird." + +Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie fuer +Fraeulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, +wusste in anregender Weise davon zu erzaehlen und interessierte sich doch +auch fuer den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war +zu bemerken, dass sie sich von Frau Pfaefflings sinnigem Wesen angezogen +fuehlte, dass sie Verstaendnis hatte fuer des Hausherrn originelle +Lebhaftigkeit und Anerkennung fuer der Kinder Bescheidenheit. Freilich +waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. +Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen Kinder, und +trotzdem die Fruehlingsstrasse "keine Lage" war. Ueberdies floessten ihnen +die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der ehemaligen +Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und waere auch +wohl so weiter gegangen, wenn Fraeulein Bergmann nicht das Wort +"ehemalig" vergessen haette. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann +es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder waere; sie ermahnte +und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu +sich in ihr Zimmer und liess sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben +machen. Die Maedchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand bekuemmert +hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau Pfaeffling war +anfangs dankbar dafuer, aber die neue Einrichtung passte doch nicht zum +Ganzen. + +So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit +in Fraeulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. +"Marianne soll herueber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgaenge zu +machen." Die Maedchen standen augenblicklich auf, aber Fraeulein Bergmann +hielt sie zurueck: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit +geht allem vor, das habe ich allen meinen Zoeglingen eingepraegt. Die +Ausgaenge koennten doch auch von dem Dienstmaedchen gemacht werden." + +"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hoert auch +nicht genug fuer manche Besorgungen." + +"Dies taube Maedchen ist in jeder Hinsicht eine ungenuegende Hilfe," sagte +Fraeulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie +moechte den Schwestern noch ein halb Stuendchen Zeit goennen." + +Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herueberkamen. + +"Ihr braucht laenger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," +sagte Frau Pfaeffling aergerlich, "woher kommt denn das?" + +"Weil Fraeulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue +voraus erklaert. Sie sagt, so koennten wir bald alle Mitschuelerinnen +ueberfluegeln, und in der Schule wuerde jedermann staunen ueber unsere +Fortschritte." + +"Das kann sein," entgegnete Frau Pfaeffling, "aber dann haette ich gar +keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum +lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, dass ihr nicht in die +Dunkelheit kommt mit den Ausgaengen." Sie kamen aber doch erst heim, als +es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fraeulein Bergmann die +Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmaedchen schicken?" + +"Walburg kann nicht alles besorgen." + +"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie +vollends ganz taub ist, muss sie doch fort." + +Diese Worte hoerte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte +Walburg in der Kueche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie +wohl bald ganz taub wuerde? Sie bemerkte seinen forschenden, +teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu +ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag +Fraeulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend: +"Man muss froh sein, dass man sie hat." + +Ja, man war froh, dass man sie hatte, und nahm geduldig manche +Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veraenderung im +Pfaeffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer +mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden. + +"Ich habe noch ueberall, wo ich war, weisse Tischtuecher getroffen," +bemerkte Fraeulein Bergmann. + +"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen +Haus," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir muessen jede unnoetige Arbeit +vermeiden und die grossen Tischtuecher machen viel Arbeit in der Waesche." + +"Aber das Essen mundet besser auf solchen." + +"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an +unserem Tisch." + +Kurz darauf beanstandete Fraeulein Bergmann, dass die Tuere zum Nebenzimmer +regelmaessig offen stand. "Wir koennen dadurch beide Zimmer mit _einem_ +Ofen heizen," erklaerte Frau Pfaeffling. + +"Aber dann sollten Sie die Tuere aushaengen und eine Portiere anbringen, +das wuerde sich sehr fein machen." + +"Ja gewiss, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkaeufe kann ich +mich nicht einlassen. Sie muessen bedenken, dass Sie nun nicht mehr bei +reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn +es nur immer zum taeglichen Brot reicht." + +"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwoehnt bin, und +ich habe mich schon oft gewundert, dass Sie so heitern Sinnes auf vieles +verzichten, woran Sie gewiss zu Hause gewoehnt waren. Ich weiss, dass Sie +aus fein gebildeter Familie stammen." + +"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhaeltnisse +schicken. Die aeussere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein +Glueck ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit +gar nichts zu tun." + +Ein paar Tage spaeter brachte Fraeulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu +einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Tueroeffnung +wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat huebsch aus, die Kinder +standen voll Bewunderung. Aber der schoene Stoff passte nicht so recht zum +Ganzen, Fraeulein Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es +sehen nun allerdings die Moebelbezuege verblichen aus," sagte sie, "aber +ueber kurz oder lang muessten diese doch erneuert werden." + +Herr Pfaeffling war sehr ueberrascht, als er zum erstenmal durch die +Portiere schritt. Sie streifte dem grossen Mann das Haar. Er sah sie +missliebig an. + +"Es ist ein Geschenk von Fraeulein Bergmann," sagte Frau Pfaeffling, "du +solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." + +"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfaeffling, "ich habe ja gar keinen +Sinn fuer so etwas, es faengt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu +unserer uebrigen Einfachheit. Fraeulein Bergmann mag sich Portieren in ihr +Zimmer haengen so viel sie will, aber unsere Zimmer muessen ihr schoen +genug sein, so wie sie sind." + +Bei Tisch sass er gerade der Portiere gegenueber; sie kam ihm wie etwas +Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Hoeflichkeit wahren und +sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Aerger zum ersten +hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller +gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller. + +"Finden Sie nicht, dass es gegen den Schoenheitssinn verstoesst, wenn die +Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fraeulein +Bergmann fragend an Frau Pfaeffling. + +"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller +mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuraeumen ist schon ein Geschaeft." + +"So viel koennte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das +Fraeulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit." + +Da fiel ihr Herr Pfaeffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, +geehrtes Fraeulein, meine Frau als Hausfrau muss doch am besten wissen, +was in unsere Haushaltung passt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, +muessen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen." + +"Gewiss, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu +sehen, wie der Schoenheitssinn so ganz vernachlaessigt wird. Aber ich +werde gewiss nicht mehr darein reden, kein Wort mehr." + +"Ja, darum moechte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr +Pfaeffling, "und uebrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles +ordentlich, schoen und rein und ich moechte durchaus nicht, dass sie sich +noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird man +sie ueberall gern sehen." + +"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fraeulein und fuegte +gekraenkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluss der Mahlzeit verlief +in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorueber war, zog sich +Fraeulein Bergmann zurueck. + +"Sie ist beleidigt," fluesterte bekuemmert eines der Maedchen dem andern +zu. + +"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brueder, "warum mischt +sie sich ein!" + +"Aber es ist doch wahr, dass Teller schnell abgewaschen sind!" + +"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fraeulein Bergmann sagt +und haltet gar nicht zur Mutter!" + +Dieser Vorwurf kraenkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr +Pfaeffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," +sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fraeulein Bergmann wird sich +jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und +mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine Sache +nicht vollkommen und da ist es gar nicht uebel, einmal zu erfahren, wie +andere darueber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der Welt gesehen als +ich." + +Mit Frau Pfaeffling verstand sich Fraeulein Bergmann am besten. Die beiden +Frauen standen eines Morgens vor dem Buecherschrank, Fraeulein Bergmann +machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwaehlen. + +"Es ist merkwuerdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man +keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf +diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht +nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu koennen, und nun, seitdem +ich Musse dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren." + +Frau Pfaeffling sagte nach einigem Besinnen: + +"Ob es Sie wohl befriedigen wuerde, wenn Sie sich an gemeinnuetziger +Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nuetzliche Vereine." + +"Nein, nein," wehrte Fraeulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar +nicht. Ich werde mich schon allmaehlich zurecht finden in meiner +veraenderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fuehle +selbst, dass ich unausstehlich bin." + +Frau Pfaeffling uebte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, dass +Fraeulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr +Kritik und Einmischung gestattete. + +Es war kein schoener Monat, dieser Maerz! Draussen in der Natur wollte sich +kein Fruehlingslueftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurueck und +brachte Erkaeltungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fraeulein +Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Uebelbefinden selbst +verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zoeglingen durch +sorgfaeltige Aufsicht immer verhuetet zu haben. + +"Heute steht Fruehlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. Maerz, +"weisst du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben +ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkaetzchen heim zu bringen. Aber +dieses Jahr ist es so kalt." + +"Ja, voriges Jahr war es viel schoener," darin stimmten alle ueberein, +schoener war es draussen gewesen, schoener auch im friedlich geschlossenen +Familienkreis. + +Sie sassen wieder einmal an dem weiss gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr +Pfaeffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen +lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. + +"Wie wunderlich," begann Fraeulein Bergmann, "dass Sie nicht ein +feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus +vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmass. Wie vielerlei haben Sie +eigentlich?" + +"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfaeffling. "Ich denke, dass man +leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es +nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein +Gebet gedankenlos gesprochen wird." + +"Ach, das koennen Sie doch nicht aendern. Ich bin nicht fuer solche +Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war +es mit Herrn Pfaefflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau +liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu giessen," sagte er lebhaft, +"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den +Inhalt nicht zu horchen." + +"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfaeffling und legte beschwichtigend ihre +Hand auf seine trommelnde, "Fraeulein Bergmann hat das gar nicht schlimm +gemeint!" + +"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfaeffling beguetigend. +Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber +nach Tisch rief Herr Pfaeffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. +"Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist +die verkoerperte Dissonanz und stoert jegliche Harmonie im Hause. So etwas +kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. +Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin." + +"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Tuere weisen, das tut mir doch +leid fuer sie, wie soll ich denn das machen?" + +"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kraenken. +Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinueber und +mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" + +"Nein, so ploetzlich laesst sich das doch nicht machen, bis zum 1. April +musst du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfaeffling, und waehrend +sie ihrer Arbeit nachging, ueberlegte sie, wie sie die Kuendigung schonend +begruenden koennte. Fraeulein Bergmann tat ihr leid, aber die Ruecksicht +auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause musste doch vorgehen. + +Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fraeulein +Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem +Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich moechte Ihnen etwas zeigen," sagte +das Fraeulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen +hervorgesucht, moechten Sie diese nicht lesen? Ich muss Ihnen sagen, dass +ich mich ordentlich schaeme ueber die Zurechtweisung, die ich heute mittag +erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den vielen Jahren, +die ich in Stellung war. Aber ich fuehle ja selbst, dass ich unleidlich +bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, bitte, lesen +Sie!" + +Fraeulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele +Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tuechtigkeit +war in den Zeugnissen ausdruecklich ihre Liebenswuerdigkeit, ihr Takt +hervorgehoben. + +Indem Frau Pfaeffling dieses las und ueberdachte, kam ihr ploetzlich die +Erklaerung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fraeulein Bergmann +wieder in das richtige Geleise zu bringen waere. + +"Ich glaube, Sie haben sich viel zu fruehe in den Ruhestand begeben, und +das ist wohl der Grund fuer Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. +Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie kaeme es Ihnen vor, wenn +er schon aufhoeren wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch +sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, +und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie koennten ein ganzes +Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem +Stuebchen hinter den Buechern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und +das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen unberufen +eingreifen. Ihre besten Kraefte liegen brach! Wenn ich Ihnen einen Rat +geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und zwar eine +solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" + +Fraeulein Bergmann hatte nachdenklich zugehoert. "Ja," sagte sie jetzt, +"so wird es wohl sein. Ich kann die Untaetigkeit nicht ertragen. Dass Sie +mir noch solch eine Leistungsfaehigkeit zutrauen, das freut mich. Nur +schaeme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen +Entschluss mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine +verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt." + +"Ist sie wohl schon besetzt?" + +"Vielleicht nicht. Es hiess, der Eintritt koenne auch erst spaeter +erfolgen." + +"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" + +"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings haette ich +keine passendere finden koennen. Meinen Sie, ich soll schreiben?" + +"ueberlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darueber hingehen." + +Eine halbe Stunde spaeter hoerte man Fraeulein Bergmann mit eiligen, +elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. + +"Ich bin Fraeulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, +"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; +warum sie wohl gerade heute so vergnuegt ist?" + +Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. +Schon zum 1. April sollte Fraeulein Bergmann sie antreten. Das letzte +gemeinsame Mittagsmahl war vorueber, die Kinder freuten sich unten, im +Freien, der langersehnten warmen Fruehlingsluft, Frau Pfaeffling war mit +der Sorge um das Gepaeck der Reisenden beschaeftigt, diese sass allein noch +mit Herrn Pfaeffling am Esstisch. + +"Wenn ich einmal alt und pflegebeduerftig bin," begann Fraeulein Bergmann, +"dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen moechten in Ihr Haus. +Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen +moechte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. +Dann duerften Sie ja keine Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." +Herr Pfaeffling, der nach seiner Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, +machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist ja sehr viel wert, wenn sie +nicht bloss aus schlechter Laune entspringt. Solange Sie _alles_ +tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir in friedlicher +Stimmung auseinandergehen, jetzt wuerde ich auf Ihr Urteil viel geben. +Sie sagten neulich, es sei alles unschoen und unfein bei uns--" + +"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und ueberdies +wissen Sie wohl, dass alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen +war." + +"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Aeusserungen zugrunde. Moechten Sie +mir nicht sagen, was Ihnen unschoen erscheint in unserem Hauswesen, +unseren Gewohnheiten?" + +Fraeulein Bergmann ueberlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht +aufrecht erhalten," und mit einem gutmuetigen, aber doch ein wenig +spoettischen Laecheln fuegte sie hinzu: "Unschoen ist eigentlich nur +_eines_." + +"Und zwar?" + +"Darf ich es sagen? Nun denn: unschoen kommt mir vor, wenn Sie so wie +jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." + +Herr Pfaeffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. + +"Ihr Wilhelm faengt das naemlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie +es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter +Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen +Zusammenstoss zu vermeiden, da Sie oft mit einem ploetzlichen Ruck +stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig +dabei." + +"Das begreife ich!" sagte Herr Pfaeffling, "und wenn mir schliesslich alle +Kinder folgen wuerden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich +werde es mir abgewoehnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu +solchen uebeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darueber--und +nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf. + +Fraeulein Bergmann verliess laechelnd das Zimmer. + +Im Vorplatz uebergab Frau Pfaeffling den vollgepackten Handkoffer an +Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. + +"O nein," entgegnete Walburg in ungewoehnlich lebhaftem Ton, "ich trage +ihn _gern_ fort." + +Hatte sie auch nie die unfreundlichen Aeusserungen gehoert, die Fraeulein +Bergmann ueber sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert +und war froh, dass diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wusste sie +nicht, fragte auch nicht darnach, es genuegte ihr, dass offenbar niemand +ungluecklich darueber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die wuerde +sich bald troesten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern +finden. + +Frau Pfaeffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit +zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustuere hinaus, als +Herr Pfaeffling seine drei Grossen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere +abnehmen, dass man wieder Luft und Licht hat und frei durch die Tuere +kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie koenne den schoenen Stoff gut +verwenden!" + +So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stuehlen und hantierten lustig +darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das +offene Fenster von der Strasse herauf Elschens Stimme ertoente, die nach +den Bruedern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder +herein: "Fraeulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst +herauf!" + +"Geht hinaus, lasst sie nicht herein," rief Herr Pfaeffling, "den +schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draussen hoerte man auch +schon ihre Stimme: "Ich muss den Schirm im Esszimmer abgestellt haben." +Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfasste ihn, blitzschnell +rannte er durch die Tuere und konnte diese gerade noch hinter sich +schliessen und Fraeulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts +gesehen und eilte davon. + +"Wenn sie nun zu spaet zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr +Pfaeffling ueberlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb +unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir haetten eigentlich warten koennen +bis morgen." + +Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk musste vollendet werden; bald +sah alles im Haus Pfaeffling wieder aus wie vorher; Fraeulein Bergmann kam +nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfaeffling +kehrte mit Elschen allein zurueck. "Sie laesst euch alle noch gruessen," +berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch +einmal ein schoenes Tischgebet schicken!'" + +Herr Pfaeffling war in froehlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, +"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu +gekommen." Er stimmte ein Fruehlingslied an, und dass es so besonders +frisch und froehlich klang, das war Fraeulein Bergmann zu danken! + + + + +14. Kapitel + +Wir nehmen Abschied. + + +Frau Pfaefflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, +und das leere Zimmer war fuer ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der +Kinder ahnte etwas davon, dass der Onkel bei seinem Besuch sie kennen +lernen und darnach beschliessen wolle, welches von ihnen er heimwaerts mit +sich nehmen wuerde. Sie wussten nur, dass die Mutter ihren einzigen, innig +geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den seltenen Gast. +Die drei Grossen hatten auch noch aus ihrer fruehesten Kindheit eine +schoene Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen waren und durch +schoene Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. + +Herr Pfaeffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefasst +worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schaetzte sie hoch, +auch war es ihm klar, dass in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen +Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen +Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur fuer ein oder hoechstens zwei +Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des Elternhauses +entfremdet wuerde. + +Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was waehrend +desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen +zeigen. + +In einem der grossen Gaenge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder +Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. +Doch nur fuer die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht +besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, +schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht +Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schueler haetten sie gleich +gerne los gehabt. Darum strebten die Brueder gleich aufeinander zu, als +die Klassentuere sich auftat und die Schueler herausdraengten. Ueber der +andern Koepfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis +hin und dieser las: Mathematik III. Ueber diese Note, die wohl schon +manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt +und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch +zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die +Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wusste +er schon, dass es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine +Durchschnittsnote noetig?" fragte er und ueberblickte das Zeugnis, und war +zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brueder waren enttaeuscht, nach +ihrer Meinung haette der Vater viel vergnuegter sein muessen. "Hast du noch +etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. + +"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind +wir noch in gefaehrlicher Nachbarschaft. Ich weiss wohl, warum ihr so +vergnuegt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun ueberfluessig, +aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm koennte sonst +gleich wieder rueckfaellig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal in der +Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, +zum Lohn fuer den Erfolg," fuegte der Vater hinzu. Da heiterten sich die +Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, im +Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. Und +uebermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder vergnuegt +und kamen in gluecklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern +begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust saemtliche +Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten. + +"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie +Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemuehte, die +geheimnisvollen Ziffern zu deuten. + +"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen +Uebermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a +plus b ist? Das weisst du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen +Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfaengliche Fragen und es +wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie +sich zu Frieder fluechtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag +Mathematikstunden!" + +Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten +sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug +gekommen. Sie schrieben an Fraeulein Bergmann eine schoene Karte. + +Herr Pfaeffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in +Haenden hatte und sah, dass es besser war als die frueheren, trat ihm +wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhuellte Violine +mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes uebergeben hatte. Er war seitdem ein +gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe, +die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die +brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht +dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwaehnt. Ob +sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater haette +es gerne gewusst, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine +Spieler seine Musikhefte beiseite raeumte, redete er ihn darauf an. + +"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir +nicht mehr so leid, dass du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes +Gesicht machte das Kind, als diese Wunde beruehrt wurde, dann antwortete +er leise: "Ich moechte sie gar nicht mehr haben." + +"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhoeren +kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht, +Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer faellt; aber siehst du +nicht, dass wir alle aufhoeren, wenn wir muessen? Meinst du, ich moechte +nicht lieber selbst weiter spielen, als Fraeulein Vernagelding Stunde +geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter moechte, wenn sie nach +Tisch in ihren schoenen Buechern liest, nicht lieber weiterlesen als schon +nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und die +Struempfe stopfen? Und die grossen Brueder moechten nicht lieber auf den +Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter unserem +Dach moechten nicht lieber fuer sich selbst Futter auspicken als +ausfliegen und ihre Jungen fuettern, wie es der liebe Gott angeordnet +hat? Und der Frieder Pfaeffling will allein dastehen auf der Welt und +sagen: 'Ich kann nicht aufhoeren'? Nein, der muesste sich ja schaemen vor +den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott muesste er sich +schaemen!" + +"Ich kann auch aufhoeren," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim +Geigen nicht." + +"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann +mitten im Geigenstrich aufhoeren und das musst du auch lernen. Gib dir +Muehe, und wenn du dann fuehlst, dass du einen festen Willen hast, so sage +es mir, dann will ich dir jeden Sonntag fuer eine Stunde deine Geige +geben." + +Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem grossen Schrank +deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zaertlichem +Ton: "Da innen ist sie!" + +"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen +Willen bekommt und sie erloest aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; +Fraeulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich hoere sie schon lange plaudern +mit Marianne, ich weiss nicht, warum sie nicht herein kommt." + +Unser Musiklehrer oeffnete die Tuere nach dem Vorplatz, die drei +plaudernden Maedchen fuhren auseinander, Fraeulein Vernagelding kam zur +Stunde. Noch rosiger und laechelnder erschien sie als sonst, und hatte +solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erroeten mitzuteilen! Die +Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, dass +Fraeulein Vernagelding Braut war! Solch einen schoenen, jungen, reichen, +blonden Bankier hatte sie zum Braeutigam! Aber unmusikalisch war er +leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der +Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. + +"Graemen Sie sich darueber nicht," sagte Herr Pfaeffling zu seiner +Schuelerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." + +"Meinen Sie?" fragte Fraeulein Vernagelding, "das waere schoen! Und nicht +wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute +Freunde und Ihre Fraeulein Toechter muessen zu meiner Hochzeit kommen. Das +gibt zwei suesse Brautfraeulein!" + +"Meine Toechter?" fragte Herr Pfaeffling verwundert. "Sie meinen die +Marianne? Das sind doch keine Brautfraeulein? Da muessen Sie mit meiner +Frau sprechen."-- + +Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfaefflings Bruder eintreffen sollte. +Alle Haende hatten sich fleissig geruehrt, um fuer das Osterfest und +zugleich fuer den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren +des langen Winters waren mit den trueben Doppelfenstern, mit Kohleneimern +und Ofenruss aus den Zimmern verschwunden, die Fruehlingssonne durfte die +hintersten Winkel bestrahlen, Walburg brauchte die Pruefung nicht zu +fuerchten, alles war blank und rein. Eine muehevolle Zeit war das gewesen, +aber nun war sie gluecklich ueberstanden, Feststimmung breitete sich schon +ueber das Haus und heute sollte der Gast ankommen. + +"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," +sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, +Frau Pfaeffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in +der alten Heimat schoen gewesen, so musste es doch noch viel beglueckender +sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben. + +Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle +miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, +er war nicht an so viele Kinder gewoehnt, sie wollten sich verteilen und +nur allmaehlich erscheinen, damit es keinen Laerm und kein Gedraenge gaebe. + +Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und +sahen begierig die Strasse hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten +auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen +Kopf kleiner als der Vater, ganz aehnlich der Mutter, nur nicht so +schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und dass er eine voll +gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen besonders +hervorgehoben. Nun mussten auch die Kinder bemerkt worden sein, denn der +Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar den Hut als +Gruss. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen doch +entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht +so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderkoepfe verschwanden vom +Fenster, und vierzehn Fuesse trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist +frisch geoelt," rief Marie, "geht an der Seite, dass sie in der Mitte +schoen bleibt!" + +Nun kam die Begruessung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die +Kinder beruehrte es merkwuerdig, dass der Onkel der Mutter so aehnlich war, +in den Zuegen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begruessten sie +ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen +seiner Schwester, die andern seinem Schwager aehnlich. + +"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," draengte Herr Pfaeffling, "wir wollen +den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und liessen den +Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurueck nach dem jungen +Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der +Mutter. + +"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." + +"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurueck. +"Caecilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heisst du ungehobelt?" + +Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was fuer eine +stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die +ungewoehnlich grosse Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr +habt euch wohl eine besonders kraeftige Magd ausgesucht fuer eure grossen +Schuesseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme +Dienerin? Wie schade um das Maedchen!" + +"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, +"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser +werden." + +Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal +ein Tischgebet gewusst, das muesste heute gut passen und dem Onkel +gefallen, es kommt etwas vom vielverheissenden Tisch vor, weisst du nicht, +welches ich meine?" + +Frau Pfaeffling wusste es wohl und sprach es: + + In groesserem Kreise stehen wir heute + Am Gutes verheissenden festlichen Tisch. + Aber die richtige froehliche Stimmung + Die musst auch heute Du, Herr, uns geben. + Nahe dich freundlich jedem von uns. + +Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine +Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich +alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, +"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, +bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie +machten sich mit Eifer daran und trieben es taeglich fast mit +Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der +Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir muessen die zwei +Parteien so einteilen, dass die guten und schlechten Spieler gleichmaessig +verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm, +der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen, +sonst koennen die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf +seinem Hoehepunkt, als Frau Pfaeffling hereinkam. + +"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, lasst euch doch nicht +immer mahnen." Schuldbewusst legten zwei der Spieler ihre Schlaeger aus +der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner +Zeitung hervor. Das Wort: "Lasst euch doch nicht mahnen" schien noch +weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?" +fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das koenntest du besorgen, Frieder," +sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten sich auch +diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfaeffling setzte sich ein +wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist ruehrend," +sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschueler so selbstverstaendlich +zum Holztragen verpflichtet fuehlen und ohne Widerspruch das Spiel +aufgeben. Das taete meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?" + +"Das bringen die einfachen Verhaeltnisse ganz von selbst mit sich. Die +Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig +werden, so helfen sie mit." + +"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und +ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tuechtige Staatsbuerger +hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie +ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und +widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt +entgegenbringen, wohl in dem Gefuehl, dass sonst das ganze System in +Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, dass dein Mann ein so +leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister. +Das muss ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in +ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." + +Die Kinder hatten nicht auf das leise gefuehrte Gespraech gehorcht; was +kuemmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des +Onkels, die traf Maries Ohr, die erfasste sie. "Wenn ich eines eurer +Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie haette es offenbar nicht hoeren +sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunaechst liess sie sich nichts +anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich behalten. +Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am Balkenplatz +zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie vertraute ihnen an, +was sie gehoert hatte. Das ganze Trueppchen stand dicht zusammengedraengt +und besprach in lebhafter Erregung die Moeglichkeit, fortzukommen. +Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer ungern? +Sie waren zweifelhaft. Wen wuerde der Onkel waehlen? Ein jedes meinte: +"Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, +der doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiss +will er _mich_ mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht +fort, fuer ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, +er fuerchtete die fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will +er mitnehmen, so glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das +fremde Kind gewesen, vor die Tuere gewiesen mit der Violine. Von jeher +war er ein wenig allein gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, +dass er fort von ihnen sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die +seelenvollen Augen, die angsterfuellt von einem zum andern blickten, und +da wurden sich alle bewusst, dass sie doch den Frieder nicht missen +mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle +geben wir nicht her!" + +Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespraech mit +Herrn Pfaeffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah +hinunter, "Dort steht ja das ganze Trueppchen beisammen," sagte er, +"eines dicht beim andern, keinen Stecken koennte man dazwischen schieben! +Es ist koestlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!" + +"Ja," sagte Frau Pfaeffling, "irgend etwas muss sie sehr beschaeftigen." + +"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, dass jedes sechs treue +Freunde mit fuers Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im +Nest gesessen waren, die fuehlen sich fuer immer zusammengehoerig. Dass ich +nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Voegelein aus diesem Nest +herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschliessen. Geben wir +doch den Plan auf! Lassen wir das froehliche Voelklein beisammen, es kann +nirgends besser gedeihen als daheim!" + +"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu guenstigem Licht, wir sind oft +unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" + +"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiss auch bei euch nicht. +Aber den guten Grund fuehle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut +ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist." + +"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten koennen," meinte Frau +Pfaeffling. + +"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von +Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen +Lateinschueler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er +neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es waere bei +meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spueren! Kehren wir doch +die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren +einfachen Verhaeltnissen wuerde er ganz von selbst seine Ansprueche fallen +lassen, er waere zufrieden und gluecklich mit euren Kindern." + +Es blieb bei dieser Verabredung. + +Draussen im Freien hatte sich inzwischen alles veraendert. Die Sonne war +von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten +ploetzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfaefflinge fluechteten +herauf. + +"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wisst ihr +auch, Kinder, mit was fuer Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von +euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schoen Platz waere fuer +ein viertes, und eure Eltern haetten es dann leichter gehabt. Aber ich +tue es nicht. Wollt ihr hoeren warum? Weil ihr es so schoen und so gut +habt, dass ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben koennet. Ihr +lacht? Es ist mein Ernst." + +Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, musste es ja +wissen. + +Elschen drueckte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns haettest du +denn mitgenommen?" fragte sie. + +"Musst du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und +deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewusst! + +Einige Tage spaeter war Frau Pfaefflings Bruder wieder abgereist. Sie +stand mit wehmuetigem Gefuehl im Gastzimmer und war beschaeftigt, es wieder +fuer eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen +musste. In ihren Gedanken verloren, hoerte sie doch mit halbem Ohr einen +Mann die Treppe heraufkommen, hoerte klingeln, oeffnen, wieder schliessen, +hoerte Marie zum Vater hinuebergehen. An all dem war nichts besonderes, es +brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang. + +Aber jetzt? + +Sie horchte. "Caecilie, Caecilie!" toente es durch die ganze Wohnung. Sie +wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da +stand er vor ihr mit glueckstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: + +"Caecilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht +fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es +selbst schwarz auf weiss, dass die Marstadter vorlaeufig in einem +gemieteten Lokal die Musikschule eroeffnen wollten und den Musiklehrer +Pfaeffling zum Direktor ernannt haetten. Es fehlte nichts mehr als seine +Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu +warten! + +Der jubelnde Ruf: "Caecilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern +herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hoerten sie +die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und +immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das goennen!" + +Und das Glueck war immer groesser, weil es von so vielen Gesichtern +widerstrahlte. + +Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles ueberhoert, weil er +mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschaeftigt war. + +"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muss man es doch auch +sagen!" + +Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem +Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. + +"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfaeffling. + +"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" + +Dabei draengte er sich dicht an den Vater und fragte schuechtern: "Gibst +du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten +darin aufhoeren, ich habe es probiert." + +"Wie hast du das probiert, Frieder?" + +"Beim Essen. Dreimal. Aufgehoert im aergsten Hunger, auch bei den +Pfannenkuchen. Die andern wissen es." + +"Ja, es ist wahr," betaetigten ihm die Geschwister, die als seine +Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfaeffling +schloss den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er froehlich, +"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies +Festtag bei uns, du weisst wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine +Violine, kleiner Direktorssohn!" + +Ja, das war ein seliger Tag! + +Frau Pfaeffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die +Neuigkeit gehoert, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so +fuerchtete sie auch diese Veraenderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, +sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr +Direktor will auch deinen Lohn erhoehen." + +Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder +allein in ihrer Kueche stand, da legte sie einen Augenblick die fleissigen +Haende ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" + +Frau Pfaeffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch +Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen +zusammen, und waehrend sie sprachen, toente von oben Klavier und Gesang +herunter und Frau Pfaeffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann +uebte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim: + + "Drum rufen wir mit frohem Sinn: + Es lebe die Direktorin!" + +Als Frau Hartwig wieder allein war, musste ihr Mann sie troesten: "Leicht +bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe +im Haus gemacht und bedenke nur die Abnuetzung der Treppe!" Dabei suchte +er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und +befestigte an der Haustuere die Aufschrift: + + _Wohnung zu vermieten_. + +Und als sie die Tuere wieder hinter sich schloss, fiel ihr eine Traene auf +die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiss gar niemand, wie lieb mir +die Familie Pfaeffling war!" + + + +***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING*** + + +******* This file should be named 10917.txt or 10917.zip ******* + + +This and all associated files of various formats will be found in: +https://www.gutenberg.org/1/0/9/1/10917 + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose +such as creation of derivative works, reports, performances and +research. They may be modified and printed and given away--you may do +practically ANYTHING with public domain eBooks. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. 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Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's +eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII, +compressed (zipped), HTML and others. + +Corrected EDITIONS of our eBooks replace the old file and take over +the old filename and etext number. The replaced older file is renamed. +VERSIONS based on separate sources are treated as new eBooks receiving +new filenames and etext numbers. + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + +https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + +EBooks posted prior to November 2003, with eBook numbers BELOW #10000, +are filed in directories based on their release date. If you want to +download any of these eBooks directly, rather than using the regular +search system you may utilize the following addresses and just +download by the etext year. + +http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext06 + + (Or /etext 05, 04, 03, 02, 01, 00, 99, + 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90) + +EBooks posted since November 2003, with etext numbers OVER #10000, are +filed in a different way. The year of a release date is no longer part +of the directory path. The path is based on the etext number (which is +identical to the filename). The path to the file is made up of single +digits corresponding to all but the last digit in the filename. For +example an eBook of filename 10234 would be found at: + +https://www.gutenberg.org/1/0/2/3/10234 + +or filename 24689 would be found at: +https://www.gutenberg.org/2/4/6/8/24689 + +An alternative method of locating eBooks: +https://www.gutenberg.org/GUTINDEX.ALL + +*** END: FULL LICENSE *** diff --git a/old/old/10917.zip b/old/old/10917.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..90b599a --- /dev/null +++ b/old/old/10917.zip |
