summaryrefslogtreecommitdiff
path: root/old/14330-h
diff options
context:
space:
mode:
authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:44:16 -0700
committerRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:44:16 -0700
commit90d3b6968bc5a8633254ad7201064799335551e7 (patch)
tree7b92ae9b42df038814db1853f1e26186273e79c1 /old/14330-h
initial commit of ebook 14330HEADmain
Diffstat (limited to 'old/14330-h')
-rw-r--r--old/14330-h/14330-h.htm15833
1 files changed, 15833 insertions, 0 deletions
diff --git a/old/14330-h/14330-h.htm b/old/14330-h/14330-h.htm
new file mode 100644
index 0000000..b249f99
--- /dev/null
+++ b/old/14330-h/14330-h.htm
@@ -0,0 +1,15833 @@
+<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd">
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"><head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8"/>
+ <title>Die Äbtissin von Castro</title>
+
+ <style type="text/css">
+/* leave room for page numbers */
+body { margin-left: 9%; margin-right: 9%; }
+
+h1 { text-align: center; margin-top: 6ex; margin-bottom: 8ex}
+h2 { text-align: center; margin-top: 10ex; margin-bottom: 2ex}
+h3 { text-align: center; margin-top: 6ex; margin-bottom: 2ex}
+h4 { text-align: center; margin-top: 3ex; margin-bottom: 2ex}
+
+/* the default blue should suffice. Underlined footnotes simply lack beauty. */
+a { text-decoration: none; }
+/* for obvious typos with reference to 'corrections' in transcriber's notes section*/
+a.sic { text-decoration: none; }
+
+/*
+hr corresponds to thought breaks in the original (indicated by a single bold asterisk)
+hr.front are inserted (esp. in front matter) by the transcriber at page breaks
+ where appropriate, i.e. where the page breaks (or even blank pages) are significant.
+*/
+hr { width: 68%; height: 0px; margin-top: 8ex; margin-bottom: 8ex }
+hr.front { width: 100%; height: 0px; margin-top: 12ex; margin-bottom: 12ex }
+
+/* Standard paragraph; */
+p { text-align: justify; text-indent: 1em }
+/* The translater as stated below a H2 heading (on a seperate page in original)*/
+p.xlat { text-align: center; text-indent: 0; margin-top: 4ex; font-size: larger; font-weight: bold }
+/* Special paragraphs in front matter */
+p.front { text-align: center; text-indent: 0em; margin-top: 5ex; }
+p.center { text-align: center; text-indent: 0; margin-left: 10%; margin-right: 10%}
+
+/* introduction and signature of a letter */
+p.letterfirst { text-align: center; text-indent: 0;}
+p.lettersecond { text-indent: 3em; }
+p.letterlast { text-align: right; margin-right: 1em;}
+
+/* a poem */
+div.poem { margin-left:10%; margin-right:10%; margin-bottom: 1em;
+ text-align: left; }
+/* A standard line in a poem */
+div.poem p { text-align: left; margin: 0; padding-left: 3em; text-indent: -3em; }
+/* List of content */
+div.content { margin-top: 1em; margin-bottom: 1em }
+div.content p { text-align: left; margin: 0; padding-left: 3em; text-indent: -3em; }
+
+/* Page numbering in left margin */
+span.pgnum { position: absolute; left: 1%; right: 91%; font-size: 8pt;
+ text-indent: 0; font-weight: normal; text-align: left; visibility: visible; }
+span.pgnum:before { content: "Seite " }
+
+/* For footnotes */
+sup { font-size: 0.7em; }
+div.FN p { font-size: 0.9em; }
+
+/* spaced out */
+span.spaced { letter-spacing: 0.3ex }
+
+</style></head>
+
+<body>
+
+
+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Die Abtissin von Castro, by Stendhal
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Die Abtissin von Castro
+
+Author: Stendhal
+
+Release Date: December 11, 2004 [EBook #14330]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ABTISSIN VON CASTRO ***
+
+
+
+
+Produced by Juliet Sutherland, Hagen von Eitzen and the Online
+Distributed Proofreading Team.
+
+
+
+
+
+
+</pre>
+
+<p class="front"><big><big><b><i>STENDHAL</i></b></big></big></p>
+
+<h1>DIE ÄBTISSIN VON CASTRO</h1>
+
+
+<p class="front"><i>DER NOVELLEN ZWEITER BAND</i></p>
+
+
+<p class="front"><span style="letter-spacing: 0.2ex">GEORG MÜLLER VERLAG * MÜNCHEN</span><br/>
+<span style="letter-spacing: 1.6ex">1922</span></p>
+
+<hr class="front" />
+
+<p class="front"><i>Alle Rechte vorbehalten</i> * <i>Erstes bis drittes Tausend</i></p>
+
+<hr class="front" />
+
+
+<h2><a id="page-1"></a><span class="pgnum">1</span>DIE FÜRSTIN VON CAMPOBASSO</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-2"></a><span class="pgnum">2</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<p><a id="page-3"></a><span class="pgnum">3</span>Ich übersetze aus einem italienischen Chronisten den
+genauen Bericht über die Liebschaft einer römischen
+Fürstin mit einem Franzosen. Es war im Jahre 1726,
+und alle Mißbräuche des Nepotismus blühten damals in
+Rom; niemals war der Hof glänzender gewesen. Benedikt
+XIII. Orsini regierte, oder vielmehr: es leitete sein
+Neffe, der Fürst Campobasso unter seinem Namen alle
+Geschäfte. Von allen Seiten strömten Fremde nach Rom;
+italienische Fürsten, spanische Granden, noch reich an
+Gold der Neuen Welt, kamen in Menge, und wer reich
+und mächtig war, stand dort über den Gesetzen. Galanterie
+und Verschwendung schienen die einzige Beschäftigung
+aller dieser Fremden aller Nationen zu sein.</p>
+
+<p>Des Papstes beide Nichten, die Gräfin Orsini und die
+Fürstin Campobasso genossen vor allen die Macht ihres
+Oheims und die Huldigungen des Hofs. Ihre Schönheit
+hätte sie aber auch aus den untersten Schichten der Gesellschaft
+hervorgehoben. Die Orsini, wie man sie familiär
+in Rom nannte, war heiter und, wie man hier
+sagt, disinvolta, die Campobasso zärtlich und fromm,
+aber diese zärtliche Seele war der gewalttätigsten Leidenschaften
+fähig. Obgleich sie nicht erklärte Feindinnen
+waren und nicht nur jeden Tag sich am päpstlichen Hof
+trafen, sondern sich auch oft besuchten, waren diese
+Damen Rivalinnen in allem: Schönheit, Ansehen und
+Glücksgütern.</p>
+
+<p><a id="page-4"></a><span class="pgnum">4</span>Gräfin Orsini, weniger hübsch, aber glänzend, ungezwungen,
+beweglich und für Intrigen begeistert, hatte
+Liebhaber, die sie wenig kümmerten und nicht länger
+als einen Tag beherrschten. Ihr Glück war, zweihundert
+Menschen in ihren Salons zu sehn und unter ihnen als
+Königin zu glänzen. Sie lachte über ihre Kusine Campobasso,
+welche die Ausdauer gehabt hatte, sich drei Jahre
+hindurch mit einem spanischen Herzog zu kompromittieren,
+um ihm schließlich sagen zu lassen, daß er Rom
+binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe, wenn
+ihm sein Leben lieb sei. „Seit diesem großen Hinauswurf“,
+sagte die Orsini, „hat meine erhabene Kusine
+nicht mehr gelächelt. Seit einigen Monaten ist es klar,
+daß die arme Frau vor Langweile oder vor Liebe stirbt,
+aber ihr gewitzter Gatte rühmt dem Papst, unserm
+Oheim, diese Langweile als hohe Frömmigkeit. Bald aber
+wird sie diese Frömmigkeit dazu bringen, eine Pilgerfahrt
+nach Spanien zu unternehmen.“</p>
+
+<p>Indes war die Campobasso weit davon, ihren spanischen
+Herzog zu vermissen, der sie während seiner Herrschaft
+tödlich gelangweilt hatte. Hätte sie ihn vermißt,
+würde sie ihn zurückgerufen haben, denn sie besaß jenen
+in Rom nicht seltenen Charakter, ebenso natürlich und
+unmittelbar in der Gleichgültigkeit wie in der Leidenschaft
+zu sein. In ihrer exaltierten Frömmigkeit bei ihren
+kaum dreiundzwanzig Jahren und in der Blüte aller
+Schönheit widerfuhr es ihr, daß sie sich eines Tags vor
+ihrem Oheim auf die Knie warf und ihn um den päpstlichen
+Segen bat, der — was nicht genug bekannt ist — ohne
+jede vorhergehende Beichte von allen Sünden freispricht,
+mit Ausnahme zweier oder dreier Todsünden.
+Der gute Benedikt XIII. aber weinte vor Zärtlichkeit:
+„Erhebe dich, meine Nichte, du hast meinen Segen nicht
+<a id="page-5"></a><span class="pgnum">5</span>notwendig, denn du giltst mehr als ich in den Augen
+des Herrn.“</p>
+
+<p>Aber trotz seiner Unfehlbarkeit täuschte sich Seine
+Heiligkeit hierin, wie übrigens ganz Rom. Die Campobasso
+war kopflos verliebt und ihr Geliebter teilte ihre
+Leidenschaft; und dennoch war sie sehr unglücklich.
+Schon seit mehreren Monaten traf sie fast jeden Tag
+den Chevalier von Sénecé, den Neffen des Herzogs von
+Saint-Aignan, welcher damals Botschafter Ludwigs XV.
+in Rom war.</p>
+
+<p>Sohn einer der Mätressen Philipps von Orléans, war
+der junge Sénecé stets Gegenstand der ausgewähltesten
+Gunstbezeugungen gewesen. Schon lange Oberst, obgleich
+er kaum zweiundzwanzig Jahre zählte, hatte er
+einige anmaßende Gewohnheiten, doch ohne Unverschämtheit.
+Natürliche Fröhlichkeit, das Verlangen, sich
+immer zu unterhalten und alles unterhaltsam zu finden,
+Unbesonnenheit, Mut und Güte zeichneten seinen Charakter
+eigentümlich aus, von dem man freilich damals
+lobend nur hätte sagen können, daß er in allem ein
+Musterbeispiel des Charakters seiner Nation war. Diese
+nationale Eigenart hatte vom ersten Augenblick an die
+Campobasso berückt. „Ich mißtraue Ihnen, Sie sind
+Franzose“, hatte sie ihm gesagt, „aber ich sage Ihnen
+etwas im voraus: Den Tag, wo man in Rom wissen wird,
+daß ich Sie manchmal im Geheimen empfange, werde
+ich überzeugt sein, daß Sie selber das verbreitet haben,
+und ich werde Sie nicht mehr lieben.“</p>
+
+<p>So mit der Liebe spielend verstrickte sich die Campobasso
+in eine wütende Leidenschaft. Auch Sénecé liebte
+sie; aber es waren schon acht Monate her, daß dieses
+Verhältnis dauerte, und die Zeit, welche die Leidenschaft
+einer Italienerin verdoppelt, tötet die eines Franzosen.
+<a id="page-6"></a><span class="pgnum">6</span>Die Eitelkeit des Chevalier tröstete ihn ein wenig über
+seine Langeweile: er hatte schon zwei oder drei Bildnisse
+der Campobasso nach Paris geschickt. Er übertrug
+die Gleichgültigkeit seines Charakters gegen Güter und
+Vorteile aller Art, mit denen er seit seiner Kindheit überschüttet
+worden war, auch auf die Interessen der Eitelkeit,
+die sonst die Herren seiner Nation gewöhnlich sehr
+besorgt hüten.</p>
+
+<p>Sénecé verstand nicht im geringsten den Charakter
+seiner Geliebten; deshalb belästigten ihn öfters ihre Seltsamkeiten.
+So hatte er jedesmal an allen kirchlichen
+Feiertagen, wie am Festtag der Heiligen Balbina, deren
+Namen sie trug, die Verzückungen und die Selbstanklagen
+einer glühenden und wahren Frömmigkeit auszuhalten.
+Sénecé hatte seine Geliebte nicht die Religion
+vergessen lassen, wie dies bei den gewöhnlichen Frauen
+Italiens vorkommt; er hatte sie nur mit starker Kraft
+besiegt, und der Kampf erneuerte sich immer wieder.</p>
+
+<p>Dieses Hindernis, das erste, das dem mit allen Gaben
+des Glückes überschütteten jungen Mann in seinem
+Leben begegnet war, hielt die Gewohnheit lebendig, zärtlich
+und zuvorkommend gegen die Fürstin zu sein; von
+Zeit zu Zeit erachtete er es für seine Pflicht, sie zu
+lieben. Sénecé hatte nur einen Vertrauten in seinem Botschafter,
+dem Herzog von Saint-Aignan, dem er durch
+die Campobasso manchen Dienst leisten konnte. Außerdem
+war ihm die Bedeutung, die er durch seine Liebesaffäre
+in den Augen des Botschafters gewann, außerordentlich
+schmeichelhaft. Die Campobasso, ganz anders
+als er, war dagegen von der gesellschaftlichen
+Stellung ihres Liebhabers gar nicht berührt. Geliebt oder
+nicht geliebt zu sein war alles für sie. „Ich opfere ihm
+meine ewige Seligkeit,“ sagte sie, „und er, der ein Häretiker,
+<a id="page-7"></a><span class="pgnum">7</span>ein Franzose ist, kann mir nichts, was dem
+gleicht, opfern.“ Aber sobald der Chevalier erschien,
+füllte seine gefällige und dabei so ungezwungene Heiterkeit
+die Seele der Campobasso mit Entzücken und bezauberte
+sie. Bei seinem Anblick verschwand alles, was
+sie sich ihm zu sagen vorgenommen hatte, und alle
+trüben Gedanken. Dieser für diese hochmütige Seele so
+neue Zustand hielt noch lange an, nachdem Sénecé gegangen
+war. Und schließlich fand sie, daß sie fern von
+Sénecé weder denken noch leben könne.</p>
+
+<p>Während in Rom durch zwei Jahrhunderte die Spanier
+in Mode gewesen waren, begann man sich damals ein
+wenig den Franzosen zuzuneigen. Man begann, einen
+Charakter zu verstehn, der Vergnügen und Heiterkeit
+überall hinbrachte, wo er sich zeigte, und diesen Charakter
+gab es damals nur in Frankreich; seit der Revolution
+von 1789 gibt es ihn nirgends mehr. Denn eine
+so beständige Frohmütigkeit braucht Unbekümmertsein,
+Sorglosigkeit, und es gibt für niemand mehr heute eine
+sichere Zukunft in Frankreich, nicht einmal für geniale
+Menschen, falls es solche gäbe. Es herrscht erklärter
+Krieg zwischen Menschen vom Schlage Sénecés und der
+Masse der Nation. Auch Rom war damals vom heutigen
+Rom sehr verschieden. Um 1726 hatte man keine
+Ahnung von dem, was sich siebenundsechzig Jahre später
+ereignen sollte, als das von einigen Geistlichen aufgehetzte
+Volk den Jakobiner Basseville umbrachte, der,
+wie er sagte, die Hauptstadt der christlichen Welt zivilisieren
+wollte.</p>
+
+<p>Durch Sénecé hatte die Campobasso zum erstenmal
+die Vernunft verloren, hatte sich, aus Gründen, die vom
+gesunden Menschenverstand nicht gebilligt werden, bald
+im Himmel befunden, bald im fürchterlichen Unglück.
+<a id="page-8"></a><span class="pgnum">8</span>Nun hatte Sénecé auch die Religion besiegt; nun mußte
+sich diese Liebe, welche für diese strenge und wahre
+Frau weit größere und ganz andere Bedeutung als die
+Vernunft hatte, schnell in die wildeste Leidenschaft
+steigern.</p>
+
+<p>Die Fürstin hatte einen Monsignore Ferraterra begünstigt
+und seine Laufbahn erleichtert. Wie wurde ihr
+zumute, als dieser Ferraterra ihr mitteilte, daß Sénecé
+nicht nur öfter als üblich zur Orsini gehe, sondern daß
+die Gräfin seinetwegen den berühmten Kastraten fortgeschickt
+habe, der seit mehreren Wochen ihr offizieller
+Liebhaber gewesen war!</p>
+
+<p>Hier beginnt, was wir zu erzählen haben: An dem
+Abend des Tages, wo die Campobasso diese verhängnisvolle
+Nachricht erhalten hatte.</p>
+
+<p>Sie saß reglos in einem hohen Lehnstuhl aus goldfarbenem
+Leder. Neben ihr, auf einem kleinen schwarzen
+Marmortisch standen auf hohen Füßen zwei silberne Lampen,
+Meisterwerke des Cellini, und erleuchteten kaum das
+Dunkel eines weitläufigen Saales im Erdgeschoß ihres
+Palastes. Kaum, daß Licht auf die Gemälde an den
+Wänden fiel, die nachgedunkelt waren; denn die Zeit
+der großen Maler lag damals schon weit zurück.</p>
+
+<p>Der Fürstin gegenüber und fast zu ihren Füßen zeigte
+der junge Sénecé auf einem kleinen Stuhl aus Ebenholz,
+mit Ornamenten aus massivem Gold verziert, seine elegante
+Person. Die Fürstin hatte den Blick auf ihn gerichtet;
+sie war ihm nicht entgegengeeilt, als er eintrat,
+hatte sich nicht in seine Arme gestürzt und nicht ein
+Wort an ihn gerichtet.</p>
+
+<p>Im Jahre 1726 war Paris schon Königin des reichen
+und eleganten Lebens. Sénecé ließ durch Kuriere regelmäßig
+alles kommen, was die Reize eines der hübschesten
+<a id="page-9"></a><span class="pgnum">9</span>Männer Frankreichs hervorheben konnte. Trotz
+der für einen Mann seines Ranges natürlichen Sicherheit,
+noch dadurch verstärkt, daß er seine ersten Waffengänge
+mit den Schönheiten am Hof des Regenten unter
+der Leitung des berühmten Canillac, seines Oheims, eines
+der Roués dieses Fürsten gehabt hatte, konnte man eine
+leichte Verlegenheit in Sénecés Zügen bemerken. Das
+schöne blonde Haar der Fürstin war etwas in Unordnung;
+die großen schwarzblauen Augen sahen den
+Mann starr an; ihr Ausdruck war schwer zu deuten.
+Dachte sie an tödliche Rache? War es nur der tiefe Ernst
+leidenschaftlicher Liebe?</p>
+
+<p>„Also Sie lieben mich nicht mehr?“ sagte sie endlich
+leise. Ein langes Schweigen folgte dieser Kriegserklärung.</p>
+
+<p>Es wurde der Fürstin schwer, sich der reizenden Anmut
+Sénecés zu entziehen, der ihr, machte sie ihm keine
+Szene, tausend Torheiten sagen würde; aber sie besaß
+zu großen Stolz, um die Auseinandersetzung hinauszuschieben.
+Eine Kokette ist aus Eigenliebe eifersüchtig,
+eine galante Frau aus Gewohnheit; aber eine Frau, die
+wahr und leidenschaftlich liebt, hat das ganze Bewußtsein
+ihres Rechtes. Diese Art, der römischen Leidenschaft
+eigen, amüsierte Sénecé sehr; er sah darin Tiefe
+und Unbestimmtheit; man glaubte, die unverhüllte Seele
+zu schauen. Der Orsini fehlte dieser Reiz der Campobasso.</p>
+
+<p>Aber da diesmal das Schweigen so lange anhielt, sah
+der junge Franzose, der nicht die Kunst verstand, in die
+verborgenen Gefühle eines italienischen Herzens einzudringen,
+darin einen Schein von Ruhe und Vernunft,
+und das machte ihn arglos. Zudem drückte ihn gerade
+in diesem Augenblick ein Kummer. Als er das unterirdische
+<a id="page-10"></a><span class="pgnum">10</span>Gewölbe durchschritt, das von einem benachbarten
+Haus in diesen Saal des Palastes Campobasso
+führte, hatten sich einiges Spinngewebe auf die ganz
+frische Stickerei seines entzückenden, gestern aus Paris
+gekommenen Anzugs gelegt. Das verursachte ihm Unbehagen
+und außerdem waren ihm Spinnen schrecklich.</p>
+
+<p>Da er im Auge der Fürstin Ruhe zu lesen glaubte,
+dachte er, ob es nicht besser sei, eine Aussprache zu
+vermeiden und den Vorwurf sanft abzubiegen, statt ihm
+zu entgegnen; aber durch die Mißstimmung, die er
+fühlte, mehr zum Ernst geneigt, sagte er sich: ‚Wäre
+dies nicht günstigste Gelegenheit, die Wahrheit durchblicken
+zu lassen? Sie selber hat die Frage gestellt, also
+ist die halbe Peinlichkeit schon erledigt. Ich bin ja
+sicher nicht für die Liebe geschaffen. Ich habe zwar nie
+etwas so Schönes wie diese Frau mit ihren sonderbaren
+Augen gesehen, aber sie hat schlechte Gewohnheiten.
+Sie läßt mich durch widerliche, unterirdische Gewölbe
+kommen. Immerhin ist sie die Nichte des Herrschers,
+zu dem mich mein König geschickt hat. Und mehr noch,
+sie ist blond in einem Land, wo alle Frauen dunkel sind;
+das ist eine große Seltenheit. Täglich höre ich ihre
+Schönheit von Leuten in den Himmel heben, deren
+Zeugnis unverdächtig ist und die nicht im Entferntesten
+ahnen, mit dem glücklichen Besitzer dieser Reize zu
+sprechen. Was die Macht betrifft, die ein Mann über seine
+Geliebte haben soll, brauche ich nicht beunruhigt zu
+sein. Wollte ich mir die Mühe nehmen, ein Wort zu
+sagen, so verließe sie ihr Haus, ihre Goldmöbel, ihren
+königlichen Oheim, und all das würde sie tun, um sich
+in Frankreich in die tiefste Provinz zu vergraben und
+auf einem meiner Güter kümmerlich und kläglich zu
+leben… Morbleu, die Aussicht auf solches Opfer begeistert
+<a id="page-11"></a><span class="pgnum">11</span>mich nur zu dem festen Beschluß, es niemals
+von ihr zu verlangen. Die Orsini ist ja viel weniger
+hübsch; sie liebt mich, wenn sie mich überhaupt liebt,
+grade ein wenig mehr als den Kastraten Butafoco, den
+ich sie gestern wegschicken hieß; aber sie hat Lebensart,
+sie versteht zu leben, man kann im Wagen bei ihr vorfahren.
+Und ich bin sicher, daß sie mir nie eine Szene
+machen wird; sie liebt mich dazu nicht genug.‘</p>
+
+<p>Während des langen Schweigens hatte der starre Blick
+der Fürstin die hübsche Stirn des jungen Franzosen
+nicht verlassen.</p>
+
+<p>‚Ich werde ihn nicht mehr sehen‘, sagte sie sich. Und
+plötzlich warf sie sich in seine Arme und bedeckte mit
+Küssen die Stirn und die Augen, die sich nicht mehr
+mit Glück füllten, wenn sie von ihnen erblickt wurde.
+Der Chevalier würde es sich nie vergeben haben, hätte
+er nicht in diesem Augenblick jeden Plan eines Bruchs
+fallen gelassen. Aber seine Geliebte war zu tief aufgewühlt,
+um ihre Eifersucht zu vergessen. Wenige Augenblicke
+nachher betrachtete Sénecé sie mit Verwunderung.
+Tränen des Zornes liefen ihr über die Wangen. ‚Wie!‘
+sagte sie sich, ‚ich erniedrige mich so tief, daß ich von
+seiner Veränderung spreche; ich werfe sie ihm vor, ich,
+die ich mir geschworen hatte, es niemals zu bemerken!
+Und das ist noch nicht genug Niedrigkeit, ich muß auch
+noch der Leidenschaft nachgeben, die mir dieses entzückende
+Gesicht einflößt! Ah, verächtlich, verächtlich!
+Es muß ein Ende nehmen.‘</p>
+
+<p>Sie trocknete die Tränen und schien wieder beruhigter.
+„Chevalier, wir müssen ein Ende machen“, begann sie
+ruhig; „Sie besuchen häufig die Gräfin…“ Da erbleichte
+sie. Und nach einer Weile: … — „Wenn du
+sie liebst, geh alle Tage hin, meinetwegen! Aber komm
+<a id="page-12"></a><span class="pgnum">12</span>nicht mehr hierher.“ Sie hielt wie gegen ihren Willen
+an. Sie erwartete ein Wort des Chevaliers; das Wort
+wurde nicht gesprochen. Mit einem kleinen krampfhaften
+Zucken preßte sie durch die Zähne: „Das soll
+mein Todesurteil sein, und das Ihre.“</p>
+
+<p>Diese Drohung wirkte entscheidend auf die zage Seele
+des Chevaliers, der bis dahin über die unvorhergesehene
+Krisis nach solcher Hingabe nur erstaunt war. Er begann
+zu lachen.</p>
+
+<p>Ein plötzliches Rot bedeckte die Wangen der Fürstin,
+die wie Scharlach wurden. ‚Der Zorn wird sie ersticken,‘
+dachte der Chevalier, ‚sie wird einen Schlaganfall bekommen.‘
+Er näherte sich, um ihr Kleid aufzuschnüren,
+sie stieß ihn mit einer Festigkeit und Kraft zurück, die
+er nicht gewohnt war. Sénecé erinnerte sich später, daß
+er bei diesem Versuch, sie in seine Arme zu schließen,
+sie mit sich selbst hatte sprechen hören. Er zog sich ein
+wenig zurück, unnötig, denn sie schien ihn nicht mehr
+zu sehen. Mit tiefer Stimme sprach sie, als wäre sie
+hundert Meilen von ihm entfernt: „Er beleidigt mich,
+er fordert mich heraus. Bei seiner Jugend und mit der
+seinem Volke eigentümlichen Indiskretion wird er sicher
+der Orsini alle Unwürdigkeiten, zu denen ich mich erniedrige,
+erzählen. Ich bin meiner nicht sicher, ich kann
+nicht dafür einstehen, daß ich diesem Gesicht gegenüber
+unempfindlich bleibe.“ Hier folgte ein neues Schweigen,
+das dem Chevalier sehr langweilig vorkam. Die Fürstin
+erhob sich endlich und sagte in einem klagenden Ton:
+„Man muß ein Ende machen.“</p>
+
+<p>Sénecé, der durch die Wiederversöhnung den Glauben
+an den Ernst der Aussprache verloren hatte, sagte einige
+scherzhafte Worte über ein Abenteuer, von dem in Rom
+viel gesprochen wurde.</p>
+
+<p><a id="page-13"></a><span class="pgnum">13</span>„Verlassen Sie mich, Chevalier,“ unterbrach ihn die
+Fürstin, „ich fühle mich nicht wohl…“</p>
+
+<p>‚Diese Frau langweilt sich,‘ dachte Sénecé, indem er
+sich beeilte, ihr zu gehorchen, ‚und nichts ist so ansteckend
+wie die Langweile.‘ Die Fürstin war ihm bis
+zum Ende des Saals mit den Blicken gefolgt. ‚Und ich
+war im Begriff, unbesonnen das Geschick meines Lebens
+zu entscheiden!‘ sagte sie mit einem Lächeln. ‚Zum
+Glück haben mich seine Scherze ernüchtert! Wie dumm
+ist doch dieser Mensch! Wie kann ich ein Wesen lieben,
+das mich so wenig versteht? Er will sich und mich mit
+einem scherzhaften Wort amüsieren, wenn es sich um
+mein Leben und um das seine handelt!‘ Sie erhob sich.
+‚Wie seine Augen schön waren, als er das Wort sagte!
+Man muß zugeben, die Absicht des armen Chevaliers
+war liebenswürdig; er hat meinen unglücklichen Charakter
+erkannt; wollte mich den trüben Schmerz, der
+mich bewegt, lieber vergessen lassen, statt mich nach
+seiner Ursache zu fragen. Ach, der liebenswürdige Franzose!
+Habe ich denn das Glück gekannt, bevor ich ihn
+liebte?‘</p>
+
+<p>Und sie gab sich mit Entzücken den Gedanken an die
+Vorzüge ihres Geliebten hin. Aber allmählich gingen
+diese ihre Gedanken auf die Reize der Gräfin Orsini
+über, und ihre Seele stürzte ins Dunkel. Qualen der
+furchtbaren Eifersucht ergriffen sie. Schon seit zwei Monaten
+beunruhigte sie eine unheilvolle Vorahnung. Ihre
+einzigen erträglichen Augenblicke waren jene, welche sie
+mit dem Chevalier verbrachte und doch sprach sie, wenn
+sie nicht in seinen Armen lag, fast immer gereizt mit
+ihm.</p>
+
+<p>Der Abend wurde schrecklich. Ganz erschöpft und fast
+ein wenig durch den Schmerz beruhigt, kam ihr der
+<a id="page-14"></a><span class="pgnum">14</span>Einfall, mit dem Chevalier zu sprechen. ‚Er hat mich
+wohl gereizt gesehen, aber er weiß nicht den Grund.
+Vielleicht liebt er die Gräfin nicht. Vielleicht geht er
+nur zu ihr, weil ein Fremder die Gesellschaft des Landes,
+in dem er sich befindet, sehen muß und besonders die
+Familie des Herrschers. Wenn ich mir Sénecé offiziell
+vorstellen lasse, und er frei und offen zu mir kommen
+kann, vielleicht wird er ebensogern ganze Stunden bei
+mir, wie bei der Orsini verbringen.‘</p>
+
+<p>Aber wieder kam der wildeste Zorn über sie. ‚Nein,
+ich würde mich erniedrigen, wenn ich ihn spreche; er
+wird mich nur verachten, und das wird mein ganzer
+Gewinn sein. Das leichtfertige Wesen der Orsini, das
+ich Närrin so verachtet habe, ist ja wirklich angenehmer
+als mein Charakter, gar in den Augen eines Franzosen!
+Ich bin bestimmt nur dazu geschaffen, mich mit einem
+Spanier zu langweilen. Was gibt es auch Sinnloseres als
+immer nur schwer und ernst zu sein! Als ob, was das
+Leben mit sich bringt, dies nicht selber schon genügend
+wäre! Gott, was wird aus mir, wenn ich nicht mehr
+den Chevalier habe, der mir das Leben gibt, und das
+Feuer mir ins Herz senkt, das mir fehlt!‘</p>
+
+<p>Sie hatte Befehl gegeben, niemanden vorzulassen, aber
+dieser Befehl galt nicht für den Monsignore Ferraterra,
+der ihr zu berichten kam, was man bis ein Uhr morgens
+bei der Orsini getrieben habe. Dieser Prälat hatte bisher
+aus besten Kräften den Abenteuern der Fürstin gedient;
+aber seit diesem Abend zweifelte er nicht daran, daß
+Sénecé der Geliebte der Gräfin Orsini werden würde,
+wenn er es nicht schon war.</p>
+
+<p>‚Die fromme Fürstin wird mir mehr nützen‘, dachte
+er bei dieser Beobachtung, ‚als die galante. Immer wird
+es sonst einen geben, den sie mir vorzieht, nämlich ihren
+<a id="page-15"></a><span class="pgnum">15</span>Liebhaber; und ist eines Tages dieser Liebhaber ein
+Römer, so kann er einen Onkel haben, den man zum
+Kardinal machen muß. Wenn ich sie bekehre, muß sie
+vor allem und mit dem ganzen Feuer ihres Wesens an
+den denken, der ihre Seele lenkt, was kann ich nicht
+alles durch sie von ihrem Oheim erhoffen!‘ Und der ehrgeizige
+Prälat verlor sich in köstliche Zukunftsträume;
+er sah die Fürstin, wie sie sich ihrem Oheim zu Füßen
+warf, um für ihn den Kardinalshut zu erbitten. Der
+Papst würde ihm für das, was er eben zu unternehmen
+im Begriff war, sehr dankbar sein müssen. Sobald die
+Fürstin bekehrt wäre, würde er Benedikt XIII. die unwiderleglichen
+Beweise ihrer Liebschaft mit dem jungen
+Sénecé vorlegen. Religiös, aufrichtig und die Franzosen
+verabscheuend, wird der Papst ewige Dankbarkeit für
+den tatkräftigen Prälaten haben, der einer Intrige, die
+Seiner Heiligkeit so mißliebig, ein Ende bereitet hat.
+Dieser Ferraterra gehörte dem Hochadel Ferraras an,
+war reich und über fünfzig Jahre alt. Durch die so
+deutliche Vision des Kardinalshutes angeregt, wagte er
+seine Rolle bei der Fürstin jäh zu ändern. Vorher, während
+der zwei Monate, da Sénecé sie vernachlässigte, war
+es dem Prälaten zu gefährlich erschienen, den Franzosen
+anzugreifen; denn er hielt Sénecé, den er schlecht
+verstand, für ehrgeizig.</p>
+
+<p>Der Leser würde die genaue Wiedergabe der Zwiesprache,
+welche die junge Fürstin, toll vor Liebe und
+Eifersucht, mit dem ehrgeizigen Prälaten hatte, sehr lang
+finden. Ferraterra hatte mit einer vollen Eröffnung der
+traurigen Wahrheit begonnen; und nach solchem heftigen
+Anfang wurde es ihm nicht schwer, alle Gefühle
+der Religion und der leidenschaftlichen Frömmigkeit
+wiederzuerwecken, die im Herzen der jungen Römerin
+<a id="page-16"></a><span class="pgnum">16</span>nur eingeschlummert waren; sie besaß den wahren
+Glauben. „Jede gottlose Leidenschaft muß mit Unglück
+und Schande enden“, sagte nun der Prälat.</p>
+
+<p>Es war heller Tag, als er den Palast Campobasso verließ.
+Er hatte der neu Bekehrten das Versprechen abgefordert,
+an diesem Tag Sénecé nicht zu empfangen.
+Dieses Versprechen war der Fürstin nicht schwer gefallen:
+sie glaubte, daß sie fromm sei und fürchtete zugleich,
+in den Augen des Chevaliers durch eine Schwäche
+verächtlich zu erscheinen. Ihr Entschluß hielt bis vier
+Uhr stand: das war die Zeit der Besuche des Chevaliers.
+Er ging durch die Gasse hinter dem Garten des Palastes
+Campobasso und sah das Signal, das die Unmöglichkeit
+einer Zusammenkunft bekanntgab; er eilte, sehr zufrieden
+damit, zur Gräfin Orsini.</p>
+
+<p>Die Campobasso fühlte den Wahnsinn fast über sich
+Herr werden. Die sonderbarsten Gedanken und Entschlüsse
+hetzten sie. Plötzlich lief sie die breite Treppe
+wie im Irrsinn hinunter, stieg in den Wagen und rief
+dem Kutscher zu: „Palazzo Orsini“.</p>
+
+<p>Das Übermaß ihres Unglücks trieb sie wie gegen ihren
+Willen zu ihrer Kusine. Sie fand sie inmitten einer Gesellschaft
+von etwa fünfzig Personen. Was Rom an Geist
+und Ehrgeiz besaß und im Hause Campobasso nicht Zutritt
+hatte, kam im Hause Orsini zusammen. Das Erscheinen
+der Fürstin Campobasso wurde ein Ereignis;
+respektvoll zog man sich zurück; aber sie geruhte, es
+nicht zu bemerken; sie blickte nur auf ihre Rivalin, bewunderte
+sie. Jeder Reiz ihrer Kusine war ein Dolchstoß
+in ihr Herz. Nach den ersten Redensarten der Höflichkeiten
+nahm die Orsini, welche ihre Kusine schweigsam
+und zerstreut sah, ihre glänzende und heitere Unterhaltung
+wieder auf.</p>
+
+<p><a id="page-17"></a><span class="pgnum">17</span>‚Wie viel besser ihre Heiterkeit zu dem Chevalier paßt,
+als meine tolle und langweilige Leidenschaft!‘ sagte sich
+die Campobasso. Und in einer unerklärlichen, aus Haß
+und Bewunderung gemischten Verzückung fiel sie der
+Gräfin um den Hals. Sie sah nur die Reize ihrer Kusine;
+in der Nähe wie aus der Entfernung erschienen sie
+ihr gleich anbetungswürdig. Sie verglich ihr Haar mit
+dem eignen, ihre Augen, ihren Teint. Nach dieser seltsamen
+Prüfung faßte sie Ekel und Abscheu vor sich
+selbst. Alles an ihrer Rivalin schien ihr anbetungswürdig
+und ihr überlegen zu sein.</p>
+
+<p>Unbeweglich und düster saß die Campobasso gleich
+einer Basaltstatue inmitten dieser gestikulierenden und
+lärmenden Menge. Man kam, man ging; all dieser Lärm
+störte und verletzte sie. Aber wie geschah ihr, als sie
+plötzlich Herrn von Sénecé melden hörte! Sie waren zu
+Anfang ihres Verhältnisses übereingekommen, daß er in
+Gesellschaft sehr wenig mit ihr sprechen solle, so wie es
+einem ausländischen Diplomaten zukommt, der nicht
+öfter als zwei- oder dreimal im Monat die Nichte des
+Souveräns trifft, bei dem er beglaubigt ist.</p>
+
+<p>Sénecé begrüßte sie mit gewohntem Respekt und mit
+Ernst; dann nahm er, wieder zu der Orsini zurückgekehrt,
+den heiteren, fast intimen Ton auf, den
+man im Gespräch mit einer geistvollen Frau anschlägt,
+von der man gern und fast täglich empfangen wird. Die
+Campobasso war niedergeschmettert: ‚Die Gräfin zeigt
+mir, wie ich hätte sein sollen‘, sagte sie sich. ‚Ich sehe,
+wie man sein muß, und trotzdem werde ich es niemals
+können!‘ Sie sank auf die letzte Stufe des Unglücks, in
+die ein menschliches Geschöpf geworfen werden kann;
+sie war fast entschlossen, Gift zu nehmen. Alle Wonnen
+aus Sénecés Liebe kamen dem Übermaß des Schmerzes
+<a id="page-18"></a><span class="pgnum">18</span>nicht gleich, der sie während einer langen Nacht verzehrte.
+Man könnte sagen, die römischen Frauen haben
+eine Fähigkeit und Energie zum Leiden, die andern
+Frauen unbekannt bleiben.</p>
+
+<p>Andern Tages kam Sénecé wieder vorbei und sah fortweisende
+Zeichen. Er ging vergnügt weiter, trotzdem war
+er leicht verletzt. ‚Also hat sie mir neulich meinen Abschied
+gegeben? Ich muß sie weinen sehen‘, sagte sich
+seine Eitelkeit. Er empfand eine leichte Spur von Liebe,
+da er eine so schöne Frau und Nichte des Papstes für
+immer verlieren sollte. Er kroch durch den unsauberen
+Kellergang, der ihm solchen Widerwillen verursachte,
+und drang gewaltsam in den großen Saal des Erdgeschosses,
+wo die Fürstin ihn zu empfangen pflegte.</p>
+
+<p>„Sie wagen es hierher zu kommen?“ rief die Fürstin
+erstaunt.</p>
+
+<p>‚Das Erstaunen ist nicht aufrichtig‘, dachte der junge
+Franzose. ‚Sie hält sich in diesem Raum nur auf, wenn
+sie mich erwartet.‘</p>
+
+<p>Der Chevalier ergriff ihre Hand; sie zitterte. In ihre
+Augen kamen Tränen; sie erschien dem Chevalier so
+schön, daß er einen Augenblick lang an Liebe dachte.
+Und sie vergaß alle Eide, die sie während zweier Tage
+dem Glauben geschworen hatte, warf sich in seine Arme.
+‚Und dieses Glück soll künftig die Orsini genießen!‘…
+Sénecé, der wie gewöhnlich die römische Seele falsch
+verstand, glaubte, sie wolle sich in guter Freundschaft
+von ihm trennen und wünsche den Besuch in guter Form.
+‚Es ziemt sich nicht für mich als Attaché der königlichen
+Gesandtschaft, die Nichte des Souveräns, bei dem
+ich akkreditiert bin, zur Todfeindin, die sie sein würde,
+zu haben.‘ Sehr stolz über diese glückliche Lösung begann
+Sénecé, ihr vernünftig zuzureden. „Sie würden in
+<a id="page-19"></a><span class="pgnum">19</span>angenehmster Harmonie leben; warum sollten sie nicht
+sehr glücklich sein? Was könnte man ihm denn auch
+vorwerfen? Die Liebe würde einer guten und zärtlichen
+Freundschaft Platz machen. Er bitte inständig um das
+Vorrecht, von Zeit zu Zeit an diesen Ort hier zurückkommen
+zu dürfen; ihre Beziehungen würden immer
+zarte bleiben…“ Zuerst verstand ihn die Fürstin nicht.
+Als sie ihn endlich mit Entsetzen begriff, blieb sie unbeweglich
+stehen, mit starrem Blick. Da unterbrach sie
+ihn bei der letzten Wendung von den zarten Beziehungen
+mit einer Stimme, die aus der Tiefe der Brust zu kommen
+schien, sagte langsam Wort für Wort:</p>
+
+<p>„Das heißt, Sie finden mich hübsch genug, um mich
+als Dirne in Ihrem Dienst zu behalten?“</p>
+
+<p>„Aber teure und liebe Freundin, ist Ihre Eigenliebe
+denn verletzt?“ antwortete Sénecé, jetzt wirklich erstaunt.
+„Wie kann es Ihnen in den Sinn kommen, sich
+zu beklagen? Glücklicherweise ist unsere Beziehung niemals
+von irgend jemand geargwöhnt worden. Ich bin
+ein Ehrenmann; ich gebe Ihnen von neuem mein Wort,
+nie soll ein lebendes Wesen das Glück, das ich genossen
+habe, erfahren.“</p>
+
+<p>„Nicht einmal die Orsini?“ fragte sie in einem so
+kühlen Ton, daß er den Chevalier wieder irreführte.</p>
+
+<p>„Habe ich Ihnen jemals von den Frauen erzählt,“
+meinte der Chevalier naiv, „die ich, bevor ich Ihr Sklave
+wurde, geliebt habe?“</p>
+
+<p>„Trotz meiner Achtung vor Ihrem Ehrenwort will ich
+doch diese Gefahr nicht auf mich nehmen“, sagte die
+Fürstin in einer entschiedenen Art, welche nun den
+jungen Franzosen doch etwas in Erstaunen setzte.
+„Adieu, Chevalier…“ Und als er ein wenig unsicher
+ging: „Komm, küsse mich!“</p>
+
+<p><a id="page-20"></a><span class="pgnum">20</span>Sie war sichtlich gerührt. Dann wiederholte sie in
+einem bestimmten Ton: „Adieu Chevalier…“</p>
+
+<p>Die Fürstin ließ Ferraterra holen. „Ich will mich
+rächen“, sagte sie ihm. Der Prälat war entzückt. ‚Sie
+wird sich kompromittieren; sie gehört mir für immer.‘</p>
+
+<p>Zwei Tage später ging Sénecé, weil die Hitze drückend
+war, gegen Mitternacht auf den Corso, um Luft zu
+schöpfen. Ganz Rom war auf der Straße. Als er seinen
+Wagen wieder besteigen wollte, konnte ihm sein Bedienter
+kaum antworten: er war betrunken. Der Kutscher
+war verschwunden; der Bediente meldete stammelnd,
+der Kutscher sei mit einem Feind in Streit geraten.</p>
+
+<p>„Ah, mein Kutscher hat Feinde!“ sagte Sénecé
+lachend.</p>
+
+<p>Beim Heimweg merkte er, kaum zwei oder drei
+Straßen über den Corso hinaus, daß er verfolgt werde.
+Vier oder fünf Männer hielten an, wenn er stehen blieb,
+schritten weiter, wenn er weiterging. ‚Ich könnte einen
+Bogen machen und durch eine andre Straße wieder auf
+den Corso kommen‘, dachte Sénecé. ‚Aber dieses Gesindel
+lohnt nicht die Mühe, und ich bin gut bewaffnet.‘
+Er nahm seinen blanken Dolch in die Hand.</p>
+
+<p>In solchen Gedanken durcheilte Sénecé zwei drei abgelegene
+und immer einsamere Gassen. Er hörte die
+Männer ihre Schritte beschleunigen. In diesem Augenblick
+sah er auf und erblickte grade vor sich eine kleine
+Kirche, die den Ordensbrüdern des Heiligen Franziskus
+gehörte; ihre Fenster warfen einen befremdlichen Schein
+ins Dunkel. Er stürzte zur Türe und pochte heftig mit
+seinem Dolchgriff dagegen. Die Männer, die ihn verfolgten,
+waren fünfzig Schritt entfernt von ihm. Nun
+kamen sie auf ihn zugelaufen. Ein Mönch öffnete;
+Sénecé stürzte in die Kirche; der Mönch schloß schnell
+<a id="page-21"></a><span class="pgnum">21</span>die Türe zu. Im gleichen Augenblick schlugen die
+Meuchelmörder mit den Füßen gegen die Türe. „Die
+Gottlosen!“ sagte der Mönch. Sénecé gab ihm eine
+Zechine. „Sicher wollten sie mir ans Leben“, sagte er.</p>
+
+<p>In dieser Kirche brannten mindestens tausend Kerzen.</p>
+
+<p>„Wie? Ein Gottesdienst zu dieser Stunde?“ fragte er
+den Mönch.</p>
+
+<p>„Eccellenza, es ist ein Dispens von Seiner Eminenz
+dem Kardinal-Vikar.“</p>
+
+<p>Die ganze enge Vorhalle dieser kleinen Kirche San
+Francesco a Ripa war in ein prächtiges Mausoleum umgewandelt;
+man sang die Totenmesse.</p>
+
+<p>„Wer ist gestorben? Ein Fürst?“ fragte Sénecé.</p>
+
+<p>„Ohne Zweifel,“ antwortete der Priester, „denn es ist
+mit nichts gespart worden; aber dies alles, Wachs und
+Silber, ist vergeudet, denn der Herr Dekan hat uns gesagt,
+daß der Verblichene in Unbußfertigkeit gestorben
+ist.“</p>
+
+<p>Sénecé trat näher. Er sah ein Wappenschild in französischer
+Form und seine Neugier verdoppelte sich; er
+trat ganz dicht heran und erkannte sein eigenes Wappen
+mit dieser lateinischen Inschrift:</p>
+
+<p class="center">Nobilis homo Johannes Norbertus Senece eques decessit
+ Romae.</p>
+
+<p class="center"> „Der hohe und mächtige Herr Jean Norbert von
+ Sénecé, Chevalier, gestorben zu Rom.“</p>
+
+<p>‚Ich bin wohl der erste Mensch‘, dachte Sénecé, ‚der
+die Ehre hat, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen.
+Ich weiß nur vom Kaiser Karl V., der sich dies Vergnügen
+geleistet hat. Aber in dieser Kirche ist für mich
+nicht gut bleiben.‘</p>
+
+<p>Er gab dem Sakristan noch eine Zechine. „Mein
+<a id="page-22"></a><span class="pgnum">22</span>Vater,“ sagte er ihm, „lassen Sie mich durch eine Hintertür
+Ihres Klosters hinaus.“</p>
+
+<p>„Sehr gern“, sagte der Mönch.</p>
+
+<p>Kaum auf der Straße, begann Sénecé, in jeder Hand
+eine Pistole, mit äußerster Schnelligkeit zu laufen. Bald
+hörte er hinter sich Leute, die ihn verfolgten. An seinem
+Haus angelangt, sah er die Tür verschlossen und einen
+Mann davor. ‚Jetzt heißt es stürmen<a class="sic" id="sicA-1" href="#sic-1">“</a>, dachte der junge
+Franzose und wollte den Mann mit einem Pistolenschuß
+töten, als er seinen Kammerdiener erkannte.</p>
+
+<p>„Mach die Tür auf!“ schrie er ihn an.</p>
+
+<p>Sie war offen. Rasch traten sie ein und schlossen sie
+wieder.</p>
+
+<p>„Ach, gnädiger Herr, ich habe Sie überall gesucht; es
+gibt sehr traurige Neuigkeiten. Der arme Jean, Ihr
+Kutscher, ist von Messerstichen durchbohrt worden. Die
+Leute, die ihn getötet haben, stießen Verwünschungen
+gegen Sie aus. Gnädiger Herr, man will Ihnen ans
+Leben!“</p>
+
+<p>Während noch der Diener sprach, schlugen acht
+Feuergewehrschüsse durch ein Gartenfenster. Sénecé
+brach tot neben seinem Diener zusammen; sie waren von
+mehr als zwanzig Kugeln durchbohrt.</p>
+
+<p>Zwei Jahre später wurde die Fürstin Campobasso als
+das Muster höchster Frömmigkeit in Rom verehrt, und
+seit geraumer Zeit war Monsignor Ferraterra Kardinal.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-23"></a><span class="pgnum">23</span>DIE HERZOGIN VON PALLIANO</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-24"></a><span class="pgnum">24</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<p><a id="page-25"></a><span class="pgnum">25</span>Ich bin kein Naturforscher und Griechisch verstehe
+ich nur sehr mittelmäßig; Hauptzweck meiner Reise
+nach Sizilien war weder die Phänomene des Ätna zu
+beobachten, noch wollte ich für mich oder andre irgendwelche
+Klarheit darüber gewinnen, was die alten griechischen
+Autoren über Sizilien gesagt haben; ich suchte
+nichts als die Freude meiner Augen, die in diesem eigenartigen
+Land wahrhaftig nicht gering ist. Man sagt von
+Sizilien, daß es Afrika gleiche; für mich steht jedenfalls
+fest, daß es mit Italien nur durch die verzehrenden
+Leidenschaften Ähnlichkeit hat. Von den Sizilianern
+kann man wohl sagen, daß es das Wort ‚unmöglich‘
+nicht für sie gibt, wenn sie von Liebe oder
+von Haß entbrannt sind; und in diesem schönen Land
+kommt der Haß niemals aus einem Geldinteresse.</p>
+
+<p>Ich bemerke, daß man in England und besonders in
+Frankreich oft von italienischer Leidenschaft spricht,
+von der hemmungslosen Leidenschaft, die man im Italien
+des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts kannte.
+In unsern Tagen ist diese schöne große Leidenschaft gestorben
+und ganz tot, wenigstens in jenen Klassen, die
+sich der Nachahmung französischer Sitten und Pariser
+oder Londoner Moden gefallen.</p>
+
+<p>Ich weiß wohl, man kann sagen, daß man seit Karl V.
+in Neapel, in Florenz und sogar ein wenig in Rom die
+spanischen Sitten nachahmte. Aber waren diese adeligen
+<a id="page-26"></a><span class="pgnum">26</span>Sitten und Bräuche nicht auf dem unendlichen Respekt
+begründet, den jeder dieses Namens würdige Mensch für
+die natürlichen Regungen seiner Seele haben muß? Weit
+entfernt, die Energie auszuschalten, übertrieben sie diese
+vielmehr, während es erste Regel der Gecken um 1760,
+die den Herzog von Richelieu nachahmten, war, durch
+nichts bewegt zu scheinen. Ist es nicht Grundsatz des
+englischen Dandys, dem man jetzt in Neapel den Vorzug
+vor dem französischen Gecken gibt, von allem gelangweilt
+und allem überlegen zu scheinen?</p>
+
+<p>Die italienische Leidenschaft findet man schon seit
+einem Jahrhundert nicht mehr in der guten Gesellschaft
+Italiens.</p>
+
+<p>Um mir einen Begriff von dieser italienischen Leidenschaft
+zu bilden, von der unsre Romanciers mit solcher
+Sicherheit schreiben, war ich genötigt, die Geschichte
+zu befragen; aber gewöhnlich sagt die große Geschichte,
+von talentvollen Männern geschrieben und meist sehr majestätisch,
+fast nichts von den Einzelheiten des Geschehens
+und der Personen. Sie nimmt von Torheiten
+erst Notiz, wenn diese Dummheiten von Königen oder
+Fürsten begangen worden sind. Ich habe zu der Lokalgeschichte
+jeder Stadt Zuflucht nehmen müssen; aber
+da wurde ich wieder durch den Überreichtum an Material
+erschreckt. Jede kleine italienische Stadt zeigt dir
+stolz ihre Geschichte in drei oder vier gedruckten Quartbänden
+und in sieben oder acht handschriftlichen Codices,
+die kaum mehr zu entziffern, mit Abkürzungen
+gespickt und mit sonderbar geformten Buchstaben geschrieben
+sind; zudem eignen ihnen an den fesselndsten
+Stellen Redewendungen, die im Ort selbst gebräuchlich,
+aber zwanzig Meilen weiter schon unverständlich
+sind. Denn im ganzen schönen Italien, wo die Liebe so
+<a id="page-27"></a><span class="pgnum">27</span>viele tragische Ereignisse gesät hat, spricht man nur in
+drei Städten, in Florenz, in Siena und in Rom, ungefähr
+so wie man schreibt; in allen andren Orten ist die Schriftsprache
+von der mündlichen Rede unendlich weit entfernt.</p>
+
+<p>Das, was man die italienische Leidenschaft nennt, das
+heißt die Leidenschaft, die sich zu befriedigen und nicht
+nur dem Nachbar eine prachtvolle Vorstellung von sich
+selber zu geben sucht, beginnt mit der Entstehung der
+Gesellschaft also im zwölften Jahrhundert und erlischt
+wenigstens in der guten Gesellschaft, um 1734. Zu dieser
+Zeit kommen die Bourbonen in Neapel zur Regierung,
+und zwar in der Person des Don Carlos, Sohnes einer
+Farnese, die in zweiter Ehe mit dem Enkelsohn Ludwigs
+XIV., jenem melancholischen Philipp V. verheiratet
+war, der mitten im Kugelregen seinen Gleichmut
+nicht verlor, sich stets langweilte und die Musik so leidenschaftlich
+liebte. Man weiß, daß ihm vierundzwanzig
+Jahre hindurch der göttliche Kastrat Farinelli täglich
+drei Lieblingsweisen vorsang, jeden Tag die gleichen.</p>
+
+<p>Ein analytischer Geist könnte aus den Einzelheiten
+einer Leidenschaft feststellen, ob der Fall in Rom oder
+in Neapel geschehen ist, und nichts ist, wie ich sagen
+muß, abgeschmackter als jene Romane, die ihren Personen
+nichts als italienische Namen geben. Sind wir denn
+nicht darin einer Meinung, daß die Leidenschaften sich
+ändern, so oft man hundert Meilen weiter nach Norden
+kommt? Höchstens kann man sagen, daß jene Länder,
+die seit langem der gleichen Regierungsform unterstehn,
+in den sozialen Gewohnheiten eine Art äußerer Ähnlichkeit
+aufweisen.</p>
+
+<p>Wie die Leidenschaften, wie die Musik, wechseln auch
+die Landschaften, sobald man drei oder vier Breitengrade
+<a id="page-28"></a><span class="pgnum">28</span>weiter nach Norden kommt. Eine neapolitanische Landschaft
+würde in Venedig absurd erscheinen, wäre es
+nicht, sogar in Italien ausgemacht, die Naturschönheiten
+Neapels zu bewundern. Wir in Paris halten es darin so,
+daß wir glauben, der Anblick der Wälder und der bebauten
+Ebenen sei ganz der gleiche in Neapel wie in
+Venedig, und wir möchten am liebsten, daß zum Beispiel
+Canaletto die gleichen Farben hätte wie Salvatore
+Rosa.</p>
+
+<p>Ist es nicht der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn eine
+englische Dame, die mit allen Vorzügen ihrer Insel ausgestattet,
+aber selbst auf dieser Insel dafür bekannt ist,
+daß sie außerstande sei, die Liebe und den Haß zu schildern,
+wenn, sage ich Mrs. Anne Radcliffe den Personen
+eines ihrer berühmten Romane italienische Namen und
+große Leidenschaften gibt?</p>
+
+<p>Ich werde nicht versuchen, der Einfachheit und der
+manchesmal abstoßenden Roheit der nur zu wahren
+Erzählung, die ich der Nachsicht des Lesers empfehle,
+Anmut zu verleihen. Ich werde zum Beispiel die Antwort
+der Herzogin von Palliano auf die Liebeserklärung
+ihres Vetters Marcello Capecce ganz wörtlich übersetzen.
+Diese Monographie einer Familie befindet sich, ich weiß
+nicht warum, am Ende des zweiten Bandes einer handschriftlichen
+Geschichte von Palermo, über die ich keine
+näheren Angaben machen kann.</p>
+
+<p>Diese Erzählung, die ich zu meinem Bedauern sehr
+kürze — ich unterdrücke eine Fülle von bezeichnenden
+Umständen — enthält mehr die letzten Schicksale der
+unglücklichen Familie Carafa, als die interessante Geschichte
+einer bestimmten Leidenschaft. Die literarische
+Eitelkeit sagt mir, daß es mir nicht unmöglich gewesen
+wäre, das Interesse an manchen Situationen zu steigern,
+<a id="page-29"></a><span class="pgnum">29</span>wenn ich ausführlicher gewesen wäre, wenn ich erraten
+und dem Leser mit allen Einzelheiten erzählt hätte, was
+die Personen empfanden. Aber bin ich, ein junger Franzose,
+im Norden, in Paris geboren, denn wirklich sicher,
+zu erraten, was diese italienischen Menschen des Jahres
+1559 fühlten? Ich kann ja höchstens das zu erraten
+hoffen, was den französischen Lesern von 1838 elegant
+und spannend vorkommt.</p>
+
+<p>Die leidenschaftliche Art der Italiener um 1559 wollte
+Taten und nicht Worte. Man wird darum in der folgenden
+Erzählung sehr wenig Konversation finden. Das
+ist für diese Geschichte insofern ein Nachteil, als wir uns
+so sehr an die langen Gespräche unsrer Romanhelden
+gewöhnt haben, für die eine Konversation genau so viel
+ist wie eine Schlacht. Meine Erzählung oder vielmehr
+Übersetzung zeigt eine sonderbare, durch die Spanier in
+die italienischen Sitten eingeführte Eigenart. Ich bin nirgends
+aus der bestimmten Haltung des Übersetzers
+hinausgetreten. Die getreue Wiedergabe der Art des
+Fühlens im sechzehnten Jahrhundert und auch der Erzählungsweise
+des Chronisten, der allem Anschein nach
+ein Edelmann aus dem Gefolge der unglücklichen Herzogin
+von Palliano war, macht meines Erachtens nach
+den Hauptvorzug dieser tragischen Geschichte aus — wenn
+überhaupt irgendein Vorzug daran ist.</p>
+
+<p>Die strengste spanische Etikette herrschte am Hofe
+des Herzogs von Palliano. Man muß sich erinnern, daß
+jeder Kardinal und jeder römische Fürst einen Hof hielt,
+und man kann sich einen Begriff davon machen, welches
+Bild Rom im Jahre 1559 bot. Nicht ist auch zu
+vergessen, daß es die Zeit war, wo der König Philipp II.,
+der für seine Intrigen die Stimmen zweier Kardinäle
+brauchte, jedem von ihnen eine Rente von 200&nbsp;000 Livres
+<a id="page-30"></a><span class="pgnum">30</span>in geistlichen Pfründen gab. Obgleich Rom ohne
+nennenswerte Arme war, bildete es den Mittelpunkt der
+Welt. Paris war im Jahre 1559 eine Stadt freundlicher
+Barbaren.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Wenn auch Gianpietro Carafa aus einer der vornehmsten
+Familien des Königreichs Neapel stammte, hatte er
+rauhe, ungeschliffene und heftige Umgangsformen, die
+zu einem Hirten der Campagna gepaßt hätten. Er nahm
+schon früh das Priestergewand und kam ganz jung nach
+Rom, wo ihm durch die Gunst seines Vetters Oliviero
+Carafa, des Kardinals und Erzbischofs von Neapel, geholfen
+war. Alexander VI., dieser große Mann, der alles
+wußte und alles konnte, machte ihn zu seinem Kämmerer,
+ungefähr das gleiche, was man bei uns unter
+einem Ordonanzoffizier versteht. Julius II. ernannte ihn
+zum Erzbischof von Chieli; Papst Paul machte ihn zum
+Kardinal und endlich am 23. Mai 1555 wurde er, nach
+schlimmen Kabalen und vielen Disputen zwischen den
+zum Konklave eingeschlossenen Kardinälen unter dem
+Namen Paul IV. zum Papst gewählt; er war damals achtundsiebzig
+Jahre alt. Selbst über die, welche ihn auf
+den Thron von Sankt Peter berufen hatten, kam bald die
+Angst, wenn sie die Härte und die wilde unerbittliche
+Frömmigkeit des Herrn bedachten, den sie sich selbst
+gesetzt hatten.</p>
+
+<p>Die Neuigkeit dieser unerwarteten Wahl hatte umwälzende
+Wirkung in Neapel und Palermo. Binnen wenigen
+Tagen traf eine große Anzahl von Mitgliedern der
+illustren Familie Carafa in Rom ein, und alle erhielten
+Stellen; doch zeichnete der Papst, wie ja natürlich, besonders
+seine drei Neffen aus, Söhne seines Bruders, des
+Grafen von Montorio.</p>
+
+<p><a id="page-31"></a><span class="pgnum">31</span>Don Juan, der Älteste, war schon verheiratet und
+wurde zum Herzog von Palliano gemacht. Dieses Herzogtum,
+dem Marc Antonio Colonna, dem es gehört
+hatte, abgenommen, umfaßte eine große Zahl Dörfer
+und kleiner Städte. Don Carlos, der zweite Neffe Seiner
+Heiligkeit, war Malteserritter und hatte den Krieg mitgemacht;
+er wurde zum Kardinallegaten von Bologna
+und Premierminister ernannt. Als ein entschlossener
+Mann und treu den Traditionen seiner Familie, wagte
+er es, dem mächtigsten König der Welt, Philipp II.,
+König von Spanien und beider Indien, feind zu sein, und
+gab ihm auch Beweise davon. Was den dritten Neffen
+betraf, den Don Antonio Carafa, so machte der Papst
+den bereits Verheirateten zum Marchese von Montobello.
+Schließlich gelang es ihm, Franz, dem Dauphin
+von Frankreich und Sohn Heinrichs II. eine Tochter
+aus der zweiten Ehe seines Bruders zur Frau zu geben;
+Paul IV. dachte, ihr als Mitgift das Königreich Neapel
+zu schenken, das man Philipp II., dem König von Spanien
+hätte wegnehmen müssen. Die Familie Carafa verfolgte
+mit ihrem Hasse diesen mächtigen König, dem
+es aber, auch durch die Fehler dieser Familie unterstützt,
+endlich doch gelang, sie gänzlich auszutilgen.</p>
+
+<p>Seit Paul IV. den Thron von San Pietro bestiegen
+hatte, der zu dieser Zeit selbst den erhabenen Herrscher
+von Spanien zu einem Vasallen machte, wurde er, wie
+man es bei den meisten seiner Nachfolger gesehen hat,
+Beispiel aller Tugenden. Er wurde ein großer Papst
+und ein großer Heiliger; er bemühte sich, die Mißbräuche
+in der Kirche abzustellen und dadurch auch
+das allgemeine Konzil abzuwenden, das man vom römischen
+Hofe von allen Seiten verlangte, in das aber
+eine kluge Politik nicht einzuwilligen riet.</p>
+
+<p><a id="page-32"></a><span class="pgnum">32</span>Nach der von der Gegenwart fast völlig vergessenen
+Sitte jener Zeit, wo ein Souverän niemals Vertrauen in
+Menschen setzte, die noch ein andres Interesse als das
+seine haben konnten, wurden die Staaten Seiner Heiligkeit
+in despotischer Weise von seinen drei Neffen regiert.
+Der Kardinal war erster Minister und verfügtet
+nach dem Willen seines Oheims. Der Herzog von Palliano
+war zum General der Truppen der heiligen Kirche
+gemacht worden und der Marchese von Montebello ließ
+als Hauptmann der Palastwache nur Personen eintreten,
+die ihm genehm waren. Bald begingen diese drei jungen
+Leute die größten Ausschreitungen; sie begannen damit,
+sich die Güter von Familien anzueignen, die ihrer
+Herrschaft abgeneigt waren. Das Volk wußte nicht, an
+wen es sich um Gerechtigkeit wenden sollte. Nicht nur
+um seinen Besitz mußte es in Sorge sein, sondern — im
+Vaterland der keuschen Lukrezia! — auch die Ehre der
+Frauen und Töchter war nicht sicher. Der Herzog von
+Palliano und seine Brüder entführten die schönsten
+Frauen; es genügte, das Unglück zu haben, ihnen zu
+gefallen. Betroffen sah man, daß sie auf den Adel des
+Bluts gar keine Rücksicht nahmen, und mehr noch: sie
+ließen sich nicht einmal durch die heilige Abgeschlossenheit
+der Klöster zurückhalten. Das zur Verzweiflung getriebene
+Volk wußte nicht, an wen es seine Klagen
+richten sollte, so groß war das Entsetzen, das die drei
+Brüder allen einflößten, die sich dem Papst nähern
+wollten; selbst gegen die fremden Botschafter traten sie
+unverschämt auf.</p>
+
+<p>Der Herzog hatte schon vor der Machtstellung seines
+Oheims Violante von Cardona geheiratet, aus einer ursprünglich
+spanischen Familie, die in Neapel zum ersten
+Adel gehörte. Violante war durch ihre ungewöhnliche
+<a id="page-33"></a><span class="pgnum">33</span>Schönheit und durch eine Anmut berühmt, welche sie
+gut zu zeigen verstand, wenn sie gefallen wollte, mehr
+aber noch durch ihren maßlosen Stolz. Doch um gerecht
+zu sein, muß man auch sagen, daß man nicht leicht
+eine größere, stärkere Seele hätte finden können als die
+ihre, und dies wurde auch der Welt deutlich, als sie vor
+ihrem Tode dem Kapuziner, der ihr die Beichte abnahm,
+nichts gestand. Sie konnte den bewunderungswürdigen
+Orlando des Messer Ariosto auswendig und
+trug ihn mit unendlicher Lieblichkeit vor, wie auch die
+meisten Sonette des göttlichen Petrarca und die Erzählungen
+des Pecorone. Aber noch verführerischer war sie,
+wenn sie sich herabließ, ihre Gesellschaft mit den sonderbaren
+Einfällen zu unterhalten, die ihr der eigne Geist
+eingab.</p>
+
+<p>Sie hatte einen Sohn, den Herzog von Cavi. Ihren
+Bruder Don Ferrante, Grafen d'Aliffe, zog das große
+Glück seines Schwagers nach Rom.</p>
+
+<p>Der Herzog von Palliano hielt glänzenden Hof. Die
+jungen Leute der ersten Familien Neapels buhlten um
+die Ehre, daran teilzuhaben. Rom verwöhnte zu der Zeit
+mit seiner Bewunderung einen seiner Lieblinge, den Marcello
+Capecce, einen jungen Kavalier, in Neapel durch
+seinen Geist und nicht minder durch die göttliche Schönheit
+berühmt, die ihm der Himmel geschenkt hatte.</p>
+
+<p>Die Favoritin der Herzogin war Diana Brancaccio,
+eine nahe Verwandte ihrer Schwägerin, der Marchesa
+von Montebello, die damals dreißig Jahre zählte. Man
+erzählte sich in Rom, daß sie dieser Favoritin nicht ihren
+sonstigen Stolz zeige, ja ihr alle ihre Geheimnisse anvertraue.
+Aber diese Geheimnisse bezogen sich nur auf
+die Politik; denn die Herzogin erweckte wohl Leidenschaften,
+doch sie teilte keine.</p>
+
+<p><a id="page-34"></a><span class="pgnum">34</span>Auf den Rat des Kardinals Carafa führte der Papst
+gegen den König von Spanien Krieg und der König von
+Frankreich schickte dem Papst eine Armee unter dem
+Befehl des Herzogs von Guise zur Unterstützung.</p>
+
+<p>Aber wir müssen uns an die Ereignisse am Hof des
+Herzogs von Palliano halten.</p>
+
+<p>Capecce war seit einer Zeit wie toll; man sah ihn die
+seltsamsten Dinge tun. Tatsache ist, daß sich der arme
+junge Mensch leidenschaftlich in seine Herrin, die Herzogin,
+verliebt hatte; doch wagte er kein Geständnis
+seiner Liebe. Aber er zweifelte nicht, an sein Ziel zu
+gelangen, denn er bemerkte, daß die Herzogin gegen
+ihren Gemahl, der sie vernachlässigte, aufs äußerste gereizt
+war. Der Herzog von Palliano war allmächtig in
+Rom, und die Herzogin wußte für sicher, daß ihn fast
+jeden Tag die wegen ihrer Schönheit berühmten römischen
+Damen in ihrem eignen Palast aufsuchten — ein
+Schimpf, an den sie sich nicht gewöhnen mochte.</p>
+
+<p>Unter den Kaplänen des Papstes Paul befand sich ein
+ehrwürdiger Mönch, mit dem er das Brevier zu beten
+pflegte. Dieser wagte es eines Tags, trotz der Gefahr
+seines eignen Verderbens, vielleicht auf Veranlassung des
+spanischen Gesandten, dem Papst alle Schurkereien
+seiner Neffen zu enthüllen. Der fromme Papst wurde vor
+Kummer krank; er wollte die Wahrheit des Berichtes
+bezweifeln; aber von allen Seiten kamen die erdrückendsten
+Bestätigungen. Es war am ersten Tag des Jahres
+1559, als das Ereignis eintrat, das dem Papst die Gewißheit
+gab und vielleicht die Entscheidung Seiner Heilichkeit
+bestimmte. Es war gerade am Tag der Beschneidung
+des Herrn, ein Umstand, der das Vergehen
+in den Augen eines so frommen Papstes noch erschwerte,
+daß Andrea Lanfranchi, der Sekretär des Herzogs von
+<a id="page-35"></a><span class="pgnum">35</span>Palliano, dem Kardinal Carafa ein prächtiges Abendessen
+gab. Und damit den Reizungen der Völlerei die
+der Unzucht nicht fehlten, zu diesem Fest die Martuccia
+kommen ließ, eine der schönsten, berühmtesten und
+reichsten Kurtisanen Roms. Das Verhängnis wollte, daß
+Capecce, der Günstling des Herzogs — eben jener, der
+im geheimen die Herzogin liebte und für den schönsten
+Mann der Hauptstadt der Welt galt —, seit einiger Zeit
+mit dieser Martuccia eine galante Beziehung pflog. An
+eben diesem Abend suchte er sie überall, wo er hoffen
+konnte, sie zu treffen. Als er sie nirgends fand und gehört
+hatte, daß im Hause Lanfranchi ein Fest stattfand,
+faßte er Argwohn und erschien bei Lanfranchi um
+Mitternacht, begleitet von vielen Bewaffneten. Man ließ
+ihn ein, forderte ihn auf, sich zu setzen und am Fest
+teilzunehmen; aber nach einigen recht gezwungenen
+Worten gab er Martuccia ein Zeichen, sich zu erheben
+und ihm zu folgen. Während sie ganz verwirrt und in
+Vorahnung dessen, was geschehen würde, zögerte, erhob
+sich Capecce, ging auf das junge Mädchen zu, faßte es
+bei der Hand und versuchte, es mit sich zu ziehn. Der
+Kardinal, zu dessen Ehren Martuccia gekommen war,
+widersetzte sich lebhaft ihrem Fortgehn. Capecce aber
+bestand darauf und versuchte, sie mit Gewalt aus dem
+Saal zu ziehen.</p>
+
+<p>Der Kardinal, der an diesem Abend gar nicht in Amtstracht
+gekleidet war, zog den Degen und verhinderte mit
+all der Kraft und Kühnheit, die ganz Rom an ihm
+kannte, das Fortgehen des jungen Mädchens. Marcello
+rief, trunken vor Zorn, seine Leute herein; aber es waren
+in der Mehrzahl Neapolitaner, und als sie zuerst den
+Sekretär des Herzogs und dann auch noch den Kardinal
+erkannten, den seine ungewohnte Kleidung zuerst unkenntlich
+<a id="page-36"></a><span class="pgnum">36</span>gemacht hatte, steckten sie ihre Schwerter ein;
+sie wollten sich nicht mehr schlagen und legten sich ins
+Mittel, den Streit zu schlichten.</p>
+
+<p>Während dieses Streites war Martuccia, obgleich umringt
+und von Marcello an der linken Hand gehalten, geschickt
+genug gewesen, zu entschlüpfen. Sobald Marcello
+ihre Abwesenheit merkte, lief er ihr nach und seine
+ganze Bande folgte ihm.</p>
+
+<p>Aber aus dem Dunkel der Nacht erwuchsen die seltsamsten
+Gerüchte, und am Morgen des zweiten Januar
+war die Hauptstadt von Berichten über den gefährlichen
+Kampf überschwemmt, der, wie man sagte, zwischen dem
+Kardinal und Marcello Capecce stattgefunden habe. Der
+Herzog von Palliano, kommandierender General der
+päpstlichen Armee, hielt die Sache für weit schlimmer
+als sie wirklich war, und da er mit seinem Bruder, dem
+Kardinal-Kanzler, nicht sehr gut stand, ließ er noch in
+der Nacht Lanfranchi verhaften; früh am nächsten
+Morgen wurde auch Marcello gefangen gesetzt. Dann erst
+kam man darauf, daß niemand das Leben verloren habe
+und daß diese Festnahmen nur den Skandal vergrößerten,
+der ganz auf den Kardinal zurückfiel. Man
+beeilte sich, die Gefangenen wieder in Freiheit zu setzen
+und die drei Brüder vereinigten ihre unbegrenzte Macht,
+um die Angelegenheit niederzuschlagen. Erst hofften sie,
+es würde ihnen glücken; aber am dritten Tag kam die
+ganze Geschichte dem Papst zu Ohren. Er ließ seine
+beiden Neffen zu sich rufen und sprach zu ihnen wie
+nur ein so frommer und in seiner Frömmigkeit so tief
+verletzter Fürst der Kirche sprechen konnte.</p>
+
+<p>Als am fünften Tage des Januar eine große Anzahl
+von Kardinälen zur <i>Congregatio Sancti Officii</i>
+vereinigt war, sprach der Papst als erster von dieser abscheulichen
+<a id="page-37"></a><span class="pgnum">37</span>Sache; er fragte die anwesenden Kardinäle,
+wie sie wagen konnten, ihn nicht davon in Kenntnis zu
+setzen.</p>
+
+<p>„Ihr schweigt! Und doch rührt der Skandal an der
+erhabenen Würde, die Ihr bekleidet. Kardinal Carafa
+hat es gewagt, sich in der Öffentlichkeit in einem weltlichen
+Gewand und den nackten Degen in der Hand zu
+zeigen. Und zu welchem Zweck? Um sich an einer ehrlosen
+Kurtisane zu erfreuen!“</p>
+
+<p>Man kann sich die Totenstille denken, die diesen
+Worten gegen den Kardinal-Minister unter allen Anwesenden
+folgte. Vor ihnen stand ein Greis von achtzig
+Jahren, voll Zorn gegen den so geliebten Neffen, dem
+er bisher alle Freiheit gelassen hatte. In seiner Entrüstung
+sprach der Papst weiter davon, seinem Neffen
+den Kardinalshut zu nehmen.</p>
+
+<p>Der Zorn des Papstes wurde noch durch den Gesandten
+des Großherzogs von Toskana genährt, der sich
+über eine neue Anmaßung des Kardinalkanzlers beklagte.
+Der unlängst noch so mächtige Kardinal meldete sich
+bei Seiner Heiligkeit für die gewohnte Arbeit. Der Papst
+ließ ihn volle vier Stunden vor aller Augen im Vorzimmer
+warten; dann schickte er ihn weg, ohne ihn zur
+Audienz zuzulassen. Man kann ahnen, wie der unbändige
+Stolz des Kardinals darunter litt. Er war gereizt,
+aber keineswegs niedergedrückt; er überlegte, daß der
+vom Alter geschwächte und wenig an die Geschäfte gewöhnte
+Greis, der sein ganzes Leben hindurch sich von
+der Liebe zu seiner Familie hatte leiten lassen, bald
+wieder genötigt sein würde, auf seine Tatkraft zurückzugreifen.
+Aber die fromme Tugend des heiligen Papstes
+trug den Sieg davon; er berief die Kardinäle, und nachdem
+er sie lange ohne zu sprechen angesehn hatte, brach
+<a id="page-38"></a><span class="pgnum">38</span>er in Tränen aus und zögerte nicht, etwas zu tun, das
+wie eine Buße war.</p>
+
+<p>„Die Schwäche des Alters“, sagte er, „und die Sorgfalt,
+die wir für die Angelegenheiten unserer heiligen
+Kirche aufwenden, in der wir, wie Ihr wißt, alle Mißbräuche
+ausmerzen wollen, haben uns bewogen, unsere
+weltliche Autorität unsern drei Neffen anzuvertrauen; sie
+haben ihr Amt schwer mißbraucht und wir entlassen
+sie für immer.“</p>
+
+<p>Man verlas darauf ein Breve, durch welches die Neffen
+aller ihrer Würde entkleidet und in armselige Dörfer
+verwiesen wurden. Der Kardinalkanzler wurde nach
+Civita Lavinia verbannt; der Herzog von Palliano nach
+Soriano und der Marchese nach Montebello. Durch dieses
+Breve ging der Herzog auch seiner regelmäßigen Gehälter
+verlustig, die sich auf 62&nbsp;000 Piaster beliefen,
+was im Jahre 1838 mehr als eine Million bedeutet.</p>
+
+<p>Es konnte nicht die Rede davon sein, diesen strengen
+Befehlen nicht zu gehorchen, zumal die Carafa das ganze
+Volk Roms, das sie verabscheute, zu Feinden und Aufpassern
+hatte.</p>
+
+<p>Der Herzog von Palliano schlug nun, in Begleitung
+seines Schwagers, des Grafen d'Aliffe und Leonardos
+del Cardine seinen Wohnsitz in dem kleinen Dorf Soriano
+auf, während die Herzogin und ihre Schwiegermutter
+nach Gallese zogen, einem ärmlichen Neste, zwei
+knappe Meilen von Soriano entfernt.</p>
+
+<p>Diese Gegend ist entzückend, aber es war doch eine
+Verbannung, und man war aus Rom vertrieben, wo man
+noch gestern mit aller Anmaßung geherrscht hatte.</p>
+
+<p>Marcello Capecce war mit den andern Höflingen
+seiner Herrin in das ärmliche Dorf in die Verbannung
+gefolgt. An Stelle der Huldigungen ganz Roms sah sich
+<a id="page-39"></a><span class="pgnum">39</span>diese noch vor wenigen Tagen so mächtige Frau, die
+ihren Rang mit dem ganzen Ungestüm ihres Stolzes genoß,
+nur noch von einfachen Bauern umgeben, deren
+Staunen sie nur an ihren Fall erinnerte. Sie war ohne
+jeden Trost; ihr Oheim war so alt, daß ihn voraussichtlich
+der Tod überrascht, bevor er seine Neffen zurückgerufen
+hat; und was am schlimmsten war: die drei
+Brüder verabscheuten einander. Man behauptete sogar,
+daß der Herzog und der Marchese, welche die ungestümen
+Leidenschaften des Kardinals nicht teilten und
+über seine Ausschweifungen aufgebracht waren, so weit
+gegangen wären, sie ihrem Oheim, dem Papst, zu denunzieren.</p>
+
+<p>Mitten im Schrecken dieser tiefen Ungnade geschah
+etwas, das zum Unglück sowohl für die Herzogin wie
+für Capecce selber sehr wohl zeigte, daß diesen keine
+wirkliche Leidenschaft an Martuccia gefesselt hatte.</p>
+
+<p>Eines Tages hatte ihn die Herzogin rufen lassen, um
+ihm einen Auftrag zu geben; er war allein mit ihr, was
+vielleicht kaum zweimal während des ganzen Jahres vorkam.
+Als Capecce sah, daß in dem Saal, wo ihn die
+Herzogin empfing, niemand anwesend war, blieb er erst
+unbeweglich und ohne ein Wort. Dann ging er zur Türe,
+nachzusehen, ob jemand da wäre, der sie vom Nebenzimmer
+hören könnte. Hierauf wagte er es:</p>
+
+<p>„Signora, beunruhigt Euch nicht und nehmt die seltsamen
+Worte, die ich Euch zu sagen die Kühnheit haben
+werde, nicht mit Zorn auf. Seit langem liebe ich Euch
+mehr als das Leben. Wenn ich in zu großer Unvorsichtigkeit
+gewagt habe, Eure göttliche Schönheit wie
+ein Verliebter zu betrachten, dürft Ihr nicht mir die
+Schuld geben, sondern der übernatürlichen Kraft, die
+mich treibt und bewegt. Ich leide Qualen, ich brenne,
+<a id="page-40"></a><span class="pgnum">40</span>ich bitte nicht um Linderung der Flamme, die mich verzehrt,
+sondern nur, daß Euer Edelmut Mitleid mit einem
+Diener habe, der voll Demut und ohne Vertrauen zu sich
+selbst ist.“</p>
+
+<p>Die Herzogin schien überrascht, aber mehr noch beunruhigt.</p>
+
+<p>„Marcello, was hast du eigentlich in mir gesehn,“
+sagte sie ihm, „das dir die Verwegenheit gibt, Liebe von
+mir zu fordern? Hat sich mein Leben, hat sich meine
+Unterhaltung so weit vom Geziemenden entfernt, daß du
+dadurch eine solche Unverschämtheit rechtfertigen kannst?
+Wie konntest du die Vermessenheit haben, von
+mir zu glauben, daß ich mich dir oder irgendeinem
+andern Mann hingeben könnte, außer meinem Herrn und
+Gemahl? Ich verzeihe dir, was du gesagt hast, weil ich
+denke, daß du von Sinnen bist; aber hüte dich, wieder
+in den gleichen Fehler zu verfallen, anders schwöre ich
+dir, daß ich dich für die erste sowie für die zweite
+Frechheit zugleich strafen lassen werde.“</p>
+
+<p>Die Herzogin entfernte sich außer sich vor Zorn. Capecce
+hatte auch wirklich gegen alle Gebote der Klugheit
+gefehlt; er hätte erraten lassen müssen, aber nichts
+aussprechen. Er blieb betroffen und fürchtete sehr, daß
+die Herzogin die Sache ihrem Gemahl erzählen würde.</p>
+
+<p>Aber es kam ganz anders, als er besorgte. In der Einsamkeit
+und Langweile dieses Dorfs konnte die stolze
+Herzogin nicht umhin, ihrer Freundin Diana Brancaccio
+anzuvertraun, was man ihr zu sagen gewagt hatte.
+Diese Frau von etlichen dreißig Jahren verzehrten die
+heftigsten Leidenschaften. Sie hatte rotes Haar — der
+Chronist kommt mehrmals auf diesen Umstand zurück,
+der ihm alle Torheiten der Diana Brancaccio zu erklären
+scheint — und sie liebte mit wilder Leidenschaft <a class="sic" id="sicA-2" href="#sic-2">Domitiano</a>
+<a id="page-41"></a><span class="pgnum">41</span>Fornari, einen Edelmann vom Hofstaat des Marchese
+von Montebello. Sie wollte ihn heiraten, aber
+würden der Marchese und seine Frau, deren Blutsverwandte
+zu sein sie die Ehre hatte, jemals zustimmen,
+daß sie einen Mann heirate, der gegenwärtig ihr Bediensteter
+war? Dieses Hindernis war wenigstens dem
+Anschein nach unüberwindlich.</p>
+
+<p>Es gab nur eine Möglichkeit des Erfolgs: man mußte
+alles aufbieten, um die Fürsprache des Herzogs von
+Palliano, des älteren Bruders des Marchese zu erlangen,
+und Diana war in bezug darauf nicht ohne Hoffnung.
+Der Herzog behandelte sie mehr als Verwandte denn als
+Dienerin, die sie als Hofdame war. Er war ein guter
+Mensch von schlichter Gesinnung und gab lange nicht so
+viel wie seine Brüder auf die Fragen der Etikette. Obgleich
+der Herzog als ein richtiger junger Mann alle Vorteile
+seiner hohen Stellung genoß und seiner Frau nichts
+weniger als treu war, liebte er sie zärtlich und würde ihr
+aller Wahrscheinlichkeit nach keine Bitte abschlagen,
+würde sie nur mit einer gewissen Eindringlichkeit vorgebracht.</p>
+
+<p>Das Geständnis, das Capecce der Herzogin zu machen
+gewagt hatte, schien der brütenden Diana ein unerwarteter
+Glücksfall. Ihre Herrin war bisher zum Verzweifeln
+tugendhaft gewesen; wenn sie nun eine Leidenschaft
+empfände, einen Fehltritt beginge, würde sie Dianas alle
+Augenblicke bedürfen, und dann konnte sie alles von
+einer Frau erhoffen, deren Geheimnisse sie kannte.</p>
+
+<p>Weit davon, die Herzogin darauf aufmerksam zu
+machen, was sie sich schulde, und auf die schreckliche
+Gefahr, der sie sich inmitten eines so indiskreten Hofs
+aussetzen würde, sprach Diana, von der Unbändigkeit
+ihrer Leidenschaft fortgerissen, zu ihrer Herrin von
+<a id="page-42"></a><span class="pgnum">42</span>Marcello Capecce, als ob sie von Domiziano Fornari
+spräche. In langen Unterhaltungen einsamer Stunden
+fand sie täglich Gelegenheit, die Reize und die Schönheit
+des armen Marcello, der so traurig aussah, in Erinnerung
+zu bringen; er gehöre doch, wie die Herzogin, den
+vornehmsten Familien Neapels an, sein Auftreten sei
+ebenso edel wie sein Blut, und nichts als jene Güter,
+die eine Laune des Glücks jeden Tag verleihen könnten,
+fehlten ihm, um in jeder Beziehung der Frau, die er
+zu lieben wagte, gleichzustellen.</p>
+
+<p>Diana bemerkte erfreut als erste Wirkung dieser
+Reden, daß sich das Vertrauen verdoppelte, das die Herzogin
+ihr schenkte.</p>
+
+<p>Sie beeilte sich, Marcello Capecce von dem, was vorging,
+zu verständigen. In der Glut dieses Sommers promenierte
+die Herzogin oft in den Wäldern der Umgebung
+von Gallese. Neigte sich der Tag, so erwartete
+sie die kühlende Brise vom Meere her auf den Hügeln
+dieser Wälder, von deren Gipfel man das Meer in der
+kurzen Entfernung von kaum zwei Meilen erblickt.</p>
+
+<p>Ohne die strengen Regeln der höfischen Sitte außer
+acht zu lassen, konnte sich Marcello in diesen Wäldern
+aufhalten; er verbarg sich dort, wie man sagt, und trug
+Sorge, sich den Blicken der Herzogin erst zu zeigen,
+wenn sie durch die Worte der Diana Brancaccio genügend
+vorbereitet war. Diese gab dann Marcello ein
+Zeichen.</p>
+
+<p>Als Diana ihre Herrin nahe daran sah, der verhängnisvollen
+Leidenschaft nachzugeben, die sie in ihrem
+Herzen erweckt hatte, gab sie selbst sich der heftigen
+Liebe zu Domiziano Fornari hin. Nun schien es ihr ja
+sicher, ihn heiraten zu können. Aber Domiziano war ein
+kluger junger Mann, von kaltem, zurückhaltendem Charakter,
+<a id="page-43"></a><span class="pgnum">43</span>und die ungestüme Leidenschaft seiner feurigen
+Geliebten wurde ihm bald lästig, statt ihn zu fesseln.
+Diana Brancaccio war, wie gesagt, eine nahe Verwandte
+der Carafa; er hielt es für sicher, erdolcht zu werden,
+wenn der gefürchtete Kardinal Carafa, der, mochte er
+auch jünger als der Herzog von Palliano sein, doch das
+eigentliche Oberhaupt der Familie war, auch nur das
+Geringste über seine Liebesbeziehung erführe.</p>
+
+<p>Die Herzogin hatte schon seit einiger Zeit der Leidenschaft
+Capecces nachgegeben, als man eines schönen
+Tages Domiziano Fornari nicht mehr in dem Dorf fand,
+wohin man den Hof des Marchese von Montebello verbannt
+hatte. Er blieb verschwunden. Später erfuhr man,
+daß er sich in dem kleinen Hafen von Nettuno eingeschifft
+habe; ohne Zweifel hatte er seinen Namen gewechselt;
+nie wieder hörte man von ihm.</p>
+
+<p>Wer könnte die Verzweiflung Dianas schildern? Nachdem
+die Herzogin ihre Anklagen gegen das Schicksal
+lange mit Güte angehört hatte, gab sie ihr eines Tages
+zu verstehn, daß dieser Gesprächsgegenstand doch erschöpft
+zu sein scheine. Diana sah sich von ihrem Liebhaber
+verschmäht; ihr Herz war den grausamsten Leidenschaften
+preisgegeben; sie zog die sonderbarste Schlußfolgerung
+aus dem Augenblick der Langeweile, den die
+Herzogin bei der Wiederholung ihrer Klagen empfunden
+hatte. Diana redete sich ein, daß die Herzogin Domiziano
+Fornari veranlaßt habe, sie auf immer zu verlassen, ja
+daß sie es gewesen sei, die ihm die Mittel zur Reise
+gab. Dieser tolle Einfall stützte sich auf nichts als einige
+Vorhaltungen, welche die Herzogin ihr früher einmal
+gemacht hatte. Dem Argwohn folgte bald der Wunsch,
+sich zu rächen. Sie suchte um eine Audienz beim Herzog
+nach und teilte ihm mit, was zwischen seiner Frau und
+<a id="page-44"></a><span class="pgnum">44</span>Marcello vorging. Der Herzog weigerte sich, dem zu
+glauben. „Bedenkt,“ sagte er ihr, „daß ich der Herzogin
+seit fünfzehn Jahren nicht den leisesten Vorwurf
+zu machen habe. Sie hat den Versuchungen des Hofes
+und den Verführungen unserer glänzenden Stellung in
+Rom widerstanden. Die liebenswertsten Persönlichkeiten,
+der General der französischen Armee, Herzog von Guise
+selbst, haben nichts erreicht, und Ihr wollt behaupten,
+daß sie einen gewöhnlichen Edelmann erhört hat?“</p>
+
+<p>Das Unglück wollte, daß der Herzog sich in Loriano,
+dem kleinen Dorf seiner Verbannung, das nur zwei
+knappe Meilen vom Wohnsitz seiner Frau entfernt lag,
+sehr langweilte und daß Diana dadurch eine ganze Reihe
+von Audienzen erreichen konnte, ohne daß dies der Herzogin
+zur Kenntnis kam. Diana hatte erstaunliche Kräfte;
+die Leidenschaft machte sie beredt. Sie gab dem Herzog
+eine Fülle von Einzelheiten; die Rache war jetzt ihre
+einzige Zerstreuung geworden. Sie wiederholte, daß sich
+Capecce fast jede Nacht gegen elf Uhr in das Schlafgemach
+der Herzogin begab und nicht vor zwei oder
+drei Uhr des Morgens fortgehe. Diese Reden machten
+im Anfang so wenig Eindruck auf den Herzog, daß er
+sich nicht die Mühe auferlegen wollte, um Mitternacht
+die zwei Meilen nach Gallese zurückzulegen
+und unerwartet in das Schlafgemach seiner Frau zu
+treten.</p>
+
+<p>Aber eines Abends befand er sich in Gallese; die Sonne
+war schon untergegangen, aber doch war es noch hell,
+als Diana ganz zerzaust in den Saal stürzte, wo sich der
+Herzog aufhielt. Alle entfernten sich, und sie sagte ihm,
+daß Marcello Capecce eben in das Schlafzimmer der
+Herzogin eingetreten sei. Der Herzog, der ohne Zweifel
+in diesem Augenblick schlecht gelaunt war, nahm seinen
+<a id="page-45"></a><span class="pgnum">45</span>Dolch und lief zum Schlafzimmer seiner Frau, in das
+er durch eine geheime Tür eintrat. Er fand dort Marcello
+Capecce. Die beiden Verliebten wechselten wohl die
+Farbe, als sie ihn eintreten sahen; aber im übrigen war
+nichts Sträfliches am Anblick, den sie boten. Die Herzogin
+lag im Bett und war damit beschäftigt, eine kleine
+Auslage, die sie eben gemacht hatte, zu notieren; eine
+Kammerfrau war im Zimmer und Marcello stand drei
+Schritt vom Bett entfernt.</p>
+
+<p>Der Herzog packte in seinem Zorn Marcello bei der
+Kehle, schleppte ihn in ein Nebenzimmer, wo er ihm
+befahl, Degen und Dolch, mit denen er bewaffnet war,
+auf die Erde zu werfen. Hierauf rief der Herzog Leute
+seiner Wache herbei, von denen Marcello sofort ins Gefängnis
+von Soriano abgeführt wurde.</p>
+
+<p>Die Herzogin ließ man in ihrem Schloß, doch unter
+strenger Bewachung.</p>
+
+<p>Der Herzog war durchaus nicht grausam; es scheint,
+daß er die Absicht hatte, die Schande zu verheimlichen,
+um nicht gezwungen zu sein, zu den äußersten Mitteln
+zu greifen, welche die Ehre von ihm forderte. Er wollte
+glauben machen, daß Marcello wegen einer ganz andern
+Angelegenheit im Gefängnis gehalten würde; er nahm
+zum Vorwand, daß Marcello vor zwei oder drei Monaten
+einige ungewöhnlich große Kröten zu sehr hohem
+Preis gekauft hatte, und ließ das Gerücht verbreiten,
+dieser junge Mann habe ihn vergiften wollen. Aber das
+wirkliche Vergehen war schon zu bekannt, und sein
+Bruder, der Kardinal, ließ fragen, wann er gedenke, den
+Schimpf, den man gewagt hatte, ihrer Familie anzutun,
+im Blute der Schuldigen abzuwaschen.</p>
+
+<p>Der Herzog rief den Grafen d'Aliffe, den Bruder
+seiner Frau, und einen Freund des Hauses, Antonio Torando,
+<a id="page-46"></a><span class="pgnum">46</span>zu sich. Sie bildeten zu dritt eine Art Gerichtshof
+und leiteten die Untersuchung gegen Marcello Capecce
+ein, der des Ehebruchs mit der Herzogin angeklagt
+wurde.</p>
+
+<p>Die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge wollte,
+daß der Papst Pius IV., der auf Paul IV. folgte, der
+spanischen Partei angehörte. Er konnte Philipp II. nichts
+abschlagen, und dieser verlangte von ihm den Tod des
+Kardinals und des Herzogs von Palliano. Die beiden
+Brüder wurden vor Gericht angeklagt, und die Urkunden
+des Prozesses, den sie zu erdulden hatten, erzählen uns
+auch alle Umstände des Todes von Marcello Capecce.</p>
+
+<p>Einer der zahlreichen einvernommenen Zeugen sagt
+in folgender Weise aus:</p>
+
+<p><a class="sic" id="sicA-3" href="#sic-3">„</a>Wir waren in Soriano. Mein Herr, der Herzog hatte
+eine lange Unterredung mit dem Grafen d'Aliffe. Sehr
+spät am Abend stieg man in ein Vorratsgewölbe zu ebener
+Erde hinunter, wo der Herzog schon die zur peinlichen
+Befragung des Schuldigen notwendigen Seile hatte vorbereiten
+lassen. Zugegen waren der Herzog, der Graf
+d'Aliffe, der Herr Antonio Torando und ich.</p>
+
+<p>Als erster Zeuge wurde der Hauptmann Camillo
+Grifone, der Freund und Vertraute Capecces gerufen.
+Der Herzog sagte folgendes zu ihm:</p>
+
+<p>‚Sage die Wahrheit, mein Freund. Was weißt du von
+dem, was Marcello im Schlafgemach der Herzogin tat?‘</p>
+
+<p>‚Ich weiß nichts; ich bin seit mehr als zwanzig Tagen
+mit Marcello entzweit.‘</p>
+
+<p>Weil er hartnäckig darauf bestand, nichts andres zu
+sagen, rief der Herr Herzog einige Mann seiner Wache
+herein. Grifone wurde durch den Podesta von Soriano
+an das Seil gebunden. Die Wachen zogen die Seile an
+und hoben auf diese Weise den Schuldigen vier Finger
+<a id="page-47"></a><span class="pgnum">47</span>vom Boden empor. Nachdem der Hauptmann eine gute
+Viertelstunde so gehangen hatte, sagte er:</p>
+
+<p>‚Laßt mich herunter, ich werde sagen, was ich weiß.‘</p>
+
+<p>Als man ihn auf den Boden herabgelassen hatte, entfernten
+sich die Wachen, und wir blieben mit ihm allein.
+Er sagte:</p>
+
+<p>‚Es ist wahr, daß ich mehrere Male Marcello bis zum
+Gemach der Herzogin begleitet habe, aber weiter weiß
+ich nichts, weil ich in einem benachbarten Hof bis gegen
+ein Uhr morgens auf ihn gewartet habe.‘</p>
+
+<p>Sofort rief man wieder nach den Wachen, welche ihn
+auf Befehl des Herzogs von neuem so emporzogen, daß
+seine Füße den Boden nicht mehr berührten. Bald rief
+der Hauptmann:</p>
+
+<p>‚Laßt mich ab, ich will die Wahrheit sagen. Es ist
+wahr,‘ fuhr er fort, ‚ich habe seit mehreren Monaten
+bemerkt, daß Marcello ein Liebesverhältnis mit der Herzogin
+hatte, und ich wollte Eurer Exzellenz oder Herrn
+Leonardo davon Mitteilung machen. Die Herzogin
+schickte jeden Morgen zu Marcello, um sich nach seinem
+Befinden zu erkundigen; sie ließ ihm kleine Geschenke
+zukommen, so unter andern Dingen auch sehr teure mit
+großer Sorgfalt zubereitete Konfitüren; ich habe auch
+bei Marcello kleine, wunderbar gearbeitete Goldketten gesehen,
+die er offenbar von der Herzogin erhalten hatte.‘</p>
+
+<p>Nach dieser Aussage wurde der Hauptmann ins Gefängnis
+zurückgeschickt. Man führte nun den Pförtner
+der Herzogin vor, der sagte, daß er nichts wisse; man
+band ihn an das Seil, und er wurde hochgezogen. Nach
+einer halben Stunde sagte er:</p>
+
+<p>‚Laßt mich herab, ich werde sagen, was ich weiß.‘</p>
+
+<p>Als er am Boden war, behauptete er aber, nichts zu
+wissen; man zog ihn von neuem hoch. Nach einer halben
+<a id="page-48"></a><span class="pgnum">48</span>Stunde ließ man ihn herunter; er setzte auseinander, daß
+er erst seit kurzer Zeit mit dem Dienst bei der Herzogin
+betraut sei. Da es möglich war, daß dieser Mann nichts
+wußte, schickte man ihn ins Gefängnis zurück. Alle diese
+Dinge hatten viel Zeit in Anspruch genommen, weil man
+jedesmal die Wachen wieder hinausschickte. Die Wachen
+sollten glauben, daß es sich um einen Vergiftungsversuch
+mit dem Gift der Kröten handle.</p>
+
+<p>Die Nacht war schon weit vorgeschritten, als der
+Herzog Marcello Capecce holen ließ. Als die Wachen
+draußen waren und man die Tür fest verschlossen hatte,
+sagte er ihm:</p>
+
+<p>‚Was hattet Ihr im Schlafgemach der Herzogin zu
+suchen, daß Ihr dort bis ein Uhr, bis zwei Uhr und
+manchmal bis vier Uhr morgens bliebt?‘</p>
+
+<p>Marcello leugnete alles; man rief die Wache, und er
+wurde aufgehängt; das Seil verrenkte ihm die Arme; er
+konnte den Schmerz nicht aushalten und verlangte, herabgelassen
+zu werden; man setzte ihn auf einen Schemel,
+aber einmal so weit, verwirrte er sich in seiner Rede
+und wußte eigentlich nicht mehr, was er sagte. Man
+rief die Wachen herbei, die ihn von neuem hochzogen;
+nach einer langen Zeit verlangte er, heruntergelassen zu
+werden. Er sagte:</p>
+
+<p>‚Es ist wahr, daß ich zu dieser ungewöhnlichen Stunde
+in die Gemächer der Herzogin eingetreten bin, doch hatte
+ich ein Liebesverhältnis mit der Signora Diana Brancaccio,
+einer der Damen Ihrer Exzellenz, welcher ich die
+Ehe versprochen habe, und die mir alles gewährt hat, was
+nicht gegen die Ehre war.‘</p>
+
+<p>Marcello wurde in sein Gefängnis zurückgeführt, wo
+man ihn dem Hauptmann und Diana gegenüberstellte,
+welche alles leugnete.</p>
+
+<p><a id="page-49"></a><span class="pgnum">49</span>Darauf führte man Marcello wieder in den unteren
+Saal; als wir nahe der Tür waren, sagte er:</p>
+
+<p>‚Herr Herzog, Eure Exzellenz wird sich erinnern, daß
+sie mir das Leben zusicherten, wenn ich die volle Wahrheit
+sagen würde. Es ist nicht nötig, mich von neuem
+anzubinden; ich werde alles gestehen.‘</p>
+
+<p>Dann näherte er sich dem Herzog und sagte ihm mit
+zitternder und kaum verständlicher Stimme, daß es wahr
+sei, daß er die Gunst der Herzogin genossen habe. Auf
+diese Worte hin warf sich der Herzog auf Marcello und
+biß ihn in die Wange, dann zog er seinen Dolch, und ich
+sah, daß er den Schuldigen erstechen wollte. Ich sagte
+da, daß es gut wäre, wenn Marcello eigenhändig aufschriebe,
+was er soeben gestanden hätte und daß dies
+Schriftstück Seiner Exzellenz zur Rechtfertigung dienen
+würde. Man trat in den unteren Saal ein, wo sich alles
+befand, was zum Schreiben nötig war; aber das Seil hatte
+Marcello so am Arm und an der Hand verletzt, daß er
+nichts weiter schreiben konnte, als diese wenigen Worte:
+‚Ja, ich habe meinen Herrn verraten; ja, ich habe ihm
+die Ehre genommen.‘</p>
+
+<p>Der Herzog las mit, während Marcello schrieb. In
+diesem Augenblick stürzte er sich auf Marcello und versetzte
+ihm drei Dolchstöße, die ihm das Leben nahmen.
+Diana Brancaccio war da, drei Schritte entfernt, mehr
+tot als lebendig; sie bereute ohne Zweifel
+tausend- und
+abertausendmal, was sie getan hatte.</p>
+
+<p>‚Weib, unwürdig einer edlen Familie anzugehören!‘
+schrie der Herzog, ‚du einzige Ursache meiner Schmach,
+die du herbeigeführt hast, um deinen unehrlichen Lüsten
+zu fröhnen; ich muß dir jetzt den Lohn für all deine
+Verrätereien zahlen.‘</p>
+
+<p>Indem er diese Worte sprach, packte er sie bei den
+<a id="page-50"></a><span class="pgnum">50</span>Haaren und schnitt ihr den Hals mit einem Messer ab.
+Diese Unglückliche vergoß Ströme Blutes und fiel endlich
+tot nieder.</p>
+
+<p>Der Herzog ließ die beiden Leichen in eine Kloake
+nah vom Gefängnis werfen.</p>
+
+<p>Der junge Kardinal Alfonso Carafa, der Sohn des
+Marchese von Montebello, der einzige der ganzen Familie,
+den Paul IV. bei sich behalten hatte, glaubte ihm
+dieses Ereignis berichten zu müssen. Der Papst antwortete
+nichts als die Worte:</p>
+
+<p>‚Und die Herzogin? Was hat man mit ihr gemacht?‘</p>
+
+<p>Man glaubte in Rom allgemein, daß diese Worte den
+Tod dieser unglücklichen Frau herbeiführen würden.
+Aber der Herzog konnte sich nicht zu diesem großen
+Opfer entschließen, sei es, weil sie schwanger war, sei
+es wegen der außerordentlichen Zärtlichkeit, die er
+früher für sie gefühlt hatte.</p>
+
+<p>Drei Monate nach der sehr edlen Tat, die der heilige
+Papst Paul IV. vollbracht hatte, indem er sich von seiner
+ganzen Familie lossagte, wurde er krank und nach drei
+weiteren Monaten der Krankheit verschied er am
+18. August 1559.</p>
+
+<p>Der Kardinal schrieb Briefe über Briefe an den Herzog
+von Palliano und wiederholte ihm unaufhörlich, daß ihre
+Ehre den Tod der Herzogin erheische. Jetzt, wo ihr
+Oheim tot war und man nicht die Absichten des kommenden
+Papstes wissen konnte, wollte er, daß alles in
+kürzester Frist erledigt werde.</p>
+
+<p>Der Herzog, der ein einfacher und guter Mensch war
+und in Ehrensachen viel weniger ängstlich als der Kardinal,
+konnte sich nicht zu dem schrecklichen äußersten
+Mittel entschließen, das man von ihm verlangte. Er sagte
+sich, daß er selbst unzählige Treulosigkeiten gegen die
+<a id="page-51"></a><span class="pgnum">51</span>Herzogin begangen habe und ohne sich die geringste
+Mühe zu geben, sie ihr zu verbergen und daß solche Untreue
+eine so stolze Frau leicht auf Vergeltungsgedanken
+hätte bringen können. Selbst im Augenblick, als das
+Konklave zusammentrat, schrieb der Kardinal, nachdem
+er die Messe gehört und die heilige Kommunion empfangen
+hatte, ihm nochmals, er fühle sich durch dieses
+ewige Verschieben gepeinigt und wenn der Herzog sich
+nicht endlich zu dem entschließe, was die Ehre ihres
+Hauses fordere, beteuere er, daß er sich niemals mehr
+seiner Angelegenheiten annehmen würde, und nie wieder
+suchen würde, ihm nützlich zu sein, sei es im Konklave,
+sei es bei dem künftigen Papst. Ein Grund, der dem
+Ehrenpunkt fern lag, vermochte es, den Herzog zum
+Entschluß zu bringen. Obwohl die Herzogin streng bewacht
+wurde, fand sie, wie man sagt, die Möglichkeit,
+Marc Antonio Colonna sagen zu lassen — welcher der
+Hauptfeind des Herzogs war, weil er ihm sein Herzogtum
+Palliano hatte abtreten müssen — sie wolle ihn
+in Besitz der Festung Palliano setzen, die einem ihr
+ergebenen Mann unterstellt war, wenn Marc Antonio
+Mittel fände, ihr das Leben zu retten und sie zu
+befreien.</p>
+
+<p>Am 28. August 1559 schickte der Herzog zwei Kompagnien
+Soldaten nach Gallese. Am 30. kamen Don
+Leonardo del Cardine, ein Verwandter des Herzogs und
+Don Ferrante, Graf d'Aliffe, der Bruder der Herzogin
+in Gallese an und gingen in die Gemächer der Herzogin,
+um ihr den Tod zu geben. Sie verkündeten ihr,
+daß sie sterben müsse und sie nahm diese Nachricht
+ohne die leiseste Erregung hin. Sie wollte vorher beichten
+und die heilige Messe hören. Als dann die beiden Herren
+sich ihr wieder näherten, bemerkte sie, daß sie untereinander
+<a id="page-52"></a><span class="pgnum">52</span>nicht einig waren. Sie fragte, ob sie einen
+Befehl ihres Gatten, des Herzogs, hätten, sie zu ermorden.</p>
+
+<p>‚Ja, Signora‘, erwiderte Leonardo. Die Herzogin wollte
+ihn sehen; Don Ferrante zeigte ihn ihr.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Ich finde in dem Prozeß des Herzogs von Palliano
+die Aussage der Mönche, welche diesen schrecklichen
+Vorgängen beiwohnten. Diese Aussagen sind weit über
+die der andern Zeugen zu stellen und das kommt, scheint
+mir, daher, daß die Mönche ohne jede Furcht vor Gericht
+aussagten, während alle andern Zeugen mehr oder
+weniger Mitschuldige ihres Herrn gewesen waren.</p>
+
+<p>Der Kapuzinerbruder Antonio von Pavia sagte folgendes
+aus:</p>
+
+<p>„Nach der Messe hatte sie fromm die heilige Kommunion
+genommen und während wir ihr Trost zusprachen,
+trat der Graf d'Aliffe, der Bruder der Herzogin
+ins Zimmer, in der Hand eine Schnur und einen
+daumdicken Haselnußstab, der etwa eine halbe Elle lang
+sein mochte. Er verband der Herzogin mit einem
+Taschentuch die Augen und sie zog es mit großer Kaltblütigkeit
+tiefer über ihre Augen hinunter, um ihn nicht
+zu sehen. Der Graf legte ihr die Schnur um den Hals,
+aber da sie nicht taugte, nahm sie der Graf wieder ab
+und entfernte sich einige Schritte; als die Herzogin ihn
+gehen hörte, hob sie das Taschentuch von den Augen
+und sagte:</p>
+
+<p>‚Nun? Was geschieht?‘</p>
+
+<p>Der Graf antwortete:</p>
+
+<p>‚Die Schnur war nicht gut, ich werde eine andre holen,
+damit Ihr nicht leiden müßt.‘</p>
+
+<p><a id="page-53"></a><span class="pgnum">53</span>Als er diese Worte sprach, ging er hinaus und kam
+nach einigen Minuten mit einer andern Schnur ins
+Zimmer zurück; er legte ihr von neuem das Taschentuch
+über die Augen, schlang ihr die Schnur um den
+Hals, steckte den Stab durch den Knoten, drehte ihn
+herum und erdrosselte sie. Die Sache ging, was die Herzogin
+betraf, ganz im Ton einer gewöhnlichen Unterhaltung
+vor sich.“</p>
+
+<p>Ein andrer Kapuziner, Bruder Antonio von Salazar,
+schließt seine Aussage mit folgenden Worten:</p>
+
+<p><a class="sic" id="sicA-4" href="#sic-4">„</a>Ich wollte mich zurückziehen, weil ich Bedenken
+hatte wegen meines Gewissens und um sie nicht sterben
+zu sehn, aber die Herzogin sagte zu mir:</p>
+
+<p>‚Entferne dich nicht von hier, um Gottes Barmherzigkeit
+willen.‘</p>
+
+<p>Nun erzählt der Mönch die Umstände ihres Todes genau
+so wie wir sie eben geschildert haben. Er fügt hinzu:</p>
+
+<p>‚Sie starb als gute Christin, immer wiederholend: Ich
+glaube, ich glaube.‘“</p>
+
+<p>Die beiden Mönche, welche offenbar von ihrem Vorgesetzten
+die nötige Genehmigung erhalten hatten,
+blieben bei ihren Aussagen, daß die Herzogin immer ihre
+völlige Unschuld beteuerte, sowohl in allen Unterredungen
+mit ihnen, wie in jeder Beichte und besonders
+auch in der Beichte, die der Messe voranging, wo sie das
+heilige Abendmahl empfing. Wäre sie schuldig gewesen,
+hätte sie sich durch diesen Stolz bloß in die Hölle gestürzt.</p>
+
+<p>In der Gegenüberstellung des Kapuzinerbruders Antonio
+von Pavia mit Don Leonardo del Cardine, sagte
+der Bruder:</p>
+
+<p>„Mein Gefährte sagte dem Grafen, daß es gut wäre,
+solange zu warten, bis die Herzogin niederkäme; sie ist
+<a id="page-54"></a><span class="pgnum">54</span>seit sechs Monaten schwanger,“ fügte er hinzu, „und
+man sollte die Seele des armen unglücklichen Kleinen
+retten, den sie in ihrem Schoß trägt; man muß ihn
+taufen.“</p>
+
+<p>Worauf der Graf d'Aliffe antwortete:</p>
+
+<p>„Ihr wißt, daß ich nach Rom gehen muß, und ich
+will dort nicht mit dieser Maske vor dem Gesicht erscheinen.“
+Mit dieser ungesühnten Schmach wollte er
+damit sagen.</p>
+
+<p>Kaum war die Herzogin tot, als die beiden Kapuziner
+darauf bestanden, daß man die Leiche ohne Verzug
+öffne, um das Kind zu taufen; aber der Graf und
+Don Leonardo hörten nicht auf ihre Bitten.</p>
+
+<p>Am nächsten Tag wurde die Herzogin in der Kirche
+des Orts mit einigem Gepränge bestattet. Ich habe den
+amtlichen Bericht darüber gelesen. Dieses Ereignis,
+dessen Kunde sich sofort verbreitete, machte wenig Eindruck;
+man hatte es schon seit langem erwartet; man
+hatte schon mehrere Male die Nachricht von diesem
+Tod in Gallese und in Rom verkündet und außerdem war
+ein Mord außerhalb der Stadt und zu einer Zeit, wo der
+h. Stuhl frei war, gar nichts Besonderes. Das Konklave,
+welches auf den Tod Paul IV. folgte, war sehr stürmisch;
+es dauerte nicht weniger als vier Monate.</p>
+
+<p>Am 26. Dezember 1559 war der Kardinal Carlo Carafa
+genötigt, bei der Wahl eines Papstes mitzuwirken,
+welcher von Spanien vorgeschlagen worden war und
+folglich allen strengen Maßnahmen willig zustimmen
+mußte, die Philipp II. gegen ihn, Kardinal Carafa, verlangen
+würde. Der Neuerwählte nahm den Namen
+Pius IV. an.</p>
+
+<p>Wenn der Kardinal zur Zeit, als sein Oheim starb,
+nicht verbannt gewesen wäre, hätte er auf die Wahl Einfluß
+<a id="page-55"></a><span class="pgnum">55</span>gehabt oder zum mindesten hätte er die Ernennung
+eines Feindes verhindern können.</p>
+
+<p>Kurz darauf verhaftete man den Kardinal wie den
+Herzog; der Befehl Philipp II. ging offenbar dahin, sie
+zugrunde zu richten. Sie hatten sich gegen vierzehn
+Hauptanklagepunkte zu verantworten. Man verhörte auch
+alle, die über diese vierzehn Punkte hatten Aufklärung
+geben können. Dieser ausgezeichnet geführte Prozeß
+macht zwei Foliobände aus, die ich mit großem Interesse
+gelesen habe, weil man dort auf jeder Seite Schilderungen
+von Sitten trifft, welche die Historiker der
+Erhabenheit der Geschichte nicht würdig fanden. Ich
+habe dort sehr merkwürdige Einzelheiten über einen
+Mordanschlag verfolgen können, der von der spanischen
+Partei gegen den Kardinal Carafa versucht wurde, als
+er noch allmächtiger Minister war.</p>
+
+<p>Übrigens wurde er und sein Bruder wegen Verbrechen
+verurteilt, die für andere keine gewesen wären, zum Beispiel:
+den Liebhaber einer untreuen Frau getötet zu
+haben und diese Frau auch. Einige Jahre später heiratete
+der Fürst Orsini die Schwester des Großherzogs
+von Toscana; er glaubte, daß sie ihm untreu sei und ließ
+sie in Toscana selbst unter Zustimmung ihres Bruders
+des Großherzogs vergiften und niemals wurde ihm das
+Verbrechen angerechnet. Auch mehrere Fürstinnen aus
+dem Hause Medici sind so gestorben.</p>
+
+<p>Als der Prozeß der beiden Carafa beendet war, machte
+man einen langen Auszug davon, der zu wiederholten
+Malen von den Kongregationen der Kardinäle geprüft
+wurde. Nachdem man einmal übereingekommen war,
+den Mord, der den Ehebruch rächte, mit dem Tode zu
+bestrafen — eine Art Verbrechen, mit dem das Gericht
+vordem sich nie befaßt hatte — ist es nur zu klar, daß
+<a id="page-56"></a><span class="pgnum">56</span>der Kardinal schuldig war, seinen Bruder zum Verbrechen
+angestiftet zu haben, wie der Herzog schuldig,
+weil er es ausführen ließ.</p>
+
+<p>Am 3. März 1561 hielt Papst Pius IV. ein Konsistorium,
+das acht Stunden dauerte und bei dessen
+Schluß er das Urteil über die Carafa in folgender
+Weise sprach: Prout in schedula — Es möge nach dem
+Gesetze geschehn.</p>
+
+<p>In der Nacht des folgenden Tages schickte der Fiskal
+den Borgelloführer der Sbirren nach der Engelsburg,
+um das Todesurteil an den beiden Brüdern, Carlo,
+Kardinal Carafa und Giovanni, Herzog von Palliano,
+vollstrecken zu lassen. So geschah es. Man nahm zuerst
+den Herzog vor. Er wurde von der Engelsburg in
+das Gefängnis von Tordinone überführt, wo alles vorbereitet
+war, denn dort wurden dem Herzog, dem Grafen
+d'Aliffe und Don Leonardo del Cardine der Kopf abgeschlagen.</p>
+
+<p>Der Herzog ertrug diese schrecklichen Augenblicke
+nicht nur wie ein Mann von hohem Adel, sondern er war
+auch als Christ bereit, alles aus Liebe zu Gott zu erdulden.
+Er richtete schöne Worte an seine beiden Gefährten,
+um sie auf den Tod vorzubereiten; dann schrieb
+er an seinen Sohn.</p>
+
+<p>Der Bargello kehrte zur Engelsburg zurück; er kündigte
+dem Kardinal Carafa den Tod an und gab ihm
+nicht mehr als eine Stunde Zeit, um sich vorzubereiten.
+Der Kardinal zeigte eine Seelengröße, welche die seines
+Bruders noch übertraf, um so mehr als er weniger Worte
+sagte; Worte sind immer eine Kraft, die man außer sich
+selbst sucht. Man hörte ihn, bei der Ankündigung der
+schrecklichen Neuigkeit, nur mit leiser Stimme sagen:</p>
+
+<p>„Ich sterben? Oh, Papst Pius! Oh, König Philipp!“
+<a id="page-57"></a><span class="pgnum">57</span>Er beichtete; er rezitierte die sieben Bußpsalmen, dann
+dann setzte er sich auf einen Sessel und sagte zu dem
+Henker: „Tu's!“</p>
+
+<p>Der Henker erwürgte ihn mit einer Seidenschnur, die
+zerriß; er mußte es zweimal machen. Der Kardinal
+blickte den Henker an, ohne ihn eines Wortes zu würdigen.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Wenige Jahre darauf ließ der heilige Papst Pius V.
+den Prozeß wieder aufnehmen; er wurde ungültig erklärt;
+dem Kardinal und seinem Bruder wurden alle ihre
+Ehren wieder verliehen und der Generalprokurator, der
+am meisten zu ihrem Tode beigetragen hatte, wurde gehenkt.
+Pius V. verfügte die Unterdrückung des Prozesses;
+alle Kopien, die in den Bibliotheken davon
+existierten, wurden verbrannt; es wurde bei Strafe
+der Exkommunikation verboten, etwas davon aufzubewahren;
+aber der Papst dachte nicht daran, daß er in
+seiner eigenen Bibliothek eine Abschrift des Prozesses
+aufhob und nach dieser Abschrift sind alle die gemacht,
+die man heute sieht.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-59"></a><span class="pgnum">59</span>DIE CENCI</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-60"></a><span class="pgnum">60</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<p><a id="page-61"></a><span class="pgnum">61</span>Molières Don Juan ist ohne Zweifel galant, doch vor
+allem ist er ein Mann der guten Gesellschaft. Bevor
+er sich der unwiderstehlichen Leidenschaft überläßt, die
+ihn zu hübschen Frauen zieht, hält er darauf, einem
+bestimmten Ideal zu gleichen; er will der Mann sein,
+der am Hof eines galanten und geistvollen jungen
+Königs unumschränkt bewundert würde.</p>
+
+<p>Mozarts Don Juan ist schon weit natürlicher und viel
+weniger französisch; er denkt weniger an die Meinung
+der andern über ihn, denkt nicht vor allem daran, zu
+scheinen, wie der Baron Foeneste d'Aubigné sagte.</p>
+
+<p>Wir besitzen aus Italien nur zwei Porträte des Don
+Juan, so wie er diesem schönen Lande im sechzehnten
+Jahrhundert zu Beginn der wiedergeborenen Zivilisation
+erschienen ist.</p>
+
+<p>Von diesen beiden Porträten kann ich das eine durchaus
+nicht bekanntgeben, denn das Jahrhundert ist zu
+prüde; man muß sich an das große Wort erinnern, das
+Lord Byron unzählige Male wiederholt hat: This age
+of cant. Diese so langweilige Heuchelei, die niemand
+täuscht, hat den ungeheuren Vorteil, daß die Dummen
+etwas zu reden haben; es entrüstet sie, daß man gewagt
+hat, über etwas zu sprechen; es entrüstet sie, daß man
+gewagt hat, über etwas zu lachen, usw. Der Nachteil
+ist, daß das Bereich der Geschichte dadurch unendlich
+verengt wird.
+</p>
+
+<p><a id="page-62"></a><span class="pgnum">62</span>Hat der Leser den guten Geschmack, es mir zu gestatten,
+so werde ich ihm in aller Bescheidenheit eine
+historische Aufzeichnung über den zweiten Don Juan
+vorlegen, von dem es im Jahre 1887 möglich ist, zu
+sprechen; er hieß Francesco Cenci.</p>
+
+<p>Don Juan zu ermöglichen, muß es die Heuchelei in
+der Welt geben. Im Altertum wäre Don Juan eine Wirkung
+ohne Ursache gewesen; die eher heitere Religion
+ermahnte die Menschen zum Genuß: wie hätte sie also
+jemand auszeichnen, ja verdammen können, der in einer
+Lust seine einzige Aufgabe sieht? Nur die herrschende
+Regierung sprach von Enthaltsamkeit; aber wohl verstanden,
+sie verbot bloß Dinge, die dem Vaterland schaden
+konnten, und nichts, was nur den einzelnen schädigte.</p>
+
+<p>Jeder, der Geschmack an Frauen fand und reich war,
+konnte in Athen ein Don Juan sein, ohne daß jemand
+daran etwas auszusetzen gefunden hätte. Niemand nannte
+dies Leben ein Jammertal und daß es verdienstvoll sei,
+zu leiden.</p>
+
+<p>Ich glaube nicht, daß der athenische Don Juan so
+leicht hätte zum Verbrecher werden können wie der Don
+Juan der modernen Welt; ein großer Teil des Vergnügens
+des modernen Don Juan besteht darin, die
+öffentliche Meinung herauszufordern, womit er schon
+in seiner Jugend damit beginnt, daß er sich einbildet,
+nur gegen die Heuchelei anzukämpfen.</p>
+
+<p>Gesetze zu übertreten in einer Monarchie Louis XV.,
+auf einen Dachdecker einen Flintenschuß abzufeuern
+und ihn von seinem Dach herunterrollen zu lassen — ist
+das nicht ein Beweis, daß man in der Gesellschaft
+um den Fürsten lebt, daß man zum besten Ton gehört
+und daß man sich sonst was aus dem Richter macht,
+<a id="page-63"></a><span class="pgnum">63</span>der ja ein Bürgerlicher ist? Seinem Richter zu spotten — ist
+das nicht der erste Schritt des kleinen werdenden
+Don Juan?</p>
+
+<p>Bei uns sind die Frauen nicht mehr Mode, und das
+ist der Grund für die Seltenheit der Don Juane. Aber
+wenn es deren gäbe, würden sie immer mit sehr natürlichen
+Vergnügungen beginnen und ihren Ruhm darin
+suchen, den Ideen zu trotzen, die ihnen in der Vernunft
+nicht begründet zu sein scheinen, trotzdem sie den festen
+Glauben ihrer Zeitgenossen bilden. Erst viel später, wenn
+er pervers zu werden beginnt, findet der Don Juan eine
+erlesene Wollust darin, Meinungen zu bekämpfen, die
+ihm selber richtig und vernünftig scheinen.</p>
+
+<p>Dieser Übergang muß bei den Alten sehr schwierig
+gewesen sein; erst unter den römischen Kaisern und nach
+Tiberius findet man Freigeister, welche die Verderbnis
+um ihrer selbst willen lieben, das heißt: wegen des Vergnügens,
+den vernünftigen Ansichten ihrer Zeitgenossen
+Trotz zu bieten.</p>
+
+<p>Daher sehe ich in der christlichen Religion die Voraussetzungen
+für die satanische Rolle des Don Juan.
+Ist es doch diese Religion, welche die Welt lehrte, daß
+die Seele eines armen Sklaven, eines Gladiators an Fähigkeit
+und an Würde der des Cäsar selber völlig ebenbürtig
+sei; daher muß man der christlichen Lehre für
+das Auftauchen zarter Gefühle dankbar verpflichtet sein.
+Ich zweifle übrigens nicht daran, daß früher oder später
+diese Gefühle auch ohne die christliche Lehre im Busen
+der Völker aufgetaucht wären — ist doch die Äneide
+schon um vieles zarter, gefühlsreicher als die Ilias.</p>
+
+<p>Die Lehre Jesu war die der zeitgenössischen arabischen
+Philosophen, und das einzig Neue, das in der Welt
+infolge der vom heiligen Paul gepredigten Lehren eingeführt
+<a id="page-64"></a><span class="pgnum">64</span>wurde, ist eine Armee von Priestern, die gänzlich
+von den übrigen Bürgern getrennt sind und sogar diesen
+entgegengesetzte Interessen haben.</p>
+
+<p>Die einzige Aufgabe dieser Priestergilde war, das religiöse
+Empfinden zu pflegen und zu stärken; sie erfanden
+bezaubernde Gaukeleien und Kulte, um die Gemüter aller
+Klassen, vom ungebildeten Hirten bis zum blasierten
+Höfling im Gefühle zu bewegen; sie verstanden ihre
+Interessen mit den entzückenden Eindrücken der ersten
+Kindheit zu verknüpfen; sie ließen nicht die kleinste Pest
+oder das kleinste große Unglück vorübergehn, ohne
+daraus Nutzen zu ziehn, die Furcht und das religiöse
+Empfinden zu verdoppeln oder wenigstens eine schöne
+Kirche zu bauen, wie die Maria della Salute in Venedig.</p>
+
+<p>Diese Kirche bringt das bewundernswerte Ereignis
+hervor: der heilige Papst Leo widersteht ohne jede materielle
+Macht dem wilden Attila und seinen barbarischen
+Scharen, die China, Persien und die Gallier in
+Schrecken versetzt hatten.</p>
+
+<p>So hat die Kirche, wie die absolute, nur durch
+Chansons gemäßigte Macht, welche man die französische
+Monarchie nennt, sonderbare Dinge hervorgebracht,
+welche die Welt vielleicht niemals gesehn hätte, wenn
+sie diese beiden Einrichtungen hätte entbehren müssen.</p>
+
+<p>Unter diese guten oder schlechten, immer aber sonderbaren
+und seltsamen Dinge, die Aristoteles, Polybius,
+Augustus und alle andern Köpfe des Altertums sehr in
+Erstaunen gesetzt hätten, stelle ich ohne Zögern den modernen
+Charakter des Don Juan. Er ist, wie ich meine,
+ein Produkt der asketischen Institutionen, welche die
+Päpste nach Luther geschaffen haben; denn Leo X. und
+sein Hof folgten noch ungefähr den Prinzipien der Religion
+Athens.
+</p>
+
+<p><a id="page-65"></a><span class="pgnum">65</span>Molières Don Juan wurde zu Beginn der Regierung
+Ludwig XIV., am 15. Februar 1665 aufgeführt; dieser
+Fürst war damals noch nicht im geringsten fromm und
+trotzdem ließ die kirchliche Zensur die Szene des Armen
+im Walde streichen. Diese Zensur wollte, um sich Nachdruck
+zu verschaffen, dem so wunderbar unwissenden
+König einreden, daß das Wort Jansenist gleichbedeutend
+mit Republikaner sei.</p>
+
+<p>Das Original ist von dem Spanier Tirso de Molina;
+eine italienische Truppe spielte gegen 1664 eine Nachdichtung
+davon in Paris und erregte Aufsehn. Das Stück
+ist vielleicht die am meisten gespielte Komödie der Welt,
+denn sie handelt vom Teufel und von der Liebe, von der
+Furcht vor der Hölle und von einer überschwenglichen
+Leidenschaft für eine Frau, von allem also, was es
+Schreckliches und Liebliches in den Augen der Menschen
+gibt, sofern sie nur aus dem Zustand der Wilden heraus
+sind.</p>
+
+<p>Es ist nicht erstaunlich, daß das Bild des Don Juan
+durch einen spanischen Dichter in die Literatur eingegeführt
+worden ist. Die Liebe nimmt eine große Stelle
+im Leben dieses Volks ein; sie ist da eine ernste Leidenschaft,
+imstande, mit Gewalt alle andern sich zu unterjochen,
+sogar die Eitelkeit. Ebenso ist es in Deutschland
+und in Italien. Wohl überlegt ist einzig und allein Frankreich
+vollkommen frei von dieser Leidenschaft, um
+derentwillen andere Nationen so viele Torheiten begehn,
+wie zum Beispiel ein armes Mädchen zu heiraten, unter
+dem Vorwand, daß sie hübsch und daß man in sie verliebt
+sei. Den Mädchen, welchen nichts als die Schönheit
+fehlt, fehlt es nicht an Bewunderern in Frankreich; wir
+sind unvorsichtige Leute. Anderswo sind sie darauf angewiesen,
+Nonne zu werden, weshalb die Klöster in Spanien
+<a id="page-66"></a><span class="pgnum">66</span>unentbehrlich sind. Die Mädchen bekommen in
+diesem Lande keine Mitgift und dies Gesetz hat den
+Triumph der Liebe gesichert. Hat sich die Liebe in
+Frankreich nicht ins fünfte Stockwerk zurückgezogen,
+das heißt, zu den Mädchen, die sich ohne Vermittlung
+des Notars und der Familie verheiraten?</p>
+
+<p>Man soll hier nicht an den Don Juan des Lord Byron
+denken, der nichts als ein Faublas ist: ein schöner, unbedeutender
+junger Mann, auf den sich die unwahrscheinlichsten
+Arten und Gattungen des Glücks stürzen.</p>
+
+<p>Es war, wie gesagt, in Italien, und zwar erst im sechzehnten
+Jahrhundert, daß dieser sonderbare Charakter
+zum erstenmal auftauchte. Es war in Italien, und zwar
+im siebzehnten Jahrhundert, daß eine Fürstin sagte, als
+sie am Abend eines sehr heißen Tages mit Entzücken ein
+Eis nahm: ‚Wie schade, daß Gefrorenes zu essen nicht
+eine Sünde ist!‘</p>
+
+<p>Diese Gefühlseinstellung bildet nach meiner Ansicht
+die Charaktergrundlage des Don Juan und dazu gehört,
+wie man sieht, die christliche Religion.</p>
+
+<p>Ein neapolitanischer Autor meint dazu: „Ist es nichts,
+dem Himmel Trotz zu bieten und dabei zu glauben, daß
+im gleichen Augenblick Euch der Himmel zu Staub zermalmen
+kann?“ Davon, sagt man, rühre die unvergleichliche
+Wollust her, eine Nonne als Geliebte zu haben, eine
+von Frömmigkeit erfüllte Nonne, die weiß, daß sie Böses
+tut und Gott so leidenschaftlich um Verzeihung anfleht,
+wie sie leidenschaftlich sündigt.</p>
+
+<p>Denken wir uns einen sehr perversen Christen, zu der
+Zeit in Rom geboren, als der strenge Pius V. sich anschickte,
+eine Menge kleiner religiöser Übungen wieder
+zu Ehren zu bringen oder neu zu erfinden, welche der
+einfachen Alltagsmoral völlig fremd sind, die ja nur
+<a id="page-67"></a><span class="pgnum">67</span>das Tugend nennt, was den Menschen nützlich ist. Eine
+Inquisition, so unerbittlich, daß sie sich nur kurze Zeit
+in Italien halten konnte und bald nach Spanien flüchten
+mußte, war noch verstärkt worden und jagte aller Welt
+Schrecken ein. Jahre hindurch setzte man sehr harte
+Strafen auf die Unterlassung oder auf die öffentliche
+Mißachtung dieser kleinen und kleinlichen religiösen
+Übungen, die zum Rang heiligster religiöser
+Pflichten erhoben wurden. Jener perverse Römer, von
+dem wir sprachen, wird die Achseln gezuckt haben, als er
+die ganze Masse der Bürger vor den schrecklichen Gesetzen
+der Inquisition zittern sah.</p>
+
+<p>‚Gut,‘ wird er sich gesagt haben, ‚ich bin der reichste
+Mann von Rom, dieser Hauptstadt der Welt, ich werde
+auch der kühnste sein; ich werde mich öffentlich über
+all das lustig machen, was diese Leute respektieren und
+was so wenig dem gleicht, was zu respektieren ist.‘</p>
+
+<p>Denn ein wirklicher Don Juan muß ein Mann von
+Herz sein und jenen lebhaften und klaren Verstand besitzen,
+der die Motive der Handlungen der Menschen
+durchschaut.</p>
+
+<p>Francesco Cenci also wird sich gesagt haben: ‚Durch
+welche auffallenden Taten könnte ich, ein Römer, in
+Rom im Jahre 1527 geboren, genau während der sechs
+Monate, in denen die lutheranischen Soldaten des Connetable
+von Bourbon die gräßlichsten Entweihungen an
+den heiligen Dingen begingen — durch welche Taten
+könnte ich meinen Mut bemerkbar machen und mir so
+eindringlich wie möglich das Vergnügen bereiten, der
+öffentlichen Meinung Trotz zu bieten? Womit soll ich
+meine einfältigen Zeitgenossen in Erstaunen setzen? Wie
+kann ich mir das so lebhafte Vergnügen verschaffen,
+mich anders als die große Masse zu fühlen?‘
+</p>
+
+<p><a id="page-68"></a><span class="pgnum">68</span>Es konnte einem Römer, und dazu einem Römer jener
+Zeit nicht in den Sinn kommen, sich auf bloße Worte
+zu beschränken. Es gibt kein Land, wo prahlerische
+Worte mehr verachtet werden als in Italien.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Der Mann, der so zu sich sprechen konnte, Francesco
+Cenci, ist am 15. September 1598, unter den Augen
+seiner Tochter und seiner Frau getötet worden. Nichts
+Liebenswürdiges bleibt uns von diesem Don Juan zu
+erinnern. Sein Charakter wurde durch nichts, vor allem
+nicht durch die Manie, ein guter Gesellschafter zu sein,
+gemildert und verkleinert, wie bei dem Don Juan Molières.
+Er kümmerte sich um die andern Menschen nur,
+wenn er ihnen seine Überlegenheit beweisen, sich ihrer
+bedienen oder ihnen seinen Haß zeigen wollte. Denn
+der Don Juan findet nie Gefallen an Sympathiegefühlen,
+an süßen Träumereien oder an den Einbildungen eines
+zärtlichen Herzens. Er braucht vor allem Freuden, welche
+Triumphe sind, von andern bemerkt und nicht abstreitbar;
+er braucht die Liste, die der freche Leporello vor
+den Augen der unglücklichen Elvira aufrollt.</p>
+
+<p>Der römische Don Juan hat sich gut vor der kindlichen
+Ungeschicklichkeit gehütet, den Schlüssel zu
+seinem Charakter zu geben und sich einem Lakaien anzuvertrauen,
+wie jener Don Juan bei Molière. Er hat
+ohne einen Vertrauten gelebt und hat nichts andres gesprochen,
+als was ihm für die Förderung seiner Pläne
+nützlich war. Niemand überraschte ihn in Augenblicken
+wirklicher Zärtlichkeit und entzückender Heiterkeit,
+wegen deren man dem Don Juan von Mozart viel verzeiht.
+Kurz: das Porträt, das ich hier hinsetzen werde,
+ist abstoßend.
+</p>
+
+<p><a id="page-69"></a><span class="pgnum">69</span>Aus freier Wahl hätte ich nicht diesen Charakter nachgezeichnet.
+Ich hätte mich damit begnügt, ihn zu studieren;
+denn er ist dem Gräßlichen näher als dem Seltsamen.
+Aber Reisegefährten, denen ich nichts abschlagen
+konnte, baten mich darum. Ich hatte im Jahre 1823
+das Glück, Italien zusammen mit liebenswürdigen unvergeßlichen
+Menschen zu sehn. Ich war gleich ihnen
+vom Bildnis der Beatrice Cenci hingerissen, das im Palazzo
+Barberini in Rom hängt.</p>
+
+<p>Die Galerie dieses Palastes ist heute auf sieben oder
+acht Bilder zusammengeschmolzen, doch sind vier
+Meisterwerke darunter: zunächst das Porträt der berühmten
+Fornarina, der Geliebten Raffaels, von Raffaels
+eigener Hand.</p>
+
+<p>Das zweite wertvolle Bildnis der Galerie ist vom Guido
+Reni: das Porträt der Beatrice Cenci, von dem es soviel
+schlechte Stiche gibt. Der große Maler hat um den Hals
+Beatrices ein Stück nichtssagenden Stoffs gelegt, und
+er hat sie mit einem Turban ausgestattet: er getraute sich
+wohl nicht, die Wahrheit bis zum Fürchterlichen zu
+treiben, indem er das Kleid, das sie sich für die Hinrichtung
+hatte machen lassen, getreu wiedergegeben
+hätte, und das Haar in der ganzen Unordnung eines sechzehnjährigen
+Mädchens, das sich der Verzweiflung überläßt.
+Der Kopf ist zart und schön, der Blick sehr sanft
+und die Augen sehr groß: sie haben den erstaunten Ausdruck
+einer Person, die im Augenblick heftigen Weinens
+überrascht wird. Die Haare sind blond und sehr schön.
+Dieser Kopf hat nichts von dem römischen Stolz und
+von dem Bewußtsein der eignen Kraft, wie man beides
+so oft in dem zuversichtlichen Blick einer Römerin antrifft,
+einer figlia del tevere, wie sie mit Stolz von sich
+selber sagen. Unglücklicherweise sind die Halbtöne dieses
+<a id="page-70"></a><span class="pgnum">70</span>Bildnisses während des langen Zeitraums, der uns von
+der Katastrophe trennt, brandig geworden.</p>
+
+<p>Das dritte Bildnis der Galerie Barberini ist das der
+Lucrezia Petroni, der Stiefmutter von Beatrice, die mit
+ihr hingerichtet worden ist. Sie ist der Typus der römischen
+Matrone in ihrer natürlichen Schönheit und
+ihrem Stolz, der nicht, wie auf van Dycks Bildnissen,
+Stolz auf die gesellschaftliche Stellung ist. Die Züge sind
+groß und die Hautfarbe ist blendend weiß, die schwarzen
+Brauen sind scharf gezeichnet, der Blick ist gebieterisch
+und gleichzeitig von Wollust beschwert. Ihr Kopf bildet
+einen schönen Kontrast mit dem so sanften, einfachen,
+fast deutschen Aussehen ihrer Stieftochter.</p>
+
+<p>Das vierte Bildnis, glänzend durch die Wahrheit und
+die Pracht seiner Farben, ist eines der Meisterwerke Tizians:
+eine griechische Sklavin, die Geliebte des berühmten
+Dogen Barberigo.</p>
+
+<p>Fast alle Fremden, die nach Rom kommen, lassen sich
+alsbald nach der Galleria Barberini führen; besonders
+die Frauen sind von den Porträts der Beatrice Cenci und
+ihrer Stiefmutter angezogen. Ich habe die allgemeine
+Neugier geteilt; dann habe ich, wie jedermann, versucht,
+Einsicht in den berühmten Prozeß zu erhalten. Wer diese
+Möglichkeit hat, wird, wie ich glaube, erstaunt sein, in
+diesen Berichten, in denen alles, bis auf die Antworten
+der Angeklagten, lateinisch ist, fast gar keine Darstellung
+der Tatsachen zu finden. Vermutlich, weil im
+Rom des Jahres 1599 jeder die Tatsachen kannte. Ich
+habe die Erlaubnis erkauft, eine zeitgenössische Darstellung
+zu kopieren, und habe geglaubt, eine Übersetzung
+davon wagen zu können, ohne den Anstand zu
+verletzen; zum mindesten konnte diese Übersetzung im
+Jahre 1823 den Damen laut vorgelesen werden. Aber
+<a id="page-71"></a><span class="pgnum">71</span>es hört, wie ich bemerken muß, der Übersetzer auf, treu
+zu sein, wenn es nicht mehr möglich ist: denn anders
+würde das Grauen leicht stärker sein als die Neugier.</p>
+
+<p>Die traurige Rolle des wahren Don Juan, der sich
+keinem Ideal nachbilden will und der an die Meinung
+der Welt nur denkt, um sie herauszufordern, ist hier in
+ihrem ganzen Schrecken dargestellt. Das Übermaß seiner
+Verbrechen zwingt zwei Unglückliche, ihn vor ihren Augen
+töten zu lassen; diese beiden Frauen waren: die eine seine
+Gattin und die andre seine Tochter. Der Leser wird nicht
+zu entscheiden wagen, ob sie schuldig sind. Ihre Zeitgenossen
+fanden, daß man sie nicht mit dem Tode hätte
+strafen dürfen.</p>
+
+<p>Ich bin überzeugt, daß die Tragödie von Galeoto Manfredi,
+der von seiner Frau getötet wurde, ein Stoff, den
+der große Dichter Monti behandelt hat, und viele andre
+häusliche Tragödien des fünfzehnten Jahrhunderts, die
+weniger bekannt und kaum in den Sonderurkunden der
+italienischen Städte eingetragen sind, mit einer ähnlichen
+Szene wie der im Schloß von Petrella endete.</p>
+
+<p>Was folgt, ist die Übersetzung der zeitgenössischen
+Darstellung, sie ist in <i>römischem Italienisch</i> verfaßt und
+wurde am 14. September 1599 niedergeschrieben.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Das fluchwürdige Leben, das Francesco Cenci, in
+Rom geboren und einer unsrer wohlhabendsten Mitbürger,
+von jeher geführt hat, brachte ihn schließlich
+ins Verderben. Er hat seine Söhne, starke und mutige
+junge Leute, vorzeitig in den Tod gebracht, ebenso seine
+Tochter Beatrice, die, obwohl sie kaum sechzehn Jahre
+alt war, als sie zur Todesstrafe geführt wurde — es ist
+<a id="page-72"></a><span class="pgnum">72</span>heute vier Tage her —, doch schon für eines der schönsten
+Wesen in den Staaten des Papstes und in ganz
+Italien galt. Man hört die Neuigkeit, daß Signor Guido
+Reni, einer der Schüler der bewundernswerten Bologneser
+Überlieferung, letzten Freitag das Porträt der
+armen Beatrice gemacht hat, also gerade am Tage
+vor ihrer Hinrichtung. Wenn dieser große Maler sich
+dieser Aufgabe in der gleichen Weise entledigt hat wie
+bei den andern Gemälden, die er in dieser Hauptstadt
+gemalt hat, wird sich die Nachwelt einen Begriff davon
+machen können, wie groß die Schönheit dieses außerordentlichen
+Mädchens gewesen ist. Damit aber auch die
+Erinnerung an ihr Unglück ohnegleichen und an die erstaunliche
+Kraft bewahrt bleibe, mit welcher diese wahrhaft
+römische Seele es zu bekämpfen wußte, habe ich
+beschlossen, das niederzuschreiben, was ich über die Begebenheiten,
+die sie in den Tod führten, erfahren konnte,
+und auch was ich selbst am Tage ihres stolzen Untergangs
+gesehen habe.</p>
+
+<p>Die Personen, die mir meine Informationen gegeben
+haben, waren so gestellt, daß sie die geheimsten Umstände
+wußten, die selbst heute noch in Rom unbekannt
+sind, obwohl man seit sechs Wochen von nichts anderm
+als vom Prozeß der Cenci spricht. Ich werde mit Offenheit
+sprechen, sicher wie ich bin, daß aus meinem Bericht,
+den ich in angesehene Archive zu hinterlegen vermag,
+alle schöpfen werden. Mein einziger Kummer ist,
+daß ich — aber so will es die Wahrheit — gegen die
+Unschuld dieser armen Beatrice Cenci sprechen muß,
+die von allen, die sie kannten, ebenso angebetet und geachtet
+wurde, wie ihr schrecklicher Vater verhaßt und
+verabscheut war.</p>
+
+<p>Dieser Mann, dem vom Himmel unleugbar erstaunlicher
+<a id="page-73"></a><span class="pgnum">73</span>Scharfsinn aber auch Absonderlichkeit verliehen
+wurde, war der Sohn des Monsignore Cenci, welcher es
+unter Pius V. Ghislieri bis zur Stellung eines Schatzmeisters,
+Finanzministers, gebracht hatte. Dieser heilige
+Papst, der, wie man weiß, ganz mit seinem gerechten
+Haß gegen die Ketzer und mit der Wiedereinführung
+seiner bewunderungswürdigen Inquisition beschäftigt
+war, hatte für die weltliche Verwaltung seines Staates
+nur Verachtung, so daß sein Schatzmeister in den Jahren
+vor 1572, Monsignore Cenci, es möglich machen konnte,
+jenen schrecklichen Menschen, der sein Sohn und Beatrices
+Vater war, ein Einkommen von 160&nbsp;000 Piastern
+zu hinterlassen. Außer diesem großen Vermögen hatte
+Francesco Cenci einen Ruf von Kühnheit und Klugheit,
+worin ihm in seinen jungen Jahren niemand in Rom
+gleichkam, und dieser Ruf verschaffte ihm um so mehr
+Geltung am Hofe des Papstes und beim ganzen Volke,
+als die verbrecherischen Handlungen, die man ihm zuzuschreiben
+begann, nur solcher Art waren, wie die Welt
+sie leicht verzeiht. Viele Römer erinnern sich noch mit
+bitterem Bedauern der Freiheit des Denkens und Handelns,
+die man zur Zeit Leos X. genoß, der uns 1513
+genommen wurde, und auch unter dem 1549 verstorbenen
+Paul III. Schon unter diesem letzten Papst begann
+man von dem jungen Francesco Cenci zu sprechen
+wegen gewisser sonderbarer Liebschaften, die durch
+noch sonderbarere Mittel zum guten Gelingen geführt
+wurden.</p>
+
+<p>Unter Paul III., also zu einer Zeit, wo man noch eine
+gewisse Redefreiheit genoß, sagten viele, daß Francesco
+Cenci ganz besonders lüstern auf absonderliche Ereignisse
+sei, die ihm <i>peripezie di nuove idee</i>, neue und beunruhigende
+Empfindungen verschaffen könnten. Man
+<a id="page-74"></a><span class="pgnum">74</span>stützte sich dabei darauf, daß man in seinen Rechnungsbüchern
+Aufzeichnungen dieser Art gefunden hat:</p>
+
+<p>„Für Abenteuer und peripezie von Toscanella 3500
+Piaster (im Jahre 1837 etwa 60&nbsp;000 frcs.) <i>e non fu
+caro</i>, und es war nicht teuer.“</p>
+
+<p>Man weiß vielleicht in den andern Städten Italiens
+nicht, daß hier in Rom unser Schicksal und unsre Art
+des Lebens je nach dem Charakter des herrschenden
+Papstes wechseln. So war während dreizehn Jahren, unter
+dem guten Papst Gregor XIII. Buoncompagni, alles in
+Rom erlaubt; wer wollte, ließ seinen Freund erdolchen
+und wurde nicht verfolgt, wenn er sich in bescheidener
+Art zu benehmen wußte. Auf dieses Übermaß von Nachsicht
+folgte während der fünf Jahre, die der große Sixtus
+V. regierte, ein Übermaß von Strenge, und von diesem
+wurde, wie vom Kaiser Augustus gesagt: er hätte niemals
+kommen dürfen oder immer bleiben müssen. Damals
+wurden Unglückliche für zehn Jahre lang vergessene
+Mordtaten oder Vergiftungen hingerichtet, die sie zu
+ihrem Unglück früher einmal dem Kardinal Montalto,
+dem späteren Sixtus V. gebeichtet hatten.</p>
+
+<p>Besonders viel wurde unter Gregor XIII. von Francesco
+Cenci gesprochen. Er hatte eine sehr reiche und
+in jeder Hinsicht zu einem so angesehenen Herrn
+passende Frau geheiratet, welche starb, nachdem sie ihm
+sieben Kinder geschenkt hatte. Kurz nach ihrem Tode
+heiratete er in zweiter Ehe Lucrezia Petroni, eine Frau
+von seltner Schönheit und vor allem berühmt durch die
+blendende Weiße ihrer Hautfarbe, aber sie war ein wenig
+zu beleibt, welcher Fehler unter Römerinnen so häufig
+ist. Von Lucrezia hatte er keine Kinder.</p>
+
+<p>Das kleinste Laster, das man Francesco Cenci vorwerfen
+konnte, war sein Hang zu infamer Liebe, das
+<a id="page-75"></a><span class="pgnum">75</span>größte war, daß er nicht an Gott glaubte. Sein ganzes
+Leben lang sah man ihn nicht in eine Kirche eintreten.</p>
+
+<p>Dreimal wegen seiner schändlichen Liebschaften ins
+Gefängnis gebracht, machte er sich durch Geldspenden
+an die Günstlinge der zwölf Päpste, unter denen er der
+Reihe nach gelebt hat, immer wieder frei. Auf diese
+Weise verschenkte er 200 000 Piaster, das sind jetzt etwa
+5 000 000 fr.</p>
+
+<p>Ich habe Francesco Cenci erst gesehen, als er schon
+ergrautes Haar hatte, unter der Regierung des Papstes
+Buoncompagni, wo alles erlaubt war, was man zu tun
+wagte. Er war ein Mann von etwa fünf Fuß vier Zoll,
+sehr gut gebaut, obgleich zu mager; man hielt ihn für
+außerordentlich stark, vielleicht hatte er selbst dies Gerücht
+verbreitet; er hatte große ausdrucksvolle Augen,
+doch fiel das obere Augenlid ein wenig zu sehr herab,
+eine zu große und zu weit vorspringende Nase, schmale
+Lippen und ein Lächeln voll Anmut. Dies Lächeln wurde
+schrecklich, wenn er den Blick auf einen seiner Feinde
+heftete; wenn er nur etwas bewegt oder gereizt war,
+zitterte er heftig und in einer Weise, die ihm lästig
+wurde. Ich habe ihn in meiner Jugend, unter dem Papst
+Buoncompagni von Rom nach Neapel reiten sehen, ohne
+Zweifel wegen irgendeiner Liebesgeschichte; er ritt durch
+die Wälder von San Germano und La Faggiola, ohne sich
+um die Briganten zu kümmern und legte, wie man sagt,
+den Weg in weniger als zwanzig Stunden zurück. Er
+reiste stets allein und ohne jemanden vorher zu benachrichtigen;
+wenn sein erstes Pferd erschöpft war, kaufte
+oder raubte er ein andres. Wenn man ihm Schwierigkeiten
+machte, fand er jedoch keine Schwierigkeit darin,
+einen Dolchstoß auszuteilen. Aber es ist die volle Wahrheit,
+daß in meiner Jugend, als er also etwa achtundvierzig
+<a id="page-76"></a><span class="pgnum">76</span>oder fünfzig Jahre alt war, niemand kühn genug
+war, ihm Widerstand zu leisten. Sein größtes Vergnügen
+war, seine Feinde herauszufordern.</p>
+
+<p>Er war auf allen Straßen der Staaten seiner Heiligkeit
+wohlbekannt; er zahlte freigebig, aber war auch fähig,
+wenn ihn jemand beleidigt hatte, zwei oder drei Jahre
+danach einen seiner Meuchelmörder zu schicken, um den
+Beleidiger zu töten.</p>
+
+<p>Die einzige tugendhafte Handlung, die er während
+seines langen Lebens vollbracht hat, bestand darin, im
+Hofe seines ausgedehnten Palastes am Tiber, eine dem
+heiligen Thomas geweihte Kirche zu erbauen, und auch
+zu dieser schönen Handlung wurde er nur durch den
+seltsamen Wunsch getrieben, die Gräber aller seiner
+Kinder vor Augen zu haben, welche er ausnehmend und
+in ganz unnatürlicher Weise haßte, schon seit ihrer zartesten
+Kindheit nämlich, wo sie ihn noch in keiner Weise
+beleidigt haben konnten.</p>
+
+<p>„Dorthin will ich sie alle bringen“, sagte er mit einem
+bittern Lächeln zu den Arbeitern, die er beim Bau seiner
+Kirche beschäftigte. Er schickte die drei älteren, Giacomo,
+Cristofo und Rocco zum Studium auf die Universität
+Salamanca in Spanien. Als sie erst dort in diesem
+fernen Land waren, machte es ihm ein boshaftes Vergnügen,
+ihnen gar kein Geld zukommen zu lassen, so
+daß diese unglücklichen jungen Leute, nach zahlreichen
+Briefen an ihren Vater, die alle unbeantwortet blieben,
+zu der elenden Notwendigkeit gezwungen waren, kleine
+Geldbeträge auszuborgen, um in ihre Heimat zurückzukehren,
+oder sich längs des Weges durchzubetteln.</p>
+
+<p>In Rom fanden sie ihren Vater strenger, härter und
+rauher als je: trotz seines unendlichen Reichtums wollte
+er sie weder kleiden, noch ihnen das zum einfachsten
+<a id="page-77"></a><span class="pgnum">77</span>Leben nötige Geld geben. Diese Unglücklichen waren
+gezwungen, den Papst um Hilfe zu bitten, welcher Francesco
+Cenci dazu zwang, ihnen eine kleine Rente auszusetzen.
+Mit dieser sehr geringen Unterstützung trennten
+sie sich von ihm.</p>
+
+<p>Bald nachher wurde Francesco zum dritten und
+letztenmal wegen seiner infamen Liebessachen ins Gefängnis
+gebracht, worauf die drei Brüder eine Audienz
+bei unserm zur Zeit herrschenden heiligen Vater dem
+Papst erwirkten, und ihn gemeinsam baten, ihren Vater
+Francesco Cenci sterben zu lassen, der, wie sie sagten,
+ihr Haus entehre. Clemens VIII. hatte große Lust dazu,
+aber er wollte seiner ersten Eingebung nicht nachgeben,
+um diese entarteten Kinder nicht zufriedenzustellen, und
+jagte sie schmählich aus seiner Gegenwart.</p>
+
+<p>Der Vater befreite sich aus dem Gefängnis, wie wir
+schon früher erzählten, indem er denen, die ihm helfen
+konnten, große Summen Geldes gab. Man begreift, daß
+der sonderbare Schritt seiner drei ältesten Söhne den
+Haß, den er gegen seine Kinder hatte, noch verstärkte.
+Er verfluchte sie jeden Augenblick, die großen wie die
+kleinen, und alle Tage überhäufte er seine beiden jungen
+Töchter, die mit ihm im Palast wohnten, mit Stockschlägen.</p>
+
+<p>Die Ältere gab sich so lange Mühe, bis es ihr trotz
+strenger Überwachung gelang, dem Papst eine Bittschrift
+zukommen zu lassen; sie beschwor darin Seine Heiligkeit,
+sie zu verheiraten oder sie in einem Kloster unterzubringen.
+Clemens VIII. hatte Mitleid mit ihrem Unglück,
+er verheiratete sie mit Carlo Gabrielli, aus der
+vornehmsten Familie von Gubbio; Seine Heiligkeit verpflichtete
+auch den Vater, ihr eine große Mitgift zu
+geben.
+</p>
+
+<p><a id="page-78"></a><span class="pgnum">78</span>Nach diesem unvorhergesehenen Schlag geriet Francesco
+Cenci in furchtbare Wut, und um zu verhindern,
+daß Beatrice, wenn sie größer wurde, auf den Einfall
+käme, dem Beispiel ihrer Schwester zu folgen, sperrte
+er sie im Innern des Palastes ein; dort war es niemand
+erlaubt, Beatrice zu sehen, die damals kaum vierzehn Jahr
+alt war und schon im vollen Glanz einer entzückenden
+Schönheit stand. Sie war so fröhlich, so unschuldig
+und hatte ein so heiteres Gemüt, wie ich das noch bei
+niemand andrem gesehen habe. Francesco Cenci brachte
+ihr selbst das Essen. Es ist wahrscheinlich, daß der Unmensch
+sich damals in sie verliebte oder wenigstens
+Verliebtheit heuchelte, um seine unglückliche Tochter
+noch mehr zu quälen. Er sprach oft zu ihr von dem
+schändlichen Streich, den ihm ihre ältere Schwester gespielt
+habe, und brachte sich durch den Klang seiner
+eigenen Worte so in Zorn, daß er Beatrice mit Schlägen
+überschüttete.</p>
+
+<p>Mittlerweile wurde sein Sohn Rocco Cenci von einem
+Fleischhauer umgebracht und Cristofo Cenci wurde im
+Jahre darauf von Paolo Corso de Massa getötet. Bei
+dieser Gelegenheit zeigte sich seine schwarze Gottlosigkeit,
+denn beim Leichenbegängnis seiner beiden Söhne
+wollte er nicht einmal einen bajocco für Wachskerzen
+ausgeben. Als er das Schicksal seines Sohnes Cristofo
+erfuhr, rief er aus: er könne erst ein wenig Freude genießen,
+wenn alle seine Kinder begraben seien und er
+wolle beim Tode des Letzten zum Wahrzeichen des
+Glücks seinen Palast anzünden. Rom war über diesen
+Ausspruch verwundert, doch hielt man bei einem Mann,
+der seinen Ehrgeiz darin suchte, die ganze Welt und
+selbst den Papst herauszufordern, alles für möglich.</p>
+
+<p>Hier nun wird es völlig unmöglich, dem römischen
+<a id="page-79"></a><span class="pgnum">79</span>Erzähler in dem sehr dunklen Bericht der sonderbaren
+Dinge zu folgen, durch welche Francesco Cenci seine
+Zeitgenossen zu erstaunen vermochte. Seine Frau und
+seine arme Tochter wurden allem Anschein nach die
+Opfer seiner abscheulichen Einfälle.</p>
+
+<p>Als alles dies ihm nicht genug schien, versuchte er
+mit Drohungen und mit Anwendung von Gewalt seine
+eigne Tochter Beatrice, die schon groß und schön war,
+zu schänden. Er schämte sich nicht, sich nackt in ihr
+Bett zu legen. Er ging ganz unbekleidet mit ihr in den
+Sälen seines Palastes umher, dann nahm er sie ins Bett
+seiner Frau; damit die arme Lucrezia beim Schein der
+Lampe sehen könne, was er mit Beatrice treibe.</p>
+
+<p>Er redete dem armen Mädchen eine gräßliche Ketzerei
+ein, die ich kaum wiederzugeben wage, nämlich: wenn
+ein Vater seine eigne Tochter umarme, würden die Kinder,
+die daraus geboren werden, Heilige; ja, daß alle von
+der Kirche verehrten großen Heiligen solcherart zur
+Welt gebracht worden seien, sodaß ihr Großvater mütterlicherseits
+zugleich ihr Vater war.</p>
+
+<p>Wenn Beatrice seinen abscheulichen Wünschen widerstand,
+überfiel er sie mit den grausamsten Schlägen, so
+daß dieses arme Mädchen solch unglückliches Leben
+nicht länger aushalten konnte und den Einfall hatte, dem
+Beispiel, das ihre Schwester ihr gegeben hatte, zu folgen.
+Sie richtete eine sehr eingehende Bittschrift an unsern
+Heiligen Vater, den Papst, aber es ist anzunehmen, daß
+Francesco Cenci Maßnahmen getroffen hatte, denn es
+scheint, daß diese Schrift nie in die Hände Seiner Heiligkeit
+gelangt ist; wenigstens war es unmöglich, sie im
+Sekretariat der Memoriali aufzufinden, als Beatrice im
+Gefängnis war und ihr Verteidiger das Schriftstück
+dringend suchte; es hätte wohl in irgendeiner Weise die
+<a id="page-80"></a><span class="pgnum">80</span>unerhörten Ausschweifungen im Schloß von Petrella bezeugen
+können. Wäre es nicht für jedermann augenscheinlich
+gewesen, daß Beatrice Cenci sich im Fall der
+berechtigten Notwehr befunden hatte? Dies Memoriale
+sprach auch im Namen Lucrezias, der Stiefmutter Beatrices.</p>
+
+<p>Francesco Cenci kam dieser Versuch zur Kenntnis und
+man kann sich denken, mit welcher Wut er die schlechte
+Behandlung der beiden unglücklichen Frauen verdoppelte.</p>
+
+<p>Das Leben wurde ihnen gradezu unerträglich, und
+damals war es — da sie wohl sahen, daß sie von der
+Gerechtigkeit des Papstes nichts erhoffen konnten, denn
+die Höflinge waren durch die reichen Geschenke Francescos
+gewonnen — daß ihnen der Gedanke kam, zum
+äußersten Mittel zu greifen, das sie ins Verderben gebracht
+hat, aber das wenigstens den Vorteil hatte, ihre
+Leiden in dieser Welt zu beenden.</p>
+
+<p>Man muß wissen, daß der berühmte Monsignore
+Guerra oft in den Palast der Cenci ging; er war hoch
+gewachsen und ein sehr schöner Mann und hatte die
+eigene Gabe vom Schicksal erhalten, daß er alles, was
+er tun wollte, mit einer ganz besondern Anmut vollbrachte.
+Man hat vermutet, daß er Beatrice liebte und
+die Absicht hatte, die Mantellata zu lassen, um Beatrice
+zu heiraten; aber obgleich er mit äußerster Sorgfalt seine
+Gefühle zu verbergen suchte, wurde er von Francesco
+Cenci verabscheut, der ihm vorwarf, mit seinen Kindern
+gemeinsames Spiel zu machen. Sobald Monsignore
+Guerra erfuhr, daß Signore Cenci von seinem Palast abwesend
+sei, stieg er in die Gemächer der Damen, verbrachte
+mehrere Stunden der Unterhaltung mit ihnen
+und hörte ihre Klagen über die unglaubliche Behandlung
+<a id="page-81"></a><span class="pgnum">81</span>an, der alle beide ausgesetzt waren. Es scheint, daß
+Beatrice als erste wagte, dem Monsignore Guerra von
+dem Plan, den sie gefaßt hatten, zu sprechen. Mit der
+Zeit gewannen sie ihn dafür und auf Beatrices lebhaftes
+und wiederholtes Drängen willigte er ein, diesen
+Plan Giacomo Cenci mitzuteilen, ohne dessen Zustimmung
+man nichts unternehmen konnte, da er der
+älteste Bruder und nach Francesco das Haupt der Familie
+war.</p>
+
+<p>Es gelang außerordentlich leicht, ihn in die Verschwörung
+zu ziehen: er wurde von seinem Vater äußerst
+schlecht behandelt und bekam nicht die geringste Unterstützung,
+was ihm um so empfindlicher erschien, als
+er verheiratet und Vater von sechs Kindern war. Man
+wählte für die Zusammenkünfte, wo man beriet, wie
+man Francesco Cenci ermorden könnte, die Wohnung
+des Monsignore Guerra. Die Sache ging in angemessenen
+Formen vor sich, und man holte bei jeder Einzelheit
+die Meinung der Stiefmutter und des jungen Mädchens
+ein. Als endlich eine Entscheidung getroffen war, wählte
+man Untergebene Francesco Cencis, die ihn tödlich
+haßten. Der eine hieß Marzio, war ein Mann von
+Herz und den unglücklichen Kindern Francescos sehr
+anhänglich; er willigte ein, an dem Vatermord teilzunehmen,
+um sich ihnen angenehm zu machen. Olimpio,
+der zweite, war vom Fürsten Colonna zum Kastellan
+der Festung La Petrella im Königreich Neapel ernannt
+worden, aber durch seinen allmächtigen Einfluß auf
+den Fürsten hatte ihn Francesco Cenci davonjagen lassen.</p>
+
+<p>Man verabredete alles mit den beiden Männern. Da
+Francesco Cenci angekündigt hatte, daß er, um der
+schlechten Luft in Rom zu entgehen, den folgenden
+Sommer auf dem Kastell La Petrella verbringen würde,
+<a id="page-82"></a><span class="pgnum">82</span>war man auf den Gedanken gekommen, ein Dutzend
+neapolitanischer Banditen anzuwerben; Olimpio erbot
+sich, sie herbeizuschaffen. Man entschied sich dafür,
+sie in den Wäldern um La Petrella zu verbergen, damit
+man sie unverzüglich benachrichtigen könne; wenn
+Francesco Cenci sich auf den Weg mache, sollten sie
+ihn dann von der Straße weg entführen und seiner Familie
+Botschaft schicken, daß sie ihn gegen ein hohes
+Lösegeld frei lassen würden. Dann würden die Kinder
+genötigt sein, nach Rom zurückzukehren, um die von
+den Briganten geforderte Summe zustande zu bringen;
+sie sollten aber vorgeben, sie nicht in solcher Schnelligkeit
+aufbringen zu können und die Briganten würden,
+wenn sie kein Geld anlangen sähen, ihrer Drohung gemäß
+Francesco Cenci ermorden.</p>
+
+<p>Auf diese Weise sollte niemand die wirklichen Urheber
+dieses Todes verdächtigen können.</p>
+
+<p>Aber als Francesco Cenci Anfang des Sommers von
+Rom nach Petrella reiste, benachrichtigte der Spion, der
+die Abreise melden sollte, zu spät die in den Wäldern
+verstreuten Banditen, und sie hatten nicht mehr Zeit,
+zur Landstraße hinunterzugelangen. Cenci kam ohne
+Hindernis nach Petrella, und die Briganten, die keine
+Lust hatten, noch länger auf eine zweifelhafte Beute
+zu warten, gingen nun anderswo auf eigne Rechnung
+zu rauben aus.</p>
+
+<p>Was den vorsichtigen und argwöhnischen alten Francesco
+Cenci betraf, so wagte er sich niemals aus seinem
+Kastell heraus. Und weil sich seine schlechte Laune mit
+den zunehmenden Altersgebrechen, die ihm unerträglich
+waren, steigerte, verdoppelte er die grausame Behandlung,
+die er die armen Frauen erdulden ließ. Er behauptete,
+daß sie sich über seine Gebrechlichkeit freuten.
+</p>
+
+<p><a id="page-83"></a><span class="pgnum">83</span>Beatrice, welche durch die schrecklichen Dinge, die
+sie erleiden mußte, zum Äußersten getrieben wurde,
+ließ Marzio und Olimpio an die Mauer des Kastells
+rufen. Nachts, während ihr Vater schlief, sprach
+sie aus einem niedrigen Fenster mit ihnen und warf
+ihnen Briefe zu, die an Monsignore Guerra gerichtet
+waren. Mittels dieser Briefe wurde verabredet,
+daß Monsignore Guerra tausend Piaster an Marzio und
+Olimpio versprechen sollte, wenn sie Francesco Cenci
+ermorden würden. Ein Drittel der Summe sollte ihnen
+in Rom durch Monsignore Guerra im voraus gezahlt
+werden, und die beiden andern Drittel von Lucrezia
+und Beatrice, sobald sie nach vollbrachter Tat über
+Cencis Geldschrank verfügen könnten.</p>
+
+<p>Außerdem wurde noch vereinbart, daß die Sache am
+Tage Mariä Geburt geschehen solle, und die beiden
+Männer wurden durch List in die Festung eingelassen.
+Aber Lucrezia ließ sich durch den Respekt, den man
+einem Fest der Madonna schuldet, zurückhalten und bestimmte
+Beatrice, den Mord einen Tag hinauszuschieben,
+um nicht eine doppelte Sünde zu begehen.</p>
+
+<p>Es war also am 9. September 1598 abends; Mutter
+und Tochter hatten mit großem Geschick Francesco
+Cenci Mohnsaft gegeben und dieser Mann, der so schwer
+zu täuschen war, fiel in tiefen Schlaf.</p>
+
+<p>Gegen Mitternacht ließ Beatrice selbst Marzio und
+Olimpio in die Festung ein; darauf führten sie Lucrezia
+und Beatrice in das Zimmer des alten Mannes,
+welcher fest schlief. Dort verließ man sie, damit sie das
+vollbringen sollten, was ausgemacht war, und die beiden
+Frauen warteten im Nebenzimmer. Plötzlich sahen sie
+die zwei Männer bleich und ganz außer sich zurückkommen.
+</p>
+
+<p><a id="page-84"></a><span class="pgnum">84</span>„Was gibt es?“ riefen die Frauen. „Daß es eine
+Schande und Schmach ist, einen armen schlafenden
+Greis zu töten!“ antworteten die Männer. „Das Mitleid
+hat uns gehindert zu handeln.“</p>
+
+<p>Als sie diese Entschuldigung hörte, wurde Beatrice von
+Empörung ergriffen und begann sie zu beschimpfen,
+indem sie sagte: „Also Ihr Männer, die Ihr für solche
+Tat wohl vorbereitet seid, habt nicht den Mut, einen
+schlafenden Mann zu töten! Wie viel weniger würdet
+Ihr wagen, ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er wach
+ist! Und, um es so zu Ende zu führen, habt Ihr gewagt,
+Geld zu nehmen! Nun wohl, da Eure Feigheit
+es will, werde ich selbst meinen Vater töten;
+und was Euch betrifft, sollt Ihr dann nicht mehr
+lange leben!“</p>
+
+<p>Durch diese wenigen zündenden Worte wieder angefeuert
+und auch, weil sie eine Verminderung des festgesetzten
+Preises fürchteten, traten die Männer von
+neuem ins Zimmer ein und die Frauen folgten ihnen.
+Der eine nahm einen großen Nagel, setzte ihn senkrecht
+aufs Auge des schlafenden Alten, der andere trieb diesen
+Nagel mit einem Hammer in den Kopf. In der gleichen
+Weise ließ man einen großen Nagel in den Hals eindringen,
+so daß diese arme, von so vielen frischen
+Sünden belastete Seele vom Teufel geholt wurde; der
+Körper sträubte sich, allein vergeblich.</p>
+
+<p>Als die Sache abgetan war, gab das junge Mädchen
+Olimpio eine dicke goldgefüllte Börse, Marzio gab sie
+einen Tuchmantel ihres Vaters, der mit goldener Tresse
+besetzt war und schickte die beiden fort.</p>
+
+<p>Als die Frauen allein geblieben waren, begannen sie
+den großen in den Kopf gedrungenen Nagel, sowie den
+im Halse zu entfernen; dann schleiften sie den Körper,
+<a id="page-85"></a><span class="pgnum">85</span>nachdem sie ihn in ein Leintuch eingewickelt hatten,
+durch eine lange Reihe von Zimmern bis zu einer
+Galerie, die auf einen verödeten Garten führte. Von
+dort warfen sie den Körper auf einen großen Holunderbaum,
+der an diesem einsamen Ort wuchs, hinab. Da
+am Ende dieser kleinen Galerie die Abtritte lagen,
+hofften sie, wenn man am nächsten Morgen den Körper
+des Alten in den Ästen des Holunders finden würde,
+auf die Vermutung, er sei am Wege zum Abtritt ausgeglitten
+und hinuntergestürzt.</p>
+
+<p>Es geschah genau so, wie sie es vorausgesehen hatten.
+Am Morgen, als man den Leichnam fand, erhob sich
+großer Lärm in dem Kastell; die Frauen selber verabsäumten
+nicht, laut zu schluchzen und über den unglücklichen
+Tod des Vaters und Gatten zu klagen. Allein, wenn
+die junge Beatrice auch den Mut der beleidigten Tugend
+besaß, die nötige Klugheit für das Leben hatte sie noch
+nicht: schon am frühen Morgen hatte sie der Frau,
+die in der Festung die Wäsche besorgte, ein blutbeflecktes
+Leintuch gegeben, wobei sie ihr sagte, sie
+möge sich nicht über eine solche Menge Blut wundern,
+denn sie habe während der ganzen Nacht an großem
+Blutverlust gelitten, und so ging für den Augenblick
+alles gut.</p>
+
+<p>Man gab Francesco Cenci ein ehrenvolles Begräbnis,
+und die Frauen kehrten nach Rom zurück, um die
+langersehnte Ruhe zu genießen. Sie glaubten an die
+Dauer ihres Glückes, weil sie nicht wußten, was in
+Neapel vor sich ging.</p>
+
+<p>Die Gerechtigkeit Gottes, der nicht wollte, daß ein
+so fürchterlicher Vatermord unbestraft bleibe, veranlaßte,
+daß der oberste Richter, als man in dieser Hauptstadt
+erfuhr, was im Kastell Petrella vor sich gegangen
+<a id="page-86"></a><span class="pgnum">86</span>war, sofort Mißtrauen empfand und einen königlichen
+Kommissär sandte, um den Leichnam zu untersuchen
+und alle verdächtigen Personen festzunehmen.</p>
+
+<p>Der königliche Kommissär ließ alle, die in der
+Festung wohnten, verhaften. Alle diese wurden in Ketten
+nach Neapel geführt, aber nichts erschien in ihren
+Aussagen verdächtig, außer, daß die Wäscherin aussagte,
+sie hätte von Beatrice ein blutiges Tuch oder
+deren mehrere erhalten. Man fragte sie, ob Beatrice eine
+Erklärung für die großen Blutflecken gegeben habe; sie
+antwortete, daß Beatrice von einem natürlichen Unwohlsein
+gesprochen habe. Man fragte sie dann, ob so große
+Flecken von einem solchen Unwohlsein herrühren
+konnten; sie meinte, nein, weil die Flecken auf dem
+Tuch von einem zu lebhaften Rot waren.</p>
+
+<p>Man schickte diese Aussage sofort an die Justizbehörde
+in Rom, aber trotzdem vergingen mehrere Monate,
+bevor man bei uns daran dachte, die Kinder des
+Francesco Cenci verhaften zu lassen. Lucrezia, Beatrice
+und Giacomo hätten sich tausendmal in Sicherheit
+bringen können, sei es, daß sie unter dem Vorwand
+einer Pilgerfahrt nach Florenz gingen, sei es, daß sie
+sich nach Civita Vecchia einschifften; aber Gott versagte
+ihnen diese rettende Eingebung.</p>
+
+<p>Monsignor Guerra hatte von den Vorgängen in
+Neapel Mitteilung erhalten und rüstete sofort Leute aus,
+die er beauftragte, Marzio und Olimpio zu töten; aber
+nur Olimpio konnte in Terni ermordet werden. Die neapolitanische
+Justiz hatte Marzio verhaften lassen, der
+nach Neapel geführt wurde, wo er sofort alles gestand.</p>
+
+<p>Diese schreckliche Aussage wurde gleich der Justiz
+in Rom geschickt, welche nun beschloß, Giacomo und
+Bernardo, die beiden einzigen überlebenden Söhne Francescos,
+<a id="page-87"></a><span class="pgnum">87</span>wie auch seine Witwe Lucrezia verhaften und
+in das Gefängnis von Corte Savella bringen zu lassen.
+Beatrice wurde im Palast ihres Vaters von einem großen
+Trupp Sbirren bewacht. Marzio wurde aus Neapel
+herbeigeschafft und auch in das Gefängnis Savella gebracht;
+dort stellte man ihn den beiden Frauen gegenüber,
+die mit Standhaftigkeit leugneten; besonders Beatrice
+wollte durchaus nicht den Mantel mit den Tressen
+wiedererkennen, den sie Marzio gegeben hatte. Dieser
+Brigant war plötzlich voller Enthusiasmus für die bewundernswürdige
+Schönheit und die erstaunliche Beredsamkeit,
+mit der das junge Mädchen dem Richter
+antwortete, und leugnete alles, was er in Neapel gestanden
+hatte. Man folterte ihn, aber er gestand nichts
+und zog vor, in Qualen zu sterben: eine gerechte Huldigung
+der Schönheit Beatrices.</p>
+
+<p>Nach dem Tode dieses Mannes und da die Rolle des
+Mantels nicht erwiesen war, fanden die Richter keine
+hinreichenden Gründe, um die beiden Söhne Cenci oder
+die beiden Frauen auf die Folter zu legen. Man führte
+sie alle vier auf das Kastell St. Angelo, wo sie mehrere
+Monate ganz ruhig verlebten.</p>
+
+<p>Alles schien beendet und niemand in Rom zweifelte
+daran, daß dieses schöne, mutige Mädchen, das so lebhafte
+Teilnahme erregt hatte, bald in Freiheit gesetzt
+würde, als unglücklicherweise die Justiz den Briganten
+festnehmen konnte, der Olimpio in Terni getötet hatte;
+nach Rom überführt, gestand dieser Mann alles.</p>
+
+<p>Monsignor Guerra, der durch das Geständnis des Briganten
+so seltsam kompromittiert war, wurde geladen,
+ohne Verzug vor Gericht zu erscheinen; das Gefängnis
+und vielleicht der Tod waren ihm sicher. Aber dieser
+bewundernswerte Mann, dem vom Geschick verliehen
+<a id="page-88"></a><span class="pgnum">88</span>war, alles gut zu machen, gelang es, sich in einer Weise
+zu retten, die ans Wunder grenzt. Er galt für den
+schönsten Mann am päpstlichen Hof und war in Rom
+zu bekannt, als daß er hoffen konnte, sich zu retten;
+übrigens hielt man gute Wacht an den Toren und wahrscheinlich
+stand auch vom Augenblick der Vorladung
+an sein Haus unter Aufsicht. Man muß wissen, daß
+er sehr groß war, von weißester Hautfarbe, einen
+schönen blonden Bart hatte und wundervolles Haar von
+der gleichen Farbe.</p>
+
+<p>Mit unerklärlicher Geschwindigkeit wußte er einen
+Kohlenhändler zu gewinnen, nahm seine Kleider, ließ
+sich Haar und Bart rasieren, färbte sich das Gesicht,
+kaufte zwei Esel und zog hinkend durch die Straßen
+Roms, um seine Kohlen zu verkaufen. Er nahm in bewunderungswürdiger
+Weise ein ungeschliffenes und
+stumpfsinniges Benehmen an und lief überall, den
+Mund voll Brot und Zwiebeln, herum, seine Kohlen ausschreiend,
+während hunderte von Sbirren ihn nicht nur
+in Rom, sondern auch auf den Landstraßen suchten.
+Endlich, als seine Erscheinung der Mehrzahl der Sbirren
+wohl bekannt war, wagte er sich aus Rom hinaus, seine
+zwei mit Kohlen beladenen Esel immer vor sich hertreibend.
+Er begegnete mehreren Abteilungen Sbirren,
+welche nicht daran dachten, ihn anzuhalten. Seither hat
+man nur noch einen Brief von ihm erhalten; seine
+Mutter hat ihm Geld nach Marseille geschickt, und man
+vermutet, daß er als Soldat in Frankreich den Krieg
+mitmacht.</p>
+
+<p>Das Geständnis des Mörders von Terni und diese
+Flucht des Monsignor Guerra, die in Rom erstaunliches
+Aufsehen machte, mehrten den Verdacht und die Indizien
+gegen die Cenci in solcher Weise, daß sie aus
+<a id="page-89"></a><span class="pgnum">89</span>dem Kastell St. Angelo fortgeschafft und wieder ins
+Gefängnis Savella gebracht wurden.</p>
+
+<p>Als die beiden Brüder auf die Folter gespannt
+wurden, waren sie weit davon entfernt, der Seelengröße
+des Briganten nachzueifern; sie waren so kleinmütig,
+daß sie alles gestanden. Signora Lucrezia Petroni war
+so an die Weichheit und an die Annehmlichkeiten des
+großen Luxus gewöhnt und außerdem war sie so dick,
+daß sie die Tortur des Seils nicht ausgehalten hätte;
+sie sagte alles aus, was sie wußte. Aber nicht war es
+so mit der jungen, lebhaften und mutigen Beatrice
+Cenci. Weder gute Worte noch Drohungen des Richters
+Moscati erreichten etwas bei ihr. Sie ertrug die Torturen
+des Seils ohne ein Zeichen der Aufregung und
+mit vollendetem Mut. Niemals konnte sie der Richter
+zu einer Antwort bringen, die sie auch nur im mindesten
+kompromittierte, und weit mehr noch: es gelang
+ihr durch ihre geistvolle Lebendigkeit, den berühmten
+Richter Ulysse Moscati gänzlich in Verwirrung zu
+bringen. Er war dermaßen erstaunt über die Art
+dieses jungen Mädchens, daß er es für Pflicht hielt,
+Seiner Heiligkeit dem glücklich regierenden Papst Clemens
+VIII. davon Bericht zu erstatten.</p>
+
+<p>Seine Heiligkeit wollte die Akten des Prozesses selbst
+einsehen. Er befürchtete, daß der durch seine profunde
+Wissenschaft wie durch den überragenden Scharfsinn
+seines Geistes so berühmte junge Ulysse Moscati von
+der Schönheit Beatrices getroffen worden sei und sie
+bei den Vernehmungen schone. Daraus folgte, daß Seine
+Heiligkeit ihn von der Leitung dieses Prozesses enthob
+und diesen einem anderen strengeren Richter gab. Wirklich
+hatte dieser Barbar den Mut, ohne Mitleid einen
+so schönen Körper ad torturam capillorum zu martern,
+<a id="page-90"></a><span class="pgnum">90</span>d.h. man folterte Beatrice Cenci, indem man sie an
+den Haaren aufhing.</p>
+
+<p>Während sie am Seil hochgezogen war, ließ dieser
+neue Richter ihre Stiefmutter und ihre Brüder vor Beatrice
+erscheinen. Sobald Giacomo und Signora Lucrezia
+sie so sahen, riefen sie ihr zu:</p>
+
+<p>„Die Sünde ist begangen, man muß nun die Buße
+auf sich nehmen und sich nicht den Körper mit zweckloser
+Hartnäckigkeit zerreißen lassen.“</p>
+
+<p>„Also Ihr wollt unser Haus mit Schande bedecken“,
+antwortete das junge Mädchen, „und in Schmach
+sterben? Ihr befindet Euch in einem großen Irrtum;
+aber da Ihr es wünscht, sei es.“</p>
+
+<p>Und sich zu den Sbirren wendend, fuhr sie fort:
+„Bindet mich los, und man lese mir die Aussage meiner
+Mutter vor; ich werde dem zustimmen, dem zugestimmt
+werden muß und das leugnen, was geleugnet
+werden muß.“</p>
+
+<p>So geschah es; sie gestand die ganze Wahrheit. Sofort
+nahm man allen die Ketten ab und weil es fünf
+Monate war, seit sie die Brüder nicht gesehen hatte,
+wollte sie mit ihnen speisen; sie verbrachten alle vier
+einen sehr heiteren Tag.</p>
+
+<p>Aber am folgenden Tag wurden sie von neuem getrennt;
+die beiden Brüder wurden in das Gefängnis von
+Tordinona geführt und die beiden Frauen blieben im
+Gefängnis Savella. Unser Heiliger Vater, der Papst, der
+den authentischen Akt mit den Geständnissen aller gesehen
+hatte, befahl, daß sie ohne Aufschub an den
+Schweif ungezähmter Pferde gebunden und so zu Tode
+geschleift werden sollten.</p>
+
+<p>Ganz Rom erschauerte, als es diese strenge Entscheidung
+erfuhr. Viele Kardinäle und Fürsten warfen sich
+<a id="page-91"></a><span class="pgnum">91</span>dem Papst zu Füßen, indem sie ihn anflehten, den
+Unglücklichen zu erlauben, ihre Verteidigungsschrift
+einzureichen.</p>
+
+<p>„Und sie, haben sie ihrem alten Vater Zeit gegeben,
+die seine zu überreichen?“ antwortete unwillig der Papst.</p>
+
+<p>Schließlich genehmigte er aus besonderer Gnade
+einen Aufschub von fünfundzwanzig Tagen. Sogleich
+begannen die ersten Advokaten Roms in dieser Sache,
+welche die ganze Stadt mit Aufregung und Mitleid erfüllt
+hatte, zu schreiben. Am fünfundzwanzigsten Tag
+erschienen sie alle zusammen vor Seiner Heiligkeit. Nicolo
+d'Angelis sprach als erster; aber er hatte kaum
+zwei Zeilen seiner Verteidigungsschrift gelesen, als Clemens
+VIII. ihn unterbrach:</p>
+
+<p>„Also, es finden sich in Rom Menschen, die ihren
+Vater ermorden und danach Advokaten, welche diese
+Menschen verteidigen!“ Alle schwiegen, als Farinacci
+wagte, das Wort zu ergreifen.</p>
+
+<p>„Heiligster Vater,“ sagte er, „wir sind nicht hier, um
+das Verbrechen zu verteidigen, sondern um zu beweisen,
+wenn wir es können, daß einer oder mehrere dieser
+Menschen am Verbrechen unschuldig sind.“</p>
+
+<p>Der Papst gab ihm das Zeichen, zu sprechen, und
+er sprach drei lange Stunden; danach nahm der Papst
+alle ihre Schriftstücke an sich und schickte sie fort.
+Als sie gingen, war Altiere der Letzte; er hatte Furcht,
+sich kompromittiert zu haben und warf sich vor dem
+Papst auf die Knie, indem er sagte:</p>
+
+<p>„Es blieb mir nichts übrig, als in dieser Sache zu
+erscheinen, denn ich bin Anwalt der Armen.“</p>
+
+<p>Worauf der Papst antwortete:</p>
+
+<p>„Wir wundern uns nicht über Euch, sondern über
+die anderen.“
+</p>
+
+<p><a id="page-92"></a><span class="pgnum">92</span>Der Papst wollte sich nicht niederlegen, sondern verbrachte
+die ganze Nacht damit, die Verteidigungsschriften
+der Advokaten zu lesen; er ließ sich bei dieser Arbeit von
+dem Kardinal von San Marcello helfen. Seine Heiligkeit
+schien dermaßen gerührt, daß man etwas Hoffnung für
+das Leben dieser Unglücklichen schöpfen konnte. Um die
+Söhne zu retten, suchten die Advokaten die ganze Schuld
+auf Beatrice zu wälzen. Da im Prozeß bewiesen worden
+war, daß ihr Vater mehrmals in einer verbrecherischen
+Absicht Gewalt angewendet hatte, hofften die Advokaten,
+daß ihr der Mord vergeben würde, da sie sich
+im Zustand der berechtigten Notwehr befand; und wenn
+es so geschah, daß dem Haupturheber des Verbrechens
+das Leben geschenkt wurde, wie wäre es möglich, ihre
+Brüder, die durch sie verleitet waren, mit dem Tode
+zu bestrafen?</p>
+
+<p>Nach dieser in seinen Pflichten als Richter verbrachten
+Nacht, befahl Clemens VIII., daß die Angeklagten
+ins Gefängnis zurückgeführt und in geheimer
+Haft gehalten würden. Es war erwiesen, daß Beatrice den
+Monsignor Guerra liebte, aber niemals die Regeln der
+strengsten Tugend überschritten hatte: man konnte ihr
+also bei wahrer Gerechtigkeit nicht die Verbrechen eines
+Ungeheuers anrechnen und sie strafen, weil sie von
+ihrem Verteidigungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Was
+hätte man getan, wenn sie eingewilligt hätte? Mußte
+es sein, daß die menschliche Rechtsprechung das Mißgeschick
+eines so liebenswürdigen, so bemitleidenswerten
+und schon so unglücklichen Wesens noch vergrößerte?
+Hatte sie nicht nach einem so traurigen Leben, <a class="sic" id="sicA-5" href="#sic-5">daß</a> sie
+schon, bevor sie 16 Jahr alt war, mit allen Arten des
+Unglücks überhäuft hatte, das Recht auf weniger
+schreckliche Tage? Jedermann in Rom schien ihre Verteidigung
+<a id="page-93"></a><span class="pgnum">93</span>übernommen zu haben. Wäre ihr nicht verziehen
+worden, wenn sie Francesco Cenci erdolcht hätte,
+als er zum ersten Mal das Verbrechen versuchte?</p>
+
+<p>Papst Clemens VIII. war milde und voll Erbarmen.
+Wir begannen zu hoffen, er würde, — ein wenig beschämt
+über die Grille, die ihn das Beweisverfahren
+der Advokaten hatte unterbrechen lassen, — jener verzeihen,
+die Gewalt mit Gewalt vergolten hatte, und
+wahrhaftig nicht als vorschnelle Erwiderung des Verbrechens,
+sondern erst, als man es von neuem an ihr
+versuchen wollte. Ganz Rom war in ängstlicher Spannung;
+da erhielt der Papst die Nachricht des gewaltsamen
+Todes der Marchesa Constanza Santa Croce. Ihr
+Sohn Paolo Santa Croce hatte diese sechzig Jahre alte
+Dame mit Dolchstichen getötet, weil sie sich nicht verpflichten
+wollte, ihn zum Erben aller ihrer Güter einzusetzen.
+Der Bericht fügte hinzu, daß Santa Croce
+die Flucht ergriffen habe und daß man keine Hoffnung
+hätte, ihn festzunehmen. Der Papst erinnerte sich
+an den Brudermord der Massini, der vor kurzer Zeit
+begangen worden war. Aufs Tiefste betrübt über diese
+Häufung von Morden an Nahverwandten, glaubte Seine
+Heiligkeit, es sei nicht gestattet, zu verzeihen. Als der
+Papst den verhängnisvollen Bericht über Santa Croce
+erhielt, befand er sich, es war am 6. September, im
+Palast von Monte Cavallo, um am folgenden Tage ganz
+in der Nähe der Kirche Santa Maria degli Angeli zu
+sein, wo er einen deutschen Kardinal zum Bischof
+weihen sollte.</p>
+
+<p>Am Freitag, zur zweiundzwanzigsten Stunde, das ist
+vier Uhr nachmittags, ließ er Ferrante Taverna, den
+Gouverneur von Rom, rufen und sagte diesem wörtlich:
+„Wir geben die Sache der Cenci an Euch, damit
+<a id="page-94"></a><span class="pgnum">94</span>das Recht durch Eure Fürsorge und ohne jeden Aufschub
+geschehe.“</p>
+
+<p>Der Gouverneur kam, sehr bewegt von dem Auftrag,
+den er erhalten hatte, in seinen Palast zurück; er fertigte
+sogleich das Todesurteil aus und berief die Kongregation,
+um über die Art der Vollstreckung zu beraten.</p>
+
+<p>Samstag früh, am 11. September 1599, begaben sich
+die ersten Signori Roms, Mitglieder der Brüderschaft
+der Confortatori, in die beiden Gefängnisse, nach Corte
+Savella, wo Beatrice und ihre Stiefmutter waren und
+nach Tordinona, wo sich Giacomo und Bernardo Cenci
+befanden. Während der ganzen Nacht vom Freitag zum
+Sonnabend taten die römischen Herren, die erfahren
+hatten, was vorging, nichts anderes, als vom Palazzo
+Monte Cavalli zu denen der ersten Kardinäle zu eilen,
+um wenigstens zu erreichen, daß die Frauen im Innern
+des Gefängnisses hingerichtet würden und nicht auf
+schmählichem Schafott, und daß man den jungen Bernardo
+Cenci begnadigte, da er kaum fünfzehn Jahr
+alt und gewiß nicht ins Verbrechen eingeweiht gewesen
+sei. Der edle Kardinal Sforza hat sich vor allen in dieser
+verhängnisvollen Nacht durch seinen Eifer ausgezeichnet;
+aber ein so mächtiger Fürst er auch war,
+konnte er doch nichts ausrichten. — Das Verbrechen
+von Santa Croce war ein niedriges Verbrechen, es war
+wegen des Geldes begangen; doch das Verbrechen Beatrices
+war begangen, um die Ehre zu retten.</p>
+
+<p>Während die mächtigsten Kardinäle so viele unnütze
+Schritte taten, hatte unser großer Rechtsgelehrter Farinacci
+die Kühnheit, zum Papst vorzudringen und, bei
+seiner Heiligkeit angelangt, besaß dieser erstaunliche
+Mann die Geschicklichkeit, ihn bei seiner Gewissenhaftigkeit
+<a id="page-95"></a><span class="pgnum">95</span>zu packen und schließlich gelang es ihm,
+Bernardo Cenci das Leben zu retten.</p>
+
+<p>Als der Papst dies große Wort aussprach, konnte es
+vier Uhr morgens sein (vom Sonnabend, dem 11. September).
+Die ganze Nacht war auf dem Platz bei der
+Engelsbrücke an den Vorbereitungen dieser grausamen
+Tragödie gearbeitet worden. Indessen waren alle notwendigen
+Abschriften des Todesurteils erst um fünf
+Uhr morgens beendet, so daß man den armen Unglücklichen,
+die ruhig schliefen, erst um sechs Uhr früh die
+verhängnisvolle Nachricht ankündigen konnte.</p>
+
+<p>Das junge Mädchen vermochte zuerst nicht einmal
+die Kraft zu finden, sich anzukleiden. Sie stieß in einem
+fort durchdringende Schreie aus und überließ sich ganz
+haltlos der schrecklichsten Verzweiflung. „Wie ist es
+möglich, oh! Gott!“ schrie sie, „daß ich so unvorbereitet
+sterben muß?“</p>
+
+<p>Lucrezia dagegen benahm sich ganz gefaßt; erst
+kniete sie nieder und betete, dann forderte sie gelassen
+ihre Tochter auf, sich mit ihr in die Kapelle zu begeben,
+um sich mit ihr auf den großen Übergang vom
+Leben zum Tode vorzubereiten.</p>
+
+<p>Dies Wort gab Beatrice ihre ganze Ruhe wieder;
+soviel Maßlosigkeit und Aufwallung sie zuerst gezeigt
+hatte, so gefaßt und verständig war sie nun, seit ihre
+Stiefmutter ihre große Seele zu sich selbst zurückgerufen
+hatte. Von diesem Augenblick an war sie ein
+Spiegel der Standhaftigkeit, den ganz Rom bewundert
+hat.</p>
+
+<p>Sie verlangte einen Notar, um ihr Testament zu
+machen, was ihr bewilligt wurde. Sie bestimmte, daß
+ihr Leichnam nach San Pietro in Montorio gebracht
+werde und hinterließ den Nonnen der Wundmale des
+<a id="page-96"></a><span class="pgnum">96</span>Heiligen Franziskus 300&nbsp;000 Francs, welche Summe
+dazu dienen sollte, fünfzig arme Mädchen auszustatten.
+Dieses Beispiel bewegte auch die Signora Lucrezia dazu,
+daß sie ihr Testament machte und die Anordnung traf,
+ihren Leichnam nach San Giorgio zu überführen; sie
+hinterließ 500&nbsp;000 Francs Almosen für diese Kirche
+und machte noch andere fromme Legate.</p>
+
+<p>Um acht Uhr beichteten sie, hörten darauf die Messe
+und nahmen das Heilige Abendmahl. Aber bevor sie zur
+Messe gingen, erwog Beatrice, daß es nicht passend sei,
+auf dem Schafott, vor den Augen des ganzen Volks
+mit den reichen Gewändern zu erscheinen, die sie trugen.
+Sie bestellte zwei Kleider, das eine für sich, das andere
+für ihre Mutter. Die Gewänder wurden wie Nonnenkutten
+gearbeitet, ohne Aufputz an Brust und Schultern,
+nur gefältelt mit weiten Ärmeln. Das Kleid der
+Stiefmutter war aus schwarzer Baumwolle, das des
+jungen Mädchens aus blauem Taft mit einer dicken
+Schnur, welche den Gürtel bildete.</p>
+
+<p>Als man die Kleider brachte, erhob sich Signora Beatrice,
+die auf den Knien lag und sagte der Signora
+Lucrezia: „Frau Mutter, die Stunde unsres Leidens
+nähert sich, es wird gut sein, daß wir uns bereiten;
+legen wir diese neuen Gewänder an und leisten wir uns
+zum letztenmal gegenseitig den Dienst, uns <a class="sic" id="sicA-6" href="#sic-6">anzukleiden.</a></p>
+
+<p>Man hatte auf dem Platz vor der Engelsbrücke ein
+Schafott errichtet. Um die dreizehnte Stunde (acht Uhr
+morgens) brachte die Brüderschaft der Barmherzigkeit
+ihr großes Kruzifix zur Tür des Gefängnisses. Giacomo
+Cenci schritt als erster aus dem Kerker; er kniete
+fromm auf der Schwelle nieder, betete und küßte die
+heiligen Wunden des Gekreuzigten. Ihm folgte sein
+junger Bruder Bernardo Cenci, der gleich ihm gebundene
+<a id="page-97"></a><span class="pgnum">97</span>Hände und ein kleines Brett vor den Augen
+hatte. Die Menge war ungeheuer und es entstand ein
+Tumult, weil eine Vase aus einem Fenster fast auf den
+Kopf eines der Bußbrüder fiel, der eine brennende
+Fackel zur Seite des Banners trug.</p>
+
+<p>Alles sah auf die beiden Brüder, als unversehens der
+Fiskal von Rom hervortrat und sagte: „Signor Bernardo,
+unser Heiliger Vater schenkt Euch das Leben,
+fügt Euch darein, Eure Verwandten zu begleiten und
+bittet Gott um Gnade für sie.“</p>
+
+<p>Sogleich nahmen ihm seine beiden Begleiter das
+kleine Brett fort, das er vor den Augen trug. Der Henker
+machte Giacomo Cenci für den Karren bereit und hatte
+ihm schon sein Gewand ausgezogen, um ihn mit der
+Zange zwicken zu können. Als der Henker zu Bernardo
+kam, beglaubigte er die Unterzeichnung der Begnadigung,
+band ihn los, nahm ihm die Handschellen
+ab und weil er wegen der Marter mit der Zange ohne
+Rock war, setzte ihn der Henker auf den Karren und
+hüllte ihn in einen prächtigen Tuchmantel mit goldenen
+Tressen. Man sagte, daß es der Mantel sei, den Beatrice
+nach der Tat in der Festung La Petrella Marcio
+gegeben hatte. Die ungeheure Menge in den Straßen an
+den Fenstern und auf den Dächern kam plötzlich in
+Bewegung; man hörte ein dumpfes, tiefes Murmeln,
+man begann weiterzusagen, daß dieses Kind begnadigt
+sei.</p>
+
+<p>Die Psalmgesänge begannen und die Prozession bewegte
+sich langsam über die Piazza Navona nach dem
+Gefängnis Savella. An der Türe des Gefängnisses angelangt,
+hält man an. Die beiden Frauen traten heraus,
+verrichteten ihr Gebet zu Füßen des Heiligen Kruzifixes,
+und folgten dann zu Fuß, eine hinter der andern,
+<a id="page-98"></a><span class="pgnum">98</span>Sie waren so gekleidet, wie schon erzählt worden ist,
+und hatten das Haupt mit einem großen Schleier bedeckt,
+der fast bis zum Gürtel hing.</p>
+
+<p>Signora Lucrezia trug, wie es für eine Witwe üblich
+war, einen schwarzen Schleier und Pantoffeln aus
+schwarzem Samt, ohne Absätze.</p>
+
+<p>Der Schleier des jungen Mädchens war aus blauem
+Taft wie ihr Kleid, sie trug ein silbriges Gewebe um
+die Schultern, ein Unterkleid aus violettem Tuch und
+Pantoffeln aus weißem Samt, die mit karmesinroten
+Schnüren zierlich verschnürt waren. Sie hatte eine eigenartige
+Anmut, als sie in diesem Kostüm dahinschritt,
+und in aller Augen traten Tränen, als man sie bemerkte,
+die langsam in den letzten Reihen der Prozession
+dahinschritt.</p>
+
+<p>Beide Frauen hatten die Hände frei, aber die Arme
+am Körper festgebunden, und zwar so, daß jede von
+ihnen ein Kruzifix tragen konnte; sie hielten es dicht
+an die Augen. Die Ärmel ihrer Kleider waren sehr weit,
+so daß man ihre Arme sehen konnte, nach der Sitte
+des Landes mit einem an den Handgelenken geschlossenen
+Hemd bedeckt.</p>
+
+<p>Signora Lucrezia, die weniger starken Herzens war,
+weinte fast ohne aufzuhören; dagegen zeigte die junge
+Beatrice großen Mut; sie richtete den Blick auf jede
+der Kirchen, an denen die Prozession vorüberkam,
+kniete einen Augenblick nieder und sagte mit fester
+Stimme: Adoramus te, Christe!</p>
+
+<p>Während dieser Zeit wurde der arme Giacomo Cenci
+auf seinem Karren mit Zangen gezwickt und zeigte
+großen Mut.</p>
+
+<p>Die Prozession konnte kaum den unteren Teil des
+Platzes an der Engelsbrücke überschreiten, so zahlreich
+<a id="page-99"></a><span class="pgnum">99</span>waren die Wagen und die Volksmassen. Man führte
+sogleich die Frauen in die Kapelle, welche man errichtet
+hatte, und brachte auch Giacomo dahin.</p>
+
+<p>Der junge Bernardo wurde in seinem reichverzierten
+Mantel geradenwegs aufs Schafott geführt; da glaubten
+alle, daß er sterben solle und daß er nicht begnadigt
+worden sei.</p>
+
+<p>Das arme Kind hatte solche Angst, daß es beim
+zweiten Schritt auf dem Schafott ohnmächtig hinfiel.
+Man brachte ihn mit frischem Wasser wieder zu sich,
+und setzte ihn gegenüber dem Fallbeil nieder.</p>
+
+<p>Der Henker ging, um Signora Lucrezia zu holen;
+ihre Hände waren auf dem Rücken gebunden und sie
+hatte nicht mehr den Schleier um die Schultern. Sie
+erschien mit dem Banner geleitet auf dem Richtplatz,
+den Kopf in den Taftschleier gehüllt; dort befahl sie
+ihre Seele Gott und küßte die heiligen Wundmale. Man
+sagte ihr, daß sie ihre Pantoffeln auf dem Pflaster
+zurücklassen müsse; da sie sehr stark war, machte es
+ihr Mühe, aufs Schaffot zu steigen. Als sie oben war
+und man ihr den schwarzen Taftschleier fortnahm, war
+es ihr sehr schmerzlich, daß man sie mit entblößter
+Brust und Schultern sehen sollte; sie blickte an sich
+herunter, sah dann das Beil an und hob langsam zum
+Zeichen der Ergebung die Schultern; Tränen traten in
+ihre Augen, sie sagte: „O mein Gott! … Und Ihr,
+meine Brüder, betet für meine Seele.“</p>
+
+<p>Da sie nicht wußte, wie sie sich zu verhalten habe,
+fragte sie Alexander, den ersten Henker danach. Er
+sagte, sie solle sich rittlings auf den Balken des
+Schafotts setzen. Aber diese Stellung beleidigte ihr
+Schamgefühl und sie brauchte viel Zeit dazu. Die
+Einzelheiten, die jetzt folgen, sind für ein italienisches
+<a id="page-100"></a><span class="pgnum">100</span>Publikum, das alles mit peinlichster Genauigkeit wissen
+will, erträglich; aber dem nicht-italienischen Leser möge
+genügen, daß die arme Frau durch ihr Schamgefühl
+eine Verletzung an der Brust davontrug; der Henker
+zeigte das Haupt dem Volke und umhüllte es dann mit
+dem schwarzen Taftschleier.</p>
+
+<p>Während man das Schafott für das junge Mädchen
+herrichtete, stürzte ein Gerüst, das von Neugierigen
+überfüllt war, ein, und viele Menschen wurden dabei
+getötet. So erschienen sie noch früher als Beatrice vor
+Gott.</p>
+
+<p>Als Beatrice das Banner zur Kapelle zurückkehren
+sah, um sie zu holen, fragte sie lebhaft:</p>
+
+<p>„Ist meine Frau Mutter schon tot?“</p>
+
+<p>Man bejahte und sie warf sich vor dem Kruzifix
+auf die Knie und betete mit Inbrunst für ihre Seele.
+Dann sprach sie lange mit lauter Stimme zum Kruzifix:</p>
+
+<p>„Herr, du bist für mich zurückgekehrt, und ich will
+Dir aus freiem Willen folgen, denn ich verzweifle nicht
+an Deinem Erbarmen für meine unermeßliche Sünde.“</p>
+
+<p>Sie wiederholte dann noch mehrere Psalmen und Gebete
+zum Lobe Gottes. Als endlich der Henker mit
+einem Strick vor ihr erschien, sagte sie:</p>
+
+<p>„Binde diesen Körper, der gestraft werden muß und
+erlöse diese Seele, damit sie zur Unsterblichkeit und
+zur ewigen Herrlichkeit gelange.“</p>
+
+<p>Dann erhob sie sich, sprach das Gebet und ließ ihre
+Pantoffeln am Fuß der Treppe stehen; auf dem
+Schafott schwang sie schnell das Bein über den Balken,
+legte den Hals unter das Fallbeil und ordnete alles ganz
+allein, um sich nicht von dem Henker berühren zu
+lassen. Durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen vermied
+sie, dem Publikum Hals und Schultern zu zeigen,
+<a id="page-101"></a><span class="pgnum">101</span>als ihr der Taftschleier abgenommen wurde. Es brauchte
+lange, bis der Streich gefällt wurde, weil ein Hindernis
+eingetreten war. Während dieser Zeit rief sie mit lauter
+Stimme Jesus Christus und die Heilige Jungfrau an.
+Ein zeitgenössischer Autor erzählt, daß Clemens VIII.
+sehr besorgt um das Seelenheil Beatrices war; da er
+wußte, daß sie sich unschuldig verurteilt fühlte,
+fürchtete er eine Regung des Aufruhrs. Im Augenblick,
+als sie ihren Kopf unter das Beil gelegt hatte, gab man
+von der Engelsburg, von wo man das Schafott gut sehen
+konnte, einen Kanonenschuß ab. Der Papst, der im Gebet
+auf Monte Cavallo war, gab, sobald er dies Signal
+hörte, dem jungen Mädchen die päpstliche Absolution
+major in articulo mortis. Daher der Aufenthalt in
+diesem schrecklichen Augenblick, von dem der Chronist
+spricht. Der Körper machte im verhängnisvollen Augenblick
+eine heftige Bewegung. Der arme Bernardo Cenci,
+der immer noch auf dem Schafott saß, fiel von neuem
+in Ohnmacht und seine Tröster brauchten eine gute
+halbe Stunde, um ihn wiederzubeleben. Dann erschien
+Giacomo Cenci auf dem Schafott; aber auch hier muß
+man über zu schreckliche Einzelheiten hinweggehen.
+Giacomo Cenci wurde mit der Keule zu Tode geschlagen.</p>
+
+<p>Sofort führte man Bernardo in das Gefängnis zurück,
+er hatte starkes Fieber und man ließ ihn zur Ader.</p>
+
+<p>Was die armen Frauen betrifft, wurde jede in ihren
+Sarg gebettet und einige Schritte vom Schafott entfernt
+bei der Statue des Heiligen Paulus aufgestellt,
+welche die erste auf der rechten Seite der Engelsbrücke
+ist. Sie blieben dort bis viereinviertel Uhr nach Mittag.
+Um jeden Sarg standen vier brennende Kerzen aus
+weißem Wachs.
+</p>
+
+<p><a id="page-102"></a><span class="pgnum">102</span>Dann wurden sie mit dem, was von Giacomo Cenci
+noch geblieben war, zum Palast des Konsuls von Florenz
+gebracht. Um neuneinviertel Uhr abends wurde der
+Leichnam des jungen Mädchens, wieder mit Kleidern
+angetan und verschwenderisch mit Blumen bekränzt,
+nach San Pietro in Montorio gebracht. Sie war von
+hinreißender Schönheit, man konnte glauben, sie
+schliefe. Sie wurde vor dem großen Altar mit der Verklärung
+Christi des Raffael von Urbino beigesetzt. Sie
+wurde von fünfzig großen brennenden Wachskerzen geleitet
+und von allen Franziskanermönchen Roms.</p>
+
+<p>Lucrezia Petroni wurde um zehn Uhr abends nach
+der Kirche von San Giorgio überführt. Während dieser
+Tragödie war die Volksmenge unzählig; so weit der
+Blick schweifen konnte, sah man die Straßen von
+Wagen und Menschen, ebenso die Gerüste, die Fenster
+und die Dächer von Neugierigen bedeckt. Die Sonne
+hatte an diesem Tag eine solche Kraft, daß viele Leute
+die Besinnung verloren. Unzählige bekamen Fieber; und
+als alles um die neunzehnte Stunde (3/4 2 Uhr) beendet
+war und die Massen sich zerstreuten, wurden viele Leute
+erdrückt, andere durch Pferde zermalmt. Die Zahl der
+Toten war sehr beträchlich.</p>
+
+<p>Signora Lucrezia Petroni war eher klein als groß
+und, obschon fünfzig Jahre alt, sah sie noch sehr gut
+aus. Sie hatte sehr schöne Züge, eine kleine Nase,
+schwarze Augen, eine sehr weiße Gesichtshaut mit
+schönen Farben; sie hatte wenig und kastanienbraunes
+Haar.</p>
+
+<p>Beatrice Cenci, die in Ewigkeit Mitleid erwecken wird,
+war gerade sechzehn Jahre alt; sie war klein, hatte eine
+leibliche Fülle und Grübchen auf den Wangen, so daß
+man, als sie tot, von Blumen bekränzt, dalag, hätte
+<a id="page-103"></a><span class="pgnum">103</span>glauben können, daß sie schlafe, ja sogar, daß sie im
+Schlafe lache, wie es ihr oft im Leben geschah. Sie
+hatte einen kleinen Mund und blondes von selbst gelocktes
+Haar. Auf dem Weg zum Tode fiel ihr dies
+blonde lockige Haar über die Augen, was ihr einen
+besonderen Reiz verlieh und Mitleid erweckte.</p>
+
+<p>Giacomo Cenci war klein, dick, mit weißer Haut und
+schwarzem Bart, er war fast sechsundzwanzig Jahre
+alt, als er starb.</p>
+
+<p>Bernardo Cenci ähnelte völlig seiner Schwester, und
+da er die Haare lang wie sie trug, hielten ihn viele Leute,
+als er das Schafott bestieg, für Beatrice.</p>
+
+<p>Die Sonne war so glühend gewesen, daß mehrere Zuschauer
+dieser Tragödie noch in der Nacht starben,
+unter ihnen Ubaldo Ubaldini, ein selten schöner Jüngling,
+der sich bisher immer vollkommener Gesundheit
+erfreut hatte. Er war der Bruder des in Rom sehr bekannten
+Signor Renzi. So stiegen die Schatten der Cenci
+wohlgeleitet hinunter.</p>
+
+<p>Gestern, am Dienstag, dem 14. September 1599,
+machten die Büßer von San Marcello gelegentlich des
+Festes des heiligen Kreuzes von ihrem Vorrecht Gebrauch,
+um Bernardo Cenci aus seinem Gefängnis zu
+befreien, der sich dafür verpflichtete, binnen eines
+Jahres 400 000 Francs für die allerheiligste Dreifaltigkeit
+von Pontus Sixtus zu stiften.</p>
+
+<p>Von anderer Hand ist hier hinzugefügt:</p>
+
+<p>Von ihm stammen Francesco und Bernardo Cenci ab,
+die heute noch leben.</p>
+
+<p>Der berühmte Farinacci, der durch seine Hartnäckigkeit
+das Leben des jungen Cenci rettete, hat sein Plaidoyer
+veröffentlicht. Er gibt nur einen Auszug aus dem
+Plaidoyer Nr. 66, das er Clemens VIII. zu Gunsten der
+<a id="page-104"></a><span class="pgnum">104</span>Cenci vortrug. Dies Plaidoyer, in lateinischer Sprache
+verfaßt, würde sechs große Seiten ausfüllen, und leider
+kann ich es hier nicht unterbringen; es zeichnet die
+Art des Denkens von 1599; und es scheint mir sehr
+vernünftig. Viele Jahre nach 1599 fügte Farinacci, als
+er sein Plaidoyer herausgab, folgende Bemerkung dem
+hinzu, was er zu Gunsten der Cenci gesagt hatte: Omnes
+fuerunt ultimo supplicio effecti, excepto Bernardo qui
+ad triremes cum bonorum confiscatione condemnatus
+fuit, ac etiam ad interessendum aliorum morti prout
+interfuit.</p>
+
+<p>Das weitere dieser lateinischen Anmerkung ist
+rührend, aber ich vermute, daß der Leser einer so langen
+Erzählung schon müde ist.
+</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-105"></a><span class="pgnum">105</span>ZU VIEL GUNST SCHADET</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-106"></a><span class="pgnum">106</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<p><a id="page-107"></a><span class="pgnum">107</span>In einer Stadt Toskanas, die ich nicht nennen werde,
+gab es im Jahre 1589 und gibt es noch heute ein
+düsteres und weitläufiges Kloster. Seine schwarzen wohl
+fünfzig Fuß hohen Mauern verfinstern ein ganzes
+Straßenviertel. Drei Straßen werden von diesen Mauern
+begrenzt; an der vierten Seite breitet sich der Garten des
+Klosters aus, der bis zum Stadtwall reicht. Diesen Garten
+umgibt eine weniger hohe Mauer. Die Abtei, der wir
+den Namen Santa Riparata geben wollen, nimmt nur
+die Töchter des höchsten Adels auf. Am 20. Oktober
+1587 waren alle Glocken des Klosters in Bewegung;
+die Kirche war für die Gläubigen offen und mit prachtvollen
+Wandteppichen aus rotem mit reichen Goldfransen
+verziertem Damast ausgeschlagen. Die fromme
+Schwester Virgilia, die Geliebte des neuen Großherzogs
+von Toskana, Ferdinand I., war am Abend vorher zur
+Äbtissin von Santa Riparata erhoben worden, und der
+Bischof der Stadt, von seinem ganzen Klerus gefolgt,
+war zur feierlichen Einsetzung gekommen. Die ganze
+Stadt war in Aufregung und das Gedränge in den Gassen
+um Santa Riparata so groß, daß es unmöglich war,
+dort durchzukommen.</p>
+
+<p>Der Kardinal Fernando Medici, der auf seinen Bruder
+Francesco gefolgt war, jedoch ohne deshalb auf den
+Kardinalshut Verzicht zu leisten, war sechsunddreißig
+Jahre alt und seit fünfundzwanzig Jahren Kardinal;
+<a id="page-108"></a><span class="pgnum">108</span>er war im Alter von elf Jahren zu dieser hohen Würde
+erwählt worden. Die Regierung Francescos, der heute
+noch durch seine Liebe zu Bianca Capello berühmt ist,
+war durch alle Torheiten, zu welchen die Vergnügungssucht
+einen wenig charakterstarken Fürsten hinreißen
+kann, gekennzeichnet. Auch Ferdinand hatte sich einige
+Schwächen dieser Art vorzuwerfen. Seine Liebe zu der
+Laien-Schwester Virgilia war in ganz Toskana berühmt;
+doch besonders durch die Unschuld dieser ihrer Beziehungen
+wie man beifügen muß; ebenso wie man sagen
+muß, daß der düstere, heftige und leidenschaftliche
+Großherzog Francesco das Aufsehen, das seine Liebschaften
+erregten, wenig genug beachtete. Im ganzen
+Land sprach man nur von der großen Tugend der
+Schwester Virgilia. Die Ordensregeln, die sie als Laienschwester
+zu erfüllen hatte, erlaubten es ihr, etwa drei
+Viertel des Jahres bei der Familie zu verbringen; sie
+sah dann täglich den Kardinal Medici, wenn er in Florenz
+war. Zwei Dinge setzten diese der Wollust hingegebene
+Stadt an dieser Liebschaft eines reichen jungen Fürsten
+in Erstaunen, dem durch das Beispiel seines Bruders
+alles gestattet war: die junge schüchterne, nichts weniger
+als geistvolle Schwester Virgilia war durchaus nicht
+hübsch und der junge Kardinal hatte sie nie anders als
+in Gegenwart von zwei oder drei alten Damen aus der
+edlen Familie Respuccio gesehen, der diese sonderbare
+Geliebte eines jungen Prinzen von Geblüt angehörte.</p>
+
+<p>Großherzog Francesco starb am 19. Oktober 1587
+gegen Abend. Am 20. Oktober noch vor dem Mittag
+begaben sich die Adeligen des Hofs und die reichsten
+Kaufleute — denn man muß sich erinnern, daß die
+Medici ursprünglich Kaufleute gewesen waren; ihre Verwandten
+und die einflußreichsten Persönlichkeiten des
+<a id="page-109"></a><span class="pgnum">109</span>Hofs trieben noch immer Handel, wodurch diese Höflinge
+verhindert wurden, ganz so albern zu sein, wie
+ihresgleichen an den anderen zeitgenössischen Höfen — die
+ersten Hofherren und die reichsten Kaufleute begaben
+sich also am Morgen des 20. Oktober in das bescheidene
+Haus der Laienschwester Virgilia, die über diesen
+Andrang sehr erstaunt war.</p>
+
+<p>Der neue Großherzog wollte weise und verständig dem
+Glück seiner Untertanen nützlich sein; er wollte vor
+allem jede Intrige von seinem Hof verbannen. Zur Macht
+gelangt fand er, daß die Leitung des reichsten Frauen-Klosters
+seines Staates, das allen vornehmen Töchtern,
+die von ihren Eltern dem Glanz der Familie geopfert
+wurden, als Zuflucht diente, unbesetzt war; er zögerte
+nicht, der Frau, die er liebte, die Äbtissinwürde zu verleihen.</p>
+
+<p>Das Kloster von Santa Riparata gehörte zum Orden
+des heiligen Benedikt, dessen Regeln den Nonnen nicht
+gestatten, die Klausur zu verlassen. Zum großen Erstaunen
+des guten Volks von Florenz sah der Fürst-Kardinal
+die neue Äbtissin nicht mehr, aber in seiner
+Herzenszartheit, die von allen Frauen seines Hofs
+bemerkt und, wie man wohl sagen kann, allgemein getadelt
+wurde, gestattete er sich überhaupt niemals, eine
+Frau unter vier Augen zu sehn. Als diese Lebensführung
+offenbar war, verfolgte die Dienstbeflissenheit der Höflinge
+die Schwester Virgilia bis in ihr Kloster, und sie
+glaubten zu bemerken, daß sie trotz ihrer ungewöhnlichen
+Bescheidenheit gar nicht unempfindlich gegen diese
+Aufmerksamkeit war, der einzigen, die seine außerordentliche
+Tugend dem neuen Herrscher gestattete.</p>
+
+<p>Das Konvent von Santa Riparata mußte oft Angelegenheiten
+behandeln, die sehr zarter Natur waren: diese
+<a id="page-110"></a><span class="pgnum">110</span>jungen Mädchen aus den reichsten Familien von Florenz
+ließen sich nicht aus der so glänzenden Welt verbannen,
+aus dieser so reichen Stadt, die damals der Hauptsitz des
+europäischen Handels war, ohne einen Teil ihres Herzens
+bei dem zurückzulassen, was man sie zu verlassen zwang;
+oft erhoben sie laut Einspruch gegen die Ungerechtigkeit
+ihrer Eltern; manchmal suchten sie Tröstungen in
+der Liebe, und der Haß wie die Rivalität, die im Kloster
+herrschten, setzten die vornehme Gesellschaft von Florenz
+in Aufregung. Dieser Stand der Dinge war der Grund,
+daß die Äbtissin von Santa Riparata häufig genug
+Audienzen beim regierenden Großherzog erhielt. Um die
+Vorschriften des Heiligen Benedikt so wenig wie möglich
+zu übertreten, schickte der Großherzog der Äbtissin
+einen seiner Gala-Wagen, in dem zwei ihrer Hofdamen
+Platz nahmen, welche die Äbtissin bis in den Audienzsaal
+des weitläufigen großherzoglichen Schlosses in der
+Via larga, begleiteten. Diese beiden Damen, die Beweise
+der Klausur, wie man sie nannte, nahmen auf Lehnsesseln
+dicht an der Türe Platz, während die Äbtissin
+allein vorschritt, um mit dem Fürsten zu sprechen, der
+sie am äußersten Ende des Saales erwartete, so daß die
+‚Beweise der Klausur‘ nichts von dem, was während
+dieser Audienz gesagt wurde, hören konnten.</p>
+
+<p>Wieder andre Male begab sich der Fürst in die Kirche
+von Santa Riparata, wo man ihm das Chorgitter öffnete,
+damit die Äbtissin Seine Hoheit sprechen könne.</p>
+
+<p>Diese beiden Arten der Audienz paßten dem Großherzog
+keineswegs; sie hätten vielleicht einem Gefühl
+neue Kraft verleihen können, welches er vermindern
+wollte. Indessen ließ eine der Klosterangelegenheiten
+delikatester Natur nicht lange auf sich warten: Die
+Liebesverhältnisse der Schwester Felizia degli Almieri
+<a id="page-111"></a><span class="pgnum">111</span>störten den Frieden. Die Familie degli Almieri war eine
+der reichsten und mächtigsten in Florenz. Da zwei von
+den drei Brüdern, für deren Eitelkeit man die junge
+Felizia geopfert hatte, schon gestorben waren und der
+dritte keine Kinder hatte, bildete sich diese Familie ein,
+einer Strafe des Himmels ausgesetzt zu sein. Die Mutter
+und der überlebende Bruder gaben Felizia, trotz ihres
+Gelübdes der Armut, die Güter, deren man sie beraubt
+hatte, um der Eitelkeit der Brüder zu frönen, in Form
+von Geschenken zurück.</p>
+
+<p>Das Kloster von Santa Riparata zählte damals dreiundvierzig
+Nonnen und jede von ihnen hatte ihre Kammerfrau.
+Das waren junge, dem armen Adel entnommene
+Mädchen, die an einer zweiten Tafel speisten und jeden
+Monat vom Schatzmeister des Klosters einen Scudo für
+ihre Auslagen erhielten. Aber nach einem sonderbaren
+und für den Frieden des Klosters nicht sehr günstigen
+Brauch, konnte man nur bis zum Alter von dreißig
+Jahren Kammerfrau bleiben; an diesem Lebensabschnitt
+angelangt, verheirateten sich diese Mädchen oder wurden
+in Klöster niederen Ranges untergebracht.</p>
+
+<p>Die sehr vornehmen Damen von Santa Riparata
+durften bis zu fünf Kammerfrauen haben und die
+Schwester Felizia degli Almieri verlangte deren acht.
+Alle jene Damen des Klosters, welche man für galant
+hielt, und das waren fünfzehn oder sechzehn, unterstützten
+die Forderungen Felizias, während die sechsundzwanzig
+andren sich höchst entrüstet darüber zeigten
+und davon sprachen, einen Appell an den Fürsten zu
+richten.</p>
+
+<p>Die neue Äbtissin, die gute Schwester Virgilia, hatte
+lange nicht genug Geist, um diese ernste Angelegenheit
+zu entscheiden; es schien, daß beide Parteien von ihr verlangten,
+<a id="page-112"></a><span class="pgnum">112</span>die Sache zur Entscheidung dem Fürsten zu
+unterbreiten.</p>
+
+<p>Schon begannen bei Hof alle Freunde der Familie degli
+Almieri zu sagen, wie befremdlich es sei, daß man ein
+Mädchen von so hoher Geburt, noch dazu es ehemals so
+barbarisch von seiner Familie geopfert, nun wieder verhindern
+wolle, von seinem Reichtum Gebrauch zu
+machen wie es wünsche, besonders wo dieser Gebrauch
+so unschuldig wäre. Von der anderen Seite verfehlten
+die Familien der älteren oder weniger begüterten Nonnen
+nicht, zu antworten, es sei zum mindesten sonderbar, daß
+eine Nonne, die das Gelübde der Armut abgelegt habe,
+sich nicht mit fünf Kammerfrauen zufrieden geben
+könne.</p>
+
+<p>Der Großherzog wollte einen Klatsch, der die ganze
+Stadt in Aufregung versetzen konnte, kurz beendigen.
+Seine Minister drängten ihn, der Äbtissin von Santa
+Riparata eine Audienz zu gewähren, und da dieses Mädchen
+in seiner himmlischen Tugend und seinem bewundernswürdigem
+Charakter seinen ganz in die Dinge des
+Himmels vertieften Geist wahrscheinlich nicht zu der
+Kleinlichkeit eines so elenden Klatsches herablassen
+würde, müßte der Großherzog ihr eine Entschließung
+eröffnen, die sie nur auszuführen hätte. ‚Aber wie könnte
+ich diese Entschließung fassen,‘ sagte sich der verständige
+Fürst, ‚wenn ich doch durchaus nichts von den Gründen
+weiß, welche die beiden Parteien geltend machen
+können?‘ Übrigens wollte er sich auch nicht die mächtige
+Familie degli Almieri ohne hinreichende Gründe zum
+Feinde machen.</p>
+
+<p>Der intime Freund des Fürsten war Graf Buondelmonte,
+der ein Jahr jünger als er war. Sie kannten sich
+schon von der Wiege her, da sie die gleiche Amme gehabt
+<a id="page-113"></a><span class="pgnum">113</span>hatten, eine reiche schöne Bäuerin von Casentino. Graf
+Buondelmonte, reich, vornehm und einer der schönsten
+Männer der Stadt, war durch die außerordentliche
+Gleichgültigkeit und Kälte seines Charakters bekannt.
+Er hatte unverzüglich abgelehnt, Premierminister zu
+werden, was ihm Großherzog Ferdinand schon am Tage
+seiner Ankunft in Florenz angetragen hatte.</p>
+
+<p>‚Ich an Eurer Stelle, Fürst,‘ hatte ihm der Graf gesagt,
+‚würde sogleich abdanken; urteilt also selbst, ob ich der
+Minister des Fürsten sein und den Haß der halben Bevölkerung
+einer Stadt gegen mich entfesseln möchte, in
+der ich mein Leben verbringen will!‘</p>
+
+<p>Mitten in den Unannehmlichkeiten am Hofe, welche
+dem Herzog durch die Mißhelligkeiten im Kloster von
+Santa Riparata erwachsen waren, fiel ihm ein, daß er die
+Freundschaft des Grafen anrufen könnte. Dieser brachte
+sein Leben auf seinen Gütern zu, deren Pflege er mit
+viel Aufmerksamkeit leitete. Täglich widmete er der Jagd
+oder dem Fischen zwei Stunden, je nach der Jahreszeit.
+Niemals hatte man eine Geliebte bei ihm gesehn.
+Er wurde durch den Brief des Fürsten, der ihn nach
+Florenz rief, sehr verstimmt; er wurde es noch viel mehr,
+nachdem der Fürst ihm gesagt hatte, daß er ihn zum
+Vorsteher des Damenstifts von Santa Riparata ernennen
+wolle.</p>
+
+<p>„Wißt,“ sagte ihm der Graf, „daß ich beinahe vorzöge,
+Premierminister Eurer Hoheit zu sein. Der Frieden des
+Gemüts ist meine Leidenschaft, und was glaubt Ihr
+wohl soll aus mir inmitten all dieser wütenden Schäflein
+werden?“</p>
+
+<p>„Was meinen Blick auf Euch gelenkt hat, mein
+Freund, ist, daß man weiß, eine Frau hat niemals auch
+nur die Gänze eines Tags hindurch Eure Seele zu beherrschen
+<a id="page-114"></a><span class="pgnum">114</span>vermocht; ich bin weit entfernt davon, ebenso
+glücklich zu sein; es fehlte nicht viel, daß ich die
+gleichen Torheiten fortgesetzt hätte, die mein Bruder für
+Bianca Capello begangen hat.“</p>
+
+<p>Jetzt begann der Fürst ihm vertrauliche Mitteilungen
+zu machen, mit deren Hilfe er seinen Freund zu verführen
+gedachte. „Glaubt mir,“ sagte er ihm, „wenn ich
+dieses so sanfte Mädchen wiedersehe, das ich zur Äbtissin
+von Santa Riparata gemacht habe, kann ich nicht mehr
+für mich einstehn.“</p>
+
+<p>„Und was wäre dabei?“ sagte der Graf, „Wenn es
+Euch als ein Glück erscheint, eine Geliebte zu haben,
+warum solltet Ihr dann keine nehmen? Wenn ich keine
+habe, ist es, weil mich jede Frau durch ihre Klatscherei
+und durch die Kleinlichkeit ihres Charakters langweilt,
+schon nach dreitägiger Bekanntschaft.“</p>
+
+<p>„Ich,“ sagte der Großherzog, „ich bin Kardinal. Es
+ist wahr, daß der Papst mir die Erlaubnis erteilt hat,
+auf den Hut zu verzichten und mich in Anbetracht der
+Krone, welche mir unvermutet zukam, zu verheiraten;
+aber ich verlange gar nicht danach, in der Hölle zu
+brennen, und wenn ich mich verheirate, werde ich eine
+Frau nehmen, welche ich nicht liebe und von der ich
+Nachfolger für meine Krone verlangen werde, und nicht
+die üblichen Süßigkeiten der Ehe.“</p>
+
+<p>„Darauf habe ich nichts zu sagen,“ entgegnete der
+Graf, „ich kann nicht glauben, daß der Allmächtige
+Gott seinen Blick auf solche Kleinigkeiten herabsenkt.
+Macht aus Euren Untertanen glückliche und ehrliche
+Leute, wenn Ihr es könnt und habt im übrigen sechsunddreißig
+Geliebte.“</p>
+
+<p>„Ich will nicht einmal eine haben,“ entgegnete der
+Fürst lachend; „doch ich wäre dem sehr ausgesetzt,
+<a id="page-115"></a><span class="pgnum">115</span>wenn ich die Äbtissin von Santa Riparata wiedersähe.
+Das ist das vortrefflichste Mädchen der Welt und das
+unfähigste, nicht nur ein Kloster voll junger widerwillig
+der Welt entrissener Mädchen zu leiten, sondern
+selbst die verständigste Vereinigung alter und frommer
+Frauen.“</p>
+
+<p>Der Fürst hatte eine so tiefe Furcht, Schwester Virgilia
+wiederzusehn, daß der Graf davon gerührt wurde.
+‚Wenn er diesen vertrackten Eid bricht, den er geleistet
+hat, als der Papst ihm gestattete zu heiraten,<a class="sic" id="sicA-7" href="#sic-7">“</a> sagte er
+sich, <a class="sic" id="sicA-8" href="#sic-8">„</a>ist er auch fähig, für den Rest seines Lebens ein
+verstörtes Herz davonzutragen.‘ Am nächsten Morgen
+begab er sich ins Kloster von Santa Riparata, wo er mit
+der ganzen Neugier und allen Ehren, die dem Abgesandten
+des Fürsten gebühren, empfangen wurde.
+Ferdinand hatte einen seiner Minister ins Kloster gesandt,
+um der Äbtissin und den Nonnen die Erklärung zu überbringen,
+daß Staatsgeschäfte ihn verhinderten, sich mit
+ihrem Kloster zu beschäftigen und daß er seine Machtvollkommenheit
+für immer dem Grafen Buondelmonte
+übertragen habe, dessen Entschließungen unwiderruflich
+seien.</p>
+
+<p>Nachdem er mit der guten Äbtissin gesprochen hatte,
+war der Graf von dem schlechten Geschmack des Fürsten
+skandalisiert: sie hatte nicht einmal gesunden Menschenverstand
+und war nichts weniger als hübsch. Der Graf
+fand die Nonnen, welche Felizia degli Almieri verhindern
+wollten, zwei neue Kammerfrauen zu nehmen, sehr
+garstig. Er hatte Felizia ins Sprechzimmer rufen lassen.
+Sie ließ mit Dreistigkeit antworten, daß sie keine Zeit
+hätte, zu kommen, was den Grafen amüsierte, den bis
+dahin seine Mission recht gelangweilt hatte und der seine
+Gefälligkeit gegen den Fürsten bereute.
+</p>
+
+<p><a id="page-116"></a><span class="pgnum">116</span>Er sagte, daß er es ebenso liebe, mit den Kammerfrauen
+zu sprechen wie mit Felizia selber und ließ
+die fünf Kammerfrauen ins Sprechzimmer rufen. Nur
+drei stellten sich ein und erklärten im Namen ihrer
+Herrin, daß sie sich der Gesellschaft der zwei andren
+nicht berauben könnte, worauf der Graf von seinen
+Rechten als Vertreter des Fürsten Gebrauch machte und
+zwei seiner Leute ins Kloster eindringen hieß, die ihm
+die beiden widerstrebenden Kammerfrauen herbeibrachten;
+und er amüsierte sich eine Stunde hindurch
+über das Geschwätz dieser fünf hübschen jungen
+Mädchen. Die den größten Teil der Zeit über alle auf
+einmal sprachen. Erst hierbei, durch das was sie, ihnen
+selbst unbewußt, ihm verrieten, wurde dem Stellvertreter
+des Fürsten ein wenig klar, was im Kloster vorging. Nur
+fünf oder sechs Nonnen waren bejahrt, zwanzig etwa
+waren fromm, obgleich sie jung waren, aber die andern,
+jung und hübsch, hatten Liebhaber in der Stadt. In
+Wahrheit, sie konnten sie nur sehr selten sehen; aber wie
+machten sie es überhaupt möglich? Das wollte der Graf
+nicht die Kammerfrauen Felizias fragen, aber er versprach
+sich, es bald zu wissen, indem er Beobachter
+rings um das Kloster aufstellte.</p>
+
+<p>Er erfuhr zu seinem großen Erstaunen, daß es intime
+Freundschaften unter den Nonnen gab und vor allem dies
+die Ursache des Hasses und der inneren Zwistigkeiten
+war. So hatte zum Beispiel Felizia als intime Freundin
+Rodelinde di P**; Celia, nach Felizia die Schönste des
+Klosters, hatte die junge Fabiana zur Freundin. Jede
+dieser Damen hatte ihre adlige Kammerfrau, welche
+mehr oder weniger in Gunst stand. Zum Beispiel hatte
+Martona, die adlige Kammerfrau der Äbtissin, deren
+Gunst dadurch erworben, daß sie sich noch frömmer
+<a id="page-117"></a><span class="pgnum">117</span>als sie zeigte. Sie betete auf den Knien täglich fünf bis
+sechs Stunden zu Seiten der Äbtissin, aber diese Zeit
+wurde ihr sehr lang, wie die Kammerfrauen sagten.</p>
+
+<p>Der Graf erfuhr außerdem, daß Roderigo und Lancelotto
+die Namen zweier Liebhaber dieser Damen waren,
+anscheinend von Felizia und Rodelinde; aber er wollte
+keine direkte Frage stellen.</p>
+
+<p>Die Stunde, die er mit den Frauen verbrachte, erschien
+ihm nicht im geringsten lang, aber Felizia erschien sie
+endlos; sie fühlte sich durch diesen Stellvertreter des
+Fürsten in ihrer Würde beleidigt, der sie zu gleicher Zeit
+des Dienstes ihrer fünf Kammerfrauen beraubte. Sie
+konnte nicht an sich halten, und da sie von weitem den
+Lärm aus dem Sprechzimmer hörte, drang sie dort ein,
+obwohl ihre Würde ihr sagte, daß diese Art, aus einer
+ungeduldigen Laune heraus nun doch zu erscheinen,
+lächerlich aussehen konnte, nachdem sie die offizielle
+Einladung des Abgesandten des Fürsten ausgeschlagen
+habe. ‚Aber ich werde das Gackern dieses kleinen Herrn
+wohl parieren‘, sagte sich die herrische Felizia.</p>
+
+<p>Sie brach also in das Sprechzimmer ein, grüßte den
+Abgesandten des Fürsten sehr nachlässig und befahl
+einer ihrer Frauen ihr zu folgen.</p>
+
+<p>„Signora, wenn dies Mädchen Euch gehorcht, werde
+ich meine Leute ins Kloster eintreten lassen und sie
+werden es sofort wieder zurückführen.“</p>
+
+<p>„Ich werde sie bei der Hand nehmen; werden Eure
+Leute wagen, Gewalt anzuwenden?“</p>
+
+<p>„Meine Leute werden in dieses Sprechzimmer sie
+und Euch führen, Signora.“</p>
+
+<p>„Und mich?“</p>
+
+<p>„Und Euch selbst; und wenn es mir beliebt, werde
+ich Euch aus diesem Kloster fortführen lassen und
+<a id="page-118"></a><span class="pgnum">118</span>Ihr werdet in irgendeinem armen kleinen, auf dem
+Gipfel irgendeines Berges des Apennin gelegenen Klosters
+fortfahren an Eurem Heil zu arbeiten. Ich vermag
+dies und noch ganz andere Dinge zu tun.“</p>
+
+<p>Der Graf bemerkte, daß die fünf Kammerfrauen erbleichten;
+auch die Wangen Felizias färbten sich in
+einer leichten Blässe, die sie noch schöner machte.</p>
+
+<p>‚Dies ist sicherlich,‘ sagte sich der Graf, ‚die schönste
+Person, der ich in meinem Leben begegnet bin, man muß
+die Szene länger dauern lassen.‘ Sie dauerte in der Tat
+gegen dreiviertel Stunden. Felizia zeigte dabei einen Geist
+und vor allem ein so stolzes Wesen, daß der Stellvertreter
+des Fürsten sich sehr damit unterhielt. Gegen Ende der
+Unterredung hatte sich der Ton sehr gemildert und
+Felizia erschien dem Grafen minder schön. ‚Man muß
+ihr ihren Zorn wiedergeben‘, dachte er. Er erinnerte sie
+daran, daß sie das Gelübde des Gehorsams abgelegt habe
+und daß, wenn sie in Zukunft auch nur einen Schatten
+von Widerstand gegen die fürstlichen Befehle zeige,
+die er dem Kloster übermittle, er es für ihr Seelenheil
+nützlich halten werde, sie auf sechs Monate in das langweiligste
+Kloster des Apennin zu schicken.</p>
+
+<p>Daraufhin wurde Felizia prächtig vor Zorn. Sie
+sagte ihm, daß die heiligen Märtyrer mehr als dies durch
+die Barbarei der römischen Imperatoren gelitten hätten.</p>
+
+<p>„Ich bin nicht Imperator, Signora, und ebensowenig
+brachten die Märtyrer die ganze Gesellschaft in Aufruhr,
+um zwei Kammerfrauen mehr zu bekommen, wenn sie
+ohnedies fünf so liebenswürdige wie diese Fräuleins
+hatten.“ Er <a class="sic" id="sicA-9" href="#sic-9">größte</a> sie sehr kalt und ging fort, ohne
+ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, und sie blieb wütend
+zurück.</p>
+
+<p>Der Graf blieb in Florenz und kehrte gar nicht mehr
+<a id="page-119"></a><span class="pgnum">119</span>auf seine Güter zurück; er war neugierig, zu erfahren,
+was eigentlich im Kloster von Santa Riparata vor sich
+ging. Einige Kundschafter, die ihm die Polizei des
+Fürsten beistellte, in der Nähe des Klosters und rings
+um die unermeßlich großen Gärten postiert, die es
+beim Tor, das nach Fiesole führt, besitzt, hatten ihm
+bald alles, was er zu wissen wünschte, mitteilen können:
+Roderigo L**, einer der reichsten und lüderlichsten
+Jungen der Stadt, war Felizias Liebhaber, und ihre
+vertraute Freundin, die sanfte Rodelinde, war die Geliebte
+Lancelotto P***s, eines jungen Mannes, der sich
+in den Kriegen, die Florenz gegen Pisa führte, sehr ausgezeichnet
+hatte. Diese jungen Leute hatten große
+Schwierigkeiten zu überwinden, um in das Kloster einzudringen.
+Die Strenge war verdoppelt worden, oder vielmehr,
+die alte Freiheit war seit der Thronbesteigung
+des Großherzogs Ferdinand vollkommen unterdrückt
+worden. Die Äbtissin Virgilia wollte die Ordensregel in
+ihrer ganzen Strenge durchführen lassen, aber ihre
+Einsicht und ihr Charakter entsprachen diesen guten
+Absichten nicht, und die Kundschafter des Grafen berichteten
+ihm, daß kaum ein Monat verginge, ohne daß
+es Roderigo, Lancelotto und noch zwei oder drei junge
+Leute, welche Beziehungen im Kloster hatten, dahin
+brachten, ihre Geliebten zu sehen. Die Unermeßlichkeit
+der Gärten des Klosters hatte den Bischof genötigt, nur
+die Existenz von zwei Türen zu dulden, die auf den
+weiten Raum hinter der Schutzmauer im Norden der
+Stadt führten. Die pflichtlosen Nonnen — und diese
+bildeten weitaus die Mehrheit im Kloster — kannten
+diese Einzelheiten nicht mit solcher Gewißheit wie
+der Graf; aber sie vermuteten sie und nutzten die
+Existenz solchen Mißbrauchs, um den Maßnahmen
+<a id="page-120"></a><span class="pgnum">120</span>der Äbtissin nicht zu gehorchen, wenn es ihnen nicht
+paßte.</p>
+
+<p>Es war dem Grafen klar, daß es nicht leicht sein
+würde, die Ordnung in diesem Kloster wiederherzustellen,
+so lang eine solch schwache Frau wie die Äbtissin
+Virgilia es leitete. Er sprach in diesem Sinne zum Großherzog,
+der ihn zur äußersten Strenge aufforderte, aber
+gleichzeitig nicht im geringsten gewillt zu sein schien,
+seiner ehemaligen Freundin den Kummer anzutun, sie
+wegen Unfähigkeit in ein andres Kloster zu versetzen.</p>
+
+<p>Der Graf kehrte nach Santa Riparata zurück, ganz entschlossen,
+äußerste Strenge anzuwenden, um sich so
+bald wie möglich der Last zu entledigen, die er unvorsichtiger
+Weise auf sich genommen hatte. Felizia ihrerseits
+war noch gereizt über die Art, wie der Graf zu
+ihr gesprochen hatte, und fest entschlossen, die nächste
+Zusammenkunft auszunützen, den Ton wieder zu finden,
+der für den hohen Adel ihrer Familie und für die Stellung
+passend war, die sie in der Gesellschaft einnahm.
+Bei seiner Ankunft im Kloster ließ der Graf unverzüglich
+Felizia rufen, um sich des heikelsten Teils
+seiner Arbeit gleich zu entledigen. Felizia kam, schon
+vom lebhaftesten Zorn bewegt, in das Sprechzimmer,
+aber der Graf fand sie sehr schön; er war feiner Kenner
+in diesen Dingen. ‚Bevor wir dieses prachtvolle Antlitz
+verstören,‘ sagte er sich, ‚lassen wir uns Zeit, es gut anzuschauen.‘
+Felizia bewunderte unwillkürlich den verständigen
+kalten Ton dieses schönen Mannes, der in
+seinem vollständig schwarzen Kostüm, das er für die
+Funktion im Kloster schicklich fand, wirklich bemerkenswert
+aussah. ‚Ich glaubte, weil er über fünfunddreißig
+Jahre ist,‘ sagte sich Felizia, ‚daß er ein lächerlicher
+Alter sein würde, wie unsere Beichtväter, aber ich
+<a id="page-121"></a><span class="pgnum">121</span>finde statt dessen einen Mann, der wirklich dieses Namens
+würdig ist. Er trägt freilich nicht die auffallenden Kleider,
+die einen großen Teil der Verdienste Roderigos und
+vieler junger Leute, die ich gekannt habe, ausmachten;
+in der Menge der Goldstickerei und des Samtes ist er
+ihnen sehr untergeordnet; aber wenn er wollte, könnte
+er in einem Augenblick über diese Art des Verdienstes
+verfügen, während die andern, denke ich, recht viel Mühe
+hätten, die kluge, verständige und wirklich interessante
+Unterhaltung des Grafen Buondelmonte nachzuahmen.‘
+Felizia legte sich nicht genau Rechenschaft ab, was es
+war, das diesem großen, in schwarzem Sammet gekleideten
+Mann, mit dem sie sich schon seit einer Stunde
+von den verschiedensten Dingen unterhielt, einen eigenartigen
+Ausdruck gab.</p>
+
+<p>Obgleich er mit Sorgfalt alles vermied, was sie hätte
+reizen können, war der Graf weit davon entfernt, ihr
+in allem nachzugeben, so wie es nacheinander die Männer
+getan hatten, welche diesem schönen stolzen Mädchen
+näher getreten waren, von dem bekannt war, daß es
+Liebhaber habe. Weil der Graf gar keine Absichten hatte,
+war er einfach und natürlich mit ihr, nur hatte er bis
+dahin vermieden, die Dinge, die ihren Zorn erregen
+konnten, näher zu besprechen. Trotzdem war es notwendig,
+zu den Forderungen der stolzen Nonne zu
+kommen; man hatte bereits von der Unordnung im
+Kloster gesprochen.</p>
+
+<p>„In der Tat, Signora, was hier alles in Aufruhr versetzt,
+ist die in gewisser Hinsicht ja vielleicht gerechtfertigte
+Forderung, zwei Kammerfrauen mehr als die
+andern zu haben, welche eine der bemerkenswertesten
+Persönlichkeiten des Klosters stellt.“</p>
+
+<p>„Was hier alles in Aufruhr versetzt, ist die Charakterschwäche
+<a id="page-122"></a><span class="pgnum">122</span>der Äbtissin, welche uns mit einer gänzlich
+neuen Strenge behandeln will, von der man niemals einen
+Begriff gehabt hat. Es kann ja sein, daß es Klöster
+gibt, wo die Mädchen wirklich fromm sind, die Zurückgezogenheit
+lieben und davon geträumt haben, wirklich
+die Gelübde der Armut, des Gehorsams und dergleichen
+zu erfüllen, die man ihnen mit siebzehn Jahren
+abverlangt hat; was uns betrifft, haben uns unsre
+Familien hier untergebracht, um den ganzen Reichtum
+des Hauses unsren Brüdern zu lassen. Wir haben keine
+andre Berufung, als die Unmöglichkeit, zu entfliehn und
+anderswo als im Kloster zu leben, da unsre Väter uns
+nicht mehr in ihren Palästen aufnehmen wollen.
+Übrigens, als wir diese in den Augen der Vernunft so
+nichtigen Gelübde abgelegt haben, waren wir alle ein
+oder mehrere Jahre Pensionärinnen im Kloster gewesen
+und jede von uns nahm an, den gleichen Grad von Freiheit
+genießen zu dürfen, den wir damals an den Nonnen
+sahen. Und ich versichere Ihnen, Herr Vikar des Fürsten,
+die Türe der Mauer war bis Tagesanbruch offen und
+alle diese Damen sahen ihre Freunde unbehindert im
+Garten. Niemand dachte daran, diese Art des Lebens
+zu tadeln und wir alle glaubten, wenn wir erst Nonnen
+wären, ebensoviel Freiheit und ein ebenso glückliches
+Leben zu genießen, wie diejenigen unsrer Schwestern,
+denen der Geiz unsrer Eltern erlaubt hatte, zu heiraten.
+(In der ersten Unterhaltung hatte sie ihm ihr Verhältnis
+zu Roderigo und ihre andern Liebschaften — es waren
+drei — gestanden.) Es ist wahr, alles ist verändert, seit
+wir einen Fürsten haben, der fünfundzwanzig Jahre
+seines Lebens Kardinal war. Herr Vikar, Ihr könnt in
+dieses Kloster Soldaten oder sogar Dienerschaft, wie Ihr
+es neulich getan habt, eintreten lassen. Sie werden uns
+<a id="page-123"></a><span class="pgnum">123</span>Gewalt antun, wie Eure Diener meinen Frauen Gewalt
+angetan haben, und das aus dem würdigen und einzigen
+Grund, weil sie die Stärkeren waren. Aber Euer Stolz
+darf nicht glauben das geringste Recht über uns zu
+haben. Wir sind mit Gewalt in dieses Kloster gebracht
+worden, man hat uns Eide und Gelübde im Alter von
+sechzehn Jahren mit Gewalt abgezwungen und endlich
+ist auch die langweilige Art des Lebens, der Ihr uns
+unterwerfen wollt, nicht im geringsten die, welche wir
+an den Nonnen dieses Klosters sahen, zur Zeit als wir die
+Gelübde ablegten. Selbst wenn man diese Gelübde als
+gesetzmäßig anerkennen wollte, haben wir doch höchstens
+versprochen, so zu leben wie sie, und Ihr wollt
+uns leben lassen, wie sie niemals gelebt haben. Ich muß
+Euch gestehen, Herr Vikar, daß ich Wert auf die
+Achtung meiner Mitbürger lege. In den Zeiten der
+Republik hätte man diese unwürdige Unterdrückung nie
+geduldet, die an jungen Mädchen begangen wird, die
+nie andres Unrecht getan haben, als daß sie in wohlhabenden
+Familien geboren sind und Brüder haben. Ich habe
+die Gelegenheit gewünscht, diese Dinge in der Öffentlichkeit
+oder wenigstens zu einem verständigen Menschen
+zu sagen. Was die Zahl meiner Frauen betrifft, liegt
+mir sehr wenig dran. Zwei und nicht fünf oder sieben
+würden mir reichlich genügen; ich könnte darauf
+bestehn, sieben zu verlangen, bis man sich die Mühe gegeben
+hat, den unwürdigen Betrug, dessen Opfer wir
+sind, abzustellen, wovon ich Ihnen jetzt einiges mitgeteilt
+habe; doch weil Euer Anzug aus schwarzem Sammet
+Euch sehr gut steht, Herr Vikar des Fürsten, erkläre ich
+Euch, daß ich für dies Jahr auf das Recht verzichte,
+so viele Dienerinnen zu haben, wie ich bezahlen könnte.“</p>
+
+<p>Graf Buondelmonte ward sehr ergötzt durch diese
+<a id="page-124"></a><span class="pgnum">124</span>Aufständigkeit; er ließ sie andauern, indem er die
+lächerlichsten Einwände machte, die ihm nur einfallen
+mochten. Felizia antwortete mit entzückendem Feuer und
+Geist. Der Graf sah in ihren Augen das ganze Staunen,
+das dieses junge Mädchen von zwanzig Jahren empfand,
+als sie solche Albernheiten aus dem Mund eines scheinbar
+verständigen Mannes hörte.</p>
+
+<p>Der Graf verabschiedete sich von Felizia und ließ die
+Äbtissin rufen, der er weise Ratschläge gab; er berichtete
+dem Fürsten, daß die Unruhen im Kloster von Santa
+Riparata beigelegt wären, erhielt viel Lobsprüche für
+seine tiefe Weisheit und kehrte endlich auf seine
+Ländereien zurück. Aber öfters sagte er sich: ‚Es gibt
+also ein junges Mädchen, das wohl für das schönste
+Frauenzimmer der Stadt gelten würde, wenn es in der
+Welt lebte, und das nicht ganz wie eine Puppe urteilt.‘</p>
+
+<p>Doch im Kloster fanden große Ereignisse statt. Nicht
+alle Nonnen urteilten klar und scharf wie Felizia; aber
+fast alle jungen langweilten sich tödlich. Ihr einziger
+Trost war es, Karikaturen zu zeichnen und satirische
+Sonette auf einen Fürsten zu machen, der fünfundzwanzig
+Jahre lang Kardinal war und als er auf den Thron
+gelangte, nichts besseres zu tun wußte, als seine Geliebte
+nicht mehr zu sehen und sie in ihrer Eigenschaft als
+Äbtissin zu beauftragen, arme junge Mädchen zu ärgern,
+die der Geiz ihrer Eltern ins Kloster verstoßen hatte.</p>
+
+<p>Wie wir schon gesagt haben, war die sanfte Rodelinde
+die vertraute Freundin Felizias. Ihre Freundschaft
+schien sich zu verdoppeln, seit Felizia ihr gestanden
+hatte, daß seit ihren Unterhaltungen mit dem Grafen
+Buondelmonte, diesem ältern Mann, der schon über
+sechsunddreißig Jahre zählte, ihr Geliebter Roderigo,
+um es kurz zu sagen, ihr sehr langweilig erschien.
+<a id="page-125"></a><span class="pgnum">125</span>Felizia hatte sich in diesen ernsten Grafen verliebt; die
+endlosen Gespräche, die sie mit ihrer Freundin Rodelinde
+über diesen Gegenstand führte, zogen sich manchmal bis
+zwei Uhr, drei Uhr des Morgens hin. Nun sollte nach
+der Ordensregel des heiligen Benedikt, welche die
+Äbtissin in ihrer ganzen Strenge wieder einführen wollte,
+sich eine Stunde nach Sonnenuntergang jede Nonne in
+ihre Gemächer zurückziehn beim Ton einer bestimmten
+Glocke, welche die Retraite genannt wurde. Die gute
+Äbtissin, im Wunsche, ein gutes Beispiel zu geben,
+verfehlte nicht, sich beim Ton der Glocke in ihrem
+Zimmer einzuschließen und war des frommen Glaubens,
+daß alle Nonnen ihrem Beispiel folgten. Zu den hübschesten
+und reichsten dieser Damen gehörten die neunzehnjährige
+Fabiana, die vielleicht das leichtsinnigste
+Mädchen des ganzen Klosters war und ihre vertraute
+Freundin Celia; die eine wie die andre waren sehr in
+Zorn auf Felizia, welche sie, wie sie sagten, verachtete.
+Tatsache ist, daß Felizia, seit sie einen so interessanten
+Unterhaltungsstoff mit Rodelinde hatte, die Anwesenheit
+der andren Nonnen mit schlecht verhehlter oder vielmehr
+mit unverhüllter Ungeduld vertrug. Sie war die
+schönste, sie war die reichste, sie hatte unbestreitbar
+mehr Geist als die andern. Es hätte nicht einmal so
+viel gebraucht, um in einem Kloster, wo alles sich langweilte,
+einen großen Haß zu entzünden. In ihrem großen
+Leichtsinn erzählte Fabiana der Äbtissin, daß Felizia
+und Rodelinde manchmal bis zwei Uhr morgens im
+Garten blieben. Die Äbtissin hatte beim Grafen erwirkt,
+daß ein Soldat des Fürsten vor der Türe des Gartens,
+die auf die weite Fläche hinter der Nordmauer führte,
+Schildwache stand. Sie hatte ungeheure Schlösser an
+dieser Türe anbringen lassen und jeden Abend brachte
+<a id="page-126"></a><span class="pgnum">126</span>als Abschluß des Tagewerks der jüngste Gärtner, der
+ein sechzigjähriger Greis war, den Schlüssel dieser
+Türe der Äbtissin. Sogleich schickte die Äbtissin eine
+alte, den Nonnen verhaßte Pförtnerin, um das zweite
+Schloß der Türe zu schließen. Trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln
+war es ein großes Verbrechen in ihren
+Augen, bis zwei Uhr morgens im Garten zu bleiben.
+Sie ließ Felizia rufen und behandelte dieses stolze
+Mädchen, das jetzt die Erbin der ganzen Familie
+geworden war, in einer so hochfahrenden Weise, wie
+sie es sich vielleicht nicht erlaubt hätte, wäre sie nicht
+der Gunst des Fürsten sicher gewesen. Felizia war umso
+mehr verletzt durch die Bitterkeit dieser Vorwürfe, als
+sie ihren Geliebten Roderigo nur ein einziges Mal hatte
+kommen lassen, seit sie den Grafen kannte; und auch
+da nur, um sich über ihn lustig zu machen. In ihrer
+Entrüstung wurde sie beredsam, und wenn die gute
+Äbtissin sich auch weigerte, ihr die Angeberin zu nennen,
+gab sie doch Einzelheiten preis, mit deren Hilfe Felizia
+leicht erraten konnte, daß sie Fabiana diese Unannehmlichkeit
+verdanke.</p>
+
+<p>Sogleich beschloß Felizia sich zu rächen. Dieser
+Entschluß gab ihrer von Unglück gestärkten Seele die
+ganze Kraft zurück.</p>
+
+<p>„Wissen Sie, Mutter“, sagte sie zur Äbtissin, „daß
+ich einigen Mitleids würdig bin? Ich habe den Frieden
+der Seele völlig verloren. Nicht ohne tiefe Weisheit hat
+unser Gründer, der heilige Benedikt, vorgeschrieben,
+daß niemals ein Mann unter sechzig Jahren in unseren
+Klöstern eingelassen werden sollte. Der Herr Graf
+Buondelmonte, der großherzogliche Vertreter für die
+Verwaltung dieses Klosters, mußte lange Unterredungen
+mit mir haben, um mich von meinem törichten Einfall
+<a id="page-127"></a><span class="pgnum">127</span>abzubringen, die Zahl meiner Kammerfrauen zu vermehren.
+Er besitzt Weisheit, er vereint einen bewundernswürdigen
+Geist mit einer unendlichen Klugheit.
+Ich bin mehr als es einer Dienerin Gottes und des
+heiligen Benedikt geziemt von diesen großen Eigenschaften
+des Grafen, unsres Statthalters getroffen
+worden. Der Himmel hat meine große Eitelkeit bestrafen
+wollen: ich bin sterblich verliebt in den Grafen;
+auf die Gefahr, meine Freundin Rodelinde zu entrüsten,
+habe ich ihr diese Leidenschaft gestanden, die ebenso
+verbrecherisch wie unfreiwillig ist; und weil sie mir
+Ratschläge gibt und mich tröstet, weil es ihr sogar
+manchesmal gelingt, mir Kräfte gegen die Versuchung
+des Bösen zu verleihen, ist sie zuweilen sehr lange bei
+mir geblieben. Aber immer geschah es auf meinen
+Wunsch: ich fühlte zu gut, daß ich, sobald Rodelinde
+mich verlassen haben würde, an den Grafen denken
+müßte.“</p>
+
+<p>Die Äbtissin verfehlte nicht, eine lange Ermahnung
+an das verirrte Schaf zu richten und Felizia trug Sorge,
+Betrachtungen anzustellen, welche diese Sittenpredigt
+noch verlängerten.</p>
+
+<p>Von nun an wurde die Langweile Felizias und Rodelindes
+durch den Plan einer Rache verjagt, der ihre
+ganze Zeit ausfüllte.</p>
+
+<p>„Da Fabiana und Celia sich in hinterlistiger Absicht
+von der großen Hitze, die herrscht, im Garten erfrischt
+haben, ist es notwendig, daß die erste Zusammenkunft,
+die sie ihren Liebhabern gewähren, einen entsetzlichen
+Skandal verursache, der in dem Geist der ernsten
+Klosterdamen den auslöscht, welchen meine späten
+Spaziergänge im Garten verursacht haben. Am Abend
+des ersten Stelldicheins, das Fabiana und Celia Lorenzo
+<a id="page-128"></a><span class="pgnum">128</span>und Pierantonio gewähren, müssen sich Roderigo und
+Lancelotto zuvor hinter den behauenen Steinen, die sich
+auf dem Platz vor der Türe unsres Gartens befinden,
+verbergen. Roderigo und Lancelotto sollen nicht die
+Liebhaber dieser Damen töten, aber sie sollen ihnen fünf
+oder sechs kleine Stiche mit ihren Degen verabreichen,
+so daß sie ganz mit Blut bedeckt sind. In diesem Zustand
+wird ihr Anblick ihre Geliebten beunruhigen, und
+diese Damen werden an ganz andere Dinge denken, als
+mit ihnen Liebenswürdigkeiten auszutauschen.“</p>
+
+<p>Das Beste, was den beiden Freundinnen einfiel, um
+diesen heimtückischen Überfall zu veranstalten, war,
+daß Livia, die Kammerfrau Rodelindes, bei der Äbtissin
+um einen Monat Urlaub ansuchen sollte. Dieses
+sehr geschickte Mädchen wurde mit Briefen für Roderigo
+und Lancelotto ausgestattet. Sie überbrachte
+ihnen auch eine Summe Geldes, mit deren Hilfe sie
+Lorenzo und Pierantonio mit Spionen umgeben sollten.</p>
+
+<p>‚Nun‘, dachte sie, ‚werden die Ereignisse, welche
+unsre — Rodelindes und meine — Rache herbeiführt,
+den liebenswürdigen Grafen wieder ins Kloster bringen.
+So werde ich den Fehler wieder gut machen, der mir
+unterlief, als ich zu rasch auf die Mädchen verzichtete,
+die ich in meinen Dienst nehmen wollte. Ich wurde,
+ohne es zu wissen, durch die Versuchung verführt,
+einem Manne, der selbst so verständig ist, verständig
+zu erscheinen. Ich bedachte nicht, daß ich ihm
+dadurch jede Gelegenheit, wiederzukehren, nahm,
+um sein Amt als Vikar in unsrem Kloster auszuüben.
+Daher kommt es, daß ich mich jetzt so sehr
+langweile. Diese kleine Puppe von einem Roderigo, die
+mich manchmal belustigte, erscheint mir jetzt vollkommen
+lächerlich, und durch meine Schuld habe ich
+<a id="page-129"></a><span class="pgnum">129</span>diesen liebenswürdigen Grafen nicht wiedergesehen. Es
+ist nun an uns, an Rodelinde und mir, dahin zu wirken,
+daß unsre Rache eine solche Unordnung herbeiführt,
+daß seine Anwesenheit im Kloster oft notwendig wird.
+Unsre arme Äbtissin ist so wenig fähig, etwas geheimzuhalten,
+daß sie ihn wahrscheinlich auffordert,
+die Zusammenkünfte mit mir, die ich bei ihm erlangen
+werde, nach Möglichkeit einzuschränken und in
+welchem Fall diese ehemalige Geliebte des Großherzogs
+sich, wie ich nicht zweifle, die Mühe auflädt, diesem
+so sonderbaren und kalten Mann meine Erklärung zu
+übermitteln. Das wird eine komische Szene sein, die
+ihn vielleicht belustigt; denn, wenn ich mich nicht sehr
+täusche, läßt er sich nicht von allen Dummheiten zum
+Narren halten, die man uns predigt, um uns zu demütigen;
+nur hat er noch keine Frau gefunden, die
+seiner würdig wäre; und ich werde diese Frau sein oder
+das Leben dabei lassen.‘</p>
+
+<p>Livia kam täglich, um Felizia und Rodelinde über
+die Vorbereitungen zum Angriff gegen die Geliebten
+Celias und Fabianas Bericht zu erstatten. Die Vorbereitungen
+dauerten nicht weniger als sechs Wochen.
+Es handelte sich darum, die Nacht zu erraten, welche
+Lorenzo und Pierantonio wählen würden, um ins Kloster
+zu kommen, und seit dem neuen Regiment, das sich
+mit viel Strenge ankündigte, verdoppelte sich die Vorsicht
+bei Unternehmungen dieser Art. Überdies stieß
+Livia bei Roderigo auf große Schwierigkeiten. Er hatte
+die Lauheit Felizias wohl bemerkt, und verweigerte
+schließlich rund heraus, sie an Fabiana und Celia zu
+rächen, wenn sie nicht einwilligte, ihn mit eigener
+Stimme zu einer schöneren Zusammenkunft zu bestellen.
+Aber Felizia, die ganz mit dem Grafen Buondelmonte
+<a id="page-130"></a><span class="pgnum">130</span>beschäftigt war, wollte niemals darauf eingehen.
+„Ich begreife wohl,“ schrieb sie ihm in ihrer unvorsichtigen
+Offenheit, „daß man sich in die Verdammnis
+stürzt, um ein Glück zu genießen, aber sich zu verdammen,
+um einen ehemaligen Liebhaber, dessen Herrschaft
+beendet ist, wiederzusehen, ist etwas, das ich nie
+begreifen werde. Immerhin könnte ich wohl einwilligen,
+Euch noch einmal nachts zu empfangen, um Euch Vernunft
+hören zu lassen, aber es ist ja kein Verbrechen,
+was ich von Euch verlange. So könnt Ihr nicht übertriebene
+Forderungen stellen und Bezahlung begehren,
+als ob man von Euch verlangen würde, einen Unverschämten
+zu töten. Begeht nicht den Irrtum, den Liebhabern
+unsrer Feindinnen so ernste Wunden zuzufügen,
+daß sie verhindert wären, in den Garten zu
+kommen und all den Damen, die wir Sorge tragen
+werden, dort zu versammeln, als Schauspiel zu dienen.
+Ihr würdet dadurch unsrer Rache jeden Reiz nehmen
+und ich würde in Euch nur einen Leichtsinnigen sehen,
+der unwürdig ist, mir das geringste Vertrauen einzuflößen.
+Wißt nur, daß es besonders wegen dieses
+wesentlichen Fehlers ist, daß Ihr aufgehört habt, meine
+Freundschaft zu verdienen.“</p>
+
+<p>Diese Nacht der Rache, die mit soviel Sorgfalt vorbereitet
+war, kam endlich heran. Roderigo und Lancelotto,
+von mehreren ihrer Leute unterstützt, belauerten
+während des ganzen Tages die Handlungen Lorenzos
+und Pierantonios. Durch deren Indiskretion erlangten
+sie die Gewißheit, daß die beiden in der folgenden
+Nacht das Ersteigen der Mauer von Santa Riparata versuchen
+würden. Ein reicher Kaufmann, dessen Haus
+neben der Wachstube lag, welche die Schildwache vor
+der Gartentüre der Nonnen beistellte, verheiratete an
+<a id="page-131"></a><span class="pgnum">131</span>diesem Abend seine Tochter. Lorenzo und Pierantonio,
+als Domestiken eines reichen Hauses verkleidet, benutzten
+diesen Umstand, um gegen zehn Uhr abends
+der Wache ein Fäßchen Wein im Namen ihres Herrn
+darzubringen. Die Soldaten taten dem Geschmack Ehre
+an. Die Nacht war sehr dunkel, das Übersteigen der
+Klostermauer sollte gegen Mitternacht stattfinden; um
+elf Uhr abends sahen Roderigo und Lancelotto, die nahe
+der Tür versteckt waren, mit Vergnügen, wie die Schildwache
+der vorigen Stunde von einem halbbetrunkenen
+Soldaten abgelöst wurde, der nicht verfehlte, nach
+einigen Minuten einzuschlafen.</p>
+
+<p>Im Inneren des Klosters hatten Felizia und Rodelinde
+gesehen, daß ihre Feindinnen Fabiana und Celia
+sich im Garten unter den nahe der Umfassungsmauer
+stehenden Bäumen versteckten. Ein wenig vor Mitternacht
+wagte Felizia, die Äbtissin zu wecken. Sie hatte
+nicht wenig Mühe, bis zu ihr zu gelangen; sie hatte
+deren noch mehr, um ihr die Möglichkeit des Vergehens,
+das sie ihr anzeigte, verständlich zu machen.</p>
+
+<p>Und schließlich, nach einem Zeitverluste von mehr
+als einer halben Stunde, während deren letzten Minuten
+Felizia schon fürchtete, für eine Verleumderin
+gelten zu müssen, erklärte die Äbtissin: wenn selbst die
+Tatsache wahr sei, dürfte man einem Verbrechen nicht
+auch noch eine Verletzung der Regel des heiligen Benedikt
+hinzufügen. Und die Regel verbot ja durchaus,
+nach Sonnenuntergang den Garten zu betreten. Zum
+Glück erinnerte sich Felizia, daß man durch das
+Klosterinnere, ohne einen Fuß in den Garten zu setzen,
+auf das flache Dach eines kleinen niedrigen Gewächshauses
+gelangen konnte, das ganz in der Nähe der von
+der Schildwache bewachten Türe lag. Während Felizia
+<a id="page-132"></a><span class="pgnum">132</span>damit beschäftigt war, die Äbtissin zu überzeugen, versuchte
+Rodelinde ihre alte Tante zu wecken, die sehr
+fromm und Unterpriorin des Klosters war.</p>
+
+<p>Obwohl die Äbtissin sich bis auf die Terrasse der
+Orangerie mitziehen ließ, war sie weit entfernt davon,
+alles zu glauben, was Felizia ihr erzählte. Man kann
+sich nicht vorstellen, wie groß ihr Staunen, ihre Entrüstung,
+ihre Bestürzung war, als sie, neun oder zehn
+Fuß tiefer, zwei Nonnen bemerkte, welche sich zu dieser
+unerlaubten Stunde außerhalb ihrer Gemächer befanden;
+denn die vollkommen dunkle Nacht erlaubte
+ihr nicht gleich, Fabiana und Celia zu erkennen.</p>
+
+<p>„Gottlose Mädchen,“ schrie sie mit einer Stimme, die
+gebieterisch sein sollte, „unvorsichtige Unglückliche!
+Dient Ihr so der göttlichen Majestät? Bedenkt, daß
+der große heilige Benedikt, Euer Beschützer, Euch von
+der Höhe des Himmels betrachtet und schaudert, da er
+Euch gegen sein Gesetz freveln sieht. Kehrt in Euch
+ein und, da die Nachtglocke seit langem geläutet hat,
+eilt in Eure Gemächer zurück und betet, in Erwartung
+der Buße, die ich Euch morgen früh auferlegen werde.“</p>
+
+<p>Wer könnte die Bestürzung und den Kummer Celias
+und Fabianas schildern, als sie über ihren Köpfen, und
+so aus der Nähe die gebietende Stimme der gereizten
+Äbtissin hörten? Sie hörten auf zu sprechen und verhielten
+sich unbeweglich, als eine ganz andre Überraschung
+sowohl sie wie die Äbtissin traf. Diese Damen
+hörten kaum acht oder zehn Schritt entfernt auf der
+andern Seite der Tür den heftigen Lärm eines Degengefechts.
+Bald schlugen Schreie verwundeter Kämpfer
+herüber; einzelne von Schmerzen entpreßt. Welches
+Leid empfanden Celia und Fabiana, als sie die Stimmen
+Lorenzos und Pierantonios erkannten! Sie hatten Nachschlüssel
+<a id="page-133"></a><span class="pgnum">133</span>zur Gartentür, sie stürzten sich auf die
+Schlösser, und obgleich die Türe ungeheuer war, hatten
+sie doch die Kraft, sie in ihren Angeln zu drehen.
+Celia, welche die stärkere und ältere war, wagte als
+erste aus dem Garten zu treten. Sie kehrte einige Augenblicke
+später zurück, ihren Geliebten, Lorenzo, mit ihren
+Armen stützend, der gefährlich verwundet zu sein schien
+und sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Er
+ächzte bei jedem Schritt wie ein Sterbender, und wirklich,
+als er kaum zehn Schritt im Garten getan hatte,
+fiel er trotz der Anstrengungen Celias zu Boden und
+verschied alsbald. Celia, alle Vorsicht vergessend, rief
+ihn mit lauter Stimme an und warf sich schluchzend
+über seinen Körper, als er nicht mehr antwortete.</p>
+
+<p>All das geschah ungefähr zwanzig Schritt von dem
+Dach der kleinen Orangerie entfernt. Felizia begriff
+sehr wohl, daß Lorenzo tot oder sterbend war und es
+würde schwer sein, ihre Verzweiflung zu schildern. ‚Ich
+bin die Ursache von all dem,‘ sagte sie sich, ‚Roderigo
+hat sich hinreißen lassen und wird Lorenzo zu Tode
+getroffen haben. Er ist von Natur grausam, und seine
+Eitelkeit verzeiht niemals die Wunden, die man ihr
+schlägt: in mehreren Maskenzügen wurden die Pferde
+Lorenzos und die Livreen seiner Leute schöner gefunden
+als seine eigenen.‘ Felizia stützte die vor Entsetzen
+fast ohnmächtige Äbtissin.</p>
+
+<p>Einige Augenblicke später kehrte die unglückliche
+Fabiana, ihren Liebhaber Pierantonio stützend, in den
+Garten zurück; auch er war von tödlichen Stichen getroffen.
+Auch er war am Verscheiden, aber inmitten
+des allgemeinen Schweigens, das diese Szene des Entsetzens
+um sich gebreitet hatte, hörte man, wie er zu
+Fabiana sagte: „Es ist Don Cesare, der Malteser. Ich
+<a id="page-134"></a><span class="pgnum">134</span>habe ihn wohl erkannt; aber wenngleich er mich verwundet
+hat, trägt auch er meine Zeichen.“</p>
+
+<p>Don Cesare war der Vorgänger Pierantonios bei Fabiana
+gewesen. Diese junge Nonne schien jede Angst
+um ihren Ruf verloren zu haben: sie rief mit lauter
+Stimme die Madonna und ihre Schutzheilige zu Hilfe,
+sie rief auch ihre Kammerfrau, es kümmerte sie nicht,
+das ganze Kloster zu wecken; das kam daher, daß sie
+Pierantonio wirklich liebte. Sie wollte ihn pflegen, sein
+Blut stillen, seine Wunden verbinden. Diese wahrhafte
+Leidenschaft erregte das Mitleid vieler Nonnen. Man
+näherte sich dem Verwundeten, man eilte fort, um
+Binden zu holen. Er saß unter einem Lorbeerbaum und
+lehnte sich an ihn. Fabiana lag vor ihm auf den Knien
+und mühte sich um ihn. Er sprach noch gut und erzählte
+von neuem, daß es der Malteserritter Don Cesare
+war, der ihn verwundet hatte, — als er mit einem Male
+die Arme streckte und verschied.</p>
+
+<p>Celia unterbrach die Verzweiflungsausbrüche Fabianas.
+Einmal des Todes Pierantonios gewiß, schien
+sie ihn vergessen zu haben und erinnerte sich nur noch
+der Gefahr, die sie und ihre teure Fabiana umgab.
+Diese war ohnmächtig auf dem Leichnam ihres Geliebten
+zusammengebrochen. Celia richtete sie halb auf
+und schüttelte sie heftig, um sie wieder zu sich zu
+bringen.</p>
+
+<p>„Dein Tod und der meine sind gewiß, wenn du dich
+dieser Schwäche hingibst,“ sagte sie ihr mit leiser
+Stimme, indem sie den Mund an ihr Ohr preßte, um
+nicht von der Äbtissin gehört zu werden, die sie wohl
+unterschied, wie sie, an das Geländer des Daches gelehnt,
+kaum zehn oder zwölf Fuß über dem Garten
+stand: „Wach auf,“ sagte sie ihr, „denk an dein Heil
+<a id="page-135"></a><span class="pgnum">135</span>und an deine Sicherheit! Du wirst viele Jahre in einein
+dunklen, ekelhaften Loch gefangen sein, wenn du dich
+jetzt noch länger deinem Schmerz überläßt.“</p>
+
+<p>In diesem Augenblick näherte sich die Äbtissin,
+welche in den Garten hinabsteigen wollte, auf den Arm
+Felizias gestützt, den beiden unglücklichen Nonnen.</p>
+
+<p>„Was Euch betrifft, Signora,“ sagte ihr Celia so
+stolz und fest, daß es selbst der Äbtissin Eindruck
+machte, „wenn Ihr den Frieden liebt und die Ehre
+des Klosters Euch teuer ist, so werdet Ihr zu schweigen
+wissen und nicht aus all dem einen Klatsch beim Großherzog
+machen. Auch Ihr habt geliebt, man glaubt
+allgemein, daß Ihr ehrbar gewesen seid und das verleiht
+Euch eine Überlegenheit über uns; aber wenn Ihr
+ein Wort von dieser Angelegenheit dem Großherzog
+sagt, wird sie bald das einzige Gespräch der Stadt bilden
+und man wird sagen: die Äbtissin von Santa Riparata,
+die in den früheren Jahren ihres Lebens die Liebe
+kannte, hat nicht genug Festigkeit, um die Nonnen ihres
+Klosters zu leiten. Ihr werdet uns verderben, Signora,
+aber Ihr werdet Euch selbst noch sicherer als uns verderben.
+Gesteht, Signora,“ sagte sie der Äbtissin, welche
+Seufzer und verwirrte Ausrufe und leise Schreie des
+Staunens ausstieß, „daß Ihr selbst in diesem Augenblick
+nicht wißt, was für Euer Heil und für das des
+Klosters zu tun ist!“</p>
+
+<p>Und weil die Äbtissin verwirrt und stumm blieb,
+fügte Celia hinzu: „Vor allem müßt Ihr schweigen
+und sodann ist das Wichtigste, diese beiden Leichen
+sogleich von hier weit weg zu bringen, welche unser
+Verderben bedeuten, unsres und Eures, wenn man sie
+entdeckt.“</p>
+
+<p>Die arme Äbtissin seufzte tief und war so verstört,
+<a id="page-136"></a><span class="pgnum">136</span>daß sie nicht einmal zu antworten vermochte. Sie hatte
+nicht mehr Felizia neben sich, denn diese hatte sich
+klüglich entfernt, nachdem sie die Vorsteherin zu den
+beiden unglücklichen Nonnen hingeführt hatte, von
+denen sie unter keinen Umständen erkannt werden
+wollte.</p>
+
+<p>„Meine Töchter, tut alles, was Euch notwendig, alles,
+was Euch passend erscheint,“ sagte endlich die unglückliche
+Äbtissin mit einer Stimme, die vor Schauder
+über die Lage, in der sie sich befand, ganz gebrochen
+war. „Ich werde unsre Schande verhehlen, aber wisset,
+daß die Augen der göttlichen Gerechtigkeit immer offen
+sind für unsre Sünden.“</p>
+
+<p>Celia schenkte den Worten der Äbtissin gar keine
+Aufmerksamkeit.</p>
+
+<p>„Wisset Schweigen zu bewahren, Signora, das ist
+alles, was man von Euch verlangt,“ wiederholte sie
+mehrere Male, indem sie sie unterbrach. Dann wandte
+sie sich an Martona, die Vertraute der Äbtissin, welche
+eben hinzutrat: „Helft mir, liebe Freundin! Es gilt die
+Ehre des ganzen Klosters, es gilt die Ehre und das
+Leben der Äbtissin, denn wenn sie spricht, verdirbt sie
+nicht nur uns; unsre edlen Familien werden uns nicht
+ungerächt verkommen lassen.“ Fabiana schluchzte auf
+den Knien, an einen Olivenbaum gelehnt, und war
+außerstande, Celia und Martona zu helfen.</p>
+
+<p>„Zieh dich in deine Gemächer zurück“, sagte ihr
+Celia. „Denk vor allem daran, die Blutspuren, die
+sich vielleicht an deinen Kleidern finden können, verschwinden
+zu lassen. In einer Stunde werde ich mit
+dir weinen.“</p>
+
+<p>Felizia war in Verzweiflung. Obgleich dieses Jahrhundert
+zu nahe den wahren Gefahren lebte, als daß
+<a id="page-137"></a><span class="pgnum">137</span>es sich durch eine übermäßige Zartheit hätte auszeichnen
+können, vermochte sie sich doch nicht zu verhehlen,
+daß sie es war, die diese ganze Geschichte angezettelt
+hatte. Auf dem Dache der Orangerie konnte
+sie nur schlecht verstehen, was Pierantonio sagte, überdies
+sah sie, daß die Türe ganz offen stand: sie litt
+Todesangst, daß Roderigos Unvorsichtigkeit und die unbestimmte
+Hoffnung auf ein Stelldichein ihn dazu verführen
+könnten, sich zu zeigen; denn seit er nicht mehr
+geliebt wurde, war er, trotz all seiner natürlichen Leichtfertigkeit,
+ein leidenschaftlicher Liebhaber geworden.</p>
+
+<p>Die vor Grauen erstarrte Äbtissin war unbeweglich
+geblieben und widersetzte sich auch den Bitten Felizias,
+welche sie beschwor, in den Garten hinabzusteigen;
+aber endlich umschlang Felizia, die durch ihre Gewissensvorwürfe
+der Tollheit nahe war, mit beiden
+Armen die Äbtissin, und zwang sie fast mit Gewalt,
+die sieben oder acht Stufen hinabzusteigen, die von
+der Dachterrasse der Orangerie in den Garten führten.
+Felizia beeilte sich, die Äbtissin der Sorge der erstbesten
+Nonnen, die sie trafen, zu übergeben. Sie eilte
+zum Tor, zitternd vor Furcht, dort Roderigo zu
+treffen<a href="#FN-1" id="FNA-1"><sup>1</sup></a>; sie fand nichts, als das blöde Gesicht der
+endlich durch so viel Lärm aus tiefer Betrunkenheit
+erwachten Schildwache, welche, die Flinte in der Hand,
+diese schwarzen Figuren betrachtete, die sich im Garten
+bewegten. Felizias Absicht war, die Türe zu schließen,
+aber sie bemerkte, daß der Soldat sie starr anblickte.</p>
+
+<p>‚Wenn ich das Tor schließe,‘ sagte sie sich, beschwert
+von ihren Gedanken und fast verletzt davon, daß sie
+<a id="page-138"></a><span class="pgnum">138</span>sonst niemand sah, ‚wird er sich an mein Gesicht erinnern
+und wird mich kompromittieren können.‘</p>
+
+<p>Dieser Gedanke gab ihr Klarheit. Sie glitt in einen
+dunklen Teil des Gartens zurück, und suchte von dort
+aus zu sehen, wo Rodelinde war; endlich entdeckte sie
+sie bleich und halbtot an einen Olivenbaum gelehnt,
+packte sie an der Hand und alle beide liefen in aller
+Hast in ihre Gemächer zurück.</p>
+
+<p>Celia trug mit Hilfe Martonas zuerst den Leichnam
+ihres Geliebten und dann den Pierantonios in die Straße
+der Goldarbeiter, die zehn Minuten Wegs von dem Tor
+des Gartens entfernt lag. Celia und ihre Gefährtin
+waren so glücklich, von niemand erkannt zu werden.
+Durch eine ganz besondere Fügung, ohne die all ihre
+weise Umsicht vergebens gewesen wäre, hatte sich der
+Soldat, der Wachposten vor dem Gartentor war, auf
+einen etwas entfernten Stein gesetzt und schien von
+neuem zu schlafen. Davon hatte sich Celia zuerst vergewissert,
+ehe sie es unternahm, die Leichen hinauszuschaffen.
+Bei der Rückkehr von dem zweiten Gang
+erschraken aber Celia und ihre Begleiterin heftig. Die
+Nacht war schon etwas weniger finster geworden, es
+mochte zwei Uhr des Morgens sein; sie sahen ganz
+deutlich drei Soldaten vor der Türe des Gartens stehen,
+und, was noch weit schlimmer war: diese Tür schien
+geschlossen zu sein.</p>
+
+<p>„Das ist die erste Dummheit unsrer Äbtissin“, sagte
+Celia zu Martona. „Sie wird sich erinnert haben, daß
+die Regel des heiligen Benedikt will, daß die Türe des
+Gartens verschlossen sei. Wir werden zu unsren Eltern
+flüchten müssen, und bei der Strenge dieses düstren
+Fürsten, den wir haben, ist es wohl möglich, daß ich
+bei dieser Sache das Leben lasse. Du, Martona, bist in
+<a id="page-139"></a><span class="pgnum">139</span>nichts schuldig; du hast auf meinen Befehl geholfen,
+die Leichen fortzubringen, deren Anwesenheit im Garten
+das Kloster entehren konnte. Knien wir hinter diesen
+Steinen nieder.“</p>
+
+<p>Zwei Soldaten kamen an ihnen vorbei und gingen von
+dem Gartentor in ihre Wachstube zurück. Celia bemerkte
+zu ihrer Freude, daß sie fast vollständig betrunken
+waren. Sie unterhielten sich, aber der, welcher auf Wache
+gewesen war, man konnte ihn an seiner hohen Gestalt
+leicht erkennen, erzählte seinem Kameraden gar nichts
+von den Ereignissen dieser Nacht; und tatsächlich sagte
+er im Prozeß, welcher später geführt wurde, nur aus,
+daß prächtig gekleidete Bewaffnete sich wenige Schritte
+von ihm entfernt geschlagen hatten. In der tiefen
+Dunkelheit hätte er sieben oder acht Mann unterscheiden
+können; aber er hätte sich wohl gehütet, sich in ihren
+Streit zu mischen; darauf wären sie alle in den Garten
+des Klosters eingetreten.</p>
+
+<p>Als die beiden Soldaten vorüber waren, näherten sich
+Celia und ihre Gefährtin der Türe des Gartens und
+fanden sie zu ihrer großen Freude nur angelehnt. Diese
+weise Vorsicht war das Werk Felizias. Als sie die
+Äbtissin verlassen hatte, um nicht von Celia und Fabiana
+erkannt zu werden, war sie zu der Gartentür gelaufen,
+die ganz offen stand<a href="#FN-2" id="FNA-2"><sup>2</sup></a>. Sie hatte tödliche Angst,
+daß Roderigo, der ihr in diesem Augenblick Abscheu
+einflößte, die Gelegenheit ausnützen und in den Garten
+eintreten könnte, um sie zu sehen. Da sie seine Unvorsichtigkeit
+und Verwegenheit kannte und befürchtete,
+daß er sie bloßstellen möchte, um sich wegen
+des Nachlassens ihrer Gefühle, das ihm nicht unbekannt
+<a id="page-140"></a><span class="pgnum">140</span>war, zu rächen, hatte sich Felizia bei der Tür am Boden
+hinter den Bäumen verborgen. Sie hatte alles gehört,
+was Celia zu der Äbtissin und nachher zu Martona gesagt
+hatte, und sie war es, welche die Türe des Gartens
+zugelehnt hatte, als sie wenige Augenblicke, nachdem
+Celia und Martona den zweiten Leichnam fortgebracht
+hatten, die Soldaten kommen hörte, die den Wachposten
+ablösten.</p>
+
+<p>Felizia sah, wie Celia die Türe mit ihrem Nachschlüssel
+wieder schloß und sich darauf entfernte. Dann
+erst verließ sie den Garten. „Also das ist diese Rache,“
+sagte sie sich, „von der ich mir soviel Vergnügen versprochen
+hatte.“ Sie verbrachte den Rest der Nacht mit
+Rodelinde und versuchten die Ereignisse zu enträtseln, die
+eine so tragische Wendung herbeigeführt haben mochten.</p>
+
+<p>Zum Glück kehrte ihre Kammerfrau schon ganz früh
+am nächsten Morgen zurück und brachte ihr einen
+langen Brief Roderigos. Er und Lancelotto hatten sich
+aus Bravour nicht von bezahlten Mördern helfen lassen
+wollen, wie es damals in Florenz allgemein üblich war.</p>
+
+<p>Nur sie beide hatten Lorenzo und Pierantonio angegriffen.
+Der Zweikampf hatte sehr lange gedauert, weil
+Roderigo und Lancelotto, dem erhaltenen Befehl getreu,
+sich standhaft zurückgehalten hatten, um ihren
+Gegnern nur leichte Wunden zuzufügen, und sie hatten
+ihnen wirklich nur Degenstöße gegen die Arme beigebracht
+und waren vollkommen sicher, daß sie an
+diesen Wunden nicht sterben konnten. Aber als sie sich
+gerade zurückziehen wollten, hatten sie zu ihrem großen
+Erstaunen einen wütenden Raufbold sich auf Pierantonio
+stürzen gesehen. An den Schreien, die er beim
+Angriff ausstieß, hatten sie deutlich den Malteserritter
+Don Cesare erkannt. Als sie sich nun zu dritt gegen
+<a id="page-141"></a><span class="pgnum">141</span>zwei noch dazu verwundete Männer sahen, beeilten sie
+sich, zu fliehen und am nächsten Morgen gab es großes
+Staunen in Florenz, als man die Leichen dieser beiden
+jungen Männer entdeckte, welche unter der reichen und
+eleganten Jugend der Stadt den ersten Rang einnahmen.
+Dieser Rang bewirkte, daß man von ihrem Ende Notiz
+nahm, denn unter der lockeren Herrschaft Francesco,
+auf welchen der strenge Ferdinand gefolgt war, hatte
+Toskana einer Provinz Spaniens geglichen und man
+zählte jedes Jahr mehr als hundert Morde in der
+Stadt. Die Erörterungen, welche die vornehme Gesellschaft
+bewegten, der Lorenzo und Pierantonio angehört
+hatten, drehten sich um die Frage, ob sie einander im
+Zweikampf erschlagen hätten oder als Opfer irgendeiner
+Rache gefallen seien.</p>
+
+<p>Am Morgen nach diesem großen Ereignis war alles
+im Kloster ruhig. Die große Mehrzahl der Nonnen hatte
+keine Ahnung von dem, was vorgefallen war. Seit Tagesanbruch
+und noch bevor die Gärtner kamen, hatte Martona
+die Erde an den Stellen, wo sie mit Blut befleckt
+war, umgegraben, um die Spuren von dem, was geschehen
+war, zu zerstören. Dieses Mädchen, das selbst
+einen Liebhaber hatte, führte mit viel Intelligenz und
+besonders ohne irgend etwas der Äbtissin zu sagen die
+Befehle Celias aus. Die machte ihr ein hübsches Diamantkreuz
+zum Geschenk. Martona, welche ein sehr einfaches
+Mädchen war, bedankte sich dafür und sagte:</p>
+
+<p>„Es gibt eine Sache, die ich allen Diamanten der
+Welt vorziehen würde. Seit diese neue Äbtissin ins
+Kloster gekommen ist, habe ich, obgleich ich mich, um
+ihre Gunst zu erlangen, zu jedem Dienst erniedrigt habe,
+niemals von ihr erreichen können, daß sie mir auch
+nur die kleinste Erleichterung gewährt hätte, um Giuliano
+<a id="page-142"></a><span class="pgnum">142</span>R**, der mein Freund ist, zu sehen. Diese
+Äbtissin wird unser aller Unglück sein. Schließlich
+sind es schon mehr als vier Monate, seit ich Giuliano
+gesehen habe, und es wird damit enden, daß er
+mich vergißt. Die vertraute Freundin der gnädigen
+Signora Fabiana gehört doch zu den acht Schwestern-Pförtnerinnen;
+ein Dienst verlangt den andern. Könnte
+Signora Fabiana nicht eines Tages, wenn sie Wache
+an der Türe haben wird, mir erlauben, fortzugehen, um
+Giuliano zu sehen oder ihm erlauben, zu kommen?“</p>
+
+<p>„Ich werde mein möglichstes tun,“ sagte Celia, „aber
+die große Schwierigkeit, die Fabiana mir einwerfen
+wird, ist, daß die Äbtissin Eure Abwesenheit bemerken
+wird. Ihr habt sie zu sehr daran gewöhnt, Euch unaufhörlich
+in der Nähe zu haben. Versucht, Euch hie
+und da zu entfernen. Ich bin sicher, wenn Ihr Euch
+an jede andere angeschlossen hättet als an die Frau
+Äbtissin, würde es Fabiana gar keine Schwierigkeit
+machen, Euren Wunsch zu erfüllen.“</p>
+
+<p>Nicht ohne Plan sprach Celia so.</p>
+
+<p>„Du verbringst dein Leben damit, deinen Geliebten
+zu beweinen“, sagte sie zu Fabiana, „und denkst nicht
+an die entsetzliche Gefahr, die uns droht. Unsere Äbtissin
+ist so unfähig zu schweigen, daß früher oder
+später das, was geschehen ist, unsrem strengen Großherzog
+zur Kenntnis kommen wird. Er hat die Ideen
+eines Mannes, der fünfundzwanzig Jahre Kardinal war,
+auf den Thron mitgebracht. Unser Verbrechen ist eins
+der größten, das man in den Augen der Religion begehen
+kann; mit einem Wort: das Leben der Äbtissin
+ist unser Tod.“</p>
+
+<p>„Was willst du sagen?“ fragte Fabiana, sich die
+Tränen trocknend.
+</p>
+
+<p><a id="page-143"></a><span class="pgnum">143</span>„Ich will sagen, daß du von deiner Freundin,
+Vittoria Ammanati ein wenig von dem berühmten Gift
+von Perugia erlangen mußt, daß ihre Mutter, die ja
+selbst von ihrem Gatten vergiftet worden ist, ihr sterbend
+gab. Ihre Krankheit hatte mehrere Monate gedauert
+und wenige hatten an Gift geglaubt; genau so
+wird es bei unsrer Äbtissin sein.“</p>
+
+<p>„Dein Gedanke entsetzt mich,“ rief die sanfte Fabiana.</p>
+
+<p>„Ich zweifle nicht an deinem Entsetzen, und ich
+würde es teilen, wenn ich mir nicht sagte: das Leben
+der Äbtissin ist der Tod Fabianas und Celias. Bedenke
+doch: sie ist vollkommen unfähig, zu schweigen; ein
+Wort von ihr genügt, um den Kardinal-Großherzog zu
+überzeugen, der nichts so verabscheut wie jene Verbrechen,
+die durch die alte Freiheit, die in unsern armen
+Klöstern herrschte, verursacht wurden. Deine Cousine
+steht in nahen Beziehungen zu Martona, die einem
+Zweig ihrer Familie angehört, der durch den Zusammenbruch
+von 1584 ruiniert wurde. Martona ist
+sterblich verliebt in einen schönen Seidenweber, namens
+Giuliano: es ist notwendig, daß deine Cousine ihr als
+ein Schlafmittel, geeignet, die unbequeme Aufmerksamkeit
+der Äbtissin zu beseitigen, dieses Gift aus Perugia
+gibt, das den Tod in sechs Monaten herbeiführt.“</p>
+
+<p>Als Graf Buondelmonte wieder Gelegenheit fand, bei
+Hof zu erscheinen, beglückwünschte ihn Großherzog
+Ferdinand zu der mustergültigen Ruhe, die in dem
+Kloster von Sante Riparata herrschte. Dieser Ausspruch
+des Fürsten veranlaßte den Grafen, sich sein
+Werk anzusehen. Man kann sich sein Erstaunen vorstellen,
+als die Äbtissin ihm von dem Doppelmord erzählte,
+dessen Ende sie mit angesehen hatte. Der Graf
+<a id="page-144"></a><span class="pgnum">144</span>merkte wohl, daß die Äbtissin Virgilia ganz unfähig
+war, ihm die geringste Auskunft über den Grund dieses
+Doppelverbrechens zu geben. ‚Außer Felizia‘, sagte er
+sich, ‚mit ihrem klaren Kopf, dessen Logik mich vor
+sechs Monaten bei meinem ersten Besuch so in Verlegenheit
+brachte, gibt es hier niemand, der mir Aufschluß
+über die fragliche Angelegenheit geben könnte.
+Aber wird sie sprechen wollen, eingenommen wie sie
+ist gegen die Ungerechtigkeit der Gesellschaft und der
+Familien in der Frage der Nonnen?‘</p>
+
+<p>Die Ankunft des großherzoglichen Vertreters im
+Kloster hatte Felizia mit maßloser Freude erfüllt. Endlich
+sah sie diesen unvergleichlichen Mann wieder, der
+die einzige Ursache all ihrer Handlungen seit sechs Monaten
+war! Durch eine entgegengesetzte Wirkung hatte
+die Ankunft des Grafen Celia und ihre Freundin, die
+junge Fabiana, in den tiefsten Schrecken versetzt.</p>
+
+<p>„Deine Bedenken werden uns zugrunde gerichtet
+haben,“ sagte Celia zu Fabiana. „Die Äbtissin ist zu
+schwach, als daß sie nicht gesprochen haben sollte.
+Und jetzt ist unser Leben in den Händen des Grafen.
+Zwei Auswege bleiben uns: die Flucht ergreifen! Aber
+wovon werden wir leben? Der Geiz unsrer Väter wird
+den Verdacht des Verbrechens, der über uns schwebt,
+als Ausflucht benutzen, um uns das Brot zu verweigern.
+Ehemals, als Toskana nur eine Provinz Spaniens war,
+konnten sich die unglücklichen verfolgten Toskaner
+nach Frankreich flüchten. Aber der Großherzog-Kardinal
+will das spanische Joch abwerfen. Unmöglich
+für uns, eine Zuflucht zu finden; dahin haben uns
+deine kindischen Bedenken geführt, meine arme Freundin.
+Wir werden deshalb nicht weniger genötigt sein,
+das Verbrechen zu begehen, denn Martona und die Äbtissin
+<a id="page-145"></a><span class="pgnum">145</span>sind die einzigen gefährlichen Zeugen dessen, was
+in jener verhängnisvollen Nacht geschehen ist. Die Tante
+Rodelindes wird nichts sagen; sie wird nicht die Ehre
+ihrer Verwandten, die ihr so teuer ist, bloßstellen
+wollen. Martona, die das angebliche Schlafmittel der
+Äbtissin verabreicht hat, wird sich wohl hüten, zu
+sprechen, sobald wir ihr gesagt haben, daß dieses
+Schlafmittel ein Gift war. Außerdem ist sie ein gutes
+Mädchen und leidenschaftlich in ihren Giuliano verliebt.“</p>
+
+<p>Es währte zu lang, wollte man die geistvolle Unterhaltung
+wiedergeben, die Felizia mit dem Grafen führte.
+Ihr war immer der Fehler gegenwärtig, den sie begangen
+hatte, als sie zu schnell in der Angelegenheit
+der beiden Kammerfrauen nachgab. Die Folge dieses
+Übermaßes von Gutherzigkeit war, daß der Graf sechs
+Monate hatte verstreichen lassen, ohne im Kloster zu
+erscheinen. Felizia gab sich das Versprechen, nicht
+wieder in den gleichen Irrtum zu verfallen. Der Graf
+hatte sie mit allergrößter Artigkeit bitten lassen, ihm
+eine Unterredung im Sprechzimmer zu gewähren. Diese
+Einladung brachte Felizia außer sich. Es war nötig,
+daß sie sich erinnerte, was sie ihrer Würde als Frau
+schuldig sei, um die Unterredung auf den nächsten Tag
+zu verschieben. Aber als sie in dieses Sprechzimmer
+eintrat, wo der Graf allein war, fühlte sich Felizia von
+einer ihr ganz fremden Schüchternheit ergriffen, obwohl
+sie durch ein Gitter ungeheurer Eisenstäbe von
+ihm getrennt war. Ihr Erstaunen war außerordentlich;
+sie bereute den Einfall tief, der ihr einstmals so geschickt
+und gefällig erschienen war. Wir sprechen von
+dem Geständnis ihrer Leidenschaft für den Grafen, das
+sie damals der Äbtissin gemacht hatte, damit diese es
+<a id="page-146"></a><span class="pgnum">146</span>dem Grafen wiedererzähle. Damals war sie weit davon
+entfernt, ihn so zu lieben wie jetzt. Es war ihr vergnüglich
+erschienen, das Herz des ernsten Vertreters anzugreifen,
+den der Herzog dem Kloster gegeben hatte. Jetzt
+waren ihre Gefühle ganz anders. Ihm zu gefallen, war
+notwendig für ihr Glück; wenn ihr dies nicht gelänge,
+würde sie unglücklich sein, und wie würde ein so ernster
+Mann die seltsame Eröffnung aufnehmen, die ihm die
+Äbtissin machen würde? Es könnte leicht geschehen,
+daß er sie indezent fände, und dieser Gedanke war
+eine Marter für Felizia. Es war nötig zu sprechen. Der
+Graf saß ernst vor ihr und sagte ihr Höflichkeiten über
+ihren starken Geist. „Hat es ihm die Äbtissin schon
+erzählt?“ Die ganze Aufmerksamkeit der jungen Nonne
+vereinigte sich auf diese große Frage. Zu ihrem Glück
+glaubte sie zu erkennen, was in der Tat die Wahrheit
+war: daß die Äbtissin, vom Anblick der beiden Leichen
+jener verhängnisvollen Nacht noch ganz entsetzt, eine
+so nichtige Einzelheit wie die törichte Liebe der jungen
+Nonne ganz vergessen hatte.</p>
+
+<p>Der Graf bemerkte die außerordentliche Verwirrung
+dieses schönen Mädchens sehr wohl und wußte nicht,
+wem er sie zuschreiben sollte. ‚Wäre sie schuldig?‘ sagte
+er sich. Diese Idee beunruhigte ihn, den so Vernünftigen.
+Dieser Verdacht bewog ihn, den Antworten
+der jungen Nonne außerordentliche und ernste Aufmerksamkeit
+zu schenken. Das war eine Ehre, die er
+schon seit langem nicht den Worten einer Frau erwiesen
+hatte. Er bewunderte Felizias Geschick. Sie traf
+die Kunst, in einer für den Grafen schmeichelhaften
+Weise auf alles zu antworten, was er über den verhängnisvollen
+Kampf an der Türe des Klosters sagte,
+aber sie hütete sich wohl, ihm entscheidende Antworten
+<a id="page-147"></a><span class="pgnum">147</span>zu geben. Nach einer Unterhaltung, die anderthalb
+Stunden gewährt hatte, während deren der Graf
+sich nicht einen Augenblick langweilte, beurlaubte er
+sich von der jungen Nonne und bat sie mit Wärme,
+ihm in einigen Tagen noch eine Unterredung zu gewähren.
+Dies Wort erfüllte Felizias Herz mit himmlischer
+Seligkeit.</p>
+
+<p>Der Graf ging sehr nachdenklich aus der Abtei von
+Santa Riparata. ‚Es wäre ohne Zweifel meine Pflicht,‘
+sagte er sich, ‚dem Fürsten von den seltsamen Dingen,
+die ich erfahren habe, in Kenntnis zu setzen. Der ganze
+Staat hat sich mit dem Tod dieser beiden bedauernswerten,
+so reichen und glänzenden jungen Leute beschäftigt.
+Andrerseits hat uns der Fürst-Kardinal jetzt
+einen so schrecklichen Bischof gegeben, daß man die
+ganzen Greuel der spanischen Inquisition auf das unglückliche
+Kloster hetzen würde, wenn man auch nur
+ein Wort verlauten ließe von dem, was geschehen ist.
+Es wäre nicht nur eines dieser armen jungen Mädchen,
+das dieser fürchterliche Bischof umbringen lassen
+würde, sondern vielleicht fünf oder sechs; und wer wäre
+an ihrem Tode schuldig, wenn nicht ich, der nur einen
+ganz kleinen Vertrauensmißbrauch zu begehen hat, damit
+nichts geschieht? Wenn der Fürst erfährt, was vorgefallen
+ist und mir Vorwürfe macht, werde ich ihm
+sagen: Euer entsetzlicher Bischof hat mir Angst eingeflößt.‘</p>
+
+<p>Der Graf wagte nicht, sich alle die Gründe, die ihn
+zum Schweigen brachten, genau einzugestehen. Er war
+unsicher, ob nicht die schöne Felizia schuldig war, und
+sein ganzes Wesen wurde von Schreck gepackt bei der
+Vorstellung, das Leben eines armen, von ihren Eltern
+und von der Gesellschaft so grausam behandelten
+<a id="page-148"></a><span class="pgnum">148</span>jungen Mädchens in Gefahr bringen. ‚Sie würde die
+Zierde von Florenz sein,‘ sagte er sich, ‚wenn man sie
+verheiratet hätte.‘</p>
+
+<p>Der Graf hatte die vornehmsten Herrn und die reichsten
+Kaufleute von Florenz zu einer prächtigen Jagdpartie
+in den zur Hälfte ihm gehörenden Maremmen
+von Siena eingeladen. Er entschuldigte sich bei ihnen;
+die Jagd fand ohne ihn statt, und Felizia war sehr erstaunt,
+als sie schon am übernächsten Morgen nach ihrer
+ersten Unterhaltung die Pferde des Grafen im äußeren
+Klosterhof stampfen hörte. Als der Vertreter des Großherzogs
+den Entschluß gefaßt hatte, dem Fürsten nichts
+von dem mitzuteilen, was geschehen war, hatte er gleichwohl
+gefühlt, daß er die Verpflichtung auf sich nehmen
+müsse, in Zukunft über die Ruhe des Klosters zu wachen.
+Nun war es, um das zu erreichen, vor allem zu wissen
+nötig, welchen Anteil die beiden Nonnen, deren Liebhaber
+ermordet worden waren, an ihrem Tod gehabt
+hatten. Nach einer langen Unterredung mit der Äbtissin
+ließ der Graf acht oder zehn Nonnen rufen, unter denen
+sich auch Fabiana und Celia befanden. Er fand zu seinem
+großen Erstaunen, was auch die Äbtissin ihm gesagt
+hatte, daß acht von diesen Nonnen gar nichts von den
+Vorgängen jener verhängnisvollen Nacht wußten. Der
+Graf stellte an keine direkte Fragen, außer an Celia und
+an Fabiana: sie leugneten, Celia mit der ganzen Festigkeit
+einer Seele, die über alles Unglück erhaben ist, die
+junge Fabiana wie ein armes Mädchen in Verzweiflung
+darüber, daß man es in barbarischer Weise an die
+Quelle aller seiner Schmerzen erinnert. Sie war entsetzlich
+abgemagert und hatte das Aussehen einer Schwindsüchtigen;
+sie konnte sich über den Tod des jungen
+Lorenzo B** nicht trösten. ‚Ich bin es, die ihn getötet
+<a id="page-149"></a><span class="pgnum">149</span>hat,‘ sagte sie Celia in den langen Gesprächen, die sie
+mit ihr führte; ‚ich hätte die Eigenliebe des wilden Don
+Cesare, seines Vorgängers, besser schonen müssen, als
+ich mit ihm brach.‘</p>
+
+<p>Kaum in das Sprechzimmer eingetreten, bemerkte
+Felizia, daß die Äbtissin die Schwäche gehabt hatte, dem
+Stellvertreter des Großherzogs von ihrer Liebe zu ihm
+zu sprechen; die Haltung des gelassenen Buondelmonte
+war dadurch ganz verändert. Das war zuerst ein Anlaß
+des Errötens und der Verlegenheit für Felizia. Ohne
+es zu wollen, war sie entzückend, während der langen
+Unterredung, die sie mit dem Grafen hatte; aber sie
+gestand nichts. Die Äbtissin wußte nichts genaues über
+das, was sie gesehen und allem Anschein nach falsch
+gesehen hatte. Celia und Fabiana gestanden nichts. Der
+Graf war sehr verlegen. ‚Wenn ich die Kammerfrauen
+und die Dienerinnen verhöre, heißt das, dem Bischof in
+dieser Sache Zutritt verschaffen. Sie werden zu ihrem
+Beichtvater davon sprechen und dann haben wir die
+Inquisition im Kloster.‘</p>
+
+<p>Der Graf war sehr beunruhigt und kam alle Tage
+nach Santa Riparata. Er hatte sich entschlossen, alle
+Nonnen zu verhören, dann alle Hofkammerfrauen und
+endlich das ganze Gesinde. Er deckte die Wahrheit über
+einen vor drei Jahren verübten Kindesmord auf, dessen
+Anzeige ihm der Offizial des geistlichen Gerichtshofs,
+dessen Präsident der Bischof war, übermittelt hatte.
+Doch zu seinem großen Erstaunen sah er, daß die Geschichte
+der beiden jungen Leute, die sterbend den
+Garten der Abtei betreten hatten, nur der Äbtissin, Celia,
+Fabiana, Felizia und ihrer Freundin Rodelinde bekannt
+war. Die Tante dieser Letzteren wußte sich so gut zu
+verstellen, daß sie dem Argwohn entschlüpfte. Der
+<a id="page-150"></a><span class="pgnum">150</span>Schrecken, den der neue Bischof Monsignore einflößte,
+war derart groß, daß, mit Ausnahme der Äbtissin und
+Felizias, die offensichtlich lügenhaften Aussagen aller
+andren Nonnen immer in den gleichen Worten gegeben
+wurden. Der Graf hatte zum Schluß jeder seiner
+Sitzungen im Kloster eine lange Unterhaltung mit Felizia,
+welche sie glücklich machte; aber um sie zu verlängern,
+befleißigte sie sich, den Grafen jeden Tag nur einen
+ganz kleinen Teil von dem mitzuteilen, was sie über
+den Tod der beiden jungen Edelleute wußte. Im Gegensatz
+dazu war sie von äußerstem Freimut in den Dingen,
+die sie persönlich betrafen. Sie hatte drei Liebhaber
+gehabt; sie erzählte dem Grafen, der fast ihr Freund
+geworden war, die ganze Geschichte dieser Liebschaften.
+Die völlige Offenheit dieses schönen und geistvollen
+Mädchens fesselte den Grafen, dem es nicht schwer
+fiel, sie mit äußerster Aufrichtigkeit zu beantworten.</p>
+
+<p>„Ich kann Euch nicht mit so interessanten Geschichten,
+wie Eure es sind, erwidern,“ sagte er Felizia,
+„und ich weiß nicht, ob ich es wagen soll, Euch zu
+sagen, daß mir alle Eures Geschlechts, die ich in der
+Welt getroffen habe, stets mehr Verachtung für ihren
+Geist, als Bewunderung für ihre Schönheit eingeflößt
+haben.“</p>
+
+<p>Die häufigen Besuche des Grafen hatten Celia die
+Ruhe genommen. Fabiana, mehr und mehr von ihrem
+Schmerz benommen, hatte aufgehört, den Ratschlägen
+ihrer Freundin ihre Abwehr entgegenzusetzen. Als die
+Reihe an sie kam, die Tür des Klosters zu bewachen,
+öffnete sie, wandte den Kopf, und der junge Seidenweber
+Giuliano, Martonas Freund, konnte ins Kloster
+eintreten. Er verbrachte dort volle acht Tage, bis Fabiana
+von neuem Dienst hatte und die Türe offen lassen
+<a id="page-151"></a><span class="pgnum">151</span>konnte. Es scheint, daß Martona gegen Ende des langen
+Aufenthalts ihres Geliebten, gerührt von Giulianos
+Klagen, der sich allein in ihrem Zimmer eingeschlossen
+tödlich langweilte, der Äbtissin, welche sie Tag und
+Nacht um sich haben wollte, die einschläfernde Essenz
+verabreichte.</p>
+
+<p>Als Giulia, eine sehr fromme junge Nonne, eines Abends
+durch die großen Schlafräume ging, hörte sie in Martonas
+Zimmer sprechen. Sie näherte sich leise, blickte
+durch das Schlüsselloch und sah einen schönen jungen
+Mann unter Scherzen mit Martona zur Nacht speisen.
+Giulia tat einige Schläge gegen die Türe; als ihr aber
+einfiel, daß Martona sehr wohl öffnen, sie mit diesem
+jungen Mann einschließen und sie, Giulia, der Äbtissin
+anzeigen könnte, wurde sie von großer Bestürzung erfaßt,
+denn Martona verbrachte ihr ganzes Leben mit
+der Äbtissin und man würde ihr gewiß glauben. In
+ihrer Einbildung sah sie sich schon in diesem einsamen
+und dunklen Korridor, wo noch keine Lampen angezündet
+waren, von Martona verfolgt, die sehr viel stärker
+war als sie selbst. Giulia ergriff ganz bestürzt die Flucht,
+aber sie hörte noch Martona die Türe öffnen und bildete
+sich ein, von ihr erkannt worden zu sein; so lief sie zur
+Äbtissin, um ihr alles zu sagen und diese eilte in furchtbarer
+Entrüstung auf Martonas Zimmer, wo sie jedoch
+Giuliano nicht mehr vorfand, der sich in den Garten geflüchtet
+hatte. Aber in der gleichen Nacht, da die Äbtissin
+aus Vorsicht und im Interesse von Martonas Ruf, diese
+zu sich nahm und ihr ankündigte, daß sie, damit die
+Bosheit nicht wieder einen Mann dahinter vermuten
+könne, am nächsten Morgen in Begleitung des Beichtvaters,
+an die Türe ihrer Zelle Siegel anlegen werde,
+mischte Martona, die in diesem Augenblick damit beschäftig
+<a id="page-152"></a><span class="pgnum">152</span>war, der Äbtissin das aus einer Schokolade
+bestehende Nachtmahl, zu bereiten, eine ungeheure
+Menge des vorgeblichen Schlafpulvers hinein.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen befand sich die Äbtissin Virgilia
+in einem so seltsamen Zustand nervöser Erregung und
+fand, als sie in den Spiegel sah, ihr Gesicht so verändert,
+daß sie dachte, sie würde sterben. Die erste Wirkung
+des Giftes von Perugia ist, daß es die Personen, die davon
+genossen, fast verrückt macht. Virgilia erinnerte sich,
+daß eines der Vorrechte der Äbtissinnen des adligen
+Klosters von Santa Riparata war, in ihren letzten Augenblicken
+den Beistand Seiner bischöflichen Gnaden zu
+genießen. Sie schrieb dem Prälaten, der bald im Kloster
+erschien. Sie erzählte ihm nicht nur von ihrer Krankheit,
+sondern auch von der Geschichte der beiden
+Leichen. Der Bischof tadelte streng, daß sie ihm von
+einem so eigentümlichen und so verbrecherischen
+Vorfall nicht Kenntnis gegeben habe. Die Äbtissin antwortete,
+daß der Stellvertreter des Herzogs, der Graf
+Buondelmonte, ihr nachdrücklich geraten hätte, den
+Skandal zu vermeiden.</p>
+
+<p>„Und wie kann dieser Weltliche die Kühnheit haben,
+die genaue Erfüllung Eurer Pflichten Skandal zu
+nennen?“</p>
+
+<p>Als sie den Bischof im Kloster erscheinen sah, sagte
+Celia zu Fabiana: „Wir sind verloren. Dieser fanatische
+Prälat, der um jeden Preis die Reform des Konzils von
+Trient in den Klostern seiner Diözese einführen will,
+wird sich ganz anders zu uns verhalten, als der Graf
+Buondelmonte.“</p>
+
+<p>Fabiana warf sich weinend in Celias Arme: „Der
+Tod macht mir nichts, aber ich werde doppelt verzweifelt
+sterben, weil ich dich ins Verderben gestürzt
+<a id="page-153"></a><span class="pgnum">153</span>habe, ohne damit das Leben dieser unglücklichen Äbtissin
+zu retten.“</p>
+
+<p>Sogleich begab sich Fabiana in die Zelle der Nonne,
+welche an diesem Abend die Torwache hatte. Ohne sich
+auf die Einzelheiten einzulassen, sagte sie ihr, daß es
+Ehre und Leben Martonas zu retten gelte, welche
+die Unvorsichtigkeit begangen habe, einen Mann in
+ihrer Zelle zu empfangen. Nach vielen Schwierigkeiten
+willigte die Nonne ein, etwas nach elf Uhr
+abends die Tür offen zu lassen und sich einen Augenblick
+zu entfernen.</p>
+
+<p>Während dieser Zeit hatte Celia Martona sagen lassen,
+sie möge sich in den Chor begeben. Das war ein Saal
+wie eine zweite Kirche, die nur durch ein Gitter von
+der dem Volke zugänglichen getrennt war; sie hatte
+mehr als vierzig Fuß Höhe. Martona hatte sich in der
+Mitte des Chors niedergekniet, so daß niemand hören
+konnte, wenn sie leise sprach. Celia begab sich an ihre
+Seite.</p>
+
+<p>„Hier“ — sagte sie ihr — „ist eine Börse, die alles
+Geld enthält, das Fabiana und ich finden konnten. Heute
+abend oder morgen abend werde ich es ermöglichen, daß
+die Türe des Klosters einen Augenblick offen bleibt.
+Laß Giuliano entschlüpfen und du rette dich bald danach.
+Sei gewiß, daß die Äbtissin dem schrecklichen
+Bischof alles gesagt hat und daß sein Gerichtshof dich
+ohne Zweifel zu fünfzehn Jahren Kerker oder zum Tode
+verurteilen wird.“</p>
+
+<p>Martona machte eine Bewegung, um sich Celia zu
+Füßen zu werfen.</p>
+
+<p>„Was tust du, Unvorsichtige?“ rief diese, und es
+gelang ihr, die Bewegung aufzuhalten. „Bedenke, daß
+man Giuliano und dich in jedem Augenblick verhaften
+<a id="page-154"></a><span class="pgnum">154</span>kann. Halte dich von jetzt an, bis zum Augenblick
+deiner Flucht, so versteckt wie möglich, und gib
+vor allem acht auf die Personen, die in das Sprechzimmer
+der Frau Äbtissin eintreten.“</p>
+
+<p>Als der Graf am nächsten Morgen im Kloster eintraf,
+fand er vieles verändert vor. Martona, die Vertraute der
+Äbtissin war während der Nacht verschwunden; die
+Äbtissin war so geschwächt, daß sie genötigt war, sich in
+einem Lehnstuhl ins Sprechzimmer tragen zu lassen, um
+den Vikar des Fürsten zu empfangen. Sie gestand ihm,
+daß sie dem Bischof alles gesagt habe.</p>
+
+<p>„In diesem Fall werden wir Blut oder Gift haben“,
+rief dieser aus.</p>
+
+<p>Die erste Sorge des Vertreters des Fürsten war, das
+Wohl der jungen Felizia zu sichern. Graf Buondelmonte,
+der menschlich fühlte, konnte den Gedanken nicht ertragen,
+daß dieses schöne junge, ihm so zärtlich gesinnte
+Mädchen verdammt sein sollte, keinen andern Gemahl
+als einen verpesteten Kerker zu haben oder sogar Gift
+zu trinken. ‚Wie schade wäre es,‘ dachte er sich, ‚wenn
+Felizia wegen der gefährlichen Einfalt unsrer Äbtissin
+und wegen des Fanatismus dieses schrecklichen Bischofs
+ein Leben verlieren müßte, welches das Glück eines
+rechtschaffenen Mannes ausmachen könnte! Man muß
+um jeden Preis ein so gräßliches Los zu verhindern
+trachten.‘ Und er sann nach, wie er sie unter irgendeiner
+Verkleidung entfliehen lassen könnte.</p>
+
+<p>Da erinnerte er sich an eine Einzelheit: die Nonnen
+des Klosters trugen unter ihrem Schleier ein Kleid
+aus grüner Seide, welches eng anliegend am Körper
+und gerade nur unter die Knie reichend, wenig von
+dem glänzenden Kostüm der Waffenherolde abwich,
+die bei den großen Zeremonien vor dem Fürsten einherschritten.
+<a id="page-155"></a><span class="pgnum">155</span>‚Es wird genügen,‘ sagte sich der Graf,
+‚daß Felizia ihren Schleier über dem Kopf zusammenrafft
+und ihn wie ein Barett faltet; wenn sie dann ihr
+langes fließendes Gewand wie einen Mantel um die
+Schultern wirft, wird sie ganz das Ansehen eines großherzoglichen
+Herolds haben. Man hat mir erzählt, daß
+eine Nonne in solcher Verkleidung ausging, um ihren
+Geliebten zu besuchen. Felizia wird ebenfalls keine
+Schwierigkeit haben, besonders weil sie von mir begleitet
+ist und die Wache wird ihr die Ehrenbezeugung
+erweisen.‘</p>
+
+<p>Er ließ sofort Felizia rufen und teilte ihr seinen Plan
+mit. Sie antwortete ihm, daß sie ihr Leben in seine
+Hände gäbe: „Wisset,“ sagte sie, „daß es weniger Glück
+für mich ist, es zu behalten, als es Euch zu verdanken
+und zu wissen, daß Ihr Euch die Mühe genommen habt,
+für mich zu sorgen.“ Ein feuriger Blick, der diese
+Worte begleitete, verriet die Gefühle dieses leidenschaftlichen
+Mädchens. Es war nicht Zeit für langes Reden.
+Felizia beeilte sich, den Anweisungen des Grafen zu
+folgen, und als sie passend verkleidet war, begab sie sich
+auf dem gleichen Weg zur Terrasse der Orangerie, wie
+in der Nacht, als Lorenzo und Pierantonio getötet
+wurden. Sie stieg in den Garten, wohin der Graf ihr
+vorausgegangen war und fand ihn nahe der Tür, die
+auf die weite Ebene hinter den Stadtmauern führte. Man
+hatte grade die Wache abgelöst und dieser Umstand begünstigte
+noch die Flucht, denn die vorige Wache hätte
+sich wundern können, einen Waffenherold, den sie nicht
+eingelassen hatte, aus dem Kloster fortgehen zu sehn.
+Der Graf und Felizia befanden sich in der Straße der
+Goldarbeiter, dort führte er sie zu einem Mann, der ihm
+sehr ergeben war, weil er ihn einstens vor den Galeeren
+<a id="page-156"></a><span class="pgnum">156</span>gerettet hatte. Sie wechselte ihre Kleider, nahm die der
+Tochter ihres Wirts und ritt gegen Mitternacht, von zwei
+Dienern des Grafen begleitet, zu einem seiner Pächter,
+der sie bis an die Grenzen Bolognas begleiten sollte,
+wo die Buondelmonte Freunde hatten. Dort befand sie
+sich endlich in Sicherheit.</p>
+
+<p>Dann bemühte sich Graf <a class="sic" id="sicA-10" href="#sic-10">Buondelonte</a>, auch die
+sanfte Rodelinde zu retten, und es fiel ihm nicht zu
+schwer, weil er sich Celias Nachschlüssel bedienen
+konnte, die man ihr weggenommen hatte.</p>
+
+<p>Schon am nächsten Morgen kehrte der Bischof ins
+Kloster zurück und führte, wie der Graf vorher geahnt
+hatte, die ganzen Schrecken der Inquisition mit sich.
+Er leitete den Prozeß gegen die Nonnen in den
+strengsten Formen ein. Dieses Verfahren dauerte nicht
+lange und der Prälat lud die schuldigen Schwestern in
+dem Saal vor sich, wo gewöhnlich die Wahl der Äbtissin
+stattfand. Der Spruch wurde verkündet: Celia
+und Fabiana wurden verurteilt, durch Gift zu sterben;
+andre, der Nonnenkleider verlustig zu gehen und bis ans
+Ende ihrer Tage in ein Gefängnis geworfen zu werden,
+und die endlich, die am wenigsten schuldig gefunden
+wurden, sollten eine Gefangenschaft von zehn Jahren
+erdulden.</p>
+
+<p>Kaum war diese Vorlesung beendet, als eine der zu
+lebenslänglichem Kerker verurteilten Nonnen zum
+Fenster lief, es öffnete und sich in den Garten stürzte;
+eine andre durchstieß sich die Brust mit einem Dolch.
+Schreckliche Schreie ertönten und verbreiteten Entsetzen
+im ganzen Kloster.</p>
+
+<p>Der Bischof hatte sich zurückgezogen, als die
+Ruhe wiederhergestellt war, und der Geistliche, dem
+er seine Macht übertragen hatte, schritt an den schmerzlichsten
+<a id="page-157"></a><span class="pgnum">157</span>Teil seiner Aufgabe, jenen, der Celia und Fabiana
+betraf. Er machte ihnen in rauhester Weise Vorstellungen
+über den Ernst der Unruhen, die sie veranlaßt
+hatten und schloß, indem er ihnen sagte, sie müßten
+dieses Leben verlassen, um den Zorn des Himmels zu
+besänftigen.</p>
+
+<p>„Aber“, fügte er hinzu, „Eure Vorgesetzten und Eure
+Richter, welche den Adel Eurer Familien und die Würde
+dieses Orts in Betracht gezogen haben, wollten Euch
+von der vollen Strenge der geistlichen <a class="sic" id="sicA-11" href="#sic-11">Diszipin</a> befreien
+und Euch die Schande eines öffentlichen Urteilsvollzugs
+ersparen; sie haben also, nach den Grundsätzen
+der Barmherzigkeit Jesu Christi, beschlossen,
+Euch Eure Tage in der Umfassung dieses geweihten Orts
+beenden zu lassen — und durch den Schierlingstrank.“</p>
+
+<p>Während dieser Rede sah ihn Celia starr mit verächtlicher
+Ruhe an. Als er aufgehört hatte, zu sprechen,
+fragte sie ihn kurz, wo der Giftbecher sei. „Priester
+eines Gottes der Barmherzigkeit,“ antwortete er, „habe
+ich nur das Urteil über die Schuldigen zu sprechen:
+die Ausführung ist den Laienbrüdern anvertraut, wendet
+Euch an diese.“</p>
+
+<p>Ein Leibwächter des Geistlichen brachte zwei mit
+diesem Gift gefüllte Becher, er reichte sie Celia, die einen
+davon nahm und zu Fabiana sagte: „Bringen wir diese
+Todesblume diesem Hanswurst der Seelen“ — und sie
+schlang es hinunter bis auf den letzten Tropfen. Die
+schwächere Fabiana gab sich Tränen und Klagen hin;
+Celia machte ihr Vorwürfe über ihre Anhänglichkeit an
+ein so unglückliches Leben und über ihre Feigheit, die,
+wie sie sagte, der dieser Männer gleichkam, die sich
+nicht schämten, von aller Welt verlassene Frauen zu ermorden.<a class="sic" id="sicA-12" href="#sic-12">“</a>
+Endlich trocknete Fabiana ihre Tränen, faßte
+<a id="page-158"></a><span class="pgnum">158</span>sich wie im Augenblick einer großen Krise und
+würgte das Gebräu hinunter; es Tropfen für Tropfen
+schlürfend.</p>
+
+<p>Indessen trugen Livia und eine andre Dienerin den
+leblosen Körper der Nonne vom Garten herein, die sich
+aus dem Fenster gestürzt hatte. Als Celia sie bemerkte,
+entschlüpften ihr die Worte: „Wie ist sie glücklich,
+nicht mehr zu leben!“ Dann sprach sie den beiden
+Dienerinnen ihren Dank für die Ergebenheit aus, die
+sie ihr gezeigt hatten; sie gab Livia einen Diamantring,
+den sie am Finger trug, zum Geschenk, und
+forderte sie auf, den Erlös mit ihrer Gefährtin zu
+teilen.</p>
+
+<p>Das Gift begann auf seine Opfer zu wirken: Fabiana
+wälzte sich auf der Erde in den Ängsten des
+Todes; Celia bemerkte, daß der Delegat des Bischofs
+und seine Leute fühllose Zeugen dieses Schauspiels
+blieben: „Geht fort!“ rief sie aus, „laßt uns fern
+von Euren Augen sterben! Gerechter Gott, verlängert
+nicht unsre Marter!“ Endlich wurde ihre Natur durch
+den Schmerz besiegt, und auch sie konnte sich nicht
+mehr aufrecht halten und fiel zu Boden. In den
+Krämpfen ihrer Agonie löste sich ihr reiches schwarzes
+Haar und fiel ihr über Schultern und Brust, welche
+durch ihre wilden Bewegungen entblößt waren. Alle,
+sogar der Delegat, waren von Mitleid ergriffen, vielleicht
+auch von Bedauern, an der Vernichtung eines
+so vollkommenen Wesens Teil gehabt zu haben;
+sie konnten den Anblick nicht länger ertragen und
+gingen in einen Nebenraum. „Nie vielleicht“, sagte
+der Bevollmächtigte des Bischofs, „gab es eine
+unbeugsamere Seele in einer schöneren Hülle. Wie
+schade!“
+</p>
+
+<p><a id="page-159"></a><span class="pgnum">159</span>Mittlerweile war Felizia in Bologna in aller Sicherheit
+untergebracht worden. Graf Buondelmonte säumte
+nicht, ihre seine Tröstungen zu bringen und man sagt,
+daß dieser Herr in der Folge die Reise von Florenz
+nach Bologna häufig unternahm.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-161"></a><span class="pgnum">161</span>VITTORIA ACCORAMBONI</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-162"></a><span class="pgnum">162</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<p><a id="page-163"></a><span class="pgnum">163</span>Für mich wie für den Leser bedaure ich, daß dies kein
+Roman, sondern die treue Übersetzung eines sehr
+traurigen Berichtes ist, der im Dezember 1585 in Padua
+aufgeschrieben worden ist.</p>
+
+<p>Ich befand mich vor einigen Jahren in Mantua, um
+Skizzen und kleine Bilder zu suchen, die im Einklang
+mit meinem beschränkten Vermögen stünden; ich
+suchte Maler, die vor dem Jahre 1600 gearbeitet hatten,
+denn etwa um diese Zeit ist die italienische Originalität
+vollends ausgestorben, die schon durch die Besetzung
+von Florenz im Jahre 1530 sehr gelitten hatte.</p>
+
+<p>An Stelle von Gemälden bot mir ein alter, sehr reicher
+und geiziger Patrizier alte, von der Zeit vergilbte Manuskripte
+sehr teuer zum Kauf an; ich bat um die Erlaubnis,
+sie durchfliegen zu dürfen; er stimmte bei und
+fügte hinzu, er rechne darin auf meine Anständigkeit,
+daß ich mich an die pikanten Anekdoten, die ich lesen
+sollte, nicht erinnern würde, wenn ich die Manuskripte
+nicht kaufte.</p>
+
+<p>Unter dieser Bedingung, die mir paßte, habe ich sehr
+zum Schaden meiner Augen an dreihundert oder vierhundert
+Bände durchflogen, worin vor zwei oder drei
+Jahrhunderten Erzählungen von tragischen Abenteuern
+angehäuft worden sind, von Herausforderungsschreiben
+zu Zweikämpfen, Friedensverträgen zwischen vornehmen
+Nachbarn, Aufzeichnungen über Dinge aller Art usf.
+<a id="page-164"></a><span class="pgnum">164</span>Der alte Eigentümer forderte für diese Manuskripte
+einen ungeheuren Preis.</p>
+
+<p>Nach langem Unterreden erwarb ich gegen eine sehr
+große Summe das Recht, gewisse kleine Geschichten,
+die mir gefielen und die Lebensgewohnheiten Italiens
+um 1500 zeigten, zu kopieren. Ich besitze zweiundzwanzig
+Foliobände davon, und was der Leser hier lesen
+wird, wenn er überhaupt Geduld dazu hat, ist eine dieser
+getreu übersetzten Geschichten. Ich kenne die Geschichte
+des sechzehnten Jahrhunderts in Italien, und
+ich glaube, daß das Folgende vollkommen wahr ist.
+Ich habe mir Mühe gegeben, damit die Übersetzung
+dieses ernsten, geraden, düsteren, altitalienischen Stils,
+der voll Anspielungen auf Dinge und Vorstellungen ist,
+welche die Welt unter dem Pontifikat Sixtus V. beschäftigt
+haben, nicht etwa die moderne schöne Literatur
+widerspiegelt und die Ideen unseres vorurteilslosen
+Jahrhunderts.</p>
+
+<p>Der unbekannte Autor des Manuskripts ist eine vorsichtige
+Persönlichkeit; er beurteilt niemals eine Tatsache,
+er bereitet nie auf sie vor, sein einziges Bestreben
+ist, wahrheitsgemäß zu berichten. Wenn er dabei bisweilen,
+ihm unbewußt, malerisch wird, kommt das
+daher, daß im Jahre 1585 noch nicht alle Handlungen
+der Menschen von einer Eitelkeitsaureole verschleiert
+waren; man glaubte damals, nur dann auf den Nachbar
+wirken zu können, wenn man sich mit größter Klarheit
+ausdrückte. Um 1585 dachte außer den Hofnarren
+oder den Poeten niemand daran, liebenswürdige
+Redewendungen zu gebrauchen. Man sagte noch nicht
+im Augenblick, wo man Postpferde holen ließ, um die
+Flucht zu ergreifen: ich werde zu Füßen Eurer Majestät
+sterben; dies war vielleicht die einzige Art von
+<a id="page-165"></a><span class="pgnum">165</span>Verrat, die nicht üblich war. Man sprach wenig und
+jeder hörte mit äußerster Aufmerksamkeit auf das, was
+ihm gesagt wurde.</p>
+
+<p>Also, gütiger Leser, suche hier nicht eine beziehungsreiche,
+leichte Schreibweise, die von frischen
+Anspielungen auf die Art des modernen Empfindens
+glänzt, erwarte nicht etwa die spannenden Erregungen
+eines Romans der George Sand; diese große Schriftstellerin
+hätte ein Meisterwerk aus dem Leben und dem
+Unglück der Vittoria Accoramboni gemacht. Die wahrheitsgetreue
+Erzählung, die ich darbiete, kann nur die
+bescheidenen Vorzüge der Historie haben. Wenn man
+aber zufällig bei einbrechender Nacht allein im Postwagen
+sitzt und sich anschickt, über die große Kunst
+der Ergründung des menschlichen Herzens nachzudenken,
+wird man die Begebenheiten dieser Erzählung
+als Grundlage seiner Beurteilung annehmen können. Der
+Verfasser sagt alles, erklärt alles, überläßt nichts der
+Einbildungskraft des Lesers; er schrieb die Geschichte
+zwölf Tage nach dem Tod der Heldin.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Vittoria Accoramboni stammte aus altadeligem Geschlecht
+einer kleinen Stadt des Herzogtums Urbino,
+die Agubio heißt. Schon von Kindheit an fiel sie allen
+durch ihre seltene, ungewöhnliche Schönheit auf. Aber
+diese Schönheit war ihr geringster Reiz. Nichts fehlte
+ihr, was ein Mädchen von vornehmer Geburt bewundernswert
+macht, aber nichts war so bemerkenswert,
+ja, man kann sagen: keine unter so vielen außerordentlichen
+Eigenschaften grenzte so ans Wunderbare,
+wie eine ganz eigne reizende Anmut, welche ihr beim
+ersten Anblick Herz und Willen eines jeden gewann.
+<a id="page-166"></a><span class="pgnum">166</span>Und diese Natürlichkeit, die dem geringsten ihrer Worte
+Macht verlieh, war nicht durch den leisesten Anflug
+von Künstelei getrübt; von Anfang an faßte man Zutrauen
+zu dem vornehmen Mädchen, dem eine so ungewöhnliche
+Schönheit verliehen war. Mit äußerster
+Kraftanstrengung hätte man diesem Zauber vielleicht
+widerstehen können, solange man sie nur gesehen hätte;
+aber wenn man sie sprechen hörte und besonders, wenn
+man in eine Unterhaltung mit ihr geriet, war es ganz
+unmöglich, sich <a class="sic" id="sicA-13" href="#sic-13">einen</a> so ungewöhnlichen Reiz zu entziehen.</p>
+
+<p>Viele junge Kavaliere aus Rom, wo ihr Vater wohnte
+und man seinen Palast noch heute auf der Piazza Rusticucci
+nahe Sankt Peter sehen kann, warben um ihre
+Hand. Es gab viel Eifersucht und Nebenbuhlerschaft;
+aber schließlich gaben Vittorias Eltern Felice Peretti
+den Vorzug, dem Neffen des Kardinals Montalto, der
+später der glücklich herrschende Papst Sixtus V. geworden
+ist.</p>
+
+<p>Felice war der Sohn Camilla Perettis, einer Schwester
+des Kardinals und hieß früher Francesco Mignucci. Er
+nahm den Namen Felice Peretti erst an, als er von
+seinem Oheim in aller Form adoptiert wurde.</p>
+
+<p>Als Vittoria in das Haus Peretti einzog, brachte sie,
+ohne daran zu denken, jenes Überstrahlende mit, das
+man schicksalhaft nennen kann; so daß man sagen
+möchte: um sie nicht anbeten zu müssen, dürfte man
+sie nie gesehen haben. Die Liebe, die ihr Mann für sie
+fühlte, ging bis zum Wahnsinn; ihre Schwiegermutter
+und der Kardinal Montalto selbst schienen auf Erden
+keine andre Beschäftigung zu haben, als die Wünsche
+Vittorias zu erraten, um sie sogleich zu erfüllen. Ganz
+Rom staunte, wie dieser Kardinal, der ebenso durch die
+<a id="page-167"></a><span class="pgnum">167</span>Geringfügigkeit seines Vermögens, wie durch seinen Abscheu
+vor jedem Luxus bekannt war, jetzt ständig
+Freude daran fand, allen Wünschen Vittorias zuvorzukommen.
+Jung, im Glanz ihrer Schönheit und von
+allen angebetet, unterließ sie es nicht, bisweilen recht
+kostspielige Einfälle zu haben. Vittoria empfing von
+ihren neuen Verwandten die kostbarsten Schmucksachen,
+Perlen und überhaupt alles, was bei den Goldarbeitern
+Roms, die damals sehr gut versorgt waren,
+als Seltenheit galt.</p>
+
+<p>Aus Liebe zu dieser liebenswürdigen Nichte behandelte
+der wegen seiner Strenge so bekannte Kardinal
+Montalto die Brüder Vittorias, als ob sie seine eignen
+Neffen wären. Ottavio Accoramboni wurde, kaum
+dreißig Jahr alt, durch die Vermittlung des Kardinals
+Montalto vom Herzog von Urbino zum Bischof
+von Fossombrone vorgeschlagen und vom Papst
+Gregor XIII. dazu ernannt; Marcello Accoramboni, ein
+Jüngling von ungestümem Mut, mehrerer Verbrechen
+angeklagt und eifrig von der Corte verfolgt, war mit
+größter Mühe den Verfolgungen entgangen, die leicht
+zu seinem Tode hätte führen können. Durch die Protektion
+des Kardinals gestützt, konnte er eine gewisse
+Ruhe wieder erlangen.</p>
+
+<p>Ein dritter Bruder Vittorias, Giulio Accoramboni,
+wurde vom Kardinal Alessandro Sforza zu den ersten
+Ehrenposten seines Hofs zugelassen, kaum, daß der Kardinal
+darum ersucht hatte.</p>
+
+<p>Mit einem Wort, wenn die Menschen ihr Glück nicht
+an der unendlichen Unersättlichkeit ihrer Wünsche
+messen würden, sondern am wirklichen Genusse aller
+Vorteile, die sie schon besitzen, so hätte den Accoramboni
+die Heirat Vittorias mit dem Neffen des Kardinals
+<a id="page-168"></a><span class="pgnum">168</span>Montalto als Gipfel menschlicher Glückseligkeit erscheinen
+müssen. Aber dies unsinnige Verlangen nach
+unermeßlichen und unvorstellbaren Vorteilen treibt
+selbst Menschen, die auf der Höhe des Glücks stehen,
+in seltsame und gefährliche Bahnen.</p>
+
+<p>Es ist wohl wahr: wenn irgendeiner der Verwandten
+Vittorias, in dem Wunsch, zu größerem Reichtum zu
+gelangen, dazu beigetragen hätte, sie von ihrem Gatten
+zu befreien, — wie ja in Rom vielfach Verdacht gehegt
+wurde —, so hätte er bald nachher erkennen müssen,
+wieviel weiser es gewesen wäre, sich mit den mäßigen
+Vorteilen eines angenehmen Glücks zu begnügen,
+welches ja so bald danach zu all dem aufgestiegen wäre,
+was menschlicher Ehrgeiz nur wünschen kann.</p>
+
+<p>Während nun Vittoria gleich einer Königin in ihrem
+Hause lebte, wurde Felice Peretti eines Abends, gerade
+als er mit seiner Frau zu Bett gegangen war, ein Brief
+durch eine gewisse Caterina zugestellt, die aus Bologna
+stammte und Vittorias Kammerfrau war. Dieser Brief
+war von einem Bruder Caterinas, Domenico d'Aquaviva,
+mit dem Spitznamen il Mancino, der Linkshändige,
+überbracht worden. Dieser Mann war wegen
+verschiedener Verbrechen aus Rom verbannt, aber auf
+Bitten Caterinas hatte ihm Felice die mächtige Protektion
+seines Oheims des Kardinals verschafft, und
+der Mancino kam oft in Felices Haus, der großes Vertrauen
+in ihn setzte.</p>
+
+<p>Der Brief, von dem wir sprechen, war im Namen
+Marcello Accorambonis geschrieben, welcher von allen
+Brüdern Vittorias Felice am liebsten war. Er lebte gewöhnlich
+versteckt außerhalb Roms, aber trotzdem
+wagte er sich manchmal in die Stadt und fand dann
+eine Zuflucht in Felices Haus.
+</p>
+
+<p><a id="page-169"></a><span class="pgnum">169</span>In dem zu so ungewöhnlicher Stunde zugestellten
+Brief rief Marcello seinen Schwager Felice Peretti um
+Beistand an, er beschwor ihn, ihm zu Hilfe zu kommen
+und fügte hinzu, daß er ihn in einer Angelegenheit
+von großer Dringlichkeit beim Palazzo Montecavallo erwarte.</p>
+
+<p>Felice teilte seiner Frau von dem seltsamen Brief mit,
+den er erhalten hatte; dann kleidete er sich an und
+nahm keine andre Waffe als sein Schwert. Von einem
+einzigen Diener begleitet, der eine brennende Fackel
+trug, war er schon im Fortgehen, als er seine Mutter
+Camilla und alle Frauen des Hauses, auch Vittoria unter
+ihnen, auf seinem Weg fand; alle baten ihn inständigst,
+nicht zu dieser vorgerückten Stunde fortzugehen. Da
+er ihren Bitten nicht nachgab, fielen sie auf die Knie
+und beschworen ihn weinend, auf sie zu hören.</p>
+
+<p>Die Frauen, und besonders Camilla, waren durch die
+Erzählung seltsamer Dinge in Schrecken gesetzt, die sich
+alle Tage ereigneten und in dieser Zeit des Pontifikats
+Gregors XIII., die voller Unruhen und unerhörter Attentate
+war, ungestraft blieben. Noch ein Gedanke beunruhigte
+sie: Wenn Marcello Accoramboni es wagte,
+nach Rom zu kommen, war es nicht seine Gewohnheit,
+Felice rufen zu lassen, und gar zu solcher nächtlicher
+Stunde schien ihnen ein derartiger Schritt gegen jeden
+Anstand zu sein.</p>
+
+<p>In dem vollen Feuer seiner Jugend wollte Felice nicht
+auf diese ängstlichen Vernunftgründe hören; als er noch
+dazu erfuhr, daß der Brief vom Mancino gebracht
+worden war, den er sehr gern hatte und dem er Gutes
+erwiesen hatte, konnte ihn nichts halten, und er verließ
+das Haus.</p>
+
+<p>Ihm voraus ging, wie schon gesagt wurde, ein einziger
+<a id="page-170"></a><span class="pgnum">170</span>Diener mit einer brennenden Fackel. Aber der
+arme junge Felice hatte kaum einige Schritte des Aufstiegs
+zum Monte Cavallo gemacht, als er von drei
+Flintenschüssen getroffen zusammenbrach. Als die
+Mörder ihn auf der Erde sahen, warfen sie sich auf ihn
+und durchbohrten ihn nach Gefallen mit Dolchstichen,
+bis er ihnen völlig tot zu sein schien. Augenblicklich
+wurde diese verhängnisvolle Nachricht zu Felices Mutter
+und Frau gebracht, und durch diese gelangte sie zu
+seinem Oheim, dem Kardinal.</p>
+
+<p>Der Kardinal ließ sich, ohne eine Miene zu verändern,
+ohne die kleinste Bewegung zu verraten, sofort wieder
+ankleiden, dann empfahl er sich selbst und diese arme,
+so unvorbereitet dahingeraffte Seele seinem Gott. Er
+begab sich zu seiner Nichte und durch eine das tiefste
+Gleichgewicht zeigende Miene und bewundernswerte
+Würde wußte er dem Klagen und Weinen der Frauen,
+das im ganzen Haus zu widerhallen begann, etwas Einhalt
+zu tun. Seine Macht über diese Frauen war von
+solcher Wirksamkeit, daß man von diesem Augenblick
+an, und selbst, als der Leichnam aus dem Hause getragen
+wurde, nichts hörte noch sah, was im geringsten
+von dem abgewichen wäre, was in den korrektesten
+Familien bei einem längst vorhergesehenen Todesfall
+stattfindet. Was den Kardinal Montalto selbst betrifft,
+konnte niemand an ihm die geringsten Zeichen auch
+nur des einfachsten Schmerzes wahrnehmen; nichts
+wurde in der Ordnung und äußeren Erscheinung seines
+Lebens verändert. Rom hatte sich bald davon überzeugt;
+jenes Rom, welches mit seiner gewohnten Neugier die
+geringsten Bewegungen eines so tief verletzten Mannes
+beobachtete.</p>
+
+<p>Zufällig wurde gerade am Tage nach der Ermordung
+<a id="page-171"></a><span class="pgnum">171</span>Felices das Konsistorium der Kardinäle im
+Vatikan zusammengerufen. Es gab keinen in der ganzen
+Stadt, der nicht glaubte, wenigstens an diesem ersten
+Tage würde sich Kardinal Montalto diesem öffentlichen
+Auftreten entziehen. Wo er gerade vor den Augen so
+vieler und so neugieriger Zeugen erscheinen sollte! Man
+würde die leisesten Regungen der natürlichen Schwachheit
+beobachten können, während es doch für eine Persönlichkeit,
+die von einem hervorragenden Posten aus
+nach einem noch höheren strebt, angemessener wäre,
+sie zu verheimlichen. Denn jedermann wird zugeben,
+daß es nicht passend ist, wenn der, dessen Ehrgeiz es
+ist, sich über alle anderen zu erheben, ebenso menschlich
+zeigt wie alle andren.</p>
+
+<p>Aber die solche Gedanken hatten, täuschten sich
+doppelt; denn erstens erschien der Kardinal seiner Gewohnheit
+gemäß als einer der ersten im Saal des Konsistoriums
+und sodann war es auch den Scharfsichtigsten
+unmöglich, irgendein Zeichen menschlicher Empfindlichkeit
+an ihm zu entdecken. Im Gegenteil setzte er jedermann
+durch seine Antworten in Erstaunen, als einige
+seiner Kollegen aus Anlaß eines so grausamen Ereignisses
+versuchten, ihm einige tröstende Worte zu sagen. Die
+Standhaftigkeit und die augenscheinliche Ruhe seiner
+Seele inmitten eines so fürchterlichen Unglücks wurden
+bald zum Gespräch der Stadt.</p>
+
+<p>Es ist wohl wahr, daß einige Männer in diesem Konsistorium,
+die mehr Erfahrung in höfischer Art hatten,
+diese scheinbare Unempfindlichkeit nicht einem Mangel
+an Gefühl, sondern einer großen Verstellungsgabe zuschrieben,
+und diese Auffassung wurde bald nachher
+von den meisten Angehörigen des Hofes geteilt; denn
+es war nutzbringend, sich von einer Beleidigung nicht
+<a id="page-172"></a><span class="pgnum">172</span>zu tief verletzt zu zeigen, deren Urheber zweifellos hochgestellt
+war, und später vielleicht den Weg zur allerhöchsten
+Würde verhindern könnte.</p>
+
+<p>Was immer auch die Ursache dieser augenscheinlich
+vollständigen Unempfindlichkeit sein mochte, war es
+doch sicher, daß sie ganz Rom und den Hof Gregors
+XIII. mit einer gewissen Bestürzung erfüllte. Aber,
+um auf das Konsistorium zurückzukommen: als alle
+Kardinäle versammelt waren und der Papst selbst in
+den Saal trat, wandte er sogleich die Augen zum Kardinal
+Montalto, und man sah Seine Heiligkeit Tränen
+vergießen; was den Kardinal betrifft, so verloren seine
+Züge nicht ihre gewohnte Unbeweglichkeit.</p>
+
+<p>Das Staunen verdoppelte sich, als im gleichen Konsistorium
+die Reihe an den Kardinal Montalto kam, sich
+vor dem Thron Seiner Heiligkeit niederzuknien, um
+über die Angelegenheiten, mit denen er betraut war, Bericht
+abzulegen, und der Papst, bevor er ihm zu beginnen
+gestattete, nicht sein Schluchzen zurückhalten
+konnte. Als Seine Heiligkeit wieder fähig war, zu
+sprechen, suchte sie den Kardinal zu trösten und versprach
+ihm dabei, daß dieses ungeheuerliche Attentat
+streng und schnell gesühnt werden solle. Aber nachdem
+der Kardinal Seiner Heiligkeit demütigst gedankt hatte,
+bat er ihn inständigst, keine Nachforschungen über das,
+was geschehen war, anzubefehlen, da er, was ihn beträfe,
+aus vollem Herzen dem Urheber verzeihe, wer
+es auch sein möge. Und unmittelbar nach dieser in sehr
+wenigen Worten vorgetragenen Bitte, ging der Kardinal
+zu den einzelnen Angelegenheiten über, mit denen er betraut
+war; als ob nichts Außergewöhnliches geschehen
+wäre.</p>
+
+<p>Die Blicke aller beim Konsistorium anwesenden Kardinäle
+<a id="page-173"></a><span class="pgnum">173</span>waren auf den Papst und auf Montalto geheftet,
+und obgleich es sicher sehr schwer sein mag, das geübte
+Auge eines Hofmanns irrezuführen, wagte doch niemand
+zu behaupten, daß die Miene des Kardinals Montalto
+die leiseste Bewegung verraten habe, als er die
+Tränen Seiner Heiligkeit so aus der Nähe sah, die — um
+die Wahrheit zu sagen — wirklich ganz außer sich
+geraten war. Diese erstaunliche Fühllosigkeit des Kardinals
+Montalto verleugnete sich auch nicht während
+der ganzen Zeit, die er mit Seiner Heiligkeit zu arbeiten
+hatte. Es ging so weit, daß der Papst selbst dadurch
+betroffen wurde und nach Schluß des Konsistoriums
+nicht umhin konnte, dem Kardinal von San
+Sisto, seinem Lieblingsneffen, zu sagen: Veramente
+costui è un gran frate! Wahrlich, der ist ein großer
+Mönch!</p>
+
+<p>Das Benehmen des Kardinals Montalto war auch während
+aller folgenden Tage völlig gleichmäßig. Wie es
+Sitte war, empfing er die Beileidsbesuche der Kardinäle,
+der Prälaten und der römischen Fürsten, und
+keinem gegenüber, in welchen Beziehungen er auch zu
+ihm stehen mochte, ließ er sich zu irgendeiner Äußerung
+des Schmerzes oder der Klage hinreißen. Nach einer
+kurzen Darlegung über die Unbeständigkeit der menschlichen
+Dinge, die er mit Sentenzen und Zitaten aus der
+Heiligen Schrift oder den Kirchenvätern belegte,
+wechselte er kurz das Gespräch und kam auf die
+Neuigkeiten der Stadt oder auf persönliche Angelegenheiten
+dessen zu sprechen, mit dem er sich unterhielt,
+genau, als ob er seinen Trostspender hätte trösten
+wollen.</p>
+
+<p>Rom war besonders neugierig, was während des Besuchs
+geschehen würde, den ihm Fürst Paolo Giordano
+<a id="page-174"></a><span class="pgnum">174</span>Orsini, Herzog von Bracciano, abstatten mußte, welchem
+das Gerücht den Tod von Felice Peretti zuschrieb. Das
+Volk dachte, daß Kardinal Montalto nicht so in der
+Nähe des Fürsten sein könne und unter vier Augen mit
+ihm sprechen, ohne irgendwie seine Gefühle zu verraten.</p>
+
+<p>Als der Fürst den Kardinal besuchte, war eine ungeheure
+Menschenmenge auf der Straße und am Eingang;
+zahlreiche Höflinge erfüllten alle Räume des
+Hauses, so groß war die Neugier, das Aussehen der
+beiden zu beobachten. Aber weder an dem einen noch
+an dem andern vermochte jemand etwas besonderes
+wahrzunehmen. Der Kardinal Montalto hielt sich genau
+an das, was der höfische Anstand vorschrieb; er gab
+seinem Gesicht einen sehr bemerkenswerten Ausdruck
+von Aufgeräumtheit und die Art, wie er das Wort an
+den Fürsten richtete, war von Gefälligkeit erfüllt.</p>
+
+<p>Einen Augenblick später, als der Fürst seinen Wagen
+bestieg und sich mit den Intimen seines Hofs allein
+befand, konnte er sich nicht mehr zurückhalten, lachend
+zu sagen: „In fatto è vero che costui è un gran frate! Es
+ist wirklich wahr, jener ist ein großer <a class="sic" id="sicA-14" href="#sic-14">Mönch!</a> Als ob
+er die Wahrheit des Wortes bestätigen wollte, das dem
+Papst vor einigen Tagen entschlüpft war.</p>
+
+<p>Die Klugen dachten, daß die bei dieser Gelegenheit
+vom Kardinal Montalto gezeigte Haltung ihm den Weg
+zum Thron ebnen müsse; denn viele Leute faßten über
+ihn die Meinung, daß er, sei es von Natur oder durch
+Tugend, niemandem schaden könne oder wolle, wenn er
+auch allen Grund habe, gereizt zu sein.</p>
+
+<p>Felice Peretti hatte nichts Schriftliches, was sich auf
+seine Frau bezog, hinterlassen; sie mußte demzufolge
+in das Haus ihrer Eltern zurückkehren. Der Kardinal
+<a id="page-175"></a><span class="pgnum">175</span>Montalto ließ ihr vor ihrem Scheiden die Gewänder,
+die Schmucksachen und überhaupt alle Geschenke aushändigen,
+die sie erhalten hatte, während sie die Frau
+seines Neffen war.</p>
+
+<p>Am dritten Tage nach dem Tode Felice Perettis ließ
+sich Vittoria, von ihrer Mutter begleitet, im Palast des
+Fürsten Orsini nieder. Manche sagten, die Frauen
+wurden zu diesem Schritt durch die Sorge um ihre
+persönliche Sicherheit getrieben, denn die Corte<a href="#FN-3" id="FNA-3"><sup>3</sup></a> schien
+sie mit der Anklage zu bedrohen, dem Mord, der begangen
+worden war, zugestimmt oder zumindest vor der
+Ausführung von ihm Kenntnis gehabt zu haben; andre
+glaubten — und das, was später geschah, schien diese
+Ansicht zu bestätigen — daß sie den Schritt getan hatten,
+um die Heirat zu betreiben, da der Fürst Vittoria zugesichert
+haben sollte, sie zu heiraten, wenn sie keinen
+Gatten mehr habe.</p>
+
+<p>Immerhin hat man weder damals, noch später den
+Urheber des Mordes an Felice feststellen können, obwohl
+jeder auf jeden Verdacht hatte. Die meisten schrieben
+indessen diesen Todesfall dem Fürsten Orsini zu. Man
+sagte allgemein, daß er von einer leidenschaftlichen
+Neigung für Vittoria ergriffen war; er hatte davon unzweideutige
+Anzeichen gegeben und die Heirat, welche
+folgte, war ein starker Beweis, denn die Frau stand so
+weit unter ihm, daß nur die Tyrannei leidenschaftlicher
+Liebe sie zur Gleichheit der Ehe erheben konnte. Das
+Volk wurde von der Auffassung auch nicht durch einen,
+an den Gouverneur von Rom gerichteten Brief abgebracht,
+den man wenige Tage nach der Tat verbreitete.
+Dieser Brief war im Namen Cesare Palantieris geschrieben,
+<a id="page-176"></a><span class="pgnum">176</span>eines ungestümen jungen Mannes, der aus der Stadt
+verbannt war.</p>
+
+<p>In diesem Brief sagte Palantieri, es sei nicht nötig,
+daß seine hochgeborene Gnaden sich die Mühe mache,
+anderswo den Urheber des Mordes an Felice Peretti zu
+suchen, da er selbst es gewesen sei, der ihn habe töten
+lassen und zwar infolge gewisser Differenzen, die vor
+einiger Zeit zwischen ihnen stattgefunden hätten.</p>
+
+<p>Viele waren der Meinung, daß dieser Mord nicht ohne
+die Zustimmung des Hauses Accoramboni geschehen
+sein konnte; man beschuldigte die Brüder Vittorias, daß
+sie der Ehrgeiz, mit einem so reichen und mächtigen
+Fürsten in Beziehungen zu treten, verführt habe. Man
+beschuldigte besonders Marcello wegen der Verdachtsgründe,
+die durch den Brief gegeben waren, der den unglücklichen
+Felice nachts aus dem Haus rief. Man sprach
+auch von Vittoria selbst schlecht, als man sie ihre Zustimmung
+geben sah, so bald nach dem Tode ihres
+Gemahls den Palast der Orsini als zukünftige Gattin zu
+bewohnen. Man behauptete, daß es wenig wahrscheinlich
+sei, sich plötzlich so nahe, wie bei einem Messerstich,
+nebeneinander zu finden, wenn man sich vorher nicht,
+wenigstens durch einige Zeit, Waffen von größerer
+Reichweite bedient habe. Die Nachforschung über diesen
+Mord wurde von Monsignore Portici, Statthalter von
+Rom, nach den Befehlen Gregors XIII. geleitet. Man
+ersieht daraus bloß, daß Domenico, Mancino genannt,
+durch die Corte verhaftet, Geständnisse macht und
+ohne erst auf die Folter gespannt werden zu müssen,
+im zweiten Verhör, am vierundzwanzigsten Februar
+1582, aussagt:</p>
+
+<p>„Daß Vittorias Mutter an allem schuld sei, und daß
+sie durch die Kammerfrau aus Bologna unterstützt
+<a id="page-177"></a><span class="pgnum">177</span>worden sei, welche gleich nach dem Mord Zuflucht in
+der Feste von Bracciano fand, in die als dem Fürsten
+Orsini gehörend die Corte nicht einzudringen wagte,
+und daß die Vollbringer des Verbrechens Macchione de
+Gubbio und Paolo Barca di Bracciano waren, lancie
+spezzate eines Herrn, dessen Namen man aus triftigen
+Gründen nicht nannte.“</p>
+
+<p>Mit diesen triftigen Gründen vereinten sich, wie ich
+glaube, die Bitten des Kardinals Montalto, der nachdrücklich
+ersuchte, daß die Nachforschungen nicht
+weiter getrieben werden mögen, und wirklich war nicht
+mehr die Rede von einem Prozeß. Der Mancino wurde
+aus dem Gefängnis mit dem Befehl entlassen, bei Todesstrafe
+unverzüglich in seinen Heimatsort zurückzukehren
+und ihn nie ohne eine besondere Erlaubnis zu verlassen.
+Die Freilassung dieses Mannes fand 1583, am Tage des
+San Luigi statt, und da dieser Tag auch der Geburtstag
+des Kardinal Montalto war, bestärkte mich dieser Umstand
+mehr und mehr in der Annahme, daß auf seine
+Bitte hin diese Angelegenheit so beendet wurde. Unter
+einer so schwachen Regierung, wie es die Gregors XIII.
+war, konnte ein derartiger Prozeß sehr unangenehme
+Folgen haben.</p>
+
+<p>Die Bemühungen der Corte wurden hiermit eingestellt;
+trotzdem wollte Papst Gregor XIII. nicht einwilligen,
+daß Fürst Paolo Orsini, Herzog von Bracciano,
+die Witwe Accoramboni heirate. Nachdem Seine Heiligkeit
+der letzteren eine Art Gefangenschaft auferlegt
+hatte, erließ er für den Fürsten und die Witwe die Vorschrift,
+daß sie ohne seine oder seiner Nachfolger ausdrückliche
+Erlaubnis einander nicht heiraten dürften.</p>
+
+<p>Gregor XIII. starb zu Beginn des Jahres 1585 und
+da die von Fürst Orsini konsultierten Rechtsgelehrten
+<a id="page-178"></a><span class="pgnum">178</span>geantwortet hatten, daß sie die Vorschrift durch den
+Tod des Herrschers, der sie verfügt hätte, für annulliert
+erachteten, entschloß er sich, Vittoria vor der Ernennung
+des neuen Papstes zu heiraten. Aber die Ehe ließ sich
+nicht so schnell schließen, wie der Fürst es wünschte;
+teils weil er die Zustimmung von Vittorias Brüdern
+haben wollte und es sich ereignete, daß Ottavio Accoramboni,
+der Bischof von Fossombrone, niemals die seine
+zu geben gedachte; teils auch, weil man nicht glaubte,
+daß die Wahl des Nachfolgers Gregors XIII. so rasch
+stattfinden würde. Tatsache ist, daß die Ehe erst am
+gleichen Tag geschlossen worden ist, als der Kardinal
+Montalto, den diese Angelegenheit so interessierte, zum
+Papst gewählt wurde, nämlich am vierundzwanzigsten
+April 1585, sei es, daß dies nur Zufall war, sei es, daß
+der Fürst zeigen wollte, er fürchte die Corte nicht ärger
+unter dem neuen Papst, als er sie unter Gregor XIII. gefürchtet
+hatte.</p>
+
+<p>Diese Heirat beleidigte die Seele Sixtus V. tief (dies
+war der Name, den Kardinal Montalto gewählt hatte);
+er hatte schon die Denkweise aufgegeben, die für einen
+Mönch passend ist, und seine Seele zu der Höhe des
+Ranges erhoben, in den ihn Gott jetzt gestellt hatte.</p>
+
+<p>Der Papst zeigte aber trotzdem kein Zeichen von Zorn.
+Allein als sich der Fürst Orsini am gleichen Tage mit
+der Menge der römischen Edelleute zum Fußkusse eingefunden
+hatte, mit der geheimen Absicht, in den Zügen
+des heiligen Vaters zu lesen, was er von diesem bisher
+so wenig deutlichen Mann zu erwarten oder zu fürchten
+habe, bemerkte er, daß zum Scherzen nicht mehr die
+Zeit sei. Der neue Papst hatte den Fürsten in einer eigentümlichen
+Weise angesehn, und hatte kein einziges Wort
+auf die Huldigung, die dieser an ihn richtete, geantwortet;
+<a id="page-179"></a><span class="pgnum">179</span>daher faßte der Fürst den Entschluß, sofort zu
+ergründen, welche Absicht Seine Heiligkeit in bezug auf
+seine Person habe.</p>
+
+<p>Durch Vermittlung des Kardinals Ferdinand von
+Medici, eines Bruders seiner ersten Frau und des spanischen
+katholischen Botschafters suchte er um eine
+Privataudienz beim Papste an und erhielt sie. Hier richtete
+er an Seine Heiligkeit eine wohleinstudierte Rede;
+ohne der vergangenen Dinge Erwähnung zu tun, sprach
+er seine Freude anläßlich der neuen Würde aus und bot
+Seiner Heiligkeit als treuster Vasall und Diener sein
+ganzes Vermögen und seine ganze Macht an.</p>
+
+<p>Der Papst<a href="#FN-4" id="FNA-4"><sup>4</sup></a> hörte ihn mit außerordentlichem Ernst
+an und antwortete schließlich, niemand wünsche mehr
+als er, daß in Zukunft das Leben und die Taten des
+Paolo Giordano Orsini des Geschlechts der Orsini und
+eines wahrhaft christlichen Ritters würdig seien, daß
+sein eigenes Gewissen ihm am besten sagen werde, wie
+er früher zum Heiligen Stuhl und zu dessen Personifizierung
+dem Papst gestanden sei; daß er indessen sicher
+sein könne — so gern ihm auch alles vergeben sei, was
+er gegen Felice Peretti und gegen Felice Kardinal
+Montalto habe unternehmen können — niemals würde
+ihm verziehen werden, was er etwa in Zukunft gegen
+den Papst Sixtus V. unternehmen möchte; daher fordere
+er ihn hiermit auf, sofort alle Verbannten und Missetäter
+zu vertreiben, denen er bis heute Unterschlupf geboten
+habe.</p>
+
+<p>Sixtus V. besaß eine besondere Fähigkeit, sich beim
+Sprechen jedweden Tones, den er wollte, bedienen zu
+<a id="page-180"></a><span class="pgnum">180</span>können; aber wenn er gereizt und drohend war, hätte
+man sagen können, daß seine Augen Blitze schleuderten.
+Sicher ist, daß Fürst Paolo Orsini, der immer gewöhnt
+war, daß die Päpste ihn fürchteten, durch die Sprechweise
+des Papstes, wie er eine ähnliche nicht in einem
+Zeitraum von dreizehn Jahren gehört hatte, so ernstlich
+zum Nachdenken angeregt wurde, daß er vom Palast
+Seiner Heiligkeit schleunigst zum Kardinal Medici eilte,
+um ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Dann beschloß
+er, auf den Rat des Kardinals, ohne den geringsten Aufschub
+alle vom Gericht verfolgten Personen auszuweisen,
+denen er in seinem Palast und in seinen Staaten Unterkunft
+gewährt hatte, und er überlegte auch, wie er selbst
+schnell irgendeinen ehrenvollen Vorwand finden könnte,
+sogleich die Länder zu verlassen, die unter der Macht
+eines so entschlossenen Papstes standen.</p>
+
+<p>Man muß wissen, daß Fürst Paolo Orsini außerordentlich
+umfangreich geworden war; seine Beine waren dicker
+als der Körper eines durchschnittlichen Menschen und
+das eine dieser ungeheuren Beine war von der Krankheit
+befallen, die man la lupa nennt, weil man ihr eine
+große Menge frischen Fleisches zuführen muß, welches
+man auf die leidende Stelle legt, sonst würden die
+bösen Säfte — wenn sie nicht totes Fleisch zu verzehren
+bekämen — sich auf das umliegende gesunde
+Fleisch werfen.</p>
+
+<p>Der Fürst nahm dieses Übel als Vorwand, um sich
+in die berühmten Bäder von Albano, nahe Padua, im
+Bereich der Republik Venedig, zu begeben; er reiste
+mit seiner jungen Gattin Mitte Juni dorthin. Albano war
+für ihn ein ganz sicherer Hafen, denn seit vielen Jahren
+war das Haus Orsini mit der Republik Venedig durch
+gegenseitige Dienste verbunden.
+</p>
+
+<p><a id="page-181"></a><span class="pgnum">181</span>In diesem sicheren Lande angekommen, dachte der
+Fürst Orsini nur daran, die Annehmlichkeiten eines
+wechselnden Aufenthalts zu genießen, und er mietete
+zu diesem Zweck drei prachtvolle Paläste: den einen
+in Venedig, den Palazzo Dandolo in der via della Zecca;
+den zweiten in Padua, das war der Palazzo Foscarini
+auf der prächtigen Arena genannten Piazza; den dritten
+wählte er in Salò, an dem reizenden Ufer des Gardasees:
+dieser hatte einst der Familie Sforza-Pallavicini
+gehört.</p>
+
+<p>Die Herren der Republik Venedig vernahmen mit
+Freude, daß ein solcher Fürst in ihren Staat kommen
+wollte und boten ihm sofort eine sehr noble Condotta
+an: das bedeutet eine beträchtliche jährliche
+Rente, die von dem Fürsten dazu gebraucht werden
+müßte, ein Korps von zweitausend bis dreitausend Mann
+aufzustellen, dessen Kommando er zu übernehmen
+hatte. Der Fürst wies das Anerbieten sehr schnell ab;
+er ließ den Senatoren antworten: obwohl er sich durch
+natürliche und von seiner Familie ererbte Neigung in
+seinem Herzen zum Dienst der erhabenen Regierung geneigt
+fühle, erschiene es ihm doch, da er gegenwärtig
+an den katholischen König gebunden sei, nicht passend,
+eine andere Verpflichtung zu übernehmen. Eine so entschlossene
+Antwort brachte etwas Lauheit in die Stimmung
+der Senatoren. Zuerst hatten sie beabsichtigt, ihm
+bei seiner Ankunft in Venedig im Namen des ganzen
+Volks einen sehr ehrenvollen Empfang zu bereiten; auf
+seine Antwort hin beschlossen sie, ihn einfach wie einen
+Privatmann ankommen zu lassen.</p>
+
+<p>Fürst Orsini, der von allem unterrichtet war, faßte
+den Entschluß, überhaupt nicht nach Venedig zu gehen.
+Er war schon in der Nähe Paduas, machte aber nun
+<a id="page-182"></a><span class="pgnum">182</span>einen Bogen und begab sich mit seinem ganzen Gefolge
+nach Salò, in das für ihn vorbereitete Haus
+am Ufer des Gardasees. Er verbrachte dort den ganzen
+Sommer unter prächtigen und abwechslungsreichen
+Zerstreuungen.</p>
+
+<p>Der Zeitpunkt eines Aufenthaltswechsels war gekommen
+und der Fürst unternahm einige kleine Reisen,
+nach denen es ihm schien, daß er Anstrengungen nicht
+mehr so wie früher vertragen könne; er hatte Befürchtungen
+für seine Gesundheit und dachte schließlich daran,
+einige Tage in Venedig zu verbringen. Doch wurde
+er durch seine Gattin Vittoria davon abgebracht, die ihn
+veranlaßte, den Aufenthalt in Salò zu verlängern.</p>
+
+<p>Viele haben gedacht, daß Vittoria Accoramboni die
+Gefahr bemerkt habe, der das Leben des Fürsten, ihres
+Gemahls, ausgesetzt war und daß sie ihn nur veranlaßte
+in Salò zu bleiben, in der Absicht, ihn später aus Italien
+fortzubringen, etwa in irgendeine freie Stadt der
+Schweiz. Durch dieses Mittel hätte sie, im Falle der
+Fürst starb, sowohl ihre Person, als auch ihr privates
+Vermögen in Sicherheit gebracht.</p>
+
+<p>Ob solche Voraussetzung begründet war oder nicht,
+Tatsache ist, daß nichts von dem geschah; denn der
+Fürst wurde am zehnten November in Salò von einem
+neuen Unwohlsein befallen und hatte gleich die Vorahnung
+von dem, was geschehen sollte.</p>
+
+<p>Er hatte Mitleid mit seiner unglücklichen Frau: er
+sah sie in der schönsten Blüte ihrer Jugend, arm an
+Gütern wie an Ansehen, zurückbleiben, von den regierenden
+Fürsten Italiens gehaßt, von den Orsini wenig
+geliebt und ohne Hoffnung auf eine neue Ehe nach
+seinem Tode. Wie ein großer Herr von Treu und Ehre
+machte er aus eigenem Antrieb ein Testament, in dem
+<a id="page-183"></a><span class="pgnum">183</span>er das Vermögen der Unglücklichen sicherstellen wollte.
+Er vermachte ihr an Geld und Juwelen die bedeutende
+Summe von 100&nbsp;000 Piastern, außerdem alle Pferde,
+Karossen und Möbel, deren er sich auf dieser Reise bediente.
+Den Rest seines Vermögens hinterließ er zur
+Gänze seinem einzigen Sohn, Virginio Orsini, den ihm
+seine erste Frau, die Schwester Franz I. Großherzogs
+von Toskana, geboren hatte und die er, mit Einwilligung
+ihrer Brüder, wegen Untreue hatte ermorden lassen.</p>
+
+<p>Aber wie unsicher die menschliche Voraussicht ist!
+Die Verfügungen, welche Paolo Orsini traf, um diese
+unglückliche junge Frau vollkommen sicher zu stellen,
+brachten sie in Verderben und Untergang.</p>
+
+<p>Nachdem er sein Testament unterzeichnet hatte, fühlte
+sich der Fürst am zwölften November ein wenig besser.
+Am Morgen des dreizehnten ließ man <a class="sic" id="sicA-15" href="#sic-15">ihm zu</a> Ader, und
+die Ärzte, die ihre Hoffnung in eine strenge Diät setzten,
+trafen die genauesten Anordnungen, damit er keine
+Nahrung zu sich nähme.</p>
+
+<p>Aber sie hatten kaum das Zimmer verlassen, als der
+Fürst verlangte, daß man ihm das Essen serviere und
+er aß und trank wie gewöhnlich. Kaum war die Mahlzeit
+beendet, verlor er das Bewußtsein und zwei Stunden vor
+Sonnenuntergang war er tot.</p>
+
+<p>Nach diesem plötzlichen Tod begab sich Vittoria, von
+ihrem Bruder Marcello und dem ganzen Hofstaat des
+verblichenen Fürsten begleitet, nach Padua, in den bei
+der Arena gelegenen Palazzo Foscarini, den der Fürst
+damals gemietet hatte.</p>
+
+<p>Kurz nach ihrer Ankunft wurde sie von ihrem Bruder
+Flaminio aufgesucht, der beim Kardinal Farnese in
+vollster Gunst stand. Sie tat gerade damals Schritte, um
+die Auszahlung des Legats, das ihr Gatte ihr vermacht
+<a id="page-184"></a><span class="pgnum">184</span>hatte, zu erwirken. Dieses Legat bestand aus 10&nbsp;000 Piastern
+in bar, die ihr im Laufe von zwei Jahren ausgezahlt
+werden sollten, und zwar unabhängig von ihrer
+Mitgift und der Gegengabe und allen Juwelen und
+Möbeln, die in ihrem Besitz waren. Fürst Orsini hatte in
+seinem Testament verfügt, daß man ihr in Rom oder
+in einer anderen Stadt, die sie wählte, einen Palast im
+Werte von 10&nbsp;000 Piastern und ein Landhaus im Werte
+von 6000 kaufen solle; außerdem hatte er noch vorgeschrieben,
+daß für ihren Tisch und für ihren ganzen
+Hausstand gesorgt werden müsse, wie es einer Frau ihres
+Ranges gebühre. Der Dienst sollte aus vierzig Leuten
+bestehen und einer Anzahl Pferden.</p>
+
+<p>Signora Vittoria setzte große Hoffnung in die Gunst
+der Fürsten von Ferrara, von Florenz und von Urbino
+und der Kardinäle Farnese und Medici, welche von dem
+verstorbenen Fürsten zu seinen Testamentsvollstreckern
+ernannt worden waren. Es ist zu bemerken, daß das
+Testament nach Padua gesandt und den Kapazitäten
+Parrizoli und Menochio vorgelegt worden war, den ersten
+Professoren dieser Universität und noch heute berühmten
+Rechtsgelehrten.</p>
+
+<p>Fürst Luigi Orsini kam nach Padua, um sich dessen
+zu entledigen, was er in bezug auf den verstorbenen
+Fürsten und seine Witwe zu tun hatte und dann als Statthalter
+der Insel sich nach Korfu zu begeben, wozu er
+von der erhabenen Republik ausersehen worden war.</p>
+
+<p>Zuerst entstand eine Schwierigkeit zwischen Signora
+Vittoria und dem Fürsten Luigi wegen der Pferde des
+verstorbenen Herzogs, von denen der Fürst meinte, daß
+sie, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch folgend, nicht
+eigentlich Gebrauchsgegenstände seien; aber die Herzogin
+bewies, daß sie wie eigentliche Gebrauchsgegenstände
+<a id="page-185"></a><span class="pgnum">185</span>anzusehen wären und es wurde beschlossen, daß sie bis
+zu späterer Entscheidung in ihrer Benützung bleiben
+sollten; sie stellte als Bürgen den Signor Soardi di
+Bergamo, Condottiere der Signoria von Venedig, einen
+sehr reichen und zu den angesehendsten seines Vaterlands
+zählenden Edelmann.</p>
+
+<p>Es kam noch eine Schwierigkeit hinzu, die eine
+gewisse Menge Silbergeschirr betraf, das der verstorbene
+Herzog dem Fürsten Luigi als Zahlung für einen Geldbetrag
+ausgesetzt hatte, der ihm von diesem geliehen
+worden war. Alles wurde durch Rechtsspruch entschieden,
+denn der durchlauchtigste Herzog von Ferrara
+verwandte sich dafür, daß die letzten Anordnungen des
+verstorbenen Fürsten Orsini genau durchgeführt würden.</p>
+
+<p>Diese zweite Angelegenheit wurde am dreiundzwanzigsten
+Dezember, der auf einen Sonntag fiel, entschieden.</p>
+
+<p>In der folgenden Nacht drangen vierzig Männer in
+das Haus der Accoramboni. Sie waren in Leinengewänder
+von ungewöhnlichem Schnitt gekleidet, die so angelegt
+waren, daß man sie nicht erkennen konnte, wenn nicht
+an der Stimme; und sobald sie sich untereinander riefen,
+gebrauchten sie gewisse verabredete Ausdrücke.</p>
+
+<p>Sie suchten zuerst nach der Herzogin, und als sie
+diese gefunden hatten, sagte ihr einer von ihnen: „Jetzt
+heißt es sterben.“</p>
+
+<p>Und ohne ihr einen Augenblick zu gewähren, während
+sie noch bat, sich ihrem Gott empfehlen zu dürfen,
+durchbohrte er sie mit einem dünnen Dolch gerade
+unter der linken Brust. Der Grausame bewegte den Dolch
+in allen Richtungen und fragte die Unglückliche mehrmals
+dabei, ob er ihr Herz schon berühre; endlich gab
+sie den letzten Seufzer von sich. Währenddessen suchten
+die anderen nach den Brüdern der Herzogin, von denen
+<a id="page-186"></a><span class="pgnum">186</span>einer, Marcello, sein Leben rettete, weil man ihn nicht im
+Hause fand, der andre aber von hundert Stichen durchbohrt
+wurde. Die Mörder ließen die Toten auf der Erde,
+das ganze Haus in Tränen und Klagen zurück, und als
+sie sich der Kassette bemächtigt hatten, welche die
+Juwelen und das Geld enthielt, verschwanden sie.</p>
+
+<p>Diese Neuigkeit gelangte schnell zu den Behörden von
+Padua, sie ließen die Leichen agnoszieren und erbaten
+von Venedig Verhaltungsmaßregeln.</p>
+
+<p>Während des ganzen Montags war ein ungeheurer Zustrom
+zum Palast und zur Kirche der Eremiten, um
+die Leichen zu sehen. Die Neugierigen waren von Mitleid
+bewegt, besonders als sie die Herzogin so schön sahen:
+sie weinten über ihr Unglück et dentibus fremebant, und
+knirschten mit den Zähnen gegen die Mörder, wie der
+Chronist sagt; aber man kannte noch nicht ihre Namen.</p>
+
+<p>Da die Corte auf schwere Indizien hin Verdacht gefaßt
+hatte, daß die Tat auf Anstiftung oder wenigstens
+mit Zustimmung des Fürsten Luigi verübt worden sei,
+ließ sie ihn vorladen und als er ins Gericht zu dem
+sehr illustren Hauptmann mit einem Gefolge von
+vierzig Bewaffneten eintreten wollte, versperrte man
+ihm die Tür und sagte ihm, daß er nur mit drei oder vier
+Leuten hineingehen dürfe. Aber im Augenblick, als diese
+eintraten, drängten die andern nach, schoben die Wachen
+beiseite und traten alle ein.</p>
+
+<p>Als Fürst Luigi vor dem sehr illustren Kapitän stand,
+beklagte er sich über eine solche Beleidigung und
+betonte, daß noch kein souveräner Fürst eine solche
+Behandlung erfahren habe. Der sehr illustre Hauptmann
+fragte, ob er irgend etwas vom Tod der Signora Vittoria
+und von dem, was in der vorangegangenen Nacht geschehen
+war, wisse; er erklärte, daß er es wisse und daß
+<a id="page-187"></a><span class="pgnum">187</span>er befohlen habe, den Behörden Anzeige zu machen. Man
+wollte seine Antwort schriftlich niederlegen; er erwiderte,
+daß Männer seines Ranges nicht an diese Förmlichkeit
+gebunden seien und daß sie auch nicht verhört
+werden dürfen.</p>
+
+<p>Fürst Luigi bat um die Erlaubnis, einen Kurier nach
+Florenz mit einem Brief an den Fürsten Virginio senden
+zu dürfen, dem er von dem Verfahren Mitteilung machen
+wolle und von dem Verbrechen, das stattgefunden habe.
+Er zeigte einen fingierten Brief, der nicht der richtige
+war und erreichte, was er verlangte.</p>
+
+<p>Aber der abgesandte Bote wurde vor der Stadt angehalten
+und sorgfältig untersucht; man fand den Brief,
+den Fürst Luigi gezeigt hatte und einen zweiten, in
+den Schuhen des Kuriers versteckten; er hatte folgenden
+Wortlaut:</p>
+
+<p class="letterfirst">„Dem Herrn Virginio Orsini</p>
+<p class="lettersecond">Sehr illustrer Herr,</p>
+
+<p>Wir haben zur Ausführung gebracht, was zwischen
+uns vereinbart wurde, und auf solche Art, daß wir den
+sehr illustren Tondini (scheinbar der Name des Vorsitzenden
+der Corte, der den Fürsten einvernommen hatte)
+gefoppt haben, und zwar so gut, daß man mich hier für
+den untadeligsten Menschen von der Welt hält. Ich habe
+die Sache persönlich gemacht, versäumt daher nicht,
+sofort die Leute zu schicken, von denen Ihr wißt.“</p>
+
+<p>Der Brief machte Eindruck auf die Behörden; sie
+beeilten sich, ihn nach Venedig zu schicken; auf ihren
+Befehl wurden die Tore der Stadt geschlossen und die
+Mauern Tag und Nacht mit Soldaten besetzt. Man veröffentlichte
+einen Erlaß, der jedem die strengsten
+Strafen androhte, welcher die Mörder kenne und das
+was er wisse, nicht der Behörde anzeige.
+</p>
+
+<p><a id="page-188"></a><span class="pgnum">188</span>Diejenigen der Mörder, welche gegen einen der ihren
+Zeugnis ablegten, sollten nicht bestraft werden, man
+würde ihnen sogar eine Summe Geldes auszahlen. Aber
+um die siebente Stunde nach dem Ave Maria des
+Weihnachtsabends (am vierundzwanzigsten Dezember
+gegen Mitternacht) langte Aloisio Bragadino von Venedig
+mit weitgehender Vollmacht von Seiten des Senats an
+und mit dem Befehl, den Fürsten Luigi und sein Gefolge
+lebend oder tot, was es auch kosten möge, zu verhaften.</p>
+
+<p>Der Signor Avogador Bragadino, die Hauptleute und
+der Bürgermeister vereinigten sich in der Festung.</p>
+
+<p>Unter Androhung des Galgens wurde befohlen, daß
+die ganze Mannschaft, Fußtruppen und Berittene, gut
+bewaffnet das Haus des Fürsten Luigi einschließen
+solle, das anstoßend an die Kirche Sant Agostino nahe
+der Festung auf der Arena lag.</p>
+
+<p>Als es Tag geworden war, es war der Weihnachtstag,
+wurde ein Edikt in der Stadt veröffentlicht, welches die
+Söhne San Marcos aufforderte, bewaffnet zum Hause
+des Signor Luigi zu eilen; die keine Waffen besaßen,
+sollten zur Festung kommen, wo man ihnen so viele
+geben würde, als sie wollten; dieses Edikt versprach
+eine Belohnung von zweitausend Dukaten demjenigen,
+der den Signor Luigi lebend oder tot der Corte einlieferte
+und fünfhundert Dukaten für jeden seiner Leute. Außerdem
+wurde ein Befehl erlassen, niemand dürfe sich
+waffenlos dem Hause des Fürsten nähern, damit er
+denen, die sich schlagen wollten, nicht im Wege sei,
+falls der Fürst es für günstig hielte, einen Ausfall zu
+versuchen.</p>
+
+<p>Zu gleicher Zeit brachte man Wallbüchsen, Mörser
+und schwere Artillerie auf die alten Mauern, dem Hause
+des Fürsten gegenüber; ebenfalls auf die neuen Mauern,
+<a id="page-189"></a><span class="pgnum">189</span>von denen man die Rückseite dieses Hauses erblickte.
+Auf dieser Seite hatte man auch die Reiterei so aufgestellt,
+daß sie Bewegungsfreiheit hatte, falls man ihrer
+bedurfte. Längs der Ufer der Brenta war man damit beschäftigt,
+Bänke, Schränke, Wagen und andre Gegenstände,
+die sich zur Deckung eigneten, aufzuhäufen. Man
+wollte auf diese Weise Unternehmungen der Belagerten
+erschweren, wenn sie etwa in geschlossener Ordnung
+gegen das Volk vorgehen würden. Diese Brustwehr sollte
+auch dazu dienen, die Artilleristen und die Soldaten gegen
+die Flintenschüsse der Belagerten zu schützen.</p>
+
+<p>Endlich setzte man noch Barken auf den Fluß, dem
+Hause des Fürsten gegenüber und zu dessen beiden
+Seiten; welche von Bewaffneten mit Musketen besetzt
+waren, die den Feind bei einem Ausbruchsversuch beunruhigen
+sollten; gleichzeitig wurden in allen Straßen
+Barrikaden errichtet.</p>
+
+<p>Während dieser Vorbereitungen traf ein Schreiben ein,
+das in sehr gemäßigtem Ton gehalten war. In diesem beklagte
+sich der Fürst, weil man ihn für schuldig halte
+und als Feind, ja sogar als Rebell behandle, bevor man
+die Angelegenheit geprüft habe. Dieser Brief war
+von Liveroto verfaßt worden.</p>
+
+<p>Am 27. Dezember wurden drei Edelleute, die hervorragendsten
+der Stadt, von den Behörden zu Fürst Luigi
+gesandt, welcher bei sich im Hause vierzig Männer, lauter
+alte kampfgewohnte Soldaten hatte. Man fand sie damit
+beschäftigt, sich hinter einer Brustwehr aus Balken und
+mit Wasser getränkten Matten zur Verteidigung einzurichten,
+und ihre Flinten vorzubereiten.</p>
+
+<p>Die drei Edelleute erklärten dem Fürsten, daß die
+Behörden entschlossen seien, sich seiner Person zu bemächtigen;
+sie forderten ihn auf, sich zu ergeben und
+<a id="page-190"></a><span class="pgnum">190</span>fügten hinzu, daß er durch diesen Schritt, bevor es
+noch zum Angriff gekommen sei, einige Barmherzigkeit
+erhoffen könne. Worauf Fürst Luigi antwortete: daß
+vor allem die Wachen rings um sein Haus entfernt
+werden sollten, dann würde er sich von zwei oder drei
+der Seinen begleitet, zu den Behörden begeben, um über
+die Sache zu verhandeln; aber nur unter der ausdrücklichen
+Bedingung, daß es ihm immer freistände, sich
+in sein Haus zurückzubegeben.</p>
+
+<p>Die Abgesandten übernahmen diese, von seiner Hand
+geschriebenen Vorschläge und kehrten zu den Behörden
+zurück, welche diese Bedingungen zurückwiesen; hauptsächlich
+nach dem Rat des sehr illustren Pio Enea und
+anderer anwesender vornehmer Herren. Die Abgesandten
+kehrten zum Fürsten zurück und kündigten ihm an:
+wenn er sich nicht einfach und ohne jeden Vorbehalt
+ergebe, werde man sein Haus durch Artillerie wegfegen
+lassen; worauf er antwortete, daß er den Tod diesem
+Akte der Unterwerfung vorzöge.</p>
+
+<p>Die Behörden gaben das Signal zum Angriff und obwohl
+man das Haus fast mit einer einzigen Salve hätte
+zerstören können, zog man es vor, zuerst mit einer gewissen
+Vorsicht vorzugehen, um zu sehen, ob die Belagerten
+sich nicht doch ergeben wollten.</p>
+
+<p>Dieser Ausweg glückte und man hat dadurch San
+Marco viel Geld erspart, das der Wiederaufbau der zerstörten
+Teile des angegriffenen Palastes gekostet haben
+würde; indessen wurde er nicht allgemein gebilligt.
+Hätten die Leute des Signor Luigi ohne Zögern ihren
+Entschluß gefaßt und einen Sturm aus dem Hause gewagt,
+so wäre die Entscheidung höchst unsicher gewesen.
+Es waren alte Soldaten, es fehlte ihnen weder an Munition,
+noch an Waffen, noch an Mut, sie hatten das größte
+<a id="page-191"></a><span class="pgnum">191</span>Interesse zu siegen, denn war es nicht, selbst den
+schlimmsten Fall angenommen, besser für sie, durch
+einen Flintenschuß zu sterben, als durch die Hand des
+Henkers? Übrigens, mit wem hatten sie es denn zu
+tun? Mit armseligen Belagerern, wenig erfahren in den
+Waffen; und in diesem Fall hätten die edlen Herren
+ihre Klugheit und natürliche Milde bereut.</p>
+
+<p>Man begann also die Kolonnaden an der Vorderseite
+des Palastes zu beschießen, dann — immer ein wenig
+höher zielend — zerstörte man die Mauerfront dahinter.
+Während dieser Zeit unterhielten die Leute aus dem
+Innern ein starkes Gewehrfeuer, doch ohne andre
+Wirkung, als daß ein Mann aus dem Volk an der
+Schulter verwundet wurde.</p>
+
+<p>Signor Luigi schrie mit großem Ungestüm: Kampf!
+Kampf! Krieg! Krieg! Er war eifrig beschäftigt,
+Kugeln aus dem Zinn der Schüsseln und aus dem Blei
+der Fensterrahmen gießen zu lassen. Er drohte einen
+Ausfall zu machen, doch die Belagerer griffen zu neuen
+Maßnahmen und man ließ Artillerie schwersten Kalibers
+vorrücken.</p>
+
+<p>Beim ersten Schuß stürzte ein großes Stück des
+Hauses zusammen und ein gewisser Pandolfo Leopratti
+aus Camerino geriet unter die Trümmer. Das war ein
+Mann von großem Mut und ein Bandit von Ruf. Er war
+aus den Staaten der Heiligen Kirche verbannt und der
+illustre Signor Vitelli hatte auf seinen Kopf einen Preis
+von vierhundert Piastern gesetzt, aus Anlaß der Ermordung
+von Vincenzo Vitelli, der in seinem Wagen angegriffen
+und durch Flintenschüsse und Dolchstiche
+ermordet worden war, die ihm Fürst Luigi Orsini durch
+den Arm des genannten Pandolfo und seiner Genossen
+verabreichen ließ. Ganz betäubt von seinem Sturz konnte
+<a id="page-192"></a><span class="pgnum">192</span>Pandolfo keine Bewegung machen; ein Bediensteter der
+Herren Caidi Lista näherte sich ihm, eine Pistole in
+der Hand und schnitt ihm tapfer den Kopf ab, den er
+eiligst nach der Festung brachte und den Behörden
+ablieferte.</p>
+
+<p>Kurz darauf brachte ein anderer Artillerietreffer ein
+Stück Mauerwerk des Hauses zu Fall und zugleich damit
+stürzte Graf Montemelino aus Perugia und starb unter
+den Trümmern, ganz von dem Geschoß zerschmettert.</p>
+
+<p>Darauf sah man eine Persönlichkeit, genannt Oberst
+Lorenzo, von edlem Geschlecht aus Camerino, aus dem
+Haus treten, einen sehr reichen Herrn, der bei verschiedenen
+Gelegenheiten Proben seines Werts gegeben hatte
+und vom Fürsten sehr geschätzt wurde. Er beschloß,
+nicht gänzlich ungerächt zu sterben, er wollte sein Gewehr
+abfeuern, aber während er das Rad drehte, geschah
+es, vielleicht mit dem Willen Gottes, daß sein Gewehr
+nicht Feuer gab und in diesem Augenblick ging ihm eine
+Kugel durch den Leib. Der Schuß war von einem armen
+Teufel getan, einem Repetitor der Schüler von San
+Michele. Und als dieser sich nun näherte, um dem
+Oberst, wegen der ausgesetzten Belohnung, den Kopf
+abzuschneiden, kamen ihm andre zuvor, die schneller
+und vor allem stärker waren als er, nahmen die Börse,
+den Gürtel, die Flinte, das Geld und die Ringe des Obersten
+und schnitten das Haupt ab.</p>
+
+<p>Diejenigen, in welche Fürst Luigi das größte Vertrauen
+gesetzt hatte, waren tot; er blieb sehr bestürzt, und
+man konnte beobachten, daß er keine Bewegung mehr
+machte.</p>
+
+<p>Signor Filenfi, sein Haushofmeister und Sekretär,
+machte vom Balkon aus Zeichen mit einem weißen
+Taschentuch, daß er sich ergeben wolle. Er kam heraus
+<a id="page-193"></a><span class="pgnum">193</span>und wurde nach der Festung geführt: „unter dem Arm“,
+wie es Kriegsgebrauch sein soll; durch Anselmo Suardo,
+Leutnant der Polizei. Er wurde sogleich verhört und
+sagte, daß er keine Schuld an den Geschehnissen
+habe, weil er erst am Weihnachtsabend von Venedig gekommen
+sei, wo er sich mehrere Tage in <a class="sic" id="sicA-16" href="#sic-16">Angelegeheiten</a>
+des Fürsten aufgehalten habe.</p>
+
+<p>Man fragte ihn, wieviel Leute der Fürst bei sich habe;
+er antwortete: „zwanzig oder dreißig Mann.“</p>
+
+<p>Man fragte nach ihren Namen, er sagte, daß acht oder
+zehn von ihnen, als Standespersonen gleich ihm an der
+Tafel des Fürsten speisten und daß er deren Namen
+wisse, doch besäße er von den anderen, die ein unstetes
+Leben führten und erst seit kurzem beim Fürsten eingetreten
+wären, keine nähere Kenntnis.</p>
+
+<p>Er nannte dreizehn Personen, darunter den Bruder von
+Liveroto.</p>
+
+<p>Kurz darauf begann die Artillerie auf den Stadtmauern
+zu spielen. Die Soldaten besetzten die Häuser,
+die an den Palast des Fürsten grenzten, um die Flucht
+seiner Leute zu verhindern. Der Fürst, der in gleicher
+Gefahr gewesen war, wie jene, deren Tod wir erzählt
+haben, sagte denen, die ihn umgaben, sie möchten ausharren,
+bis sie ein Schreiben von seiner Hand und ein
+bestimmtes Zeichen gesehen hätten; danach ergab er sich
+dem schon erwähnten Anselmo Suardo. Und weil man
+ihn wegen der Menschenmassen und der in den Straßen
+errichteten Barrikaden nicht wie es vorgeschrieben war,
+im Wagen abführen konnte, wurde beschlossen, daß er
+zu Fuß ginge.</p>
+
+<p>Er ging, umgeben von den Leuten des Marcello Accoramboni;
+ihm zu Seiten waren die Herren Condottieri,
+der Leutnant Suardo, andre Spitzen und Edelleute der
+<a id="page-194"></a><span class="pgnum">194</span>Stadt, alle wohl mit Waffen versehen. Daran schloß
+gut eine Kompagnie Bewaffneter und Stadtsoldaten.
+Fürst Luigi ging braun gekleidet, sein Stilett an der Seite
+und seinen Mantel unter dem Arm, ihn in elegantester
+Weise tragend; er sagte mit einem Lächeln voller Verachtung:
+„Wenn ich gekämpft hätte!“ Er wollte beinahe
+zu verstehen geben, daß er den Sieg davongetragen
+hätte. Vor die Signoria geführt, grüßte er und sagte,
+auf Signor Anselmo weisend:</p>
+
+<p>„Meine Herren, ich bin der Gefangene dieses Edelmannes
+und bin sehr ungehalten über das, was ohne
+mein Darzutun geschehen ist.“</p>
+
+<p>Als ihm auf Befehl des Kapitäns das Stilett, das er an
+der Seite trug, abgenommen wurde, lehnte er sich an
+die Fensterbrüstung und begann sich mit einer kleinen
+Schere, welche dort lag, die Nägel zu schneiden.</p>
+
+<p>Man fragte ihn, welche Personen er in seinem Hause
+hätte; er nannte unter den andren den Obersten Liveroto
+und den Grafen Montemelino, von denen schon
+die Rede war, und sagte, daß er für den einen von
+ihnen zehntausend Piaster und für den andern sogar
+sein Blut hingäbe, könnte er sie freikaufen. Er forderte,
+an einem Ort in Gewahrsam gehalten zu werden, wie
+es einem Manne seiner Stellung zukomme. Als man sich
+darüber geeinigt hatte, schrieb er seinen Leuten eigenhändig
+und befahl ihnen, sich zu ergeben; seinen Ring
+legte er als Zeichen bei. Er sagte dann Signor Anselmo,
+daß er ihm seinen Degen und seine Flinte schenke und
+bat ihn, wenn diese Waffen in seinem Hause gefunden
+würden, sich ihrer ihm zu Ehren zu bedienen, da es
+Waffen eines Edelmanns seien und nicht die eines gewöhnlichen
+Soldaten.</p>
+
+<p>Die Soldaten drangen in sein Haus, durchsuchten es
+<a id="page-195"></a><span class="pgnum">195</span>mit Sorgfalt, und auf der Stelle ließ man die Leute
+des Fürsten antreten, von denen noch vierunddreißig
+am Leben waren, dann wurden sie, zwei und zwei, in
+das Gefängnis des Palastes geführt. Die Toten wurden
+den Hunden zur Beute gelassen und man beeilte sich,
+von all dem in Venedig Rechenschaft abzulegen.</p>
+
+<p>Man bemerkte, daß viele Soldaten des Fürsten Luigi,
+Komplizen der Tat, nicht zu finden waren; man verbot,
+ihnen Schutz zu gewähren, und Zuwiderhandelnden
+sollten die Häuser zerstört und ihre Güter konfisziert
+werden; wer sie denunzieren würde, sollte fünfzig
+Piaster erhalten. Auf diese Weise fand man ihrer
+mehrere.</p>
+
+<p>Man schickte eine Fregatte von Venedig nach Kandia
+aus, mit dem Befehl für Signor Latino Orsini, daß er
+unverzüglich wegen einer Angelegenheit von höchster
+Wichtigkeit zurückkehren möge; und man glaubt, daß
+er seine Stellung verlieren wird.</p>
+
+<p>Gestern früh, am Tage des heiligen Stephan, erwartete
+alle Welt den Fürsten Luigi sterben zu sehen
+oder zu hören, daß er im Gefängnis erwürgt worden
+sei; und man war allgemein überrascht, daß es anders
+geschah, weil er doch kein Vogel wäre, den man lang
+im Käfig halten dürfte. Aber in der folgenden Nacht
+fand der Prozeß statt und am Tage von San Giovanni,
+ein wenig vor Sonnenaufgang, erfuhr man, daß der
+Herr erdrosselt worden und in sehr guter Haltung gestorben
+sei. Sein Leichnam wurde ohne Verzug in die
+Kathedrale gebracht, vom Klerus dieser Kirche und von
+den Jesuitenvätern geleitet. Er blieb den ganzen Tag
+über auf einem Tisch in der Mitte der Kirche aufgebahrt,
+um dem Volk als Schauspiel zu dienen und
+den Unerfahrenen zur Lehre.
+</p>
+
+<p><a id="page-196"></a><span class="pgnum">196</span>Am nächsten Morgen wurde die Leiche nach Venedig
+überführt, wie der Fürst es in seinem Testament angeordnet
+hatte; und dort wurde er begraben.</p>
+
+<p>Am Samstag hängte man zwei seiner Leute; der erste
+und vornehmere war Furio Savorgnano, der andre war
+ein gemeiner Mann.</p>
+
+<p>Am Montag, dem vorletzten Tag des Jahrs, hängte
+man noch dreizehn, von denen mehrere sehr vornehm
+waren; zwei weitere, der eine war der Kapitän Splendiano
+und der andre der Graf Paganello, wurden auf
+den Richtplatz geführt und dabei leicht mit Zangen gezwickt;
+auf der Richtstätte angelangt, wurden sie niedergeschlagen,
+man brach ihnen den Schädel und schnitt
+sie noch fast lebendig in Stücke. Es waren Edelleute,
+und bevor sie auf den schlechten Weg gerieten, sehr
+reich. Man sagt, daß es Graf Paganello war, der Vittoria
+Accoramboni so grausam getötet habe, wie wir es berichtet
+haben. Andre hielten dem entgegen, daß Fürst
+Luigi in seinem aufgefangenen Brief bezeugt, daß er
+die Tat mit eigner Hand ausgeführt habe. Vielleicht
+war es nur Ruhmsucht wie damals in Rom, als er Vitelli
+ermorden ließ, oder geschah wohl auch, um sich die
+Gunst des Fürsten Virginio noch mehr zu sichern.</p>
+
+<p>Bevor Graf Paganello den tödlichen Stoß erhielt,
+wurde er mit einem Messer wiederholt unter der linken
+Brust durchbohrt, um sein Herz zu treffen, so wie er es
+der armen Frau gemacht hatte. Dabei geschah es, daß
+das Blut wie ein Strom aus der Brust floß. Er lebte so
+noch länger als eine halbe Stunde, zum großen Staunen
+aller. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, von
+sehr kräftiger Natur.</p>
+
+<p>Die Galgen sind noch gerichtet, um die neunzehn
+<a class="sic" id="sicA-17" href="#sic-17">Übriggebiebenen</a> am ersten Tag, der kein Festtag sein
+<a id="page-197"></a><span class="pgnum">197</span>wird, ins Jenseits zu befördern. Aber weil der Henker
+außerordentlich ermüdet ist und das Volk wie in Betäubung,
+weil es so viele Tote gesehen hat, verschiebt man
+die Hinrichtung während dieser zwei Tage. Man denkt
+nicht daran, irgend jemand leben zu lassen. Von den
+Leuten, die zum Fürsten gehörten, wird wohl niemand
+davonkommen, höchstens Signor Filenfi, sein Haushofmeister,
+der sich die größte Mühe von der Welt gibt,
+denn die Sache ist ja wirklich für ihn wichtig, um zu
+beweisen, daß er nichts mit der Tat zu tun hatte.</p>
+
+<p>Selbst von den Ältesten dieser Stadt Padua erinnert
+sich niemand, daß man je durch ein gerechteres Urteil
+so vielen Menschen auf einmal ans Leben gegangen ist.
+Und diese Herren von Venedig haben sich damit einen
+guten Namen und Ruf bei den zivilisierten Völkern erworben.</p>
+
+<hr/>
+
+<p>Von anderer Hand hinzugefügt:</p>
+
+<p>Der Sekretär und Haushofmeister Francesco Filenfi
+wurde zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Der
+Mundschenk Onorio Adami von Fermo, ebenso wie zwei
+andere zu einem Jahr Gefängnis, sieben andre wurden
+zur Galeere mit Ketten an den Füßen verurteilt und
+schließlich freigelassen.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-199"></a><span class="pgnum">199</span>DIE ÄBTISSIN VON CASTRO</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-200"></a><span class="pgnum">200</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p>
+
+
+<h3><a id="page-201"></a><span class="pgnum">201</span>I.</h3>
+
+<p>Die italienischen Briganten des sechzehnten Jahrhunderts
+hat uns das Melodrama so oft gezeigt, und soviele
+Leute haben von ihnen gesprochen, ohne sie zu
+kennen, daß wir uns heute eine ganz falsche Vorstellung
+von ihnen machen. Man kann im allgemeinen sagen,
+daß diese Briganten den Widerstand gegen die unmenschlichen
+Regierungen ausdrückten, welche in
+Italien auf die Republiken des Mittelalters gefolgt
+waren. Der neue Tyrann, gewöhnlich schon der reichste
+Bürger der Republik, bevor er sie stürzte, schmückte,
+um das Volk zu gewinnen, die Stadt mit prächtigen
+Kirchen und mit schönen Gemälden. Von solcher Art
+waren die Polentini von Ravenna, die Manfredi von
+Faenza, die Riario von Imola, die Visconti von Mailand
+die Bentivoglio von Bologna und endlich die Medici
+von Florenz, die am wenigsten kriegerischen und
+heuchlerischsten von allen. Unter den Historikern
+dieser kleinen Staaten ist keiner, der es gewagt hätte,
+von den unzähligen Vergiftungen und Morden zu
+erzählen, welche von der quälenden Angst dieser
+kleinen Tyrannen veranlaßt worden sind; jene würdigen
+Historiker waren in ihrem Sold. Man erwäge,
+daß jeder dieser Tyrannen jeden dieser Republikaner,
+von denen er sich persönlich gehaßt wußte, persönlich
+kannte, — Cosimo, Großherzog von Toskana z.B.
+<a id="page-202"></a><span class="pgnum">202</span>kannte Sforza —, und daß mehrere dieser Tyrannen
+ermordet worden sind: dann wird man den tiefen Haß,
+das dauernde Mißtrauen verstehen, woraus den Italienern
+des sechzehnten Jahrhunderts soviel Geist und Mut erwuchs
+und ihren Künstlern soviel Genie. Man wird
+sehen, daß diese heftigen Leidenschaften das Entstehen
+jenes lächerlichen Vorurteils verhinderten, das zur Zeit
+Madame de Sévignés Ehre genannt wurde und vor
+allem darin besteht, sein Leben für den Herrn zu opfern,
+als dessen Untertan man geboren ist, oder um
+den Damen zu gefallen. Im sechzehnten Jahrhundert
+konnten sich in Frankreich die Tatkraft eines Mannes
+und sein wahres Verdienst nur durch Tapferkeit auf
+dem Schlachtfeld oder im Zweikampf zeigen; aber da
+auch Frauen die Tapferkeit und vor allem die Tollkühnheit
+lieben, sind sie darin die höchsten Richter geworden.
+Von da an entstand der Geist der Galanterie,
+der die allmähliche Vernichtung aller Leidenschaften,
+ja selbst der Liebe vorbereitete; zugunsten der Eitelkeit,
+dieses grausamen Tyrannen, dem wir alle gehorchen.
+Die Könige förderten die Eitelkeit, und mit
+Recht: deshalb die Herrschaft der Ordenssterne.</p>
+
+<p>In Italien zeichnete sich ein Mann durch alle Arten
+von Leistung aus, ebenso durch starke Degenstöße, wie
+durch Entdeckungen aus alten Handschriften: man sehe
+Petrarca, den Abgott seiner Zeit; und eine Frau des
+sechzehnten Jahrhunderts vermochte einen Mann, der
+im Griechischen erfahren war, ebenso und heftiger
+zu lieben, als einen durch kriegerische Tapferkeit Berühmten.
+Damals erlebte man die Leidenschaften und
+nicht Gewohnheit der Galanterie. Das ist der große Unterschied
+zwischen Italien und Frankreich, und das ist es,
+weshalb Italien die Raffael, Giorgione, Tizian, Correggio
+<a id="page-203"></a><span class="pgnum">203</span>gebar, während Frankreich alle jene tapfren
+Truppenführer des sechzehnten Jahrhunderts hervorbrachte,
+die heute so unbekannt sind, obgleich doch
+jeder von ihnen eine so große Anzahl Feinde getötet hat.
+Ich bitte für diese groben Wahrheiten um Verzeihung.</p>
+
+<p>Wie dem aber auch sei, die grausamen und notwendigen
+Racheakte der kleinen italienischen Tyrannen
+des Mittelalters versöhnten das Herz des Volks mit
+den Briganten. Man haßte die Briganten, wenn sie
+Pferde, Getreide, Geld, mit einem Wort alles, was
+ihnen zum Leben notwendig war, stahlen, aber im Grund
+war das Gefühl des Volks für sie, und die Dorfmädchen
+zogen allen andren jungen Leuten den vor, der sich
+einmal in seinem Leben genötigt gesehen hatte: „d'andar
+alla macchia“, das heißt: in die Wälder zu fliehen
+und wegen einer zu unvorsichtigen Tat bei den Räubern
+Zuflucht zu suchen.</p>
+
+<p>Noch heute fürchtet man sich sicherlich allgemein,
+den Briganten zu begegnen, aber wenn sie in Ketten
+gelegt werden, bedauert sie jedermann. Das kommt daher,
+daß dieses so bewegliche, spöttische Volk, das über
+alles lacht, was unter der Zensur seiner Herrn veröffentlicht
+wird, jene kleine romantischen Geschichten, die mit
+Wärme das Leben der Briganten schildern, zu seiner
+ständigen Lektüre gewählt hat. Was es Heroisches in
+diesen Schilderungen gibt, entzückt den künstlerischen
+Nerv, der immer in den unteren Klassen lebt, und außerdem
+ist es so ermüdet von dem offiziellen Lob, das gewissen
+Leuten gespendet wird, daß alles, was nicht in
+dieser Art ist, ihm unmittelbar zu Herzen geht. Man muß
+wissen, daß das niedere Volk in Italien unter gewissen
+Dingen leidet, die dem Fremden niemals auffallen,
+wenn er auch zehn Jahre im Lande lebte. Vor fünfzehn
+<a id="page-204"></a><span class="pgnum">204</span>Jahren zum Beispiel, bevor noch die Weisheit
+der Regierungen die Briganten unterdrückt hatte<a href="#FN-5" id="FNA-5"><sup>5</sup></a>,
+konnte man nicht selten sehen, wie ihre Heldentaten die
+Schändlichkeiten der Statthalter in den kleinen Städten
+bestraften. Diese Statthalter hatten unumschränkte Regierungsgewalt,
+aber ihr Gehalt überstieg nicht die
+Summe von zwanzig Talern im Monat, und so waren sie
+natürlich zu Diensten der angesehensten Familie des
+Landes, welche durch dieses einfache Mittel ihre Feinde
+unterdrückte. Wenn es den Briganten auch nicht immer
+glückte, diese kleinen despotischen Statthalter zu bestrafen,
+hielten sie sie wenigstens zum Besten und boten
+ihnen Trotz, was in den Augen dieses spirituellen Volks
+nicht gering gilt. Ein satyrisches Sonett tröstet es in
+allen Leiden und niemals vergißt es eine Beleidigung.
+Dies ist wieder einer der Hauptunterschiede zwischen
+dem Italiener und dem Franzosen.</p>
+
+<p>Hatte im sechzehnten Jahrhundert der Gouverneur
+eines Orts einen armen Einwohner, der sich den Haß
+einer einflußreichen Familie zugezogen hatte, zum Tode
+verurteilt, so geschah es oft, daß Briganten das Gefängnis
+angriffen, um den Bedrängten zu befreien.
+Anderseits hatte die mächtige Familie nicht viel Zutrauen
+zu den acht oder zehn Soldaten der Regierung,
+die beauftragt waren, das Gefängnis zu bewachen, und
+sie warb auf eigene Kosten einen Trupp Gelegenheitssoldaten
+an. Diese Soldaten wurden bravi genannt; sie
+biwakierten in der Umgebung des Gefängnisses und
+<a id="page-205"></a><span class="pgnum">205</span>übernahmen es, den armen Teufel, dessen Tod man erkauft
+hatte, bis zum Richtplatz zu begleiten. Wenn diese
+mächtige Familie einen jungen Mann zu den ihren
+zählte, so stellte er sich an die Spitze dieser militärischen
+Improvisation.</p>
+
+<p>Ich muß zugestehen, daß dieser Zustand durchaus
+gegen die Moral ist; heute hat man das Duell
+und die Langeweile, und die Richter verkaufen sich
+nicht; aber diese Sitten des sechzehnten Jahrhunderts
+waren höchst geeignet, Männer hervorzubringen, die
+dieses Namens würdig waren.</p>
+
+<p>Viele Geschichtsschreiber, heute noch gedankenlos
+von der Literatur der Akademien gelobt, hatten versucht,
+diesen Stand der Dinge, der um 1550 so
+große Charaktere hervorbrachte, zu verheimlichen. Zu
+ihrer Zeit wurden ihre vorsichtigen Lügen mit allen
+den Ehrungen entlohnt, welche die Medici von Florenz,
+die Este von Ferrara, die Vizekönige von Neapel und
+andre zu vergeben hatten. Ein armer Historiker, namens
+Gianone, hat einen Zipfel des Schleiers lüpfen wollen;
+aber weil er nur einen sehr kleinen Teil der Wahrheit
+sich zu sagen getraute und noch dazu in zweifelhafter
+und dunkler Form, ist er sehr langweilig geblieben, was
+ihn nicht davor bewahrt hat, am 7. März 1758 mit
+zweiundachtzig Jahren im Gefängnis zu sterben.</p>
+
+<p>Wenn man die Geschichte Italiens kennenlernen will,
+darf man nicht die allgemein beliebten Autoren lesen,
+denn nirgends war der Preis der Lüge besser bekannt,
+nirgends wurde sie besser bezahlt.</p>
+
+<p>Die ersten Berichte, die man in Italien nach der barbarischen
+Zeit des neunten Jahrhunderts verfaßt hat,
+erwähnen schon die Briganten und sprechen von ihnen,
+als ob sie seit undenklichen Zeiten existiert hätten.
+<a id="page-206"></a><span class="pgnum">206</span>Man lese die Sammlung Muratori. Als zum Unglück für
+das öffentliche Wohl, die Gerechtigkeit und eine gute
+Verwaltung, aber zum Glück für die Künste die Republiken
+des Mittelalters unterdrückt wurden, flüchteten
+die tatkräftigsten Republikaner, die die Freiheit
+mehr als die Mehrzahl ihrer Mitbürger liebten, in die
+Wälder. Natürlich begann das Volk, das durch die
+Baglioni, Malatesta, Bentivoglio, Medici usf. bedrückt
+wurde, deren Feinde zu lieben und zu ehren. Die Grausamkeiten
+der kleinen Tyrannen, welche auf die ersten
+Usurpatoren folgten, z.B. die Grausamkeiten des Cosimo,
+ersten Großherzogs von Florenz, der sogar die nach
+Venedig und Paris geflüchteten Republikaner ermorden
+ließ, vermehrten die Reihen dieser Briganten immer neu.
+Etwa zur Zeit, als unsre Heldin lebte, also um das
+Jahr 1550, leiteten Alfonso Piccolomini, Herzog von
+Monte Mariano, und Marco Sciarra mit Erfolg bewaffnete
+Banden, welche in der Umgebung von Albano die
+damals sehr tapfren Soldaten des Papstes hart bedrängten.
+Die Unternehmungen dieser berühmten Anführer,
+welche noch heute das Volk bewundert, dehnen
+sich vom Po und von den Sümpfen bei Ravenna bis zu
+den Wäldern aus, die damals den Vesuv bedeckten. Der
+Wald von Faggiola, fünf Meilen von Rom, auf der
+Straße nach Neapel gelegen, war berühmt als das Hauptquartier
+des Sciarra, der unter Gregors XIII. Pontifikat
+oft einige tausend Soldaten beisammen hatte. Die
+Geschichte dieses berühmten Briganten würde in den
+Augen der gegenwärtigen Generation unglaubwürdig erscheinen,
+weil man niemals die Motive seiner Handlungen
+verstehen würde. Er wurde erst im Jahre 1592
+besiegt. Als seine Sache verzweifelt stand, unterhandelte
+er mit der Republik Venedig und trat mit seinen
+<a id="page-207"></a><span class="pgnum">207</span>treuesten oder, wenn man will, schuldigsten Soldaten in
+ihren Dienst. Auf die Beschwerden Roms hin ließ Venedig,
+obgleich es einen Vertrag mit Sciarra unterzeichnet
+hatte, ihn ermorden und schickte seine tapferen
+Soldaten zur Verteidigung der Insel Kandia gegen die
+Türken. Denn die <a class="sic" id="sicA-18" href="#sic-18">venezianische</a> Weisheit wußte sehr
+wohl, daß eine mörderische Pest in Kandia wütete, und
+binnen einigen Tagen waren die fünfhundert Soldaten,
+die Sciarra in den Dienst der Republik gestellt hatte,
+auf siebenundsechzig Mann zusammengeschmolzen.</p>
+
+<p>Dieser Wald von Faggiola, dessen gigantische Bäume
+einen alten Vulkan bedeckten, war der letzte Schauplatz
+der Heldentaten Marco Sciarras. Alle Reisenden
+werden bestätigen, daß dies der herrlichste Ort der
+wunderbaren römischen Campagna ist, deren düsteres
+Aussehen wie für eine Tragödie geschaffen scheint. Er
+krönt mit seinem dunklen Laub die Gipfel des Monte
+Albano.</p>
+
+<p>Einem vulkanischen Ausbruch, Jahrtausende vor
+der Gründung Roms, verdanken wir dieses prachtvolle
+Gebirge. Zu einer Zeit, die weit vor jeder Geschichte
+liegt, erhob es sich aus der weiten Ebene, die
+ehemals zwischen Apennin und Meer gebreitet war. Der
+Monte Cave, vom düsteren Laub der Faggiola umkränzt,
+ist sein höchster Gipfel; man sieht ihn von überall,
+von Terracina und von Ostia wie von Rom und Tivoli,
+und es ist dieses Albanergebirge, das jetzt von Palästen
+übersät den berühmten Horizont Roms gegen Süden
+abschließt. Auf dem Gipfel des Monte Cave hat ein
+Kloster der schwarzen Brüder den Tempel des Jupiter
+Feretrinus ersetzt, zu dem die latinischen Völker kamen,
+um gemeinsam zu opfern und das Band einer Art religiösen
+Vertrages fester zu schließen. Unter dem Schutz
+<a id="page-208"></a><span class="pgnum">208</span>prächtiger Kastanien gelangt der Wanderer in einigen
+Stunden zu den ungeheuren Blöcken, welche die Ruinen
+des Jupitertempels bilden; aber aus diesem tiefen
+Schatten, der so köstlich in solchem Klima ist, sieht
+der Reisende selbst heute noch mit Unruhe in das Innere
+das Waldes; er hat Furcht vor den Briganten. Auf dem
+Gipfel des Monte Cave angelangt, zündet man in den
+Ruinen des Tempels Feuer an, um die Speisen zu bereiten.
+Von diesem Punkt, der die ganze römische Campagna
+beherrscht, sieht man im Westen das Meer, das
+nur zwei Schritt weit zu sein scheint, obgleich es drei
+oder vier Meilen entfernt ist; man unterscheidet die
+kleinsten Boote, und mit einem ganz schwachen Glas
+kann man die Menschen zählen, die bei Neapel auf das
+Dampfschiff steigen. Nach allen Seiten breitet sich der
+Blick über eine herrliche Ebene aus, die gegen Osten
+vom Apenin, im Süden von Palestrina und nordwärts
+von San Pietro und den andren großen Bauwerken Roms
+begrenzt ist. Da der Monte Cave nicht sehr hoch ist,
+unterscheidet das Auge die geringsten Kleinigkeiten
+dieses erhabenen Landes, das keine geschichtliche Verherrlichung
+brauchte, während dennoch jedes Gehölz,
+jeder Mauerüberrest, den man in der Ebene oder auf
+den Abhängen der Berge erblickt, eine jener durch
+Vaterlandsliebe und Tapferkeit bewundernswerten
+Schlachten ins Gedächtnis ruft, von denen Titus Livius
+spricht.</p>
+
+<p>Um zu den riesigen Felsblöcken, den Überresten des
+Jupiter Feretrinus-Tempels zu gelangen, welche die
+Mauer des Klosters der schwarzen Mönche bilden, kann
+man noch heute die Via triumphalis verfolgen, auf der
+einst die ersten Könige Roms eingezogen sind. Sie ist
+mit ganz regelmäßig behauenen Steinen gepflastert,
+<a id="page-209"></a><span class="pgnum">209</span>und man findet mitten im Wald von Faggiola lange
+Fragmente davon.</p>
+
+<p>Am Rande des erloschenen Kraters, der jetzt mit
+durchsichtig klarem Wasser gefüllt zu dem hübschen,
+fünf bis sechs Meilen im Umfang zählenden See von
+Albano geworden ist, lag tief eingebettet in den Lavafels
+‚Alba, die Mutter Roms‘, schon zur Zeit der ersten
+Könige von der römischen Politik zerstört. Jedoch seine
+Ruinen sind noch vorhanden. Einige Jahrhunderte
+später erhob sich Albano, die heutige Stadt, eine
+Viertelmeile von Alba am Hang des Berges, der dem
+Meere zu liegt; aber Albano ist vom See durch eine
+Felswand geschieden, welche den See der Stadt und die
+Stadt dem See verbirgt. Von der Ebene aus heben sich
+ihre weißen Gebäude vom tiefen Grün des Waldes ab,
+der so berühmt und den Briganten so teuer ist und der
+von allen Seiten das vulkanische Gebirge umkränzt.</p>
+
+<p>Albano, das heute fünftausend bis sechstausend Einwohner
+zählt, hatte im Jahre 1540 höchstens dreitausend,
+als zu den ersten Geschlechtern die mächtige
+Familie Campireali gehörte, deren unglückliches Schicksal
+wir erzählen werden.</p>
+
+<p>Ich berichte diese Geschichte nach zwei umfangreichen
+Manuskripten, das eine römisch und das andre
+aus Florenz. Zu meiner großen Gefahr habe ich gewagt,
+ihren Duktus wiederzugeben, der fast der gleiche
+ist wie der unsrer alten Legenden. Aber der feine und
+gemessene Stil der heutigen Zeit würde, wie mir scheint,
+zu wenig im Einklang mit den Geschehnissen stehen
+und gar mit den Betrachtungen der Chronisten. Sie
+schrieben um das Jahr 1598. Ich erbitte die Nachsicht
+des Lesers für sie wie auch für mich.
+</p>
+
+
+
+<h3><a id="page-210"></a><span class="pgnum">210</span>II.</h3>
+
+
+<p>„Nach so vielen tragischen Geschichten“, sagt der
+Schreiber der florentinischen Handschrift, „werde ich
+mit der schließen, welche mir am schmerzlichsten zu
+erzählen ist. Ich werde von Helena von Campireali
+sprechen, der allzubekannten Äbtissin des Klosters der
+Heimsuchung in Castro, deren Prozeß und Tod solches
+Aufsehen in der ersten Gesellschaft Roms, ja ganz
+Italiens erregt hat. Schon um 1555 beherrschten die
+Briganten die Umgebung Roms, und die Regierungsbeamten
+hatten sich den mächtigen Familien verkauft.“
+Im Jahre 1572, welches das des Prozesses war, bestieg
+Gregor XIII. Buoncompagni den Stuhl von San Pietro.
+Dieser heilige Papst vereinte alle apostolischen Tugenden,
+aber man konnte seiner weltlichen Leitung ein
+wenig Schwäche vorwerfen: er verstand weder ehrenfeste
+Richter zu wählen, noch die Briganten zu unterdrücken;
+er jammerte über die Verbrechen und wußte
+sie nicht zu bestrafen. Es schien ihm, daß er sich
+mit einer entsetzlichen Verantwortung beladen würde,
+wenn er die Todesstrafe verhängte. Die Folge dieser Art,
+die Dinge zu sehen, war, daß die Straßen, die nach der
+ewigen Stadt führten, von zahllosen Briganten bevölkert
+wurden. Um mit einiger Sicherheit zu reisen,
+mußte man Freund der Räuber sein. Der Wald von
+Faggiola, zu beiden Seiten der von Neapel über Albano
+führenden Landstraße, war seit langem das Hauptquartier
+einer Seiner Heiligkeit feindlichen Räuberschaft,
+und Rom war öfters gezwungen, wie von Macht
+zu Macht, mit Marco Sciarra, einem der Könige des
+Waldes, zu unterhandeln. Die Stärke dieser Briganten
+lag darin, daß sie von ihren Nachbarn, den Bauern
+geliebt und geschützt wurden.
+</p>
+
+<p><a id="page-211"></a><span class="pgnum">211</span>„In dem hübschen Städtchen Albano, so nahe dem
+Hauptquartier der Briganten, wurde Helena di Campireali
+im Jahre 1542 geboren. Ihr Vater galt für den
+reichsten Patrizier des Landes und in dieser Eigenschaft
+hatte er Vittoria Carafa geheiratet, welche große Liegenschaften
+im Königreich Neapel besaß. Ich könnte einige
+Greise anführen, die noch leben und Vittoria Carafa und
+ihre Tochter gut gekannt haben. Vittoria war ein Muster
+von Klugheit und Geist, aber trotz all ihrer Begabung
+vermochte sie nicht dem Untergang ihrer Familie vorzubeugen.
+Es ist sonderbar: die entsetzlichen Schicksalsschläge,
+welche den traurigen Stoff meiner Erzählung
+bilden, können, wie mir scheint, keiner der handelnden
+Personen, die ich dem Leser vorstellen werde, im einzelnen
+zur Last gelegt werden: ich sehe Unglückliche,
+jedoch kann ich keine Schuldigen finden. Die ungewöhnliche
+Schönheit und die zärtliche Seele der jungen
+Helena bildeten eine große Gefahr für sie und eine Entschuldigung
+für ihren Geliebten Giulio Branciforte; wie
+ebenso der vollkommene Mangel an Geist des Monsignore
+Cittadini, Bischof von Castro, ihn bis zu einem
+gewissen Grad entschuldigen kann. Er verdankte seinen
+raschen Emporstieg auf der Leiter der geistlichen
+Ehren sowohl der Rechtlichkeit seiner Führung, wie
+besonders aber seinem edlen Äußern und einem Antlitz,
+das so regelmäßig schön war, wie man es selten findet.
+Ich finde geschrieben, daß man ihn nicht sehen konnte,
+ohne ihn zu lieben.</p>
+
+<p>Da ich niemandem schmeicheln will, werde ich nicht
+verschweigen, daß ein heiliger Mönch des Klosters
+Monte Cave, der oft in seiner Zelle, gleich dem heiligen
+Paulus, einige Fuß über dem Erdboden schwebend überrascht
+worden ist, ohne daß ihn etwas andres als die
+<a id="page-212"></a><span class="pgnum">212</span>göttliche Gnade in dieser ungewöhnlichen Stellung hätte
+halten können, dem Herrn von Campireali prophezeit
+hatte, daß seine Familie mit ihm aussterben und er nur
+zwei Kinder haben würde, denen beiden ein gewaltsamer
+Tod bevorstand. Auf Grund dieser Weissagung konnte
+er im Lande selbst keine Frau finden und ging nach
+Neapel, um sein Heil zu versuchen, wo er das Glück
+hatte, großen Reichtum und eine Frau zu finden, deren
+Genie fähig gewesen wäre, seine böse Bestimmung zu
+ändern, wenn so etwas überhaupt möglich gewesen
+wäre. Dieser Signor Campireali galt für einen sehr ehrenhaften
+Mann und war sehr wohltätig, aber er besaß gar
+keinen Geist; deshalb zog er sich nach und nach ganz
+aus Rom zurück und brachte schließlich fast das ganze
+Jahr in seinem Palast in Albano zu. Er widmete sich
+der Pflege seiner Ländereien, die in der reichen Ebene
+lagen, welche sich zwischen der Stadt und dem Meer
+ausbreitet. Durch den Rat seiner Frau bewogen, ließ
+er seinem Sohn Fabio, einem auf seine Geburt sehr
+stolzen Jüngling, und seiner Tochter Helena, deren
+wunderbare Schönheit man noch auf einem Bildnis der
+Galerie Farnese sehen kann, die vortrefflichste Erziehung
+geben. Bevor ich begonnen hatte ihre Geschichte
+zu schreiben, bin ich in den Palazzo Farnese gegangen,
+um die sterbliche Hülle zu betrachten, die der Himmel
+dieser Frau verlieh, deren verhängnisvolles Schicksal
+einst so viel Aufsehen machte und noch heute im Gedächtnis
+des Volkes fortlebt.</p>
+
+<p>Die Form ihres Kopfes ist ein längliches Oval, die
+Stirne ist sehr hoch, die Haare sind dunkelblond. Der
+Ausdruck ihres Gesichts ist eher heiter; sie hatte große,
+sehr ausdrucksvolle Augen, und ihre kastanienfarbenen
+Augenbrauen bildeten einen vollendet geschwungenen
+<a id="page-213"></a><span class="pgnum">213</span>Bogen. Die Lippen sind ganz schmal und es sieht aus,
+als wären die Konturen ihres Mundes von dem berühmten
+Correggio gezogen. Inmitten der Bildnisse, die
+sie in der Galerie Farnese umgeben, sieht sie wie eine
+Königin aus; es ist selten, daß Majestät mit Heiterkeit
+vereint ist.</p>
+
+<p>Nachdem sie acht volle Jahre im Kloster der Heimsuchung
+in der Stadt Castro zugebracht hatte, wohin
+man damals die Töchter der meisten römischen Fürsten
+schickte, kehrte Helena zu ihren Eltern zurück; aber
+sie verließ das Kloster nicht, ohne für den Hochaltar
+der Kirche einen prächtigen Kelch gestiftet zu haben.
+Kaum war sie nach Albano zurückgekehrt, ließ ihr
+Vater um erheblichen Gehalt den berühmten, damals
+schon sehr alten Dichter Cecchino kommen, der Helenas
+Gedächtnis mit den schönsten Versen des göttlichen
+Virgil erfüllte und seiner großen Schüler Petrarca,
+Ariost und Dante.“</p>
+
+<p>Hier fühlt sich der Erzähler gezwungen, eine lange
+Auseinandersetzung über die verschiedenen Ehrenbezeugungen
+zu übergehen, welche das sechzehnte Jahrhundert
+diesen großen Dichtern darbrachte. Es scheint,
+daß Helena Latein verstand. Die Verse, welche man sie
+lehrte, sprachen von Liebe, und zwar von einer Liebe,
+welche uns recht lächerlich vorkäme, wenn wir ihr
+heute begegneten; ich meine die leidenschaftliche Liebe,
+welche der größten Opfer bedarf, welche nur von
+Geheimnis umgeben bestehen kann und der stets das
+schrecklichste Unheil nah ist.</p>
+
+<p>Dies war die Liebe, welche Giulio Branciforte der
+kaum siebzehnjährigen Helena einzuflößen verstand. Er
+war einer ihrer Nachbarn und sehr arm; er bewohnte
+ein armseliges kleines Haus am Berg, eine Viertelmeile
+<a id="page-214"></a><span class="pgnum">214</span>von der Stadt, inmitten der Ruinen von Alba, am Rande
+des grünbewachsenen, hundertfünfzig Fuß tiefen
+Trichters, der den See einschließt. Dieses Haus, welches
+im tiefen, prachtvollen Schatten des Waldes von
+Faggiola lag, ist zerstört worden, als man das Kloster
+von Palazzuola baute. Dieser arme junge Mann hatte
+nichts für sich als seine lebhaft leichte Art und die
+wirkliche Unbekümmertheit, mit der er sein trauriges
+Los trug. Was man noch zu seinen Gunsten sagen
+konnte, ist, daß sein Gesicht ausdrucksvoll war, ohne
+schön zu sein. Aber es hieß von ihm, daß er sich unter
+dem Befehl des Fürsten Colonna und als einer von
+dessen bravi in zwei oder drei höchst gefährlichen
+Unternehmen tapfer geschlagen hätte.</p>
+
+<p>Trotz seiner Armut und trotzdem ihm die Schönheit
+fehlte, besaß er doch nicht wenig in den Augen aller
+jungen Mädchen von Albano: ein tapfres Herz, das zu
+gewinnen ihrer aller größter Ehrgeiz war. Überall gut
+aufgenommen, hatte Giulio Branciforte bis zum Augenblick,
+als Helena aus dem Kloster von Castro zurückkam,
+nur flüchtige Liebschaften gehabt.</p>
+
+<p>Als bald darauf der große Dichter Cecchino aus Rom
+in den Palazzo Campireali einzog, um dieses junge
+Mädchen in den schönen Wissenschaften zu unterrichten,
+richtete Giulio, der ihn kannte, ein Gedicht in
+lateinischen Versen an ihn, über das Glück, daß er in
+so ehrwürdigem Alter so schöne Augen an die seinen
+gefesselt sehen durfte und eine so reine Seele vollkommen
+glücklich machte, wenn er ihre Gedanken zu
+billigen geruhte. Die Eifersucht und der Ärger der
+jungen Mädchen, denen Giulio vor Helenas Rückkehr
+Aufmerksamkeiten erwiesen hatte, machten bald alle
+Vorsicht, mit der er seine wachsende Leidenschaft zu
+<a id="page-215"></a><span class="pgnum">215</span>verbergen suchte, nutzlos; und ich muß gestehen, daß
+diese Liebschaft eines jungen Mannes von zweiundzwanzig
+und eines jungen Mädchens von siebzehn Jahren
+in einer Weise geführt wurde, welche die Klugheit nicht
+billigen kann. Bevor noch drei Monate verstrichen
+waren, bemerkte Herr von Campireali, daß Giulio Branciforte
+zu oft an den Fenstern seines Schlosses vorbeiging,
+das man übrigens noch auf halber Höhe der
+Straße, die gegen den See führt, sehen kann.</p>
+
+<p>Die Freimütigkeit und Gradheit, die natürlichen
+Folgen der Freiheit, wie sie die Republiken gewähren,
+und die Gewohnheit, ungebunden und leidenschaftlich
+zu handeln, die einer Zeit entsprach, die noch nicht von
+den Sitten der Monarchie eingeengt war, zeigten sich
+unverhohlen im ersten Schritt des Herrn Campireali.
+Am gleichen Tag, da er sich durch das häufige Erscheinen
+des jungen Branciforte verletzt fühlte, fuhr
+er ihn hart mit diesen Worten an: „Wie wagst du
+es, unaufhörlich an meinem Hause vorbeizugehen
+und unverschämt nach den Fenstern meiner Tochter
+hinaufzuschauen, du, der nicht einmal Gewänder hat
+um sich zu bekleiden? Wenn ich nicht fürchten müßte,
+daß mein Schritt von den Nachbarn mißdeutet würde,
+schickte ich dir drei Goldzechinen, damit du dir in
+Rom einen besseren Mantel kaufen könntest. Wenigstens
+würden meine und meiner Tochter Augen nicht mehr
+so oft durch den Anblick deiner Lumpen beleidigt sein.“</p>
+
+<p>Ohne Zweifel übertrieb Helenas Vater, denn die Gewänder
+des jungen Branciforte bestanden nicht aus
+Lumpen; sie waren nur aus sehr einfachem Stoff; allein,
+wenn sie auch sehr sauber und gut gebürstet waren, muß
+man doch gestehen, daß ihr Aussehen auf langen Gebrauch
+schließen ließ. Giulios Seele wurde durch die Vorwürfe
+<a id="page-216"></a><span class="pgnum">216</span>des Herrn von Campireali so tief erschüttert, daß
+er sich nicht mehr bei Tage vor seinem Hause zeigte.</p>
+
+<p>Wie wir schon sagten, waren die beiden Bögen, Überreste
+eines alten Aquädukts, welche dem vom Vater
+Brancifortes erbauten und seinem Sohn hinterlassenen
+Hauses als Hauptmauer dienten, nur fünfhundert oder
+sechshundert Schritt von Albano entfernt. Um von
+diesem hohen Punkt nach der neuen Stadt hinabzusteigen,
+mußte Giulio am Palast der Campireali
+vorbeigehen. Helena bemerkte bald das Ausbleiben dieses
+eigentümlichen jungen Mannes, der, wie ihre Freundinnen
+sagten, jede andre Beziehung aufgegeben hatte,
+um sich ganz dem Glück ihres Anblicks zu widmen.</p>
+
+<p>An einem Sommerabend gegen Mitternacht stand das
+Fenster Helenas offen; das junge Mädchen genoß die
+Brise des Meeres, die man auf dem Hügel von Albano
+gut spüren kann, obwohl diese Stadt durch eine Ebene
+von drei Meilen Breite vom Meer getrennt ist. Die Nacht
+war finster und die Stille tief, man hätte ein Blatt
+fallen hören. Helena lehnte an ihrem Fenster und dachte
+vielleicht an Giulio, als sie ein Etwas, das dem lautlosen
+Flügel eines Nachtvogels glich, sanft an ihrem
+Fenster vorbeistreichen sah. Sie zog sich erschreckt
+zurück. Der Gedanke, daß dieses Ding ihr von irgendeinem
+Vorübergehenden dargebracht sein könnte, kam
+ihr nicht. Das zweite Stockwerk des Palastes, wo sich
+ihr Zimmer befand, lag mehr als fünfzig Fuß über der
+Erde. Aber plötzlich glaubte sie in diesem sonderbaren
+Ding einen Blumenstrauß zu erkennen, der inmitten des
+tiefen Schweigens vor dem Fenster, an dem sie lehnte,
+hin und her strich; ihr Herz schlug heftig. Der Strauß
+schien ihr auf der Spitze von zwei oder drei Rohrstöcken
+befestigt zu sein, einer Art großer Binsen, die dem
+<a id="page-217"></a><span class="pgnum">217</span>Rohr der römischen Campagna sehr ähnlich sind und
+Stiele von zwanzig bis dreißig Fuß Höhe treiben.
+Die Schwäche des Rohrs und die ziemlich starke Brise
+machten es Giulio einigermaßen schwer, seinen Strauß
+genau vor das Fenster, an dem er Helena vermutete,
+zu halten. Außerdem war die Nacht so finster, daß
+man auf solche Höhe von der Straße aus nichts erkennen
+konnte. Unbeweglich an ihrem Fenster war
+Helena tief erregt. War es nicht ein Geständnis, den
+Strauß zu nehmen? Sie hatte übrigens keins von den
+Gefühlen, die ein Abenteuer dieser Art heute in einem
+jungen Mädchen der besten Gesellschaft erwecken
+würde, das durch schöngeistige Erziehung auf das
+Leben vorbereitet ist. Da ihr Vater und ihr Bruder Fabio
+zu Hause waren, war ihr erster Gedanke, daß der
+geringste Lärm einen Büchsenschuß auf Giulio zur
+Folge haben würde, und die Gefahr, der dieser arme
+junge Mensch ausgesetzt war, erregte ihr Mitleid. Ihr
+zweiter Gedanke war, daß er, obgleich sie ihn noch
+wenig genug kannte, das Wesen sei, das sie dennoch
+nach ihrer Familie am meisten auf der Welt liebte.
+Schließlich nahm sie nach einigen Minuten des Zauderns
+den Strauß, und als sie die Blumen in dem tiefen Dunkel
+berührte, spürte sie, daß ein Brief am Stengel einer
+Blume befestigt war; sie lief auf die große Stiege, um
+diesen Brief beim Licht der Lampe zu lesen, welche
+vor dem Bild der Madonna brannte. ‚Törichte!‘ schalt
+sie sich nach den ersten Zeilen, die sie vor Glück erröten
+ließen, ‚wenn man mich sieht, bin ich verloren
+und meine Familie wird ohne Erbarmen diesen armen
+jungen Menschen verfolgen,‘ Sie kehrte in ihr Zimmer
+zurück und zündete die Lampe an. Dieser Augenblick
+war köstlich für Giulio, welcher — beschämt über
+<a id="page-218"></a><span class="pgnum">218</span>seinen Schritt, und als wollte er sich selbst in der
+dunklen Nacht noch verbergen — sich dicht an den ungeheuren
+Stamm einer jener Eichen gedrängt hatte, die
+grün und bizarr geformt, noch heute dem Palast Campireali
+gegenüber stehen. In seinem Brief erzählte Giulio
+mit vollkommner Einfachheit die beschämende Zurechtweisung,
+die er von Helenas Vater erhalten hatte. „Ich
+bin allerdings arm,“ fuhr er fort, „und Ihr könnt Euch
+schwerlich das ganze Ausmaß meiner Armut vorstellen.
+Ich habe nichts als mein Haus, das Ihr vielleicht
+unter den Ruinen des Aquädukts von Alba bemerkt
+haben werdet; rings um das Haus liegt ein Garten, den
+ich selbst bebaue und dessen Früchte mich ernähren.
+Ich besitze auch noch einen Weinberg, der um dreißig
+Scudi im Jahr verpachtet ist. Ich weiß wirklich nicht,
+warum ich Euch liebe; sicherlich kann ich Euch nicht
+bitten, mein Elend zu teilen. Und doch hat das Leben,
+wenn Ihr mich nicht liebt, keinen Wert mehr für mich;
+es ist überflüssig, zu sagen, daß ich es tausendmal für
+Euch hingeben würde. Und doch war dieses Leben vor
+Eurer Rückkehr aus dem Kloster gar nicht unglücklich:
+im Gegenteil, es war von den glänzendsten Träumen
+erfüllt. So kann ich sagen, daß der Anblick des Glücks
+mich unglücklich gemacht hat. Sicher hätte ehemals
+kein Mensch auf der Welt wagen dürfen, mir solche
+Worte zu sagen, wie die, mit denen Euer Vater mich
+entehrte; mein Dolch hätte mir auf der Stelle Genugtuung
+verschafft. Damals, mit meinem Mut und
+meinen Waffen, hielt ich mich aller Welt für ebenbürtig,
+nichts ging mir ab. Jetzt hat sich alles geändert:
+ich kenne die Furcht. Es ist schon zu viel des
+Schreibens; vielleicht verachtet Ihr mich. Wenn Ihr dagegen,
+trotz der armseligen Gewänder, die mich bedecken,
+<a id="page-219"></a><span class="pgnum">219</span>etwas Mitleid mit mir fühlt, werdet Ihr bemerken,
+daß ich jeden Abend, wenn es am Kapuzinerkloster
+auf dem Gipfel des Hügels Mitternacht läutet,
+unter der großen Eiche versteckt bin, dem Fenster
+gegenüber, welches ich unausgesetzt betrachte, weil ich
+vermute, daß dort Euer Zimmer ist. Wenn Ihr mich
+nicht so wie Euer Vater verachtet, werft mir eine der
+Blumen des Straußes herab; aber gebt acht, daß sie
+nicht auf ein Gesimse oder auf einen Balkon Eures
+Hauses falle.“</p>
+
+<p>Dieser Brief wurde mehrmals gelesen; nach und nach
+füllten sich Helenas Augen mit Tränen; sie betrachtete
+gerührt den prächtigen Strauß, dessen Blumen mit einem
+sehr feinen Seidenfaden gebunden waren. Sie versuchte
+eine der Blumen abzureißen, aber es gelang ihr nicht;
+dann ergriff sie Reue. Unter den jungen Mädchen Roms
+glaubte man, daß durch das Abreißen einer Blume oder
+durch irgendwelche Verstümmelung eines aus Liebe
+gegebenen Straußes diese Liebe selbst getötet würde.
+Sie fürchtete, daß Giulio ungeduldig werden möchte und
+lief zum Fenster; aber als sie dort war, fiel ihr plötzlich
+ein, daß sie zu sichtbar sei, da die Lampe das Zimmer
+mit Licht erfüllte. Helena wußte nicht mehr, welches
+Zeichen sie sich erlauben sollte; es schien ihr, daß es
+keins gab, das nicht viel zu viel sagte.</p>
+
+<p>Beschämt lief sie wieder in ihr Zimmer zurück. Aber
+die Zeit verstrich und plötzlich kam ihr ein Gedanke,
+der sie in unaussprechliche Verwirrung stürzte: Giulio
+würde glauben, daß sie, wie ihr Vater, seine Armut
+verachtete! Sie erblickte ein kleines kostbares Marmorstück,
+das auf ihrem Tisch lag, band es in ihr Taschentuch
+und warf dies Taschentuch an den Fuß der Eiche
+hinunter, die gegenüber ihrem Fenster stand. Dann
+<a id="page-220"></a><span class="pgnum">220</span>machte sie ihm Zeichen, daß er sich entfernen möge und
+hörte, daß Giulio gehorchte, denn im Weggehen suchte
+er nicht mehr den Schall seiner Schritte zu dämpfen. Als
+er die Höhe des Felsengürtels erreicht hatte, welcher den
+See von den letzten Häusern von Albano trennt, hörte sie
+ihn Worte der Liebe singen; sie winkte ihm Abschied,
+diesmal weniger schüchtern, dann begab sie sich an
+seinen Brief, um ihn wiederzulesen.</p>
+
+<p>Am nächsten Tag und auch an den folgenden, gab es
+Briefe und ähnliche Zusammenkünfte; aber wie in
+einem italienischen Dorf alles bemerkt wird, noch dazu
+Helena weitaus die reichste Partie des Landes war, wurde
+Herr von Campireali aufmerksam gemacht, daß man
+jeden Abend nach Mitternacht im Zimmer seiner Tochter
+Licht sehe, und was noch viel merkwürdiger sei, daß
+das Fenster offen wäre und Helena dahinter stünde,
+als kenne sie gar keine Furcht vor den Zanzare,
+jenen unangenehmen Stechmücken, welche die schönen
+Abende in der römischen Campagna ganz verderben.
+Jetzt muß ich wieder um die Nachsicht des Lesers
+ersuchen. Wenn man Lust hat, die Gebräuche fremder
+Länder zu kennen, muß man sich auf ganz abgeschmackte,
+von den unsrigen ganz verschiedene Anschauungen
+gefaßt machen.</p>
+
+<p>Herr von Campireali brachte seine Flinte und die
+seines Sohnes in Ordnung. Abends, als es 3/4 12 Uhr
+schlug, verständigte er Fabio, und alle beide schlichen,
+so leise wie möglich, auf einen großen steinernen Balkon,
+der sich im ersten Stock des Palastes gerade unter Helenas
+Fenster befand. Die starken Pfeiler der Steinbalustrade
+deckten sie bis zum Gürtel gegen Flintenschüsse,
+die man von außen gegen sie abfeuern könnte. Es schlug
+Mitternacht; Vater und Sohn hörten unter den Bäumen,
+<a id="page-221"></a><span class="pgnum">221</span>die ihrem Palast gegenüber am Rand der Straße standen,
+ein leichtes Geräusch; aber zu ihrem Erstaunen
+erschien kein Licht an Helenas Fenster. Dieses Mädchen
+das bisher so arglos war und in der Lebhaftigkeit seiner
+Bewegungen ein Kind zu sein schien, hatte einen anderen
+Charakter bekommen, seit es liebte. Sie wußte, daß die
+geringste Unvorsichtigkeit das Leben ihres Geliebten gefährdete;
+wenn ein Herr vom Ansehen ihres Vaters
+einen so armen Menschen wie Giulio Branciforte tötete,
+würde er jeder Strafe ledig gehen, so er nur für drei
+Monate nach Neapel verschwindet. Während dieser Zeit
+würden seine Freunde in Rom die Angelegenheit ordnen
+und alles wäre mit der Stiftung einer Silberlampe und
+einiger hundert Taler für den Altar der Madonna, die
+gerade in Mode war, erledigt. Morgens beim Frühstück
+hatte Helena in den Zügen ihres Vaters erkannt, daß er
+sehr aufgebracht war, und aus der Art, wie er sie ansah,
+wenn er sich unbemerkt glaubte, schloß sie, daß dieser
+Zorn zum großen Teil ihr galt. Alsbald machte sie sich
+daran, ein wenig Staub auf die Schäfte der fünf prächtigen
+Flinten, die über dem Bett ihres Vaters hingen,
+zu streuen. Sie bedeckte auch seine Degen und Dolche
+mit einer leichten Staubschicht. Den ganzen Tag trug
+sie eine tolle Ausgelassenheit zur Schau: sie durcheilte
+unaufhörlich das Haus von oben bis unten und alle
+Augenblicke näherte sie sich den Fenstern, fest entschlossen,
+Giulio ein abmahnendes Zeichen zu geben,
+wenn sie das Glück hätte, ihn zu bemerken. Aber
+der arme Junge war durch den Verweis des reichen
+Campireali so tief gedemütigt worden, daß er sich
+niemals bei Tage in Albano zeigte; nur Sonntags
+führte ihn die Pflicht zur Messe. Helenas Mutter, die
+sie anbetete und ihr nichts abzuschlagen wußte, ging
+<a id="page-222"></a><span class="pgnum">222</span>dreimal an diesem Tage mit ihr fort, aber es war vergeblich;
+Helena sah nichts von Giulio. Sie war in Verzweiflung.
+Wie wurde ihr erst, als sie am Abend die
+Waffen ihres Vaters wieder musterte und sah, daß zwei
+Flinten geladen und fast alle Dolche und Degen in der
+Hand erprobt worden waren! Sie wurde von ihrer tödlichen
+Unruhe nur durch die außerordentliche Anspannung
+abgelenkt, die sie beobachten mußte, um nicht
+verdächtig zu erscheinen. Als sie sich um zehn Uhr
+abends endlich zurückziehen konnte, verschloß sie ihr
+Zimmer, welches auf das Vorzimmer ihrer Mutter
+hinausging; dann kauerte sie sich dicht beim Fenster
+auf den Boden nieder, um nicht von draußen bemerkt
+zu werden. Man stelle sich die Angst vor, mit welcher
+sie die Stunden schlagen hörte: es war nicht mehr
+die Rede von den Vorwürfen, welche sie sich oft
+machte, sich Giulio zu schnell gegeben zu haben, was
+sie in Giulios Augen vielleicht weniger liebenswürdig
+erscheinen lassen könnte. Dieser Tag brachte die Sache
+des jungen Mannes weiter, als sechs Monate Treue und
+Beteuerungen. ‚Wozu lügen?‘ sagte sich Helena, ‚liebe
+ich ihn nicht mit ganzer Seele?‘</p>
+
+<p>Um halb zwölf Uhr sah sie ganz deutlich ihren Vater
+und ihren Bruder auf dem großen Steinbalkon unter
+ihrem Fenster Stellung fassen. Zwei Minuten, nachdem
+es am Kapuzinerkloster Mitternacht geschlagen hatte,
+hörte sie gleichfalls sehr gut die Schritte ihres Geliebten,
+der bei der großen Eiche anhielt; sie bemerkte
+mit Freude, daß ihr Vater und ihr Bruder nichts gehört
+zu haben schienen: es erforderte die Angst der
+Liebe, um ein so leichtes Geräusch zu unterscheiden.
+‚Jetzt‘, sagte sie sich, ‚werden sie mich töten, aber um
+keinen Preis dürfen sie den Brief von heute Abend
+<a id="page-223"></a><span class="pgnum">223</span>bekommen; sie würden diesen armen Giulio auf ewig
+verfolgen,‘ Sie machte das Zeichen des Kreuzes und
+indem sie sich mit einer Hand am Eisenbalkon ihres
+Fensters festhielt, beugte sie sich so weit wie möglich
+zur Straße hinaus. Nicht eine Viertelminute war verstrichen,
+als der Strauß, der wie gewöhnlich an dem
+langen Rohr befestigt war, ihren Arm berührte. Sie ergriff
+den Strauß, allein als sie ihn schnell von der
+äußersten Spitze des Rohrs, auf der er befestigt war,
+abreißen wollte, geschah es, daß dieses Rohr gegen den
+Steinbalkon anschlug. Im gleichen Augenblick lösten
+sich zwei Flintenschüsse, auf die völlige Stille folgte.
+Ihr Bruder Fabio, ungewiß in der Dunkelheit vermutend,
+es sei, was heftig gegen den Balkon schlug, ein
+Seil, mit dessen Hilfe Giulio von seiner Schwester herabsteige,
+hatte gegen ihren Balkon Feuer gegeben; am
+nächsten Morgen fand sie den Eindruck der Kugel,
+welche sich auf dem Eisen breitgeschlagen hatte. Herr
+von Campireali hatte auf die Straße gezielt; gerade
+unter den Steinbalkon, weil Giulio beim Zurückziehen
+des Rohrs, das beinahe gefallen wäre, etwas Geräusch
+gemacht hatte. Als Giulio das Geräusch über seinem
+Kopfe hörte, erriet er, was folgen würde und hatte
+sich unter dem Vorsprung des Balkons gedeckt.</p>
+
+<p>Fabio lud schnell seine Flinte von neuem und lief,
+ungeachtet der Vorstellungen seines Vaters, in den
+Garten des Hauses; öffnete geräuschlos eine kleine Tür,
+die auf eine Seitenstraße führte, und schlich sich heran,
+um die Leute, welche unter dem Balkon des Hauses
+vorbeigingen, ein wenig zu mustern. In diesem Augenblick
+befand sich Giulio, der an diesem Abend nicht
+allein war, zwanzig Schritt entfernt an einen Baum gelehnt.
+Helena, die über ihren Balkon gebeugt um ihren
+<a id="page-224"></a><span class="pgnum">224</span>Geliebten zitterte, begann alsbald sehr laut mit ihrem
+Bruder, den sie auf der Straße hörte, zu sprechen; sie
+fragte ihn, ob er die Diebe getötet habe.</p>
+
+<p>„Glaub nicht, daß ich mich durch deine schändliche
+List täuschen lasse,“ schrie dieser ihr von der Straße
+aus zu, welche er in allen Richtungen durchmaß, „aber
+halte deine Tränen bereit, denn ich werde den Unverschämten,
+töten, der es wagt, sich deinem Fenster zu
+nähern.“</p>
+
+<p>Kaum waren diese Worte gesprochen, als Helena
+hörte, wie ihre Mutter an die Tür ihres Zimmers
+klopfte.</p>
+
+<p>Helena beeilte sich, ihr zu öffnen, indem sie sagte,
+daß es ihr unbegreiflich wäre, daß die Türe verschlossen
+sei.</p>
+
+<p>„Keine Komödie, teures Kind,“ sagte ihre Mutter,
+„dein Vater ist wütend und kann dich vielleicht töten:
+komm zu mir in mein Bett, und wenn du einen
+Brief hast, gib ihn mir, ich werde ihn <a class="sic" id="sicA-19" href="#sic-19">verstecken.</a></p>
+
+<p>Helena sagte ihr:</p>
+
+<p>„Hier ist der Strauß, der Brief ist zwischen den
+Blumen versteckt.“</p>
+
+<p>Kaum waren Mutter und Tochter im Bett, als Herr
+Campireali ins Zimmer seiner Frau eintrat; er kam aus
+ihrem Betgemach, das er soeben durchgestöbert und
+wo er alles durcheinandergeworfen hatte. Was Helena
+auffiel, war, daß ihr Vater, blaß wie ein Gespenst, mit
+Bedacht zu Wege ging, wie jemand, der seinen Entschluß
+wohl erwogen hat. ‚Ich bin tot!‘ sagte sich
+Helena.</p>
+
+<p>„Wir sind glücklich, Kinder zu haben,“ sagte ihr
+Vater, als er zitternd vor Wut, aber den Schein vollkommener
+Kaltblütigkeit wahrend, am Bett seiner Frau
+<a id="page-225"></a><span class="pgnum">225</span>vorbei in das Zimmer seiner Tochter ging; „wir sind
+glücklich, Kinder zu haben, statt dessen sollten wir lieber
+blutige Tränen vergießen, wenn diese Kinder Mädchen
+sind. Großer Gott! Ist es wohl möglich! Ihre Leichtfertigkeit
+kann einem Mann, der seit sechzig Jahren
+nicht den mindesten Vorwurf auf sich geladen hat, die
+Ehre rauben.“</p>
+
+<p>Bei diesen Worten ging er ins Zimmer seiner Tochter.</p>
+
+<p>„Ich bin verloren,“ sagte Helena zu ihrer Mutter,
+„die Briefe sind unter dem Sockel des Kruzifixes neben
+dem Fenster.“</p>
+
+<p>Sogleich sprang ihre Mutter aus dem Bett und rannte
+zu ihrem Manne. Sie begann ihm so schlecht wie nur
+möglich Vernunft zuzusprechen, um seinen Zorn zum
+Ausbruch zu bringen, und es gelang ihr vollkommen.
+Der alte Mann wurde wütend, er zerschlug alles im
+Zimmer seiner Tochter; aber die Mutter konnte unbemerkt
+die Briefe an sich nehmen. Eine Stunde später,
+als Herr Campireali wieder in sein Zimmer zurückgekehrt
+war, das neben dem seiner Frau lag und im ganzen
+Haus Ruhe herrschte, sagte die Mutter zu ihrer Tochter:</p>
+
+<p>„Hier sind deine Briefe, ich will sie nicht lesen; du
+siehst, was sie uns beinah gekostet hätten! An deiner
+Stelle würde ich sie verbrennen. Leb wohl und küsse
+mich.“</p>
+
+<p>Helena ging, aufgelöst in Tränen, in ihr Zimmer
+zurück. Es schien ihr, daß sie seit den Worten ihrer
+Mutter Giulio nicht mehr liebte. Dann machte sie sich
+daran, seine Briefe zu verbrennen; aber sie mußte sie
+noch einmal lesen, bevor sie sie vernichtete. Sie las sie
+so oft und so gründlich, daß die Sonne schon hoch am
+Himmel stand, als sie sich endlich entschloß, den heilsamen
+Rat zu befolgen.
+</p>
+
+<p><a id="page-226"></a><span class="pgnum">226</span>Am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, ging
+Helena mit ihrer Mutter zur Messe; zum Glück folgte
+ihr Vater ihnen nicht. Der erste Mensch, den sie in der
+Kirche bemerkte, war Giulio Branciforte. Mit einem
+Blick überzeugte sie sich, daß er nicht verletzt war.
+Ihr Glück war am Gipfel. Die Ereignisse der letzten
+Wochen lagen tausend Meilen zurück. Sie hatte sich
+fünf oder sechs mit Bleistift beschriebene Billets vorbereitet,
+aus alten, mit feuchter Erde beschmutzten
+Papierfetzen, wie man sie auf den Fliesen einer Kirche
+finden kann; diese Billets enthielten alle die gleiche
+Warnung:</p>
+
+<p>‚Sie hätten alles entdeckt, bis auf seinen Namen.
+Er möge nicht mehr in der Straße erscheinen; man
+werde oft hierherkommen.‘</p>
+
+<p>Helena ließ eins dieser Zettelchen fallen: ein Blick
+belehrte Giulio, der es aufhob und verschwand. Als sie
+eine Stunde später nach Haus zurückkehrte, fand sie auf
+der großen Treppe des Palastes einen Papierfetzen, der
+dadurch ihren Blick auf sich zog, daß er vollkommen
+denen glich, deren sie sich selbst am Morgen bedient
+hatte.</p>
+
+<p>Sie griff danach, ohne daß selbst ihre Mutter es bemerkte
+und las:</p>
+
+<p>„In drei Tagen wird er von Rom zurückkehren,
+wohin zu gehen er gezwungen ist. Man wird am hellen
+Tage singen, an den Markttagen, mitten im Lärm der
+Bauern.“</p>
+
+<p>Diese Abreise nach Rom erschien Helena sonderbar.
+‚Fürchtet er die Flintenschüsse meines Bruders?‘ sagte
+sie sich traurig. Die Liebe verzeiht alles, nur nicht die
+freiwillige Abwesenheit. Dies ist die schlimmste aller
+Qualen. Anstatt sich süßen Träumen zu ergeben und
+<a id="page-227"></a><span class="pgnum">227</span>ganz damit beschäftigt zu sein, alle Gründe zu erwägen,
+die man hat, um seinen Geliebten zu lieben, ist das
+Leben von grausamen Zweifeln beunruhigt. ‚Aber kann
+ich denn nach allem, was geschehen ist, glauben, daß er
+mich nicht mehr liebt?‘ sagte sich Helena während der
+drei langen Tage, die Brancifortes Abwesenheit dauerte.
+Plötzlich wich ihr Kummer einer unsinnigen Freude:
+am dritten Tage sah sie ihn am hellen Mittag auf der
+Straße vor dem Palast ihres Vaters erscheinen. Er trug
+neue und fast prächtige Gewänder. Niemals waren die
+Vornehmheit seiner Haltung und die heitere und mutige
+Unbekümmertheit seines Antlitzes vorteilhafter hervorgetreten;
+nie allerdings hatte man auch vor diesem
+Tage so oft in Albano von der Armut Giulios gesprochen.
+Es waren die Männer und besonders die
+jungen Leute, welche dieses grausame Wort wiederholten;
+die Frauen und vor allem die jungen Mädchen
+konnten sich in Lobeserhebungen über seine gute Erscheinung
+nicht genug tun.</p>
+
+<p>Giulio verbrachte den ganzen Tag damit, in der Stadt
+umherzuschlendern; es machte den Eindruck, als ob
+er sich für die Monate der Haft, zu der ihn seine Armut
+verdammt hatte, entschädigen wollte. Wie es einem
+Verliebten zukommt, war Giulio unter seinem neuen
+Rock gut bewaffnet. Außer seinem Degen und seinem
+Dolch hatte er sein giacco angelegt, eine Art Weste aus
+geflochtenem Draht, welche sehr unbequem zu tragen
+war, jedoch diese italienischen Herzen von einer traurigen
+Krankheit heilte, deren peinliche Anfälle man in
+jenem Jahrhundert unaufhörlich erleben konnte; ich
+spreche von der Furcht, an einer Straßenbiegung durch
+einen seiner wohlbekannten Feinde getötet zu werden.
+An diesem Tage hoffte Giulio Helena zu begegnen;
+<a id="page-228"></a><span class="pgnum">228</span>übrigens hatte er auch einen gewissen Widerwillen, mit
+sich allein in seinem einsamen Haus zu sein. Hier der
+Grund: Ranuccio, ein alter Soldat seines Vaters, der
+unter diesem schon zehn Feldzüge in den Truppen verschiedener
+Bandenführer und zuletzt des Marco Sciarra
+mitgemacht hatte, war seinem Hauptmann gefolgt, als
+dessen Wunden ihn zwangen, sich zurückzuziehen.
+Hauptmann Branciforte hatte seine Gründe, nicht in
+Rom zu leben; er hätte dort die Söhne von Männern
+treffen können, die er getötet hatte; selbst in Albano
+sorgte er vor, daß er nicht nur auf die Gnade der
+regulären Autorität angewiesen sei. Anstatt ein Haus
+in der Stadt zu kaufen oder zu mieten, zog er es vor,
+eins zu bauen, das so gelegen war, daß man seine Besucher
+schon von weitem zu sehen vermochte. Er
+fand in den Ruinen von Alba einen wundervollen
+Platz: man konnte von dort, ohne von indiskreten
+Besuchern bemerkt zu werden, sich in den Wald zurückziehen,
+wo sein alter Freund und Herr, der Fürst Fabrizio
+Colonna herrschte. Hauptmann Branciforte
+kümmerte die Zukunft seines Sohnes wenig. Als er sich,
+erst fünfzig Jahre alt, aber besät mit Wunden, vom
+Dienst zurückzog, nahm er an, daß er noch zehn Jahre
+leben werde, und verbrauchte, nachdem sein Haus gebaut
+war, jeden Tag den zehnten Teil dessen, was er
+aus den Plünderungen von Städten und Dörfern zusammengerafft,
+und denen beizuwohnen er die Ehre gehabt
+hatte.</p>
+
+<p>Er kaufte den Weinberg, der jetzt seinem Sohn
+dreißig Taler Rente trug, als Antwort auf den schlechten
+Scherz eines Bürgers von Albano, der ihm eines Tages,
+da er erregt über die Interessen und die Ehre der Stadt
+disputierte, zurief, daß es in der Tat einem so reichen
+<a id="page-229"></a><span class="pgnum">229</span>Grundbesitzer, wie er einer sei, wohl zustehe, den Eingesessenen
+Albanos Ratschläge zu erteilen. Der Hauptmann
+kaufte den Weinberg und kündigte an, daß er
+noch viele andre kaufen werde; später, als er den
+Spötter an einem einsamen Ort traf, tötete er ihn mit
+einem Pistolenschuß.</p>
+
+<p>Nach acht Jahren dieser Art des Lebens starb der
+Hauptmann; sein Adjutant Ranuccio betete Giulio an;
+trotzdem nahm er, des Nichtstuns müde, wieder Dienst
+in der Truppe des Fürsten Colonna. Oft besuchte er
+seinen Sohn Giulio, wie er ihn nannte, und am Vorabend
+eines gefährlichen Angriffs, den der Fürst in seiner
+Feste Petrella aushalten mußte, hatte er Giulio mit zum
+Kampf genommen. Da er ihn sehr tapfer fand,
+sagte er:</p>
+
+<p>„Du mußt wirklich toll und außerdem recht einfältig
+sein, daß du bei Albano wie der letzte und ärmste seiner
+Einwohner lebst, während du mit deinem Mut und dem
+Namen deines Vaters ein glänzender Soldat sein und
+dein Glück machen könntest.“</p>
+
+<p>Giulio wurde durch diese Worte gequält; ein Priester
+hatte ihn Latein gelehrt; aber da sein Vater über alles,
+was der Priester sonst noch sagte, nur zu spotten pflegte,
+hatte er außer dem nicht das geringste gelernt. Dafür
+hatte sich bei ihm, der wegen seiner Armut verachtet
+und in seinem einsamen Haus ganz auf sich selbst angewiesen
+war, ein gesunder Menschenverstand entwickelt,
+welcher durch seine gewagte Kühnheit selbst
+Gelehrte in Erstaunen gesetzt hätte. Zum Beispiel
+schwärmte er, bevor er Helena liebte, ganz ohne zu
+wissen, warum, für den Krieg; aber er hatte einen
+Widerwillen gegen das Plündern, das doch in den Augen
+seines Vaters und Ranuccios der kleinen lustigen Komödie
+<a id="page-230"></a><span class="pgnum">230</span>glich, die auf die edle ernste Tragödie folgt. Seit
+er Helena liebte, ließ ihn dieser gesunde Scharfblick,
+den er sich durch seine einsamen Überlegungen angeeignet
+hatte, Qualen erleiden. Diese früher so sorglose
+Seele wagte niemanden wegen ihrer Zweifel um Rat zu
+fragen und war von Leidenschaft und Unglück erfüllt.
+Was würde Herr von Campireali nicht alles sagen, wenn
+er Brigant würde? Dann erst würde er ihm begründete
+Vorwürfe machen können. Giulio hatte sich immer den
+Soldatenberuf als eine Sicherung für die Zeit aufgehoben,
+wo er den Erlös der goldenen Ketten und
+andren Kostbarkeiten ausgegeben haben würde, die er
+in der eisernen Kasse seines Vaters gefunden hatte.
+Giulio hatte trotz seiner Armut gar keinen Skrupel, die
+Tochter des reichen Herrn Campireali zu entführen,
+weil zu jener Zeit die Väter ganz nach ihrem Belieben
+über ihr Gut verfügten, und sehr leicht war es möglich,
+daß Herr von Campireali seiner Tochter nur tausend
+Taler als einziges Erbe hinterließ. Aber ein andres
+beschäftigte die Einbildungskraft Giulios aufs tiefste:
+erstens: in welcher Stadt würde er die junge Helena
+unterbringen, wenn er sie ihrem Vater entführt und
+geheiratet hatte; zweitens: mit welchem Geld würde
+er sie leben lassen?</p>
+
+<p>Als ihm Herr Campireali den beißenden Tadel versetzte,
+der ihn so empfindlich traf, war Giulio zwei
+Tage hindurch die Beute der Wut und des heftigsten
+Schmerzes: er konnte sich weder entschließen, den alten
+Mann zu töten, noch ihn leben zu lassen. Er verbrachte
+ganze Nächte weinend; endlich entschloß er sich, Ranuccio
+zu befragen, den einzigen Freund, den er auf der
+Welt hatte; aber würde dieser Freund ihn verstehen?
+Vergeblich suchte er im ganzen Wald von La Faggiola
+<a id="page-231"></a><span class="pgnum">231</span>nach Ranuccio; er mußte auf der Straße von Neapel
+noch über Velletri hinaus gehen, wo Ranuccio einen im
+Hinterhalt liegenden Trupp befehligte. Er lauerte dort
+mit einer zahlreichen Schar auf den spanischen General
+Ruiz d'Avalis, welcher zu Land nach Rom reiste, ohne
+daran zu denken, daß er kürzlich vor vielen Leuten mit
+Verachtung von den Briganten des Colonna gesprochen
+hatte. Sein Feldprediger erinnerte ihn gerade noch zur
+rechten Zeit an diese kleine Begebenheit, und Ruiz
+d'Avalis zog es vor, ein Schiff rüsten zu lassen und
+übers Meer nach Rom zu reisen.</p>
+
+<p>Als der Hauptmann Ranuccio Giulios Erzählung gehört
+hatte, sagte er ihm:</p>
+
+<p>„Beschreibe mir genau diesen Herrn Campireali,
+damit seine Unklugheit nicht irgend einem guten Bürger
+Albanos das Leben kostet. Sobald die Sache, die uns
+hier zurückhält, beendet ist, sei es gut oder schlecht,
+wirst du dich nach Rom begeben und darauf bedacht
+sein, dich zu allen Tageszeiten in Gastwirtschaften und
+an andren öffentlichen Orten zu zeigen, denn man darf
+nicht, wegen deiner Liebe zur Tochter, gegen dich Verdacht
+schöpfen können.“</p>
+
+<p>Giulio hatte große Mühe, den Zorn des alten Gefährten
+seines Vaters zu beruhigen. Es blieb ihm nichts
+übrig, als ärgerlich zu werden:</p>
+
+<p>„Glaubst du, daß ich deinen Degen brauche?“ sagte
+er endlich. „Man sollte meinen, daß ich selbst einen
+besitze! Ich wünsche einen verständigen Rat von dir.“</p>
+
+<p>Ranuccio schloß die ganze Auseinandersetzung mit
+den Worten:</p>
+
+<p>„Du bist jung, du hast keine Wunde, die Beleidigung
+war öffentlich; nun, ein entehrter Mann ist selbst bei
+den Frauen verachtet.“
+</p>
+
+<p><a id="page-232"></a><span class="pgnum">232</span>Giulio sagte ihm, daß er mit sich noch darüber zu
+Rate gehen wolle, wonach ihn gelegentlich verlange, und
+trotz des Drängens Ranuccios, der durchaus darauf beharrte,
+daß er an dem Überfall auf den spanischen
+General teilnehmen möge — wobei man, wie er sagte,
+Ehren erlangen könne, ganz abgesehen von den Dublonen — kehrte
+er allein in sein Haus zurück. Dort
+hatte er am Abend vor dem Tage, wo Herr von Campireali
+auf ihn schoß, Ranuccio und seinen Korporal empfangen,
+die auf dem Rückweg aus der Gegend von
+Velletri waren. Ranuccio hatte Mühe, die kleine
+eiserne Truhe zu sehen, wo sein Herr, der Hauptmann
+Branciforte, ehemals die goldenen Ketten und andre
+Schmucksachen einschloß, wenn es ihm nicht paßte,
+gleich nach der Expedition ihren Erlös auszuheben.
+Ranuccio fand zwei Scudi darin.</p>
+
+<p>„Ich rate dir, werde Mönch,“ sagte er zu Giulio,
+„du hast alle Tugenden dazu: die Liebe zur Armut,
+den Beweis haben wir vor Augen; die Demut: du läßt
+dich auf offener Straße von einem Geldsack aus Albano
+beschimpfen. Nun fehlen dir bloß noch die
+Heuchelei und der Bauch.“</p>
+
+<p>Ranuccio legte mit Gewalt fünfzig Dublonen in die
+eiserne Truhe.</p>
+
+<p>„Ich gebe dir mein Wort,“ sagte er zu Giulio, „wenn
+binnen eines Monats dieser Herr Campireali nicht mit
+allen Ehren, die seiner Vornehmheit und seinem Reichtum
+gebühren, eingescharrt ist, wird mein Korporal,
+so wahr er hier steht, mit dreißig Mann deine Hütte zerstören
+und deine armseligen Möbel verbrennen. Es darf
+nicht sein, daß der Sohn des Hauptmann Branciforte
+unter dem Vorwand der Liebe eine schlechte Figur in
+der Welt macht.“
+</p>
+
+<p><a id="page-233"></a><span class="pgnum">233</span>Als Herr von Campireali und sein Sohn die beiden
+Schüsse abfeuerten, hatten Ranuccio und der Korporal
+unter dem Steinbalkon Stellung genommen und Giulio
+hatte die größte Mühe, sie zu verhindern, Fabio zu
+töten oder mindestens zu entführen, als dieser unvorsichtig
+aus dem Garten trat, wie wir schon erzählt
+haben. Die Erwägung, welche Ranuccio beruhigte, war
+folgende: man soll nicht einen jungen Mann, der noch
+etwas werden und sich nützlich machen kann, töten,
+während ein alter Sünder dabei ist, mit mehr Schuld
+und zu nichts mehr gut als zum Begraben werden.</p>
+
+<p>Am Morgen nach diesem Abenteuer schlug sich Ranuccio
+in die Wälder und Giulio reiste nach Rom. Die
+Freude darüber, daß er sich mit den von Ranuccio geschenkten
+Dublonen schöne Gewänder kaufen könnte,
+war durch einen in seinem Jahrhundert ganz ungewöhnlichen
+Gedanken grausam getrübt, der die hohe Bestimmung
+ahnen ließ, zu der er später gelangte. Er
+sagte sich: ‚Helena muß wissen, wer ich bin.‘ Jeder
+andre junge Mann seines Alters und seiner Zeit hätte nur
+davon geträumt, sich seiner Liebe zu erfreuen und
+Helena zu entführen, ohne im geringsten daran zu
+denken, was in sechs Monaten aus ihr werden würde,
+und ebensowenig, welche Meinung sie von ihm hegen
+könnte.</p>
+
+<p>Nach Albano zurückgekehrt, erfuhr Giulio durch
+seinen Freund, den alten Scotti, am gleichen Nachmittag,
+da er vor aller Augen in seinen schönen, aus
+Rom mitgebrachten Gewändern glänzte, daß Fabio zu
+Pferde die Stadt verlassen habe, um nach einem drei
+Meilen entfernten Gut zu reiten, das sein Vater in der
+Ebene an der Küste besaß.</p>
+
+<p>Später sah er, wie Herr Campireali in Begleitung
+<a id="page-234"></a><span class="pgnum">234</span>von zwei Priestern den Weg durch die prächtige grüne
+Eichenallee einschlug, welche den Rand des Kraters
+krönt, auf dessen Grund der See von Albano liegt. Zehn
+Minuten danach drang eine alte Frau dreist in den
+Palazzo Campireali ein, unter dem Vorwand, schöne
+Früchte zu verkaufen; die erste Person, die sie traf, war
+die kleine Kammerzofe Marietta, die intime Vertraute
+ihrer Herrin Helena. Diese errötete bis ins Weiße der
+Augen, als sie einen schönen Blumenstrauß empfing.
+Der in diesem Strauß verborgene Brief war unermeßlich
+lang: Giulio erzählte alles, was er seit der Nacht
+der Flintenschüsse erlebt hatte; aber aus einer eigentümlichen
+Scham heraus wagte er nicht, das, worauf
+jeder andre junge Mann seiner Zeit stolz gewesen wäre,
+zu gestehen: daß er der Sohn eines durch seine Abenteuer
+berühmten Kapitäns war und selbst bereits in mehr
+als einem Kampf durch seine Tapferkeit erprobt. Er
+glaubte stets die Betrachtungen zu hören, welche diese
+Tatsachen dem alten Campireali eingeben würden. Man
+muß wissen, daß im sechzehnten Jahrhundert die
+Mädchen — einer gesunden republikanischen Vernunft
+näher als heute — einen Mann viel mehr seiner Taten
+wegen schätzten, als wegen der zusammengescharrten
+Reichtümer oder der berühmten Taten seiner Väter. Aber
+es waren hauptsächlich die jungen Mädchen aus dem
+Volk, welche diese Anschauung hatten; die den reichen
+Klassen oder dem Adel angehörten, hatten Angst vor
+den Briganten und hielten, wie es sich schließlich versteht,
+Adel und Reichtum in hoher Achtung. Giulio
+schloß seinen Brief mit folgenden Worten: „Ich weiß
+nicht, ob die gefälligen Gewänder, die ich aus Rom
+gebracht habe, Euch die grausame Beleidigung vergessen
+ließen, die mir kürzlich jemand wegen meines
+<a id="page-235"></a><span class="pgnum">235</span><a class="sic" id="sicA-20" href="#sic-20">armsäligen</a> Äußern zugefügt hat, den Ihr verehrt; ich
+hatte die Möglichkeit, mich schützen zu können, ich
+hätte es tun müssen, meine Ehre verlangte es: ich habe
+es wegen der Tränen nicht getan, welche meine Rache
+Augen gekostet hätte, die ich anbete. Dies kann Euch beweisen,
+wenn Ihr zu meinem Unglück noch daran
+zweifeln solltet, daß man sehr arm sein und doch edle
+Gefühle haben kann. Außerdem muß ich Euch ein
+schreckliches Geheimnis enthüllen; es würde mir sicher
+nicht schwer werden, es jeder andren Frau zu sagen;
+aber ich weiß nicht, warum: ich zittre, wenn ich daran
+denke, es Euch zu bekennen. Es könnte in einem Augenblick
+die Liebe, die Ihr zu mir fühlt, zerstören; keine
+Versicherung von Eurer Seite würde mir genügen. Ich
+will in Euren Augen die Wirkung lesen, welche dieses
+Geständnis hervorruft. An einem der nächsten Tage
+werde ich Euch bei Anbruch der Nacht im Garten hinter
+dem Palast sehen. Am gleichen Tag werden Fabio und
+Euer Vater abwesend sein: sobald ich mir die Gewißheit
+verschafft haben werde, daß sie, trotz ihrer Geringschätzung
+für einen armen schlecht gekleideten jungen
+Mann, uns nicht dreiviertel Stunden oder eine Stunde des
+Beisammenseins zu rauben vermögen, wird vor den
+Fenstern Eures Palastes ein Mann erscheinen, der den
+Dorfkindern einen zahmen Fuchs vorführen wird.
+Später, beim Läuten des Ave Maria, werdet Ihr in der
+Ferne einen Flintenschuß hören; in diesem Augenblick
+nähert Euch der Mauer Eures Gartens und wenn Ihr
+nicht allein seid, singt. Herrscht Schweigen, wird Euer
+Sklave zitternd vor Euren Füßen erscheinen und Euch
+Dinge erzählen, die Euch vielleicht entsetzen werden.
+In Erwartung dieses für mich entscheidenden und
+schrecklichen Tages, werde ich nicht mehr versuchen,
+<a id="page-236"></a><span class="pgnum">236</span>Euch um Mitternacht einen Strauß zu überreichen; aber
+gegen zwei Uhr nachts werde ich singend vorübergehen
+und vielleicht werdet Ihr vom großen Steinbalkon eine
+Blume fallen lassen, die von Euch aus Eurem Garten
+gepflückt wurde. Dies sind vielleicht die letzten Zeichen
+der Neigung, die Ihr dem unglücklichen Giulio geben
+werdet.“</p>
+
+<p>Drei Tage später waren Helenas Vater und Bruder auf
+das Gut geritten, das sie am Ufer des Meeres besaßen;
+sie mußten etwas vor Sonnenuntergang fortreiten, um
+gegen zwei Uhr nachts wieder zu Hause zu sein. Aber,
+als sie den Heimritt antreten wollten, waren nicht nur
+ihre beiden Pferde, sondern alle, die noch in der Farm
+waren, verschwunden. Sehr erstaunt über diesen kühnen
+Diebstahl suchten sie nach ihren Pferden, die aber erst
+am nächsten Tag im Hochwald, der ans Meer grenzt,
+gefunden wurden. Die beiden Campireali, Vater und
+Sohn, waren genötigt, in einem von Ochsen gezogenen
+Landfuhrwerk nach Albano zurückzukehren.</p>
+
+<p>Als an diesem Abend Giulio vor Helena kniete, war
+es beinahe völlig dunkel, und das arme Mädchen war
+sehr glücklich über diese Finsternis: sie stand zum
+ersten Male vor dem Mann, den sie zärtlich liebte, der
+das sehr wohl wußte, aber den sie noch nie gesprochen
+hatte.</p>
+
+<p>Eine Beobachtung, die sie machte, gab ihr ein wenig
+Mut: Giulio war noch bleicher und zaghafter als sie.
+Sie sah ihn zu ihren Füßen: „Ich bin wahrhaftig außerstande,
+zu sprechen“, sagte er ihr. Es folgten einige
+sehr glückliche Augenblicke; sie sahen sich an, aber
+konnten kein Wort hervorbringen und waren unbeweglich,
+wie eine sehr ausdrucksvolle Marmorgruppe. Giulio
+lag auf den Knien und hielt eine Hand Helenas, sie
+<a id="page-237"></a><span class="pgnum">237</span>hatte das Haupt gesenkt und betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit.</p>
+
+<p>Giulio wußte wohl, daß er irgend etwas hätte versuchen
+müssen, wenn er den Ratschlägen seiner
+Freunde, der jungen Lebemänner Roms, hätte folgen
+wollen; aber dieser Gedanke entsetzte ihn. Er wurde
+aus diesem Zustand der Verzückung, vielleicht dem
+höchsten Glück, das die Liebe geben kann, durch das
+Bewußtsein aufgeschreckt: die Zeit verfliegt schnell,
+die beiden Campireali nähern sich ihrem Hause. Er begriff,
+daß er mit seiner gewissenhaften Seele kein
+dauerndes Glück finden könne, so lange er nicht seiner
+Geliebten jenes schreckliche Geständnis gemacht habe,
+das seinen römischen Freunden als große Dummheit
+erschienen wäre.</p>
+
+<p>„Ich habe Euch von einem Geständnis gesprochen,
+welches ich vielleicht nicht machen sollte“, sagte er
+endlich zu Helena.</p>
+
+<p>Giulio wurde ganz bleich, er sprach mühsam und als
+ob ihm der Atem fehlte, weiter:</p>
+
+<p>„Vielleicht sehe ich jetzt die Gefühle schwinden,
+deren Hoffnung mein Leben ist. Ihr haltet mich für
+arm; das ist nicht alles: ich bin Brigant und Sohn eines
+Briganten.“</p>
+
+<p>Bei diesen Worten fühlte Helena, die als Tochter
+eines reichen Mannes in allen Vorurteilen ihrer Kaste
+aufgewachsen war, daß ihr übel wurde, sie fürchtete
+umzusinken; ‚welcher Kummer würde dies für den
+armen Giulio sein!‘ dachte sie, ‚er wird sich verachtet
+glauben,‘ Er lag vor ihr auf den Knien. Um nicht zu
+fallen, stützte sie sich auf ihn, und fast im gleichen
+Augenblick sank sie wie bewußtlos in seine Arme. Wie
+man sieht, liebte man im sechzehnten Jahrhundert Genauigkeit
+<a id="page-238"></a><span class="pgnum">238</span>in Liebesdingen. Dies kam daher, daß nicht
+der Verstand diese Geschehnisse beurteilte, sondern die
+Einbildungskraft sie fühlte und die Leidenschaft des
+Lesers sich an der der Helden entzündete. Die beiden
+Manuskripte, denen wir folgen, und besonders jenes,
+das einige dem florentinischen Dialekt eigentümliche
+Wendungen aufweist, beschreiben mit den kleinsten
+Einzelheiten alle Zusammenkünfte, welche auf diese
+folgten. Die Gefahr ließ in dem jungen Mädchen keine
+Gewissenszweifel aufkommen. Oft war die Gefahr
+außerordentlich, doch dadurch wurden diese beiden
+Herzen, welche alle Eindrücke, die mit ihrer Liebe zusammenhingen,
+als Glück empfanden, nur noch mehr
+entflammt. Öfters waren Fabio und sein Vater nahe
+daran, sie zu überraschen. Sie waren wütend, weil sie
+sich gefoppt fühlten. Der öffentliche Klatsch trug
+ihnen zu, daß Giulio Helenas Liebhaber sei und sie
+konnten nichts bemerken. Fabio, heftig und ahnenstolz,
+schlug seinem Vater vor, Giulio töten zu lassen.</p>
+
+<p>„So lange er auf der Welt ist,“ sagte er, „läuft das
+Leben meiner Schwester Gefahr. Wer schützt uns davor,
+daß unsre Ehre uns nicht im ersten Augenblick zwingen
+wird, unsre Hände in das Blut dieser Eigensinnigen zu
+tauchen? Sie ist zu solchem Unmaß von Verwegenheit
+gelangt, daß sie ihre Liebe nicht einmal mehr leugnet;
+habt Ihr sie auf Eure Vorwürfe anders antworten gehört,
+als mit einem verbissenen Schweigen? Nun wohl,
+dieses Schweigen ist das Todesurteil für Giulio Branciforte.“</p>
+
+<p>„Denk daran, was sein Vater war“, antwortete Herr
+von Campireali. <a class="sic" id="sicA-21" href="#sic-21">‚</a>Sicherlich ist es für uns nicht schwer,
+auf sechs Monate nach Rom zu gehen und während
+dieser Zeit diesen Branciforte verschwinden zu lassen.
+<a id="page-239"></a><span class="pgnum">239</span>Aber wer sagt uns, daß sein Vater, der trotz all seiner
+Verbrechen tapfer und freigebig war, — freigebig
+genug, um viele seiner Soldaten reich zu machen, während
+er selbst arm blieb — wer sagt uns, daß sein
+Vater nicht noch Freunde besitzt, sei es in der Schar
+des Herzogs von Monte Mariano, sei es in der Truppe
+Colonna, welche oft die Wälder von La Faggiola besetzt,
+die nur eine halbe Meile von uns entfernt sind?
+In diesem Fall werden wir alle ohne Erbarmen umgebracht,
+du, ich und vielleicht auch deine unglückliche
+Mutter.“</p>
+
+<p>Diese oft erneuten Unterhaltungen zwischen Vater
+und Sohn waren der Mutter Helenas, Vittoria Carafa,
+nur zum Teil verborgen geblieben und brachten sie zur
+Verzweiflung. Das Ergebnis der Unterhaltungen
+zwischen Vater und Sohn war, daß es sich nicht mit
+ihrer Ehre vertrüge, den Klatsch, der in Albano umging,
+ruhig dauern zu lassen. Da es nicht klug schien,
+diesen jungen Branciforte verschwinden zu machen, der
+täglich unverschämter wurde und jetzt sogar in seinen
+prächtigen Kleidern die Dreistigkeit so weit trieb, an
+öffentlichen Orten das Wort an Fabio oder dessen Vater
+zu richten, erübrigte nichts als einen der beiden folgenden
+Entschlüsse oder vielleicht alle beide ausführen:
+die ganze Familie mußte nach Rom gehen,
+Helena aber im Kloster der Heimsuchung in Castro
+untergebracht und so lange dort belassen werden, bis
+eine passende Heirat für sie gefunden war.</p>
+
+<p>Niemals hatte Helena ihrer Mutter ein Geständnis
+ihrer Liebe gemacht: Mutter und Tochter liebten sich
+zärtlich, sie verbrachten ihr Leben gemeinsam, und doch
+war nie ein einziges Wort über diesen Gegenstand gesprochen
+worden, der sie beide fast in gleichem Maße
+<a id="page-240"></a><span class="pgnum">240</span>beschäftigte. Zum erstenmal verriet sich in Worten,
+was fast ausschließlich Gegenstand ihrer Gedanken
+war, als die Mutter ihrer Tochter zu verstehen gab,
+man wolle nach Rom übersiedeln und vielleicht sogar
+Helena für einige Jahre in das Kloster von Castro
+schicken.</p>
+
+<p>Diese Unterredung war von Vittoria Carafa unklug
+und ließ sich nur durch die unsinnige Zärtlichkeit entschuldigen,
+welche sie für ihre Tochter hegte. Im Übermaß
+ihrer Liebe wollte Helena ihrem Geliebten beweisen,
+daß sie sich seiner Armut nicht schämte und
+daß ihr Vertrauen in seine Ehrenhaftigkeit ohne
+Grenzen war. „Wer würde es glauben,“ ruft der florentinische
+Chronist aus, „daß trotz so vielen gewagten Zusammenkünften,
+im Garten und ein- oder zweimal sogar
+in ihrem eigenen Zimmer, für die sie sich einem
+schrecklichen Tod aussetzten, Helena unberührt war!“
+Durch ihre Tugend sicher, schlug sie ihrem Geliebten
+vor, gegen Mitternacht den Palast durch den Garten
+zu verlassen, und den Rest der Nacht in seinem kleinen,
+auf den Ruinen Albas erbauten Haus zu verbringen,
+das mehr als eine halbe Stunde entfernt lag. Sie verkleideten
+sich als Franziskanermönche. Helena war
+hoch gewachsen und glich, so gekleidet, einem jungen
+Novizen von achtzehn oder zwanzig Jahren. Es ist unbegreiflich
+und zeigt Gottes Finger, daß Giulio und
+seine Geliebte, als Mönche verkleidet, auf dem engen,
+in den Felsen gehauenen Weg, der an der Mauer des
+Kapuzinerklosters entlang führt, Herr von Campireali
+und seinem Sohn Fabio begegneten, welche, von vier
+wohlbewaffneten Dienern gefolgt und einem Pagen mit
+brennender Fackel voran, aus Castel Gandolfo zurückkehrten,
+einem unweit am Ufer des Sees gelegenen Ort.
+<a id="page-241"></a><span class="pgnum">241</span>Um die Liebenden vorbeizulassen, stellten sich die Campireali
+und ihre Diener zur Rechten und Linken dieses
+in den Felsen gehauenen Wegs auf, welcher etwa acht
+Fuß breit sein mochte. Wieviel besser wäre es für Helena
+gewesen, wenn man sie in diesem Augenblick erkannt
+hätte! Sie wäre durch einen Pistolenschuß ihres
+Vaters oder ihres Bruders getötet worden und ihre
+Marter hätte nur einen Augenblick gedauert: aber der
+Himmel hatte es anders beschlossen. Superis aliter
+visum.</p>
+
+<p>Man fügt dieser sonderbaren Begegnung noch einen
+Umstand hinzu, welchen die Signora Campireali noch
+oftmals im höchsten Alter erzählt hat, als fast Hundertjährige
+in Rom, vor Leuten, die selbst sehr alt waren;
+sie haben es mir wiedererzählt, als meine große Neugierde
+sie über diesen Gegenstand und über vieles
+andre ausforschte.</p>
+
+<p>Fabio von Campireali, der ein junger auf seinen Mut
+stolzer Mann und hochfahrend war, rief, als er merkte,
+daß der ältere Mönch weder seinen Vater noch ihn
+grüßte, trotzdem er so nah an ihnen vorbeiging:</p>
+
+<p>„Das ist ja ein Spitzbube von einem stolzen Mönch!
+Gott weiß, was er außerhalb des Klosters sucht, er und
+sein Begleiter, zu so ungehöriger Stunde! Ich weiß
+nicht, was mich abhält, ihre Kapuzen zu lüften, wir
+würden sehen, wie sie ausschauen!“</p>
+
+<p>Bei diesen Worten faßte Giulio nach seinem Dolch
+unter der Mönchskutte und stellte sich zwischen Fabio
+und Helena. In diesem Augenblick war nicht mehr als
+ein Fuß breit Raum zwischen ihm und Fabio; aber der
+Himmel befahl es anders und besänftigte durch ein
+Wunder den Zorn dieser beiden jungen Leute, die sich
+bald danach in noch anderer Nähe sehen sollten.
+</p>
+
+<p><a id="page-242"></a><span class="pgnum">242</span>In dem Prozeß, den man in der Folge Helena von
+Campireali machte, wollte man diesen nächtlichen Ausflug
+als einen Beweis ihrer Verderbtheit darstellen; doch
+es war das Delirium eines jungen Herzens, das in ganz
+unsinniger Liebe entflammt war, denn dies Herz war
+rein.</p>
+
+
+
+<h3>III.</h3>
+
+
+<p>Die Orsini, die ewigen Nebenbuhler der Colonna und
+damals in den Dörfern zunächst Rom allmächtig, hatten
+erst vor kurzem einen reichen Landwirt namens Balthasar
+Bandini aus La Petrella durch die Gerichte der
+Regierung zum Tod verurteilen lassen. Es würde zu weit
+führen, hier die verschiedenen Taten aufzuzählen,
+welche man dem Bandini zur Last legte: zum größten
+Teil wären sie heute Verbrechen, aber im Jahre 1559
+durften sie nicht in einer so strengen Weise betrachtet
+werden. Bandini saß in einem den Orsini gehörenden
+Schloß gefangen, das bei Valmontone im Gebirge lag,
+sechs Meilen von Albano entfernt. Der Bargello von
+Rom, von hundertfünfzig seiner Sbirren gefolgt, verbrachte
+eine Nacht auf der Landstraße; er war gekommen,
+um Bandini zu holen und ihn nach Rom ins
+Gefängnis von Tor di Nona zu bringen. Bandini hatte
+in Rom gegen das Todesurteil Berufung eingelegt. Aber,
+wie wir schon sagten, war er aus La Petrella gebürtig,
+einer Feste, die den Colonna gehörte; seine Frau war
+zu Colonna geeilt, der sich in La Petrella aufhielt, und
+sagte ihm vor allen Leuten:</p>
+
+<p>„Werdet Ihr einen Eurer treuen Diener sterben
+lassen?“ Colonna erwiderte:</p>
+
+<p>„Es wäre Gott nicht wohlgefällig, wenn ich die Ehrfurcht
+verletzte, die ich den Entscheidungen der Gerichte
+des Papstes, meines Herrn, schulde!“
+</p>
+
+<p><a id="page-243"></a><span class="pgnum">243</span>Sofort erhielten seine Soldaten Befehle, und er ließ
+allen seinen Anhängern Weisung zukommen, sich bereit
+zu halten. Der Sammelpunkt wurde bei Valmontone bestimmt,
+einer kleinen, auf dem Gipfel eines niederen
+Felsens gelegenen Stadt, die aber einen stufenlosen und
+fast lotrechten Absturz von sechzig bis achtzig Fuß
+Tiefe zur Schutzwehr hat. In diese kleine, dem Papst
+gehörende, Stadt war es den Anhängern der Orsini und
+den Sbirren der Regierung geglückt, Bandini zu
+schaffen. Unter die eifrigsten Anhänger dieser Partei
+rechnete man Herrn von Campireali und seinen Sohn
+Fabio, die übrigens mit den Orsini weitläufig verwandt
+waren. Seit jeher waren dagegen Giulio Branciforte und
+sein Vater Anhänger der Colonna.</p>
+
+<p>Unter Umständen, wo es den Colonna nicht paßte,
+öffentlich zu handeln, nahmen sie zu einer einfachen
+Vorsicht ihre Zuflucht: die meisten der reichen römischen
+Bauern waren damals wie heute Mitglieder
+irgendwelcher Büßergemeinschaften. Die Büßer erschienen
+in der Öffentlichkeit nie anders als den Kopf
+mit einem Stück Leinwand bedeckt, das ihr Gesicht verhüllte
+und nur zwei Löcher für die Augen frei ließ.
+Wenn die Colonna sich zu einer Unternehmung nicht
+bekennen wollten, luden sie ihre Anhänger ein, sich
+ihnen im Büßerkleid anzuschließen.</p>
+
+<p>Nach langen Vorbereitungen wurde die Überführung
+Bandinis, welche schon seit vierzehn Tagen das Gespräch
+der Gegend bildete, auf einen Sonntag festgesetzt. An
+diesem Tag um zwei Uhr morgens ließ der Bürgermeister
+von Valmontone in allen Dörfern des Waldes von
+La Faggiola die Sturmglocken läuten. Man sah aus
+jedem Ort Bauern in ziemlich großer Anzahl ausrücken.
+Die Sitten der mittelalterlichen Republiken, als man sich
+<a id="page-244"></a><span class="pgnum">244</span>noch schlug, um irgendeine Sache, die man wünschte,
+zu erlangen, hatten in den Herzen der Landleute sehr
+viel Tapferkeit erhalten; zu unsrer Zeit würde sich niemand
+rühren.</p>
+
+<p>An diesem Tag konnte man etwas Sonderbares bemerken:
+So oft ein kleiner Trupp bewaffneter Bauern
+aus seinem Dorf heraus in den Wald bog, verringerte
+er sich um die Hälfte; die Anhänger der Colonna
+schlugen die Richtung nach dem von Fabrizio bezeichneten
+Treffpunkt ein. Ihre Anführer schienen überzeugt,
+daß man sich an diesem Tage nicht schlagen
+würde: sie hatten morgens Befehl erhalten, dieses
+Gerücht zu verbreiten. Fabrizio durcheilte den Wald
+mit der Auslese seiner Anhänger, die mit halbwüchsigen
+jungen Pferden seines Gestüts beritten waren. Er hielt
+eine Art Heerschau über die verschiedenen Bauerntrupps
+ab; aber er sprach nichts zu ihnen; weil jedes Wort
+bloßstellen konnte. Fabrizio war ein großer, magerer
+Mann von unglaublicher <a class="sic" id="sicA-22" href="#sic-22">Gewandheit</a> und Kraft; obwohl
+er kaum fünfundvierzig Jahre zählte, waren seine
+Haare und sein Schnurrbart von blendender Weiße, was
+ihm sehr unangenehm war. Denn an diesem Merkmal
+konnte man ihn auch an Orten erkennen, wo er lieber
+unerkannt geblieben wäre. Sobald die Bauern ihn sahen,
+riefen sie: Evviva Colonna! und zogen ihre Leinenkapuzen
+über. Der Fürst selbst hatte seine Kapuze auf
+der Brust hängen, um sie überziehen zu können, sobald
+sich der Feind zeigte.</p>
+
+<p>Dieser ließ nicht auf sich warten. Die Sonne war
+kaum aufgegangen, als etwa tausend Mann der Orsini-Partei
+von der Seite von Valmontone her in den Wald
+eindrangen und in einer Entfernung von etwa dreihundert
+Schritten an den Anhängern des Colonna vorbeizogen,
+<a id="page-245"></a><span class="pgnum">245</span>die sich auf seinen Befehl zur Erde geworfen
+hatten. Einige Minuten, nachdem die letzten dieser
+Vorhut der Orsini vorbei waren, setzte der Fürst seine
+Leute in Bewegung; er hatte beschlossen, das Geleit des
+Bandini anzugreifen, wenn eine Viertelstunde vorbei sein
+würde, nachdem es den Wald betreten hatte. An dieser
+Stelle ist der Wald mit kleinen Felsen von fünfzehn
+oder zwanzig Fuß Höhe übersät; das sind mehr oder
+weniger alte Lavaflüsse, auf denen die Kastanien
+wunderbar wachsen und fast ganz den Tag verhüllen.
+Weil diese Lavablöcke, die mehr oder weniger von der
+Zeit angegriffen sind, den Boden sehr uneben machen
+und um der Landstraße eine Anzahl kleiner unnützer
+Auf- und Abstiege zu ersparen, hat man den Weg in
+die Lava eingesenkt, und er liegt jetzt oft drei oder
+vier Fuß tiefer als der Wald.</p>
+
+<p>An der Stelle, wo Fabrizio den Angriff vorgesehen
+hatte, befand sich eine mit Gras bedeckte Lichtung,
+die an einem Ende von der Landstraße überquert wurde.
+Dann trat die Straße wieder in den Wald ein, der an
+dieser Stelle voll von Brombeerbüschen und zwischen
+Baumstümpfen wuchernder Stauden ganz undurchdringlich
+war. Fabrizio hatte hier seine Fußtruppen
+etwa hundert Schritt tief im Walde und zu beiden Seiten
+der Straße aufgestellt. Auf ein Zeichen Colonnas setzte
+jeder der Bauern seine Kapuze auf und nahm mit
+seiner Büchse hinter einem Kastanienbaum Stellung; die
+Soldaten des Fürsten stellten sich hinter die Bäume
+zunächst der Straße. Die Bauern hatten strengen Befehl,
+erst nach den Soldaten zu schießen und diese durften
+erst Feuer geben, wenn der Feind auf zwanzig Schritt
+nahe sein würde. Fabrizio ließ in Eile einige zwanzig
+Bäume fällen, welche mit ihren Zweigen auf die
+<a id="page-246"></a><span class="pgnum">246</span>Straße gestürzt sie vollständig sperrten; die Straße war
+an dieser Stelle sehr eng und lag um drei Fuß tiefer.
+Hauptmann Ranuccio mit fünfhundert Mann folgte der
+Vorhut; er hatte Befehl, erst anzugreifen, wenn er die
+ersten Flintenschüsse hören würde, die vom Holzverhau
+abgegeben werden sollten, der die Straße versperrte.
+Als Fabrizio Colonna seine Soldaten und seine Anhänger
+jeder hinter seinem Baum wohl aufgestellt und voll
+Entschlossenheit sah, ritt er im Galopp mit seinen Berittenen
+weiter, unter denen sich auch Giulio Branciforte
+befand. Der Fürst schlug einen Pfad zur Rechten
+der Landstraße ein, welcher zum entgegengesetzten
+Ende der Lichtung führte.</p>
+
+<p>Colonna war kaum einige Minuten davon, als man
+auf der Straße von Valmontone von weitem eine große
+Schar Berittener nahen sah; das waren die Sbirren und
+ihr Bargello, die Bandini geleiteten, und alle Herren,
+die zu den Orsini hielten. In ihrer Mitte befand
+sich Balthasar Bandini, von vier rotgekleideten Scharfrichtern
+umringt; sie hatten Befehl, das Urteil der ersten
+Instanz zu vollstrecken und Bandini sofort zu töten,
+wenn die Anhänger der Colonna daran wären, ihn zu
+befreien.</p>
+
+<p>Die Reiter Colonnas waren kaum am andern Ende der
+Lichtung angelangt, als man die ersten Flintenschüsse
+aus dem Hinterhalt beim Holzverhau auf der Straße
+hörte. Sogleich setzte er seine Reiter in Galopp und
+richtete seinen Angriff auf die vier rotgekleideten,
+Henker, die Bandini umgaben.</p>
+
+<p><a class="sic" id="sicA-23" href="#sic-23">Wer</a> werden nicht im genauen Verlauf diesem kleinen
+Handstreich folgen, der nicht einmal dreiviertel Stunden
+dauerte; überrascht flohen die Anhänger der Orsini
+nach allen Richtungen, aber bei der Vorhut wurde der
+<a id="page-247"></a><span class="pgnum">247</span>tapfere Hauptmann Ranuccio getötet, und dieses Ereignis
+hatte einen verhängnisvollen Einfluß auf das
+Schicksal Brancifortes. Kaum hatte dieser einige Säbelhiebe
+ausgeteilt, um sich an die rotgekleideten Männer
+heranzuarbeiten, als er sich Fabio Campireali gegenüber
+befand.</p>
+
+<p>Auf einem schnaubenden Pferd und mit goldenem
+Kettenhemd bekleidet, schrie Fabio:</p>
+
+<p>„Wer sind diese maskierten Schufte? Laßt uns ihre
+Masken mit einem Säbelhieb zerschneiden! Seht, wie
+ich das mache!“</p>
+
+<p>Fast im gleichen Augenblick erhielt Giulio Branciforte
+von ihm einen Säbelhieb über die Stirn. Dieser
+Schlag war mit solcher Geschicklichkeit geführt, daß
+das Leinen, welches sein Gesicht verhüllte, fiel, als
+seine Augen durch das Blut geblendet wurden, welches
+aus dieser übrigens harmlosen Wunde floß. Giulio
+ritt abseits, um Zeit zum Aufatmen zu gewinnen und
+sein Gesicht abzuwischen. Er wollte sich um keinen
+Preis mit Helenas Bruder schlagen, und sein Pferd war
+schon einige Schritte von Fabio entfernt; da erhielt
+er einen wütenden Säbelhieb über die Brust, der dank
+seinem Kettenhemd nicht durchdrang, aber ihm für
+einen Augenblick den Atem nahm. Fast gleichzeitig
+hörte er in seine Ohren schreien:</p>
+
+<p>„Ti conosco, porco! Kanaille, ich kenne dich! So
+verdienst du also dein Geld, um deine Lumpen abzulegen?“</p>
+
+<p>Giulio, in solcher Weise gereizt, vergaß seinen Vorsatz
+und stürzte sich wieder auf Fabio:</p>
+
+<p>„Ed in mal ponto tu venisti!“ rief er aus.</p>
+
+<p>Nach einigen heftigen Säbelhieben fiel das Gewand,
+das ihre Panzerhemden bedeckte, nach allen Seiten. Das
+<a id="page-248"></a><span class="pgnum">248</span>Panzerhemd Fabios war vergoldet und prächtig, das
+Giulios so gewöhnlich wie nur möglich.</p>
+
+<p>„In welchem Dreck hast du dein Giacco aufgelesen?“
+schrie Fabio.</p>
+
+<p>Im gleichen Augenblick fand Giulio die Gelegenheit,
+die er seit einer halben Minute suchte. Das stolze Panzerhemd
+Fabios deckte den Hals nicht genug, und Giulio
+führte nach dieser kleinen ungedeckten Stelle des Halses
+einen Stoß, der saß. Giulios Schwert drang einen halben
+Fuß weit in die Gurgel Fabios und ließ einen mächtigen
+Blutstrahl hervorspringen.</p>
+
+<p>„Unverschämter“, schrie Giulio dabei und galoppierte
+auf die Rotgekleideten zu, von denen zwei, hundert
+Schritte von ihm entfernt, noch zu Pferd waren; als
+er sich näherte, fiel der dritte Henker, aber im Augenblick,
+wo Giulio dem vierten schon ganz nahe war,
+drückte dieser, da er sich von mehr als zehn Reitern
+umzingelt sah, gegen den unglücklichen Bandini eine
+Pistole aus nächster Nähe los, so daß er zu Boden fiel.</p>
+
+<p>„Meine werten Herrn, wir haben hier nichts mehr zu
+tun!“ rief Branciforte, „machen wir diese Schurken von
+Sbirren nieder, die nach allen Seiten davonlaufen.“</p>
+
+<p>Alles folgte ihm.</p>
+
+<p>Als Giulio eine halbe Stunde später in die Nähe Fabrizio
+Colonnas zurückkehrte, richtete dieser große Herr
+zum erstenmal das Wort an ihn. Giulio fand ihn
+trunken vor Zorn, während er geglaubt hatte, ihn vor
+Freude entzückt zu finden; denn der Sieg war vollständig
+gewesen und gänzlich seinen guten Anordnungen
+zu verdanken; denn die Orsini hatten nahezu dreitausend
+Mann und Fabrizio hatte für diese Sache nicht mehr als
+fünfzehnhundert aufgeboten.</p>
+
+<p>„Wir haben unsern tapfren Freund Ranuccio verloren,“
+<a id="page-249"></a><span class="pgnum">249</span>sagte der Fürst zu Giulio, „ich komme eben von
+seiner Leiche, er ist schon kalt. Und der arme Balthasar
+Bandini ist tödlich verwundet. Also haben wir im
+Grunde nicht gesiegt. Doch der Schatten des tapfren
+Kapitäns Ranuccio wird wohl begleitet vor Pluto erscheinen.
+Ich habe Befehl gegeben, alle diese gefangenen
+Schurken an die Bäume zu knüpfen. Versäumt
+das nicht, meine Herren!“ rief er mit erhobener
+Stimme.</p>
+
+<p>Und er ritt im Galopp zu der Stelle, wo der Kampf
+der Vorhut stattgefunden hatte. Giulio kommandierte
+als Vertreter Ranuccios dessen Abteilung; er folgte dem
+Fürsten, welcher bei dem Leichnam dieses tapfren Soldaten,
+der von mehr als fünfzig gefallenen Feinden umgeben
+war, zum zweitenmal vom Pferd stieg, um die
+Hand Ranuccios zu drücken. Giulio tat weinend das
+gleiche.</p>
+
+<p>„Du bist noch sehr jung,“ sagte der Fürst zu Giulio,
+„aber ich sehe dich vom Blut bedeckt und dein Vater
+war ein tapfrer Mann, der mehr als zwanzig Wunden
+im Dienst der Colonna erhalten hatte. Übernimm die
+Führung derer, die von Ranuccios Abteilung übrig sind
+und geleite seine Leiche in unsre Kirche in La Petrella;
+vergiß aber nicht, daß du unterwegs angegriffen werden
+kannst.“</p>
+
+<p>Giulio wurde nicht angegriffen, aber er tötete mit
+einem Degenhieb einen seiner Soldaten, der ihm sagte,
+daß er zu jung wäre, um zu befehlen. Diese Unklugheit
+hatte Erfolg, weil Giulio noch von Fabios Blut bedeckt
+war. Die ganze Straße entlang fand er die Bäume mit
+Männern beladen, welche man aufgehängt hatte. Dieses
+gräßliche Schauspiel, verbunden mit Ranuccios und besonders
+mit Fabios Tod, machten ihn fast wahnsinnig.
+<a id="page-250"></a><span class="pgnum">250</span>Seine einzige Hoffnung war, daß man nicht den Namen
+von Fabios Besieger wußte.</p>
+
+<p>Wir übergehen die militärischen Einzelheiten. Drei Tage
+nach dem Kampf konnte Giulio wieder einige Stunden
+in Albano verbringen; er erzählte seinen Bekannten, ein
+heftiges Fieber habe ihn in Rom zurückgehalten und ihn
+gezwungen, die ganze Woche über das Bett zu hüten.</p>
+
+<p>Aber man behandelte ihn überall mit einem sichtlich
+zur Schau getragenen Respekt; die angesehensten Leute
+der Stadt grüßten ihn zuerst; einige Unvorsichtige
+gingen sogar so weit, ihn mit Herr Hauptmann anzureden.
+Er war mehrmals am Palazzo Campireali
+vorbeigegangen, hatte ihn aber fest verschlossen gefunden,
+und da der neue Hauptmann sehr schüchtern
+war, wenn es galt, sich nach gewissen Personen zu erkundigen,
+vermochte er erst gegen Mittag über sich zu
+gewinnen, den alten Scotti, der ihn stets mit Güte behandelt
+hatte, zu fragen:</p>
+
+<p>„Aber wo sind denn die Campireali? Ich sehe ihren
+Palast geschlossen.“</p>
+
+<p>„Mein Freund,“ antwortete Scotti mit plötzlicher
+Traurigkeit, „das ist ein Name, den du niemals aussprechen
+solltest. Deine Freunde sind wohl davon überzeugt,
+daß er es war, der herausgefordert hat und sagen
+es überall; aber schließlich: war er nicht das Haupthindernis
+deiner Heirat? Und macht sein Tod nicht
+seine Schwester unermeßlich reich? Und bist es nicht
+du, den sie liebt? Man kann sogar hinzufügen — und
+in diesem Fall wird die Unverschämtheit zur Tugend —,
+daß sie dich genug liebt, um dich nachts in deinem
+kleinen Haus in Alba zu besuchen. Daher kann man in
+deinem Interesse sagen, daß Ihr schon vor dem verhängnisvollen
+Kampf bei Ciampi Mann und Frau wart.“
+</p>
+
+<p><a id="page-251"></a><span class="pgnum">251</span>Der Greis unterbrach sich, weil er bemerkte, daß
+Giulio die Tränen nicht beherrschen konnte.</p>
+
+<p>„Gehn wir zum Gasthaus hinauf“, sagte Giulio.</p>
+
+<p>Scotti folgte ihm; man gab ihnen ein Zimmer, worin
+sie sich einschlossen und Giulio bat den Greis, ihm
+alles, was sich seit acht Tagen ereignet hatte, erzählen
+zu dürfen. Nach Beendigung dieser langen Erzählung
+sagte der Alte:</p>
+
+<p>„Ich sehe wohl an deinen Tränen, daß nichts, was geschehen
+ist, in deiner Absicht lag, aber Fabios Tod ist
+deshalb kein weniger böses Ereignis für dich. Es ist
+dringend nötig, daß Helena ihrer Mutter erklärt, du
+seiest schon seit langem ihr Gatte.“</p>
+
+<p>Giulio antwortete nicht und der Greis schrieb dies
+einer lobenswerten Diskretion zu. In schweres Sinnen
+versunken, fragte sich Giulio, ob Helena, verletzt durch
+den Tod eines Bruders, seinem Zartgefühl noch gerecht
+werden würde; jetzt bereute er, was er damals versäumt
+hatte. Darauf bat er den Alten, ihm alles, was
+sich am Tage des Kampfes in Albano zugetragen hatte,
+frei zu erzählen. Fabio war gegen halb sieben Uhr
+morgens getötet worden, mehr als sechs Meilen von Albano
+entfernt und — so unglaublich es klingt! — schon
+um neun Uhr wurde von diesem Tod zu sprechen begonnen.
+Gegen Mittag hatte man gesehen, wie sich der
+alte Campireali, tränenüberströmt und auf seine Diener
+gestützt, in das Kapuzinerkloster begab. Kurz darauf
+hatten drei dieser ehrwürdigen Väter, auf den besten
+Rossen der Campireali und von vielen Dienstleuten gefolgt,
+den Weg nach dem Dorf Ciampi eingeschlagen,
+in dessen Nähe der Kampf ausgefochten worden war.
+Der alte Campireali wollte durchaus mit, aber man hatte
+ihn davon abgebracht, indem man ihm vorstellte, daß
+<a id="page-252"></a><span class="pgnum">252</span>Fabrizio Colonna wütend sei (warum, wußte man allerdings
+nicht recht) und ihm übel mitspielen könnte,
+wenn er gefangen genommen würde.</p>
+
+<p>Nachts gegen die zwölfte Stunde schien der Wald
+von La Faggiola in Flammen zu stehen: das waren alle
+Mönche und alle Armen von Albano, die — jeder eine
+große brennende Wachskerze in der Hand — dem
+Leichnam des jungen Fabio entgegengingen.</p>
+
+<p>„Ich will dir nicht verhehlen,“ fügte der Greis hinzu,
+die Stimme senkend, als fürchte er, gehört zu werden,
+„daß die Straße, welche nach Valmontone und nach
+Ciampi führt…“</p>
+
+<p>„Nun was?“ sagte Giulio.</p>
+
+<p>„Nun wohl, diese Straße führt an deinem Haus vorbei
+und man sagt, daß das Blut aus der schrecklichen,
+Halswunde wieder zu fließen begann, als Fabios Leichnam
+dort vorbeikam.“</p>
+
+<p>„Wie entsetzlich!“ rief Giulio und erhob sich.</p>
+
+<p>„Beruhige dich, mein Freund“, sagte der Greis. „Du
+siehst wohl ein, wie es nötig ist, daß du alles weißt. Und
+jetzt muß ich dir sagen, daß deine Anwesenheit hier
+heute ein wenig verfrüht erscheint. Wenn Ihr mir die
+Ehre erweisen wollt, mich um Rat zu fragen, Kapitän,
+möchte ich hinzufügen, daß es nicht passend ist, daß Ihr
+Euch früher als nach einem Monat in Albano zeigt. Es
+ist wohl nicht notwendig, Euch aufmerksam zu machen,
+daß es unvorsichtig wäre, nach Rom zu gehen. Man
+weiß noch nicht, wie sich der Heilige Vater zu den Colonna
+stellen wird, man denkt zwar, daß er der Erklärung
+Fabrizios Glauben schenken wird, der vorgibt,
+von dem Kampf bei Ciampi nicht früher als durch das
+öffentliche Gerede gehört zu haben; aber der Gouverneur
+von Rom, der ein treuer Orsini ist, wütet und
+<a id="page-253"></a><span class="pgnum">253</span>würde entzückt sein, einige der tapfren Soldaten Fabrizios
+hängen zu lassen, und dieser könnte sich nicht
+einmal öffentlich beschweren, weil er schwört, beim
+Kampf nicht dabei gewesen zu sein. Ich werde noch
+weiter gehen, und, obwohl Ihr mich nicht danach fragt,
+mir die Freiheit nehmen, Euch einen militärischen Rat
+zu geben: Ihr seid in Albano beliebt, sonst wäret Ihr
+hier nicht in Sicherheit. Aber bedenkt, daß Ihr seit
+mehreren Stunden in der Stadt umhergeht, daß einer
+der Anhänger der Orsini sich herausgefordert fühlen
+könnte, oder mindestens an die Leichtigkeit, eine schöne
+Belohnung zu gewinnen, denken kann. Der alte Campireali
+hat tausendmal wiederholt, daß er seine schönste
+Besitzung dem schenkt, der Euch tötet. Ihr hättet einige
+der Soldaten aus Eurem Haus nach Albano herunternehmen
+<a class="sic" id="sicA-24" href="#sic-24">sollen.</a></p>
+
+<p>„Ich habe nicht einen Soldaten in meinem Haus.“</p>
+
+<p>„In diesem Fall seid Ihr ein Narr, Kapitän. Diese
+Herberge hat einen Garten; wir werden uns durch den
+Garten machen und über die Weinberge flüchten. Ich
+werde Euch begleiten; ich bin alt und ohne Waffen;
+aber wenn wir Übelgesinnten begegnen, werde ich mit
+Ihnen sprechen; Ihr werdet wenigstens Zeit gewinnen.“</p>
+
+<p>Giulios Seele war zerrissen. Sollen wir zu erzählen
+wagen, wie weit seine Narrheit ging? Sowie er gehört
+hatte, daß der Palast Campireali geschlossen war und
+alle seine Bewohner nach Rom abgereist seien, faßte er
+den Plan, den Garten wiederzusehen, wo er so oft mit
+Helena zusammengekommen war. Er hoffte sogar, ihr
+Zimmer wiederzusehen, wo sie ihn empfangen hatte,
+wenn ihre Mutter abwesend war. Er hatte das Bedürfnis,
+sich durch den Anblick der Orte, wo sie so zärtlich zu
+ihm gewesen war, gegen ihren Zorn zu wappnen.
+</p>
+
+<p><a id="page-254"></a><span class="pgnum">254</span>Branciforte und der edelmütige Alte hatten keine unangenehme
+Begegnung, während sie den kleinen Pfaden
+folgten, die durch die Weinberge zum See ansteigen.
+Giulio ließ sich von neuem die Einzelheiten des Begräbnisses
+des jungen Fabio erzählen. Die Leiche dieses
+tapfren jungen Mannes war von vielen Priestern begleitet
+nach Rom überführt und in der Familiengruft
+im Kloster San Onofrio am Gianicolo beigesetzt worden.
+Man hatte als einen sehr auffallenden Umstand vermerkt,
+daß Helena am Vorabend der Zeremonie von
+ihrem Vater nach dem Kloster der Heimsuchung in
+Castro zurückgebracht worden war; dies hatte das umlaufende
+Gerücht verstärkt, daß sie heimlich mit dem
+Wegelagerer vermählt sei, der das Unglück gehabt hätte,
+ihren Bruder zu töten.</p>
+
+<p>Als er bei seinem Haus ankam, fand Giulio den Korporal
+seiner <a class="sic" id="sicA-25" href="#sic-25">Kampagnie</a> mit vieren seiner Soldaten; sie
+sagten ihm, daß ihr früherer Hauptmann nie den Wald
+verlassen hätte, ohne einige seiner Leute bei sich zu
+haben. Der Fürst hatte öfters geäußert, daß jeder, bevor
+er sich aus Unvorsichtigkeit töten lasse, vorher
+seinen Abschied nehmen möge, damit er die Rache für
+einen solchen Tod nicht ihm aufbürde.</p>
+
+<p>Giulio Branciforte verstand die Berechtigung solcher
+Gedanken, die ihm bisher völlig fremd gewesen waren.
+Er hatte, ähnlich, wie es die Naturvölker tun, geglaubt,
+daß der Krieg in nichts bestünde, als sich tapfer zu
+schlagen. Er fügte sich auf der Stelle den Wünschen des
+Fürsten und nahm sich nur noch die Zeit, den weisen
+Alten zu umarmen, der so edelmütig gewesen war, ihn
+nach Haus zu begleiten.</p>
+
+<p>Aber einige Tage später kehrte Giulio halb verrückt
+vor Schwermut zurück, um den Palast Campireali
+<a id="page-255"></a><span class="pgnum">255</span>wiederzusehen. Mit Einbruch der Nacht kamen er und
+seine Soldaten, als neapolitanische Kaufleute verkleidet,
+nach Albano. Er sprach allein bei Scotti vor und hörte,
+daß Helena noch immer im Kloster von Castro verbannt
+sei. Ihr Vater, der sie mit dem vermählt glaubte,
+den er den Mörder seines Sohnes nannte, hatte geschworen,
+sie nie wiederzusehen. Selbst als er sie ins
+Kloster brachte, hatte er sie nicht angesehen. Die Zärtlichkeit
+ihrer Mutter dagegen schien sich zu verdoppeln
+und oft verließ sie Rom, um einen Tag oder zwei bei
+ihrer Tochter zu verbringen.</p>
+
+
+
+
+<h3>IV.</h3>
+
+
+<p>‚Wenn ich mich vor Helena nicht rechtfertige‘, sagte
+sich Giulio, als er nachts den Standort seiner Kompagnie
+im Walde wiedergewann, ‚wird sie mich am
+Ende für einen Mörder halten. Gott weiß, was man ihr
+alles über diesen unheilvollen Kampf erzählt hat.‘</p>
+
+<p>Er ging zum Fürsten in das befestigte Schloß La
+Petrella, um seine Befehle entgegenzunehmen und bat
+um die Erlaubnis, nach Castro zu gehen. Fabrizio Colonna
+verzog die Stirn:</p>
+
+<p>„Die Angelegenheit des kleinen Gefechts ist bei Seiner
+Heiligkeit noch nicht erledigt. Ihr müßt wissen, daß
+ich die Wahrheit erklärt habe; versteht: daß ich ganz
+unbeteiligt an diesem Zusammenstoß war, von dem ich
+sogar erst am folgenden Tage hier auf meinem Schloß
+La Petrella gehört habe. Ich habe allen Grund, anzunehmen,
+daß Seine Heiligkeit schließlich dieser aufrichtigen
+Vorstellung Glauben schenken wird. Aber die Orsini
+sind mächtig und alle Welt sagt, daß Ihr Euch in
+diesem Scharmützel hervorgetan habt. Die Orsini gehen
+<a id="page-256"></a><span class="pgnum">256</span>so weit, zu behaupten, daß zahlreiche Gefangene an den
+Baumästen aufgehängt worden sind. Ihr wißt, wie
+falsch diese Darstellung ist; aber man kann Repressalien
+voraussehen.“</p>
+
+<p>Das tiefe Erstaunen, das in den kindlichen Blicken des
+jungen Hauptmanns glänzte, belustigte den Fürsten; jedoch
+empfand er, daß es angesichts solcher Unschuld
+geboten sei, deutlicher zu sprechen.</p>
+
+<p>„Ich sehe in Euch“, fuhr er fort, „jene vollendete
+Tapferkeit, die den Namen Branciforte in ganz Italien
+bekannt gemacht hat. Ich hoffe, daß Ihr für mein Haus
+die gleiche Treue haben werdet, die mir Euren Vater
+so teuer gemacht hat; ich habe sie Euch vergelten
+wollen. Die Losung meiner Mannschaft ist: Niemals die
+Wahrheit über irgend etwas zu sagen, das sich auf mich
+oder meine Soldaten bezieht. Wenn Ihr im Augenblick,
+wo Ihr zu sprechen genötigt seid, irgendeine Unwahrheit
+als nützlich erkennt, lügt, wie's der Zufall
+zusammenfügt und hütet Euch, wie vor einer Todsünde,
+auch nur im kleinsten die Wahrheit zu sagen. Ihr
+versteht, daß sie im Verein mit andren Auskünften auf
+die Spur meiner Pläne bringen könnte. Ich weiß übrigens,
+daß Ihr eine Liebelei im Kloster von Castro habt.
+Ihr könnt vierzehn Tage in dem Nest totschlagen, wo
+es den Orsini weder an Freunden, noch selbst an Agenten
+fehlt. Geht zu meinem Majordomus, der Euch zweihundert
+Zechinen geben wird. Die Freundschaft, die ich
+für Euren Vater hegte,“ fügte der Fürst lachend hinzu,
+„macht mir Lust, Euch Anleitung über die Art zu geben,
+wie Ihr dieses Kriegs- und Liebesabenteuer zu gutem
+Ende führt. Ihr und drei Eurer Soldaten werdet Euch
+als Kaufleute verkleiden. Ihr dürft dabei nicht verfehlen,
+immer auf einen Eurer Gefährten erzürnt zu
+<a id="page-257"></a><span class="pgnum">257</span>sein, dessen Beruf es ist, immer betrunken zu scheinen
+und sich viele Freunde zu machen, indem er allen
+Nichtstuern von Castro den Wein zahlt. <a class="sic" id="sicA-26" href="#sic-26">„</a>Übrigens“,
+fügte der Fürst in verändertem Ton hinzu, „solltet Ihr
+von den Orsini gefangen und zum Tode verurteilt
+werden, so gesteht nie Euren wahren Namen ein und
+noch weniger, daß Ihr zu mir gehört. Ich habe nicht
+nötig, Euch anzuempfehlen, daß Ihr alle kleinen Städte
+erst umgeht und stets durch das Tor eintretet, das der
+Richtung, aus der Ihr kommt, entgegengesetzt liegt.“</p>
+
+<p>Giulio war über diese väterlichen Ratschläge gerührt,
+die von einem sonst so ernsten Mann kamen. Zuerst
+lächelte der Fürst über die Tränen, die er in den
+Augen des jungen Mannes erblickte, dann wurde aber
+auch seine Stimme bewegt. Er zog einen der zahlreichen
+Ringe ab, die er an den Fingern trug, und Giulio küßte,
+als er ihn empfing, die durch so edle Taten berühmte
+Hand.</p>
+
+<p>„Niemals hätte mein Vater so vorsorglich mit mir gesprochen“,
+rief der junge Mann begeistert aus.</p>
+
+<p>Am übernächsten Morgen, ein wenig vor Anbruch
+des Tages, zog er in die Mauern des kleinen Städtchens
+Castro ein, fünf Soldaten folgten ihm, wie er verkleidet;
+zwei davon gingen für sich und schienen weder ihn
+noch die drei andren zu kennen. Noch bevor sie in die
+Stadt eintraten, hatte Giulio das Kloster der Heimsuchung
+bemerkt, ein großes, von schwarzen Mauern
+umgebenes Gebäude, das einer Festung glich. Er lief
+zur Kirche; sie war prächtig. Die Nonnen, die alle adlig
+und meist aus reichen Häusern waren, wetteiferten
+untereinander aus Eitelkeit, um diese Kirche reich zu
+schmücken, die der einzige Teil des Klosters war,
+welchen die Blicke der Öffentlichkeit erreichten. Es
+<a id="page-258"></a><span class="pgnum">258</span>war Gebrauch geworden, daß jene der Damen, die aus
+einer vom Kardinal-Protektor des Ordens der Heimsuchung
+dem Papste vorgelegten Liste von drei Nonnen
+zur Äbtissin erwählt wurde, eine ansehnliche Gabe darbrachte,
+die dazu diente, ihren Namen zu verewigen.
+Diejenige, deren Gabe geringer war als das Geschenk
+der letzten Äbtissin, verfiel samt ihrer Familie der Verachtung.</p>
+
+<p>Giulio trat zitternd in dieses prächtige Gebäude, das
+von Marmor und Vergoldung strahlte. In Wahrheit
+dachte er kaum an den Marmor und die Goldverzierungen;
+es schien ihm, daß er unter Helenas Augen sei.
+Der Hochaltar hatte, wie man ihm sagte, mehr als achthunderttausend
+Francs gekostet; aber seine Blicke übersahen
+die Schätze des Hochaltars und hefteten sich auf
+ein vergoldetes Gitter, das fast vierzig Fuß hoch und
+durch zwei Marmorpfeiler in drei Abteilungen geteilt
+war. Dieses Gitter, dem seine mächtige Größe etwas
+Schreckliches verlieh, erhob sich hinter dem Hochaltar
+und trennte den Chor der Nonnen von der allen Gläubigen
+zugänglichen Kirche.</p>
+
+<p>Giulio sagte sich, daß Nonnen und Pensionärinnen
+sich während des Gottesdienstes hinter diesem goldenen
+Gitter befanden. In diesen inneren Teil der Kirche
+konnte sich eine Nonne oder eine Pensionärin zu jeder
+Tageszeit begeben, wenn sie Bedürfnis hatte, zu beten:
+Auf diesen aller Welt bekannten Umstand gründeten
+sich die Hoffnungen des armen Liebhabers. Allerdings
+deckte ein mächtiger schwarzer Schleier das Gitter auf
+der Innenseite. ‚Aber dieser Schleier‘, überlegte Giulio,
+‚kann kaum den Blick der Pensionärinnen hindern, wenn
+sie in die öffentliche Kirche schauen, denn ich — stellte
+er fest — der ich mich nur auf einige Entfernung
+<a id="page-259"></a><span class="pgnum">259</span>nähern kann, bemerke doch durch den Schleier die
+Fenster, die dem Chor Licht geben, sehr gut; ja, ich
+kann sogar die geringsten Einzelheiten ihrer Architektur
+unterscheiden,‘ Jeder Stab dieses prächtig vergoldeten
+Gitters trug eine scharfe, gegen die sich ihm Nähernden
+gerichtete Spitze.</p>
+
+<p>Giulio wählte einen sehr sichtbaren Platz an der
+hellsten Stelle, dem linken Teil des Gitters gegenüber.
+Dort verbrachte er seine Tage damit, die Messen zu
+hören. Da er sich hier nur von Bauern umgeben sah,
+konnte er hoffen, selbst durch den schwarzen Schleier
+hindurch bemerkt zu werden. Zum ersten Mal in seinem
+Leben trachtete der schlichte junge Mann aufzufallen:
+sein Auftreten war gesucht; er gab zahlreiche Almosen
+beim Eintritt und beim Verlassen der Kirche. Seine
+Leute und er behandelten die kleinen Lieferanten und
+Arbeiter, die Verbindung mit dem Kloster hatten, mit
+den größten Aufmerksamkeiten. Doch erst am dritten
+Tage hatte er endlich Aussicht, einen Brief an Helena
+gelangen lassen zu können. Auf seinen Befehl folgte
+man beständig den beiden Laienschwestern, die Vorräte
+für das Kloster einzukaufen hatten; eine von ihnen
+hatte Beziehungen zu einem Krämer. Einer der Soldaten
+Giulios, der Mönch gewesen war, gewann die
+Freundschaft des Kaufmanns und versprach ihm eine
+Zechine für jeden Brief, welcher der Pensionärin Helena
+Campireali zugestellt würde.</p>
+
+<p>„Was!“ sagte der Kaufmann bei der ersten Andeutung,
+die man ihm über diese Sache machte, „einen
+Brief an die Frau des Briganten?“</p>
+
+<p>Dieser Name war schon in Castro eingebürgert und
+doch war Helena erst vor vierzehn Tagen dort angekommen;
+so schnell läuft alles, was der Einbildungskraft
+<a id="page-260"></a><span class="pgnum">260</span>Stoff gibt bei diesem Volk, das leidenschaftlich
+alle genauen Einzelheiten liebt.</p>
+
+<p>Der kleine Kaufmann fügte hinzu:</p>
+
+<p>„Diese wenigstens ist verheiratet, aber wie viele
+unsrer Damen haben solche Entschuldigung nicht und
+empfangen von draußen ganz andres als Briefe.“</p>
+
+<p>In diesem ersten Brief erzählte Giulio mit unzähligen
+Einzelheiten alles, was an jenem unheilvollen Todestag
+Fabios vor sich gegangen war. „Hassest Du mich?“
+fragte er am Ende.</p>
+
+<p>Helena antwortete nur eine Zeile, worin sie sagte, daß
+sie niemanden hasse und den Rest ihres Lebens dazu verwenden
+wolle, den zu vergessen, der ihren Bruder getötet
+hatte.</p>
+
+<p>Giulio beeilte sich, zu antworten; nach Anklagen
+gegen das Schicksal, die Platon nachahmten und damals
+in Mode waren, fuhr er fort:</p>
+
+<p>„Du willst also das Wort Gottes, das er in der
+Heiligen Schrift für uns niedergelegt hat, vergessen?
+Gott sagt: die Frau soll ihre Familie und ihre Eltern
+verlassen, um ihrem Gatten zu folgen. Wagst du zu behaupten,
+daß du nicht meine Frau bist? Erinnere dich
+an die Nacht von San Pietro. Als die Morgenröte schon
+hinter dem Monte Cave aufstieg, warfst du dich mir
+zu Füßen; ich wollte dich schonen; du gehörtest mir,
+wenn ich es gewollt hätte; du konntest der Liebe, die
+du damals für mich fühltest, nicht widerstehen. Ich
+hatte dir schon oft gesagt, daß ich dir mein Leben und
+alles, was mir auf der Welt teuer ist, darbringe; aber
+plötzlich schien mir, daß du mir auch antworten
+könntest — wenn du es selbst niemals tätest — daß
+alle diese durch keine äußere Tat erhärteten Opfer vielleicht
+nur Einbildung sind. Ein gegen mich grausamer,
+<a id="page-261"></a><span class="pgnum">261</span>aber im Grunde richtiger Gedanke erleuchtete mich.
+Ich dachte, daß nicht ohne Grund der Zufall mir jetzt
+die Gelegenheit gebe, in deinem Interesse auf das
+höchste Glück zu verzichten, das ich mir je hatte
+träumen lassen. Du warst in meinen Armen und schon
+ohne Widerstand, erinnere dich, selbst dein Mund wagte
+nicht zu verweigern. In diesem Augenblick ertönte das
+morgendliche Ave Maria im Kloster von Monte Cave und
+durch einen wundersamen Zufall drang dieser Ton bis
+zu uns. Du riefst mir zu: Bring dieses Opfer der heiligen
+Madonna, der Mutter aller Reinheit. Ich hatte
+schon seit einem Augenblick die Idee dieses Opfers, des
+einzigen, das ich dir je zu bringen Gelegenheit haben
+würde. Ich fand es unerhört, daß auch dir der gleiche
+Gedanke gekommen war. Der ferne Klang dieses Ave
+Maria rührte mich, ich gestehe es; ich erfüllte deine
+Bitte. Das Opfer war jedoch nicht ganz allein für dich
+gebracht; ich glaubte, unsre zukünftige Vereinigung
+unter den Schutz der Mutter Gottes zu stellen. Damals
+dachte ich nicht daran, daß von dir, Treulose, wohl
+aber, daß von deiner reichen und vornehmen Familie
+Hindernisse kommen könnten. Wie hätte dieses Angelus
+von so weit her, durch den halben Wald über die Gipfel
+der im Morgenwind bewegten Bäume ohne übernatürliche
+Einwirkung bis zu uns dringen können? Da fielst
+du vor mir auf die Knie, erinnerst du dich? Ich stand
+auf, zog aus meiner Brust das Kreuz, das ich dort trage,
+und du schwurst auf dieses Kreuz, das hier vor mir
+liegt, und bei deiner ewigen Verdammnis, wo du je sein
+würdest und was immer auch geschehen möge, würdest
+du, sobald ich dir den Befehl zukommen lasse, wieder
+ganz mein Eigen sein, wie du es in dem Augenblick
+warst, als das Ave Maria von Monte Cave von so weit
+<a id="page-262"></a><span class="pgnum">262</span>her an dein Ohr rührte. Dann sagten wir fromm zwei
+Ave und zwei Paternoster. Nun wohl, bei der Liebe, die
+du damals für mich fühltest oder wenn du sie — wie
+ich fürchte — vergessen hast, bei deiner ewigen Verdammnis
+befehle ich dir, mich heute Nacht in deinem
+Zimmer oder im Garten zu empfangen.“</p>
+
+<p>Der italienische Autor bringt seltsamerweise noch
+viele lange Briefe Giulio Brancifortes, welche nach
+diesem geschrieben sind; aber er gibt nur Auszüge
+aus den Antworten Helena Campirealis. Jetzt, einige
+hundert Jahre später, stehen wir den Gefühlen der
+Liebe und der Religion, welche diese Briefe erfüllen,
+so fremd gegenüber, daß ich fürchte, sie könnten zu
+lang sein.</p>
+
+<p>Aus diesen Briefen geht hervor, daß Helena endlich
+dem Befehl gehorchte, der in dem von uns gekürzt
+wiedergegebenen Schreiben enthalten war. Giulio fand
+ein Mittel, ins Kloster einzudringen; man vermöchte
+aus einem Wort anzunehmen, daß er sich als Frau verkleidete.
+Helena empfing ihn, aber nur hinter dem
+Gitter eines Erdgeschoßfensters, das auf den Garten
+ging. Zu seinem unbeschreiblichen Schmerz erkannte
+Giulio, daß dieses einst so zärtliche und sogar leidenschaftliche
+Mädchen zu einer Fremden geworden war;
+sie behandelte ihn fast mit ausgesuchter Höflichkeit. Als
+sie ihn in den Garten einließ, hatte sie fast ausschließlich
+der heiligen Pflicht des Eides gehorcht. Die Begegnung
+war kurz: schon nach einigen Minuten gewann
+der Stolz Giulios, der vielleicht durch die Ereignisse der
+letzten vierzehn Tage ein wenig gereizt war, die Oberhand.</p>
+
+<p>‚Ich sehe nichts vor mir‘, sagte er zu sich, ‚als den
+Schatten jener Helena, die sich mir in Albano für das
+<a id="page-263"></a><span class="pgnum">263</span>ganze Leben hingab,‘ Nun war es die Hauptsache für
+Giulio, die Tränen zu verbergen, die bei den höflichen
+Wendungen, mit denen Helena das Wort an ihn richtete,
+sein Gesicht überströmten. Als sie aufgehört hatte, zu
+sprechen und die — wie sie sagte — nach dem
+Tode eines Bruders so natürliche Veränderung zu rechtfertigen,
+antwortete ihr Giulio, indem er sehr langsam
+sprach:</p>
+
+<p>„Ihr erfüllt nicht Euer Gelöbnis; Ihr empfangt mich
+nicht im Garten; Ihr liegt nicht vor mir auf den Knien,
+wie damals, eine halbe Minute, nachdem wir jenes Ave
+Maria von Monte Cave hörten. Vergeßt Euren Schwur,
+wenn Ihr könnt, ich vergesse nichts, Gott stehe Euch
+bei!“</p>
+
+<p>Mit diesen Worten verließ er das vergitterte Fenster,
+an dem er gut noch eine Stunde hätte bleiben können.
+Wer hätte ihm einige Augenblicke zuvor sagen dürfen,
+daß er diese so herbeigesehnte Zusammenkunft freiwillig
+abkürzen werde! Dieses Opfer zerriß seine Seele,
+aber er glaubte, daß er Helenas Verachtung verdienen
+würde, wenn er auf ihre Förmlichkeit anders als damit
+antwortete, daß er sie ihrer Reue überließ.</p>
+
+<p>Vor Sonnenaufgang verließ er das Kloster. Er stieg
+zu Pferde und gab seinen Soldaten Befehl, ihn eine
+Woche lang in Castro zu erwarten und dann in den
+Wald zurückzukehren; er war außer sich vor Verzweiflung.
+Zuerst wandte er sich nach Rom.</p>
+
+<p>‚Was?! Ich entferne mich von ihr!‘ sagte er sich
+bei jedem Schritt. ‚Wie! Wir sind einander fremd geworden!
+O Fabio! Wie bist du gerächt!‘</p>
+
+<p>Der Anblick der Menschen, die er auf der Straße antraf,
+steigerte noch seinen Zorn; er lenkte sein Pferd
+quer über die Felder und ritt auf den öden verlassenen
+<a id="page-264"></a><span class="pgnum">264</span>Uferstreif zu, der das Meer begleitet. Als er nicht mehr
+durch die Begegnungen mit diesen ruhigen Bauern gestört
+wurde, deren Los er beneidete, atmete er auf; der
+Anblick dieser wilden Gegend war in Einklang mit
+seiner Verzweiflung und mäßigte seinen Zorn; jetzt
+konnte er sich der Betrachtung seines traurigen Schicksals
+hingeben.</p>
+
+<p>‚In meinem Alter‘, sagte er sich, ‚habe ich eine Hilfe:
+eine andre Frau zu lieben!‘</p>
+
+<p>Bei diesem traurigen Gedanken fühlte er seine Verzweiflung
+sich verdoppeln; er sah nur zu gut, daß es
+für ihn nur eine Frau auf der Welt gab. Er stellte sich
+die Qual vor, die er leiden würde, wenn er das
+Wort Liebe vor einer andern als Helena ausspräche.
+Dieser Gedanke zerriß ihn.</p>
+
+<p>Er wurde von einem Anfall bittren Lachens geschüttelt.</p>
+
+<p>‚Ich gleiche hier genau diesen Helden Ariosts,‘ dachte
+er, ‚die einsam durch öde Länder ziehen, um zu vergessen,
+daß sie ihre treulose Geliebte in den Armen
+eines andren Ritters gefunden haben… Aber sie ist
+nicht so schuldig,‘ sagte er sich, indem er nach diesem
+tollen Lachen wieder in Tränen ausbrach; ‚ihre Untreue
+geht nicht so weit, einen andren zu lieben. Diese
+bewegsame und reine Seele hat sich durch die schrecklichen
+Dinge irreleiten lassen, die man ihr von mir erzählt
+hat; ohne Zweifel hat man es ihr so dargestellt,
+als hätte ich mich an diesem verhängnisvollen Überfall
+nur in der geheimen Absicht beteiligt, ihren Bruder zu
+töten. Man wird noch weiter gegangen sein, man wird
+mir die schmutzige Berechnung unterschoben haben,
+daß sie die alleinige Erbin eines ungeheuren Vermögens
+werde, wenn ihr Bruder tot sei… Und ich, ich habe
+<a id="page-265"></a><span class="pgnum">265</span>die Dummheit begangen, sie ganze vierzehn Tage allein
+der Überredung meiner Feinde als Beute zu überlassen!
+Man muß zugeben, daß mir, zu allem meinem Unglück,
+der Himmel auch noch den Verstand versagt hat, mein
+Leben zu lenken! Ich bin ein verächtliches, bei Gott
+ein verächtliches Wesen! Mein Leben war niemand nützlich
+und mir noch weniger als jedem andren.‘</p>
+
+<p>In diesem Augenblick hatte der junge Branciforte eine
+für jene Zeit sehr seltsame Eingebung: sein Pferd
+schritt am äußersten Uferrand und zuweilen benetzten
+die Wellen seine Hufe; er hatte den Einfall, es ins Meer
+zu treiben und so das schreckliche Schicksal zu beenden,
+dessen Beute er war. Was sollte er fernerhin machen,
+da das einzige Wesen auf der Welt, das ihn jemals die
+Möglichkeit eines Glücks hatte fühlen lassen, ihn verließ?
+Dann hielt ihn plötzlich ein andrer Gedanke
+zurück.</p>
+
+<p>‚Was sind die Qualen, die ich erdulde‘, sagte er sich,
+‚im Vergleich mit jenen, die ich leiden würde, nachdem
+dieses elende Leben beendet ist? Helena wird sich nicht
+mehr bloß gleichgültig gegen mich verhalten, wie sie
+es jetzt tut, sondern ich würde sie in den Armen eines
+Nebenbuhlers sehen, und dieser Rivale wird ein junger
+römischer Edelmann sein, reich und angesehen; denn
+die Dämonen werden, wie es ihre Pflicht ist, die grausamsten
+Bilder suchen, um meine Seele zu zerreißen.
+So werde ich selbst im Tode Helena nicht vergessen
+können; ja, weit mehr: meine Leidenschaft für sie wird
+sich verdoppeln; denn dies ist der sicherste Weg,
+welchen die ewigen Mächte gehen können, um mich
+für meine schreckliche Sünde zu bestrafen.‘</p>
+
+<p>Um die Versuchung gänzlich zu vertreiben, schickte
+sich Giulio an, das Ave Maria zu beten. Einst, als er das
+<a id="page-266"></a><span class="pgnum">266</span>morgendliche Ave Maria gehört hatte, das der Mutter
+Gottes geweihte Gebet, war jene Versuchung über ihn
+gekommen, edelmütig zu handeln, die ihm heute als die
+größte Torheit seines Lebens erschien. Aber aus Ehrfurcht
+wagte er es nicht, weiterzugehen und den Gedanken
+ganz auszudrücken, der sich seines Geistes bemächtigt
+hatte.</p>
+
+<p>‚Wenn ich durch Eingebung der Madonna in einen
+verhängnisvollen Irrtum verfallen bin, muß sie da nicht
+in ihrer unendlichen Gerechtigkeit irgendeinen Umstand
+schaffen, der mir das Glück wiedergibt?‘</p>
+
+<p>Dieser Gedanke an die Gerechtigkeit der Madonna
+verjagte nach und nach seine Verzweiflung. Er hob den
+Kopf und sah hinter Albano und dem Wald den von
+düsterem Grün bedeckten Monte Cave vor sich und das
+heilige Kloster, dessen Morgenläuten ihn zu dem gebracht
+hatte, was er jetzt eine schändliche Täuschung
+nannte, die an ihm verübt worden war. Der unerwartete
+Anblick dieses heiligen Orts tröstete ihn.</p>
+
+<p>‚Nein,‘ rief er aus, ‚es ist unmöglich, daß die
+Madonna mich im Stich läßt. Wäre Helena meine Frau
+gewesen, wie ihre Liebe es zuließ und meine Würde als
+Mann es forderte, so hätte die Erzählung von ihres
+Bruders Tod in ihrer Seele die Erinnerung an das Band
+vorgefunden, das sie mit mir verknüpft. Sie hätte sich
+gesagt, daß sie mir lange angehörte, bevor der unglückliche
+Zufall mich auf dem Kampfplatz Fabio gegenüberstellte.
+Er war zwei Jahre älter als ich, er war erfahrener
+in den Waffen, in jeder Hinsicht gewandter und
+stärker. Tausend Gründe wären meiner Frau eingefallen,
+daß nicht ich diesen Kampf gesucht haben könne. Sie
+würde sich erinnert haben, daß ich nie den mindesten
+Haß gegen ihren Bruder gehegt habe, selbst damals
+<a id="page-267"></a><span class="pgnum">267</span>nicht, als er mit der Büchse nach uns schoß. Ich erinnere
+mich an unsre erste Zusammenkunft nach meiner
+Rückkehr aus Rom; ich sagte ihr: ‚Was willst du? die
+Ehre verlangt es; ich kann einen Bruder nicht tadeln!‘‘</p>
+
+<p>Durch sein Gebet zur Madonna der Hoffnung wiedergegeben,
+spornte Giulio sein Pferd an und gelangte
+in einigen Stunden zum Standquartier seiner Kompagnie.
+Er fand sie im Begriff abzumarschieren: man
+wollte auf die von Neapel über Monte Cassino nach Rom
+führende Straße gelangen. Der junge Hauptmann
+wechselte das Pferd und ging mit seinen Leuten. An
+diesem Tag schlug man sich nicht. Giulio fragte nicht,
+warum man fortmarschiert sei; es lag ihm wenig daran,
+es zu wissen. Im Augenblick, als er sich an der Spitze
+seiner Soldaten sah, erschien ihm sein Schicksal in
+neuem Licht.</p>
+
+<p>‚Ich bin ganz einfach ein Tor,‘ sagte er sich, ‚ich habe
+Unrecht getan, Castro zu verlassen; Helena ist wahrscheinlich
+weniger schuldig, als mein Zorn es mir einbildete.
+Nein, diese kindlich reine Seele, deren erste
+Liebesregungen ich entstehen sah, kann nicht aufgehört
+haben, mir zu gehören! Sie war von Leidenschaft für
+mich durchdrungen! Hat sie mir nicht mehr als zehnmal
+angeboten, mit mir, der ich so arm bin, zu fliehen,
+und uns durch einen Mönch von Monte Cave trauen zu
+lassen? In Castro hätte ich vor allem eine zweite Zusammenkunft
+erlangen und ihr Vernunft zusprechen
+müssen; wahrhaftig, die Leidenschaft macht mich zerfahren
+wie ein Kind! O Gott, daß ich nicht einen
+Freund habe, einen Rat zu erflehen! Der gleiche Schritt
+erscheint mir im Zeitraum von zwei Minuten verwerflich
+und vortrefflich.‘</p>
+
+<p>Am Abend dieses Tags, als man die Landstraße verließ,
+<a id="page-268"></a><span class="pgnum">268</span>um sich wieder in den Wald zu schlagen, näherte
+sich Giulio dem Fürsten und fragte ihn, ob er noch
+einige Tage dort, wo er wüßte, bleiben könnte.</p>
+
+<p>„Geh zu allen Teufeln!“ rief Fabrizio, „glaubst du,
+daß jetzt der Augenblick sei, mich mit Kindereien zu
+unterhalten?“</p>
+
+<p>Eine Stunde später ritt Giulio wieder nach Castro
+zurück. Er fand dort seine Leute vor; aber er wußte
+nicht, wie er Helena schreiben solle, nachdem er sie
+so hochfahrend verlassen hatte. Sein erster Brief enthielt
+nichts als die Worte: „Wird man mich in der
+nächsten Nacht empfangen wollen?“</p>
+
+<p>„Man kann kommen“, war auch die ganze Antwort.</p>
+
+<p>Nach Giulios Abreise hatte sich Helena für immer
+verlassen geglaubt. Nun erst hatte sie die ganze Tragweite
+der Überlegungen des armen unglücklichen
+jungen Mannes verstanden: sie war seine Frau gewesen,
+bevor er das Unglück gehabt hatte, ihren Bruder im
+Kampf zu treffen.</p>
+
+<p>Diesmal wurde Giulio nicht mit den höflichen Wendungen
+empfangen, die ihm bei der ersten Zusammenkunft
+so grausam erschienen waren. Helena erschien
+allerdings wieder nur hinter ihrem vergitterten Fenster,
+aber sie zitterte, und da der Ton Giulios sehr kühl
+war und seine Redewendungen fast als ob er mit einer
+Fremden spräche, war es jetzt an Helena, zu fühlen,
+wie grausam solch förmlicher Ton, nach der früheren
+süßen Vertrautheit wirkte. Giulio, der fürchtete, daß
+seine Seele wieder durch ein kaltherziges Wort Helenas
+zerrissen werden könnte, hatte den Ton eines Advokaten
+angenommen, um ihr zu beweisen, daß sie lange vor
+dem verhängnisvollen Kampf von Ciampi seine Frau
+gewesen sei. Helena ließ ihn reden, weil sie fürchtete,
+<a id="page-269"></a><span class="pgnum">269</span>von Tränen überwältigt zu werden, wenn sie ihm anders
+als mit kurzen Worten antworte. Am Ende, als sie kaum
+mehr an sich halten konnte, bat sie ihren Freund, am
+nächsten Tag wiederzukommen. Es war am Vorabend
+eines hohen Festes, die Morgenandacht wurde sehr früh
+gesungen und ihre Zusammenkunft konnte leicht entdeckt
+werden. Giulio, der wie ein Verliebter dachte,
+verließ den Garten in tiefstem Nachsinnen: er vermochte
+nicht zu unterscheiden, ob er gut oder schlecht
+aufgenommen worden sei, und weil durch den Umgang
+mit seinen Kameraden ihm soldatische Sitten vertraut
+geworden waren, sagte er sich:</p>
+
+<p>„Es wird vielleicht dazu kommen, daß ich Helena
+entführen muß.“</p>
+
+<p>Und er überlegte die verschiedenen Möglichkeiten,
+mit Gewalt in den Garten einzudringen. Da das Kloster
+sehr reich und lohnend zu brandschatzen war, hatte es
+eine große Anzahl Bediensteter in seinem Sold, die ehemals
+meist Soldaten gewesen waren; man hatte sie in
+einer Art Kaserne untergebracht, deren vergitterte
+Fenster auf einen schmalen Durchlaß sahen, der von
+dem äußeren Tor, das in der Mitte einer schwarzen,
+mehr als achtzig Fuß hohen Mauer lag, zu dem inneren
+führte, welches von der Schwester Pförtnerin bewacht
+wurde. Zur Linken dieses schmalen Gangs erhob sich
+die Kaserne, zur Rechten die mehr als dreißig Fuß hohe
+Mauer des Gartens. Die Fassade des Klosters ward von
+einer dicken, vom Alter geschwärzten Mauer gebildet,
+die außer dem äußeren Tor und einem einzigen kleinen
+Fenster, durch das die Soldaten hinaussehen konnten,
+keine Öffnungen aufwies. Man kann sich den düstern
+Eindruck dieser hohen schwarzen Mauer vorstellen, die
+einzig von einer mit breiten Eisenbändern und ungeheuren
+<a id="page-270"></a><span class="pgnum">270</span>Nägeln verstärkten Tür und einem kleinen
+Fenster von vier Fuß Höhe und achtzehn Zoll Breite
+unterbrochen war.</p>
+
+<p>Wir begleiten den Chronisten nicht weiter in der
+langen Schilderung aller folgenden Zusammenkünfte,
+die Giulio von Helena gewährt wurden. Der Ton der
+beiden Liebenden war ganz so vertraut geworden wie
+damals im Garten zu Albano, nur hatte Helena niemals
+einwilligen gewollt, in den Garten hinabzusteigen. Eines
+Nachts fand sie Giulio sehr nachdenklich: ihre Mutter
+war aus Rom gekommen, um sie zu sehen und wollte
+einige Tage im Kloster bleiben. Diese Mutter war so
+zärtlich und hatte stets so zartfühlende Rücksicht auf
+die Neigung, die sie bei ihrer Tochter vermutete, genommen,
+daß es dieser schwere Gewissenspein bereitete,
+sie täuschen zu müssen. Könnte sie es aber wagen, ihr
+zu gestehen, daß sie den Mann empfing, der sie ihres
+Sohnes beraubt hatte? Helena bekannte schließlich
+Giulio offen ein, daß sie nicht die Kraft haben würde,
+dieser Mutter, die so gut war, mit Lügen zu antworten,
+wenn sie nach der Wahrheit gefragt würde. Giulio
+fühlte ganz die Gefahr seiner Lage, sein Schicksal hing
+vom Zufall ab, welcher der Signora di Campireali nur
+ein Wort einzugeben brauchte. In der folgenden Nacht
+sagte er deshalb mit entschlossener Miene: „Morgen
+werde ich früher kommen, ich werde eine der Stangen
+dieses Gitters ausbrechen, du wirst in den Garten
+heraussteigen, und ich führe dich in eine Kirche der
+Stadt, wo ein mir ergebener Priester uns trauen wird.
+Noch bevor es Tag ist, bist du wieder im Garten. Wenn
+du erst meine Frau bist, habe ich keine Furcht mehr
+und werde allem zustimmen, was deine Mutter als Sühne
+für das schreckliche Unglück verlangen kann, das wir
+<a id="page-271"></a><span class="pgnum">271</span>alle beklagen, — wäre es selbst, einige Monate vergehen
+zu lassen, ohne dich zu sehen.“</p>
+
+<p>Da Helena von diesem Vorschlage bestürzt zu sein
+schien, fügte Giulio hinzu:</p>
+
+<p>„Der Fürst ruft mich zu sich zurück; die Ehre und
+alle möglichen Gründe verpflichten mich, zu folgen.
+Mein Vorschlag ist das einzige, was unsre Zukunft
+sichern kann. Wenn Du mir nicht zustimmst, trennen
+wir uns für immer, hier, in diesem Augenblick. Ich
+werde mit Reue wegen meiner Torheit abreisen. Ich
+habe an Dein Ehrenwort geglaubt, Du bist dem heiligsten
+Schwur untreu, und ich hoffe, daß die gerechte
+Verachtung, die mir Deine Leichtfertigkeit einflößen
+wird, mit der Zeit mich von dieser Liebe heilt, die schon
+zu lange das Unglück meines Lebens <a class="sic" id="sicA-27" href="#sic-27">ist.</a></p>
+
+<p>Helena brach in Tränen aus.</p>
+
+<p>„Großer Gott!“ rief sie weinend, „wie entsetzlich für
+meine Mutter!“</p>
+
+<p>Schließlich willigte sie in den Vorschlag.</p>
+
+<p>„Aber“, fügte sie noch hinzu, „man kann uns beim
+Fortgehen oder beim Wiederkommen entdecken; bedenkt
+den Skandal, denkt an die schreckliche Lage, in
+der sich meine Mutter befinden würde; warten wir ihre
+Abreise ab, die in einigen Tagen stattfinden wird.“</p>
+
+<p>„Es ist Euch gelungen, mich an dem zweifeln zu
+lassen, was für mich das Höchste und Heiligste war:
+mein Vertrauen in Euer Wort. Morgen Abend werden
+wir verheiratet sein, oder wir sehen uns in diesem
+Augenblick, auf dieser Seite des Grabes zum letztenmal.“</p>
+
+<p>Die arme Helena konnte nur mit Tränen antworten,
+besonders schmerzte sie der grausam entschiedene Ton,
+den Giulio anschlug. Hatte sie denn wirklich seine Verachtung
+<a id="page-272"></a><span class="pgnum">272</span>verdient? Das war also der einst so fügsame
+und zärtliche Geliebte! Endlich stimmte sie seinen Anordnungen
+zu. Giulio entfernte sich. Von diesem Augenblick
+an erwartete Helena die kommende Nacht in allen
+Zuständen der verzweifeltsten Angst. Wenn sie sich auf
+ihren Tod hätte vorbereiten müssen, wäre ihr Schmerz
+weniger qualvoll gewesen, sie hätte Mut in dem Gedanken
+an die Liebe Giulios und an die zärtliche
+Neigung ihrer Mutter gefunden. Der Rest der Nacht verging
+in grausamster Unschlüssigkeit. Es gab Augenblicke,
+wo sie ihrer Mutter alles gestehen wollte. Am
+nächsten Morgen war sie derart bleich, als sie vor ihr
+erschien, daß diese, all ihre weisen Vorsätze vergessend,
+sich in die Arme ihrer Tochter warf und ausrief:</p>
+
+<p>„Was geht vor? Großer Gott! Sage mir, was du getan
+hast oder auf dem Sprung stehst, zu tun? Wenn du
+einen Dolch nähmest und mir ins Herz stießest, würdest
+du mich weniger leiden lassen, als durch das grausame
+Schweigen, das du gegen mich beobachtest.“</p>
+
+<p>Die grenzenlose Zärtlichkeit ihrer Mutter ward Helena
+so deutlich, sie sah so klar, daß diese den Ausdruck ihrer
+Gefühle zu dämpfen suchte, statt ihn zu übertreiben,
+daß endlich die Rührung sie überwältigte; sie fiel ihr
+zu Füßen. Als ihre Mutter, um das Geheimnis zu ergründen,
+ausrief, daß Helena ihre Nähe fliehe, antwortete
+sie: daß sie morgen und alle folgenden Tage
+ihr Leben bei ihr verbringen würde, aber sie flehentlich
+bitte, nicht weiter zu fragen.</p>
+
+<p>Dieser verräterischen Äußerung folgte bald ein volles
+Geständnis. Signora von Campireali hatte es mit Abscheu
+erfüllt, den Mörder ihres Sohnes so nah zu wissen.
+Aber diesem Schmerz folgte ein Strom reinster und lebhaftester
+Freude. Wer könnte sich ihr Entzücken vorstellen,
+<a id="page-273"></a><span class="pgnum">273</span>als sie erfuhr, daß ihre Tochter sich nie gegen
+ihre Pflicht vergangen hatte?</p>
+
+<p>Sofort änderten sich die Pläne dieser klugen Mutter
+ganz und gar; es schien ihr erlaubt, gegen einen
+Menschen, der ihr nichts war, zur List zu greifen. Helenas
+Herz war von den heftigsten Leidenschaften zerrissen:
+die Aufrichtigkeit ihrer Geständnisse war vollständig;
+diese gemarterte Seele hatte das Bedürfnis, sich
+auszuschütten. Signora Campireali, welche jetzt alles
+für erlaubt hielt, erfand eine Reihe von Vernunftgründen,
+die zu weit führen würden, wollten wir sie
+hier wiedergeben. Sie bewies ihrer unglücklichen
+Tochter ohne Mühe, daß sie statt einer heimlichen
+Ehe, die immer ein Makel für eine Frau sei, eine öffentliche
+Trauung in allen Ehren erlangen könne, wenn sie
+den Akt des Gehorsams, den sie einem so edelmütigen
+Geliebten schulde, nur um acht Tage hinausschöbe. Sie,
+die Signora Campireali, würde nach Rom reisen, sie
+würde ihrem Mann darlegen, daß Helena lange vor dem
+verhängnisvollen Gefecht von Ciampi mit Giulio verheiratet
+gewesen sei. Die Trauung sollte in der gleichen
+Nacht stattgefunden haben, wo sie, als Mönche verkleidet,
+ihrem Vater und Bruder am Ufer des Sees, auf
+dem in den Felsen gehauenen Weg begegnet waren, der
+längs der Mauer des Kapuzinerklosters führt. Die Mutter
+hütete sich, ihre Tochter während des Tags allein zu
+lassen, und schließlich schrieb Helena abends ihrem Geliebten
+einen kindlichen und wie uns scheint sehr
+rührenden Brief, in welchem sie ihm die Kämpfe, die
+ihr Herz zerrissen hatten, schilderte. Zum Schluß bat
+sie ihn kniefällig um einen Aufschub von acht Tagen:
+„Indem ich diesen Brief schreibe,“ fügte sie hinzu, „auf
+den ein Bote meiner Mutter wartet, scheint mir, daß ich
+<a id="page-274"></a><span class="pgnum">274</span>das größte Unrecht begangen habe, ihr alles zu sagen.
+Ich glaube, dich erzürnt zu sehen; deine Augen blicken
+mich mit Haß an; mein Herz ist von den grausamsten
+Selbstvorwürfen zerrissen. Du wirst sagen, daß ich einen
+sehr schwachen, sehr verzagten, sehr verächtlichen Charakter
+habe, ich gebe es zu, mein teurer Engel. Aber
+stelle dir dies Schauspiel vor: Meine Mutter, in Tränen
+aufgelöst, lag fast zu meinen Knien. Da war es mir ganz
+unmöglich, ihr nicht zu gestehen, daß ein bestimmter
+Grund mir verbiete, ihrer Bitte nachzugeben; und wie
+ich erst einmal so schwach gewesen war, dieses unvorsichtige
+Wort auszusprechen, weiß ich nicht, was in
+mir vorging, aber es ist mir unmöglich vorgekommen,
+ihr nicht alles zu erzählen, was zwischen uns geschehen
+ist. Soweit ich mich erinnern kann, scheint mir, daß
+meine Seele, aller Kraft entblößt, Rat brauchte. Ich
+hoffte, ihn in den Worten meiner Mutter zu finden…
+Ich hatte völlig vergessen, mein Freund, daß das
+Interesse dieser geliebten Mutter dem deinen entgegengesetzt
+ist. Ich habe meine oberste Pflicht vergessen,
+welche ist, dir zu gehorchen; und scheinbar bin ich
+der wahren Liebe nicht fähig, welche über jede Prüfung
+erhaben sein soll. Verachte mich, mein Giulio,
+aber im Namen Gottes, höre nicht auf, mich zu
+lieben. Entführe mich, wenn du willst, aber billige
+mir zu, daß die schrecklichsten Gefahren, sogar die
+Schande, daß nichts auf der Welt mich hätte verhindern
+können, deinem Befehl zu gehorchen, wenn
+meine Mutter nicht im Kloster gewesen wäre. Doch diese
+Mutter ist so gut! Sie hat so viel Überredungsgabe! Sie
+ist so edelmütig! Erinnere dich, als damals mein Vater
+das Zimmer durchforschte, rettete sie die Briefe, welche
+ich niemals hätte verbergen können. Dann, als die Gefahr
+<a id="page-275"></a><span class="pgnum">275</span>vorüber war, gab sie mir sie zurück, ohne sie gelesen
+zu haben und ohne ein Wort des Vorwurfs! Sie
+ist mein ganzes Leben hindurch so zu mir gewesen, wie
+sie es in diesem höchsten Augenblick war. Du siehst,
+wie ich sie lieben müßte. Und doch scheint es mir, während
+ich dir schreibe (wie furchtbar zu sagen), daß
+ich sie hasse. Sie hat erklärt, daß sie diese Nacht der
+Hitze wegen im Garten unter einem Zelt verbringen
+wolle; ich höre die Hammerschläge, man errichtet jetzt
+das Zelt; es ist unmöglich, daß wir uns heute Nacht
+sehen. Ich fürchte sogar, daß der Schlafsaal der Pensionärinnen
+verschlossen wurde, ebenso die beiden Türen
+der Wendeltreppe, was sonst nie geschah. Diese Vorsichtsmaßregeln
+würden es mir unmöglich machen, in
+den Garten hinunterzugehen, wenn ich selbst einen
+solchen Schritt nötig fände, um deinen Zorn zu beschwören.
+Ach, wie ich mich dir jetzt ausliefern würde,
+wenn sich mir ein Mittel böte! Wie ich zu dieser Kirche
+eilen würde, wo man uns trauen soll!“</p>
+
+<p>Dieser Brief schloß mit zwei Seiten toller Sätze, in
+welchen ich leidenschaftliche Redewendungen fand, die
+auf die Ideen Platons zurückzugehen scheinen. Ich
+habe in dem eben übersetzten Brief mehrere Sätze dieser
+Art unterdrückt.</p>
+
+<p>Giulio Branciforte war sehr erstaunt, als er abends
+etwa eine Stunde vor dem Ave Maria dieses Schreiben
+erhielt; er hatte grade die Abmachung mit dem Priester
+beendet. Er war außer sich vor Zorn.</p>
+
+<p>‚Sie hat nicht notwendig, mir zu raten, daß ich
+sie entführe. Dieses schwache, zaghafte Geschöpf!‘</p>
+
+<p>Und er brach sogleich nach dem Walde von La
+Faggiola auf.</p>
+
+<p>Für Signora Campireali stand die Sache folgendermaßen:
+<a id="page-276"></a><span class="pgnum">276</span>Ihr Gatte lag auf dem Sterbebett; die Unmöglichkeit,
+sich an Branciforte zu rächen, brachte ihn
+langsam zum Grabe. Vergebens hatte er mehrmals den
+römischen Bravi beträchtliche Summen anbieten lassen;
+keiner hatte sich an einem der „Korporale“, wie sie
+sagten, des Fürsten Colonna vergreifen wollen; sie
+waren zu gewiß, samt ihren Familien ausgetilgt zu
+werden. Es war noch kein Jahr her, daß ein ganzes
+Dorf zur Strafe für den Tod eines Soldaten des Colonna
+niedergebrannt wurde, und alle Einwohner, Männer und
+Frauen, welche in die Campagna zu fliehen suchten,
+wurden an Händen und Füßen gefesselt in die brennenden
+Häuser geworfen.</p>
+
+<p>Signora Campireali besaß große Güter im Königreich
+Neapel; ihr Gatte hatte ihr aufgetragen, von dort
+Mörder kommen zu lassen; aber sie hatte nur zum
+Schein zugestimmt, denn sie glaubte ihre Tochter unlöslich
+an Giulio Branciforte gebunden. In dieser Voraussetzung
+meinte sie, daß Giulio einen oder zwei Feldzüge
+in den spanischen Heeren mitmachen solle, welche
+damals Krieg gegen die Aufständischen in Flandern
+führten. Fiele er nicht, so sollte dies ein Zeichen sein,
+daß Gott eine Heirat nicht mißbillige, die sich nicht vermeiden
+ließ; in diesem Fall würde sie ihrer Tochter die
+Güter geben, welche sie im Königreich Neapel besaß,
+Giulio Branciforte würde den Namen einer dieser Besitzungen
+annehmen und einige Jahre mit seiner Frau
+in Spanien verbringen. Nach allen diesen Prüfungen
+würde sie vielleicht den Mut finden, ihn zu sehen. Doch
+alles war seit dem Geständnis ihrer Tochter anders geworden;
+die Heirat war keine Notwendigkeit mehr — weit
+entfernt davon — und während Helena ihrem Geliebten
+den Brief schrieb, den wir wiedergegeben haben,
+<a id="page-277"></a><span class="pgnum">277</span>schrieb Signora Campireali nach Pescara und nach
+Chieti und gab ihren Pächtern den Auftrag, ihr sichere
+Männer nach Castro zu senden, die zu einem Handstreich
+zu gebrauchen wären. Sie verhehlte ihnen nicht, daß
+es sich darum handelte, den Tod Fabios, ihres jungen
+Herrn, zu rächen. Der Kurier machte sich mit diesen
+Briefen noch vor Ende des Tags auf den Weg.</p>
+
+<h3>V.</h3>
+
+<p>Schon am übernächsten Tage war Giulio wieder in
+Castro, er führte acht seiner Soldaten mit sich, welche
+ihm freiwillig gefolgt waren, wenn sie sich gleich dem
+Zorn des Fürsten aussetzten, der einige Male Unternehmungen
+dieser Art mit dem Tode bestraft hatte. Giulio
+hatte schon fünf Mann in Castro und acht brachte er
+hinzu; indessen schienen ihm vierzehn Soldaten, wie
+tapfer sie auch sein mochten, nicht ausreichend für sein
+Unternehmen; denn das Kloster glich einer Festung.</p>
+
+<p>Es handelte sich darum, durch das erste Tor des
+Klosters mit Gewalt oder List zu dringen und dann
+durch einen Gang von mehr als fünfzig Schritten Länge
+zu kommen. Linker Hand sollten die vergitterten Fenster
+einer Art Kaserne liegen, wo die Nonnen dreißig bis
+vierzig Diener, ehemalige Soldaten, untergebracht
+hatten. Aus diesen vergitterten Fenstern würde, sobald
+erst das Kloster alarmiert war, ein ausgiebiges Feuer
+abgegeben werden.</p>
+
+<p>Die regierende Äbtissin, eine Frau von starkem Verstande,
+hatte Angst vor den Unternehmungen der Orsini,
+Colonna, Marco Sciarra und so vieler andrer,
+welche die umliegende Gegend beherrschten. Wie war
+es möglich, achthundert entschlossenen Männern Widerstand
+<a id="page-278"></a><span class="pgnum">278</span>zu leisten, wenn sie unversehens eine kleine Stadt
+wie Castro einnahmen, weil sie das Kloster mit Gold
+gefüllt glaubten?</p>
+
+<p>Gewöhnlich waren im Kloster der Heimsuchung von
+Castro fünfzehn oder zwanzig Bravi in der Kaserne zur
+Linken des Ganges, der zur zweiten Klosterpforte
+führte; zur Rechten dieses Durchlasses lag eine hohe,
+uneinnehmbare Mauer; an seinem Ende befand sich ein
+eisernes Tor, das auf eine Säulenhalle führte; nach
+dieser kam der große Klosterhof, rechts der Garten.
+Diese eiserne Türe war von der Pförtnerin bewacht.</p>
+
+<p>Als Giulio mit seinen acht Mann sich drei Meilen vor
+Castro befand, machte er in einem abgelegenen Wirtshaus
+Halt, um die Stunden der großen Hitze verstreichen
+zu lassen. Dort erst legte er sein Vorhaben dar; dabei
+zeichnete er den Plan des Klosters, das er angreifen
+wollte, in den Sand des Hofs.</p>
+
+<p>„Um neun Uhr“, sagte er seinen Leuten, „werden wir
+außerhalb der Stadt zu Abend essen; um Mitternacht
+werden wir eintreten. Eure fünf Kameraden erwarten
+uns in der Nähe des Klosters. Einer von ihnen wird zu
+Pferde sein und die Rolle eines Kuriers spielen, der aus
+Rom kommt, um Signora von Campireali zu ihrem Gemahl
+zu rufen, der im Sterben liegt. Wir werden versuchen,
+geräuschlos durch die erste Türe des Klosters
+zu kommen,“ sagte er, indem er auf den Plan im Sand
+deutete, „die hier in der Mitte der Kaserne liegt. Wenn
+wir den Kampf gleich beim ersten Tor beginnen, haben
+es die Bravi der Nonnen zu leicht, uns Flintenschüsse
+nachzusenden, während wir auf diesem kleinen Platz da
+vor dem Kloster sind oder durch den engen Gang
+zwischen dem ersten und zweiten Tor laufen. Dieses
+zweite Tor ist von Eisen, aber ich besitze den Schlüssel
+<a id="page-279"></a><span class="pgnum">279</span>dazu. Allerdings sind große, mit einem Ende an der
+Mauer befestigte Eisenbalken oder Sperrstangen da,
+welche, wenn sie vorgelegt sind, das Öffnen der Torflügel
+verhindern. Aber da die beiden Eisenstangen zu
+schwer sind, als daß die Schwester Pförtnerin sie handhaben
+könnte, habe ich sie nie an ihrem Platz gesehen
+und bin doch mehr als zehnmal durch das Eisentor
+gegangen. Ich rechne darauf, auch heute Abend ohne
+Hindernis hindurchzukommen. Ihr merkt wohl, daß ich
+Bekanntschaften im Kloster habe. Mein Ziel ist: eine Pensionärin
+zu entführen, und nicht eine Nonne; wir dürfen
+erst im äußersten Notfall von den Waffen Gebrauch
+machen. Wenn wir den Kampf eröffnen, bevor wir an
+dieser zweiten Tür mit den Eisen angekommen sind,
+wird die Pförtnerin nicht verfehlen, zwei alte siebzigjährige
+Gärtner, die im Kloster wohnen, herbeizurufen,
+und diese Alten würden die Stangen vorlegen. Wenn uns
+dieser Unglücksfall zustößt, müssen wir erst die Mauer
+demolieren, um durch die Tür zu kommen, was uns
+zehn Minuten kosten würde; auf jeden Fall werde ich
+als erster zur Tür eilen. Einer der Gärtner ist von mir
+gekauft, aber, wie Ihr Euch denken könnt, habe ich
+mich gehütet, ihm etwas von meinem Entführungsplan
+zu erzählen. Wenn man diese zweite Tür hinter sich
+hat, wendet man sich nach rechts in den Garten, und
+sind wir erst in diesem Garten, so sprechen die Waffen;
+man muß alles niedermachen, was sich in den Weg stellt.
+Ihr werdet natürlicherweise nur Eure Schwerter und
+Dolche brauchen; ein einziger Flintenschuß würde die
+ganze Stadt in Aufruhr bringen und man würde uns
+beim Abzug angreifen. Glaubt nicht, daß ich mich mit
+dreizehn Mann, wie Ihr seid, nicht stark genug fühle,
+durch dieses Nest zu kommen: sicher würde niemand
+<a id="page-280"></a><span class="pgnum">280</span>wagen, auf die Straße hinabzusteigen; aber mehrere
+Bürger haben Flinten und sie würden aus den Fenstern
+schießen. Nebenbei gesagt muß man sich in diesem Fall
+längs der Häuser halten. Einmal im Garten, sagt Ihr mit
+leiser Stimme zu jedem, der sich zeigt: Zieh dich
+zurück! und wenn er nicht augenblicklich gehorcht, tötet
+Ihr ihn mit dem Dolch. Ich dringe dann mit denen
+von Euch, die gerade um mich sind, durch die kleine
+Gartentür ins Kloster ein, und drei Minuten später kehre
+ich mit einer oder zwei Frauen zurück, die wir auf
+unsren Armen tragen und nicht selbst gehen lassen
+werden. Sofort verlassen wir eilig das Kloster und die
+Stadt. Zwei von Euch werde ich in der Nähe des Tors
+zurücklassen, sie werden von Minute zu Minute etwa
+zwanzig Schüsse abgeben, um die Bürger zu schrecken
+und in Entfernung zu halten.“</p>
+
+<p>Giulio wiederholte diese Erklärung zweimal.</p>
+
+<p>„Habt Ihr gut verstanden?“ sagte er seinen Leuten.
+„In der Vorhalle wird es dunkel sein; rechts ist der
+Garten, links der Hof, man darf sich nicht irren.“</p>
+
+<p>„Zählt auf uns!“ riefen die Soldaten. Dann gingen sie
+trinken; der Korporal folgte ihnen nicht und bat um
+die Erlaubnis, mit dem Kapitän sprechen zu dürfen.</p>
+
+<p>„Nichts ist einfacher“, sagte er, „als der Plan Eurer
+Gnaden. Ich bin schon zweimal in meinem Leben in
+Klöster eingebrochen; dies wäre das dritte; aber wir
+sind zu wenig. Wenn der Gegner uns nötigt, die Mauer
+zu zerstören, welche die Angel der zweiten Tür hält,
+muß man bedenken, daß die Bravi während dieser
+langen Arbeit nicht müßig bleiben; sie werden Euch
+sieben oder acht Mann erschießen und dann kann man
+uns am Rückweg die Frau wieder abnehmen. Das ist
+uns in einem Kloster in der Nähe Bolognas passiert:
+<a id="page-281"></a><span class="pgnum">281</span>uns wurden fünf Mann getötet, wir töteten acht, aber
+der Hauptmann bekam nicht die Frau. Ich schlage Euer
+Gnaden zweierlei vor: ich kenne vier Bauern aus der
+Umgebung dieser Herberge, die Sciarra tapfer gedient
+haben und sich für eine Zechine die ganze Nacht lang
+wie Löwen schlagen würden. Vielleicht werden sie etwas
+Silber aus dem Kloster rauben; das kümmert Euch
+wenig, denn die Sünde ist ihre Sache und Ihr bezahlt
+sie, um eine Frau zu holen, das ist alles. Mein zweiter
+Vorschlag ist folgender: Ugone ist ein gescheiter und
+sehr geschickter Bursche; er war Arzt, als er seinen
+Schwager tötete und ging in die Macchia. Ihr könnt
+ihn eine Stunde vor Sonnenuntergang zum Klostertor
+schicken, er wird um Dienst bitten und wird es so
+geschickt einrichten, daß man ihn in die Wache einreiht;
+dann wird er die Knechte der Nonnen betrunken
+machen, und er ist sogar fähig, die Lunten
+ihrer Flinten zu durchnässen.“ Zu seinem Unglück nahm
+Giulio den Vorschlag des Korporals an. Als dieser sich
+entfernte, fügte er noch hinzu:</p>
+
+<p>„Wir wollen ein Kloster angreifen. Das ist excommunicatio
+major und noch mehr: dieses Kloster steht unmittelbar
+unter dem Schutz der Madonna…“</p>
+
+<p>„Ich verstehe!“ rief Giulio, aufgerüttelt durch dieses
+Wort. „Bleibt bei mir.“</p>
+
+<p>Der Korporal schloß die Tür und kam zurück, um
+den Rosenkranz mit Giulio zu beten. Diese Andacht
+dauerte eine volle Stunde. Als es Nacht war, brach man
+auf.</p>
+
+<p>Wie es Mitternacht schlug, kehrte Giulio, der gegen
+elf Uhr allein nach Castro gegangen war, zurück, um
+seine Leute zu holen, die außerhalb des Tores gewartet
+hatten.
+</p>
+
+<p><a id="page-282"></a><span class="pgnum">282</span>Er trat mit seinen acht Mann, denen sich drei gut
+bewaffnete Bauern angeschlossen hatten, in die Stadt
+ein und vereinigte sich mit den fünf Soldaten, welche
+er schon in der Stadt hatte; so befand er sich an der
+Spitze von sechzehn entschlossenen Männern; zwei
+trugen als Diener verkleidet weite Blusen aus schwarzem
+Leinen, um ihr giacco zu verdecken und ihre Mützen
+waren nicht mit Federn geschmückt.</p>
+
+<p>Eine halbe Stunde nach Mitternacht kam Giulio, der
+die Rolle des Kuriers für sich übernommen hatte, im
+Galopp vor dem Klostertor an; er machte mächtigen
+Lärm und schrie, daß man unverzüglich einem Kurier
+öffnen möge, den der Kardinal schicke. Mit Wohlgefallen
+bemerkte er, daß die Soldaten, die ihm durch
+das kleine Fenster neben dem Tor antworteten, halb betrunken
+waren. Der Vorschrift folgend, schrieb er
+seinen Namen auf ein Stück Papier, ein Soldat überbrachte
+den Namen der Pförtnerin, die den Schlüssel
+zur zweiten Tür besaß und die Äbtissin in besondren
+Fällen zu wecken hatte. Die Antwort ließ endlose dreiviertel
+Stunden auf sich warten. Während dieser Zeit
+hatte Giulio viel Mühe, seinen Trupp ruhig zu halten;
+einige Bürger öffneten schon vorsichtig ihre Fenster;
+endlich traf eine günstige Antwort von der Äbtissin ein;
+Giulio wurde, gefolgt von zwei als Diener verkleideten
+Soldaten, mit Hilfe einer fünf oder sechs Fuß langen
+Leiter, die man ihm aus dem kleinen Fenster reichte,
+in die Wachstube eingelassen; die Bravi des Klosters
+wollten sich nicht die Mühe machen, das große Tor
+zu öffnen. Als er vom Fenster ins Wachzimmer sprang,
+begegneten seine Augen dem Blick Ugones; die ganze
+Wache war, dank seiner Vorsorge, betrunken. Giulio
+sagte dem Kommandanten, daß drei Diener der Campireali,
+<a id="page-283"></a><span class="pgnum">283</span>die er als Soldaten habe ausrüsten lassen, um
+ihn am Marsch zu schützen, sehr guten Branntwein
+gekauft hätten und um Einlaß bäten, damit sie sich
+nicht allein auf dem Platze langweilen müßten. Dem
+wurde einmütig zugestimmt. Er selbst stieg mit seinen
+zwei Leuten die Treppe hinunter, welche von der Wachstube
+in den Gang führte.</p>
+
+<p>„Trachte die große Tür zu öffnen“, sagte er zu
+Ugone.</p>
+
+<p>Dann gelangte er unangefochten zur eisernen Tür.
+Dort fand er die gute Pförtnerin, welche ihm sagte,
+daß jetzt, da Mitternacht vorbei sei, wenn er ins Kloster
+eingelassen würde, die Äbtissin dem Bischof darüber
+Bericht erstatten müßte. Darum lasse sie ihn bitten,
+seine Nachrichten der jungen Schwester zu übergeben,
+welche die Äbtissin zu diesem Zweck schicke. Worauf
+Giulio antwortete, wegen der Bestürzung, welche durch
+die unerwartete Agonie des Signor von Campireali
+hervorgerufen worden sei, hätte man ihm nur ein einfaches
+vom Arzt ausgefertigtes Beglaubigungsschreiben
+mitgegeben; alle Einzelheiten sollte er mündlich der
+Frau und Tochter des Kranken berichten, wenn diese
+Damen noch im Kloster wären und in jedem Fall auch
+der Frau Äbtissin. Die Pförtnerin ging, diese Botschaft
+zu überbringen. Niemand blieb an der Tür als die junge
+Schwester, welche die Äbtissin gesandt hatte. Giulio
+plauderte und scherzte mit ihr, dabei steckte er die
+Hände durch die dicken Eisenstangen des Tors und versuchte
+es, immer noch lachend, zu öffnen. Die
+Schwester war sehr schüchtern, sie hatte Angst und
+nahm die Scherze übel auf. Da hatte Giulio, der sah,
+daß beträchtliche Zeit verstrich, die Unvorsichtigkeit,
+der Schwester eine Handvoll Zechinen anzubieten, mit
+<a id="page-284"></a><span class="pgnum">284</span>der Bitte, ihn einzulassen, da er zu müde sei, zu warten.
+„Er wußte wohl, daß er eine Dummheit beging,“ sagt
+der Erzähler, „er hätte mit Eisen und nicht mit Gold
+arbeiten müssen; aber er hatte nicht das Herz dazu;
+nichts leichter, als sich der Schwester zu bemächtigen,
+sie war nicht weiter als einen Fuß breit von ihm, auf
+der andern Seite der <a class="sic" id="sicA-28" href="#sic-28">Tür.</a> Durch das Angebot der Zechinen
+wurde das junge Mädchen in Schrecken versetzt.
+Sie sagte später, daß sie aus der Art wie Giulio
+zu ihr gesprochen habe, wohl verstanden hätte, daß er
+kein gewöhnlicher Kurier sei: ‚Das ist der Geliebte
+einer unsrer Nonnen,‘ dachte sie, ‚der zu einem Stelldichein
+kommt‘; und sie war fromm. Von Entsetzen
+ergriffen, begann sie mit aller Kraft die Schnur einer
+kleinen Glocke zu ziehen, die im großen Hof hing und
+alsogleich einen Lärm machte, um Tote zu wecken.
+„Der Krieg beginnt,“ sagte Giulio seinen Leuten, „gebt
+acht!“</p>
+
+<p>Er nahm seinen Schlüssel, und den Arm zwischen den
+Eisenstäben durchzwängend, öffnete er die Tür zur
+größten Verzweiflung der jungen Nonne, die sich über
+den Kirchenfrevel entsetzt schreiend auf die Knie warf
+und Ave Maria zu beten begann. Noch in diesem Augenblick
+hätte Giulio das junge Mädchen zum Schweigen
+bringen müssen, aber er hatte nicht das Herz dazu; einer
+seiner Leute ergriff sie und schloß ihr den Mund.</p>
+
+<p>Im selben Augenblick hörte Giulio im Gang hinter
+sich einen Flintenschuß. Ugone hatte das große Tor
+geöffnet, die übrigen Soldaten traten ohne Lärm ein,
+als einer der weniger betrunkenen Bravi der Wache sich
+einem der vergitterten Fenster näherte und in seinem
+Erstaunen so viele Leute im Gang zu sehen ihnen
+fluchend verbot, weiterzugehen. Man hätte nicht antworten
+<a id="page-285"></a><span class="pgnum">285</span>und ruhig weiter gegen die eiserne Tür vorgehen
+sollen, so machten es auch die ersten, aber der letzte
+der Reihe, einer der am Nachmittag erst angeworbenen
+Bauern, feuerte einen Pistolenschuß nach dem Klosterknecht,
+der durchs Fenster rief, und tötete ihn. Dieser
+Pistolenschuß mitten in der Nacht und das Schreien der
+Betrunkenen, als sie ihren Kameraden fallen sahen,
+weckten jene Soldaten, welche diese Nacht in ihren
+Betten lagen und nicht von Ugones Wein gekostet hatten.
+Acht oder zehn Bravi des Klosters sprangen halb nackt
+in den Gang und griffen die Soldaten Brancifortes
+heftig an.</p>
+
+<p>Wie wir bereits gesagt haben, begann dieser Lärm
+im Augenblick, als Giulio das eiserne Tor geöffnet
+hatte. Von seinen zwei Soldaten gefolgt, stürzte er in
+den Garten und lief zu der kleinen Türe, die zur Treppe
+der Pensionärinnen führte. Aber er wurde von fünf
+oder sechs Pistolenschüssen empfangen. Seine beiden
+Soldaten fielen; er selbst bekam eine Kugel in den
+rechten Arm. Diese Pistolenschüsse waren von den
+Leuten der Signora von Campireali abgegeben, welche
+auf ihren Befehl die Nacht im Garten zubrachten, wozu
+sie die Erlaubnis beim Bischof erwirkt hatte. Giulio
+lief allein zu der kleinen, ihm so wohlbekannten Tür,
+welche vom Garten zur Treppe der Pensionärinnen
+führte. Er tat, was er nur konnte, um sie aufzusprengen,
+aber sie war fest verschlossen. Er suchte nach seinen
+Leuten, doch die achteten nicht darauf, ihm zu antworten,
+denn sie starben; er stieß in der tiefen Dunkelheit
+auf drei Dienstleute der Signora von Campireali,
+deren er sich mit Dolchstichen erwehrte.</p>
+
+<p>Er lief in die Vorhalle, gegen die Gittertür, um seine
+Soldaten zu rufen; er fand diese Türe verschlossen: die
+<a id="page-286"></a><span class="pgnum">286</span>beiden schweren Eisenarme waren auf ihrem Platz und
+mit Schlössern gesichert, welche die alten Gärtner vorgelegt
+hatten, als sie das Läuten der jungen Schwester
+weckte.</p>
+
+<p>‚Ich bin abgeschnitten‘, sagte sich Giulio. Er rief
+es seinen Leuten zu; vergeblich versuchte er eins dieser
+Vorlegschlösser mit seinem Degen zu sprengen; wenn
+ihm das geglückt wäre, hätte er eine der Eisenstangen
+entfernen und einen Türflügel öffnen können. Sein
+Degen zerbrach im Ring des Vorlegschlosses; im
+gleichen Augenblick wurde er durch einen aus dem
+Garten herbeigeeilten Diener an der Schulter verwundet;
+er wandte sich um, und gegen die Eisenpforte gelehnt,
+sah er sich von mehreren Männern angegriffen. Er verteidigte
+sich mit seinem Dolch; zum Glück, da es völlig
+dunkel war, trafen fast alle Degenstöße auf sein Panzerhemd.
+Er wurde schmerzhaft am Knie verwundet,
+stürzte sich auf einen der Leute, der sich zu weit vorgewagt
+hatte, um ihm diesen Degenstich zu versetzen,
+tötete ihn mit einem Dolchstoß ins Gesicht und hatte das
+Glück, sich seines Degens zu bemächtigen. Nun glaubte
+er sich gerettet; er stellte sich zur Linken der Tür, an
+die Seite der Mauer. Seine Leute waren jetzt herbeigeeilt,
+sie schossen fünf oder sechs Pistolenschüsse
+durch das Eisengitter hindurch und trieben die Diener
+in die Flucht. Man sah hier in der Vorhalle nichts, außer
+beim Aufleuchten der Pistolenschüsse.</p>
+
+<p>„Schießt nicht auf meine Seite“, rief Giulio seinen
+Leuten zu.</p>
+
+<p>„Ihr seid hier wie in einer Mausefalle gefangen“,
+sagte ihm der Korporal mit großer Kaltblütigkeit durch
+die Eisenstangen hindurch, „und wir haben drei Tote.
+Wir werden die Türpfosten auf der Euch entgegengesetzten
+<a id="page-287"></a><span class="pgnum">287</span>Seite einreißen. Rührt Euch nicht, denn man
+wird auf uns schießen; es scheint, daß im Garten Feinde
+sind.“</p>
+
+<p>„Die Schufte von Dienern der Campireali“, sagte
+Giulio.</p>
+
+<p>Er sprach noch mit dem Korporal, als von der Seite
+des Vestibüls, die in den Garten führte, Pistolenschüsse,
+auf das Geräusch gezielt, gegen sie abgefeuert wurden.
+Giulio verbarg sich in der Loge der Schließerin, zur
+Linken des Eingangs; zu seiner Freude fand er dort
+ein kaum wahrnehmbares Lämpchen, das vor dem Bildnis
+der Madonna brannte; er nahm es mit großer Vorsicht,
+um es nicht auszulöschen; er bemerkte zu seinem
+Kummer, daß er zitterte. Er betrachtete seine Wunde
+am Knie, die ihn sehr schmerzte; das Blut floß in
+Strömen.</p>
+
+<p>Umhersehend, erkannte er zu seinem Erstaunen in
+einer ohnmächtig auf einem Holzstuhl lehnenden Frau
+die kleine Marietta, die vertraute Kämmerin Helenas;
+er schüttelte sie lebhaft.</p>
+
+<p>„Aber! Signor Giulio,“ rief sie weinend, „wollt Ihr
+Eure Freundin Marietta töten?“</p>
+
+<p>„Weit davon entfernt! Sag Helena, daß ich sie um
+Verzeihung bitte, ihre Ruhe gestört zu haben und daß
+sie des Ave Maria vom Monte Cave gedenken möge.
+Hier ist ein Blumenstrauß, den ich in ihrem Garten in
+Albano gepflückt habe; aber er ist ein wenig mit Blut
+befleckt; wasche es ab, bevor du ihn ihr gibst.“</p>
+
+<p>In diesem Augenblick hörte er eine Flintensalve im
+Gang; die Bravi der Nonnen griffen seine Leute an.</p>
+
+<p>„Sag mir, wo der Schlüssel der kleinen Tür ist?“
+fragte er Marietta.</p>
+
+<p>„Ich sehe ihn nicht, aber hier sind die Schlüssel zu
+<a id="page-288"></a><span class="pgnum">288</span>den Vorlegschlössern der Eisenstangen, welche das große
+Tor sperren. Ihr könnt hinaus.“</p>
+
+<p>Giulio nahm die Schlüssel und stürzte aus der Loge.</p>
+
+<p>„Laßt die Mauer,“ rief er seinen Soldaten zu, „ich
+habe endlich den Schlüssel des Tores.“</p>
+
+<p>Einen Augenblick, während er versuchte, ein Schloß
+mit einem der kleinen Schlüssel zu öffnen, herrschte
+völliges Schweigen; er hatte sich im Schlüssel geirrt
+und nahm den andern; endlich öffnete er das Schloß:
+aber im Augenblick, wo er die Eisenstange hob, erhielt
+er aus allernächster Nähe einen Schuß in den rechten
+Arm. Sogleich spürte er, daß der Arm den Dienst versagte.</p>
+
+<p>„Hebt den Eisenriegel“, schrie er seinen Leuten zu.
+Er hatte nicht erst nötig, es ihnen zu sagen. Im Licht
+des Pistolenschusses hatten sie bemerkt, daß das äußerste
+umgebogene Ende der eisernen Stange schon zur Hälfte
+aus dem am Tor befestigten Ring herausgehoben war.
+Sofort lüpften drei oder vier kräftige Arme die eiserne
+Stange; als das äußerste Ende ganz aus dem Ring war,
+ließ man sie fallen. Nun konnte man einen der Torflügel
+ein wenig öffnen; der Korporal trat ein und sagte
+leise zu Giulio:</p>
+
+<p>„Es ist nichts mehr zu machen, wir sind nur mehr
+drei oder vier ohne Wunden, fünf sind tot.“</p>
+
+<p>„Ich habe Blut verloren,“ entgegnete Giulio, „ich
+fühle, daß ich ohnmächtig werde; laßt mich fortbringen.“</p>
+
+<p>Während Giulio mit dem tapfren Korporal sprach,
+gaben die Soldaten der Wache noch drei oder vier
+Flintenschüsse ab und der Korporal fiel tot zu Boden.
+Zum Glück hatte Ugone den Befehl Giulios gehört; er
+rief zwei Soldaten herbei, die den Kapitän forttragen
+<a id="page-289"></a><span class="pgnum">289</span>sollten. Da er aber nicht ohnmächtig wurde, befahl er,
+ihn durch den Garten zu der kleinen Tür zu tragen.
+Dieser Befehl brachte die Soldaten zum Fluchen, aber
+sie gehorchten.</p>
+
+<p>„Hundert Zechinen dem, der diese Tür öffnet“, rief
+Giulio aus.</p>
+
+<p>Aber sie widerstand dem Ansturm dreier wütender
+Männer. Einer der alten Gärtner schoß unaufhörlich
+von einem Fenster des zweiten Stockwerks mit der Pistole
+nach ihnen und beleuchtete so ihre Versuche.</p>
+
+<p>Nach den unnützen Anstrengungen, die Tür zu öffnen,
+wurde Giulio gänzlich bewußtlos; Ugone hieß den Soldaten,
+den Kapitän eiligst fortzutragen. Er selbst ging
+in die Loge der Schwester Pförtnerin und warf die kleine
+Marietta hinaus, indem <a class="sic" id="sicA-29" href="#sic-29">es</a> ihr mit drohender Stimme
+befahl, fortzugehen und niemals zu verraten, wer sie
+wiedererkannt habe. Er zog das Stroh aus dem Bett,
+zerbrach einige Stühle und steckte das Zimmer in Brand.
+Als das Feuer gut brannte, lief er so schnell er konnte,
+mitten durch die Flintenschüsse der Bravi des Klosters
+davon.</p>
+
+<p>Etwa hundertfünfzig Schritt von der Heimsuchung
+entfernt, fand er den ganz bewußtlosen Kapitän, den
+man eiligst davontrug. Nach einigen Minuten war man
+außerhalb der Stadt. Ugone ließ halten: er hatte nur
+noch vier Soldaten bei sich; er schickte zwei in die Stadt
+zurück mit dem Befehl, von fünf zu fünf Minuten
+Flintenschüsse abzufeuern.</p>
+
+<p>„Versucht Eure verwundeten Kameraden wiederzufinden,“
+sagte er ihnen, „verlaßt die Stadt vor Tag,
+wir folgen dem Fußweg über Croce rossa. Wenn Ihr
+irgendwo Feuer anlegen könnt, verabsäumt es nicht.“</p>
+
+<p>Als Giulio das Bewußtsein wieder erlangte, befand
+<a id="page-290"></a><span class="pgnum">290</span>man sich drei Meilen von der Stadt entfernt und die
+Sonne stand schon hoch am Himmel. Ugone erstattete
+Bericht.</p>
+
+<p>„Euer Trupp besteht nur mehr aus fünf Mann, wovon
+drei verwundet sind. Den beiden überlebenden Bauern
+habe ich je zwei Zechinen Entschädigung gegeben und
+sie sind davongelaufen. Die beiden nicht verwundeten
+Männer habe ich in den nächsten Marktflecken geschickt,
+um einen Wundarzt zu holen.“</p>
+
+<p>Der Wundarzt, ein zittriger Alter, kam bald auf einem
+prächtigen Esel angeritten; man hatte ihm drohen
+müssen, sein Haus in Brand zu stecken, um ihn zum
+Mitgehen zu bewegen. Es war nötig, ihn erst etwas
+Branntwein trinken zu lassen, um ihn zu seiner Arbeit
+instand zu setzen, so groß war seine Furcht. Endlich
+machte er sich ans Werk; er sagte Giulio, daß seine
+Wunden ohne Bedeutung seien. „Die am Knie ist nicht
+gefährlich,“ fügte er hinzu, „aber Ihr werdet zeitlebens
+hinkend bleiben, wenn Ihr Euch nicht zwei bis
+drei Wochen vollkommen ruhig verhaltet.“</p>
+
+<p>Der Wundarzt verband die verletzten Soldaten. Ugone
+gab Giulio einen Wink mit den Augen, man entlohnte
+den Wundarzt, der sich vor Dank gar nicht fassen
+konnte, mit zwei Zechinen; dann gab man ihm unter
+dem Vorwand der Erkenntlichkeit eine solche Menge
+Branntwein zu trinken, daß er fest einschlief. Das war
+es, was man wollte. Man trug ihn ins nächste Feld,
+man wickelte vier Zechinen in ein Stück Papier, das
+man ihm in die Tasche steckte. Das war der Preis für
+seinen Esel, auf welchen man Giulio und einen der am
+Bein verletzten Soldaten setzte. Man verbrachte die
+Stunden der größten Hitze in einer antiken Ruine am
+Ufer eines Weihers; man marschierte die ganze Nacht
+<a id="page-291"></a><span class="pgnum">291</span>hindurch und vermied die Dörfer, die auf diesem Weg
+nicht zahlreich waren; endlich am übernächsten
+Morgen bei Sonnenaufgang erwachte Giulio, als er tief
+im Walde von La Faggiola von seinen Leuten in die
+Köhlerhütte getragen wurde, die sein Hauptquartier war.</p>
+
+
+
+
+<h3>VI.</h3>
+
+
+<p>Am Morgen nach dem Kampf fanden die Nonnen
+zu ihrem Entsetzen neun Leichen in ihrem Garten und
+in dem Gang, der vom äußeren Tor zu dem mit den
+Eisenriegeln führte; acht ihrer Bravi waren verwundet.
+Niemals hatte es eine solche Angst im Kloster gegeben;
+man hatte wohl öfters Flintenschüsse vom Platze her
+gehört, aber nie solche Menge von Schüssen, noch dazu
+im Garten, inmitten der Gebäude und unter den Fenstern
+der Nonnen. Das hatte gut anderthalb Stunden gedauert
+und während dieser Zeit herrschte die allergrößte Kopflosigkeit
+im Innern des Klosters. Wäre Giulio Branciforte
+nur ein wenig im Einverständnis mit einer der
+Nonnen oder der Pensionärinnen gewesen, wäre es ihm
+geglückt: es hätte genügt, daß man ihm eine der zahlreichen,
+in den Garten führenden Türen geöffnet hätte;
+aber ganz außer sich vor Entrüstung und voll Wut über
+das, was er den Meineid der jungen Helena nannte,
+wollte er alles durch eigne Kraft erreichen. Es ging
+gegen seinen Stolz, sein Vorhaben irgend jemandem anzuvertrauen.
+Indessen hätte ein einziges Wort an die
+kleine Marietta den Erfolg verbürgt: sie hätte eine der
+Türen, die zum Garten führten, geöffnet und — unterstützt
+durch die schreckliche Begleitung der Flintenschüsse
+von draußen — hätte auch ein einziger Mann
+der in den Schlafsälen erschien, sich unbedingten Gehorsam
+verschafft. Vom ersten Schuß an hatte Helena
+<a id="page-292"></a><span class="pgnum">292</span>für das Leben ihres Geliebten gezittert und an nichts
+andres gedacht, als mit ihm zu fliehen.</p>
+
+<p>Wie soll man ihre Verzweiflung schildern, als die
+kleine Marietta ihr die entsetzliche Verwundung beschrieb,
+die Giulio am Knie erhalten hatte und aus der
+sie das Blut hatte in Strömen fließen sehen? Helena
+verabscheute jetzt ihre Feigheit und Zaghaftigkeit: „Ich
+habe die Schwäche gehabt, meiner Mutter ein Wort zu
+sagen und Giulios Blut ist geflossen, er konnte bei
+diesem bewundernswerten Angriff, wo sein Mut vor
+nichts zurückschreckte, sein Leben lassen.“</p>
+
+<p>Die Bravi wurden ins Sprechzimmer zugelassen und
+berichteten den lüstern zuhörenden Nonnen, daß sie nie
+in ihrem Leben Zeugen einer Tapferkeit gewesen seien,
+die sich mit der des jungen, als Kurier verkleideten
+Mannes, der die Angriffe der Briganten leitete, vergleichen
+ließe. Wenn diesen Erzählungen schon von
+allen mit dem größten Interesse zugehört wurde, kann
+man sich vorstellen, mit welch äußerster Leidenschaft
+Helena die Bravi nach Einzelheiten über den jungen
+Anführer der Briganten ausfragte. Nach den ausführlichen
+Schilderungen, die sie sich von ihnen und von
+den alten Gärtnern geben ließ, die ganz unparteiische
+Zeugen waren, schien es ihr, daß sie ihre Mutter nicht
+im geringsten mehr liebte. Es gab sogar eine erregte
+Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen, die
+sich am Vorabend des Kampfes so zärtlich geliebt
+hatten. Signora Campireali war gereizt durch die
+Blutflecken auf einem gewissen Blumenstrauß, von
+dem Helena sich nicht einen Augenblick mehr trennen
+wollte.</p>
+
+<p>„Man soll diese blutbefleckten Blumen fortwerfen.“</p>
+
+<p>„Ich war es, die dieses edle Blut vergossen hat und
+<a id="page-293"></a><span class="pgnum">293</span>es ist geschehen, weil ich die Schwäche hatte, Euch
+ein Wort zu sagen.“</p>
+
+<p>„Ihr liebt also noch den Mörder Eures Bruders?“</p>
+
+<p>„Ich liebe meinen Gatten, der zu meinem ewigen Unheil
+von meinem Bruder angegriffen worden ist.“</p>
+
+<p>Nach dieser Bemerkung wurde während der drei Tage,
+welche Signora von Campireali noch im Kloster zubrachte,
+kein einziges Wort mehr zwischen Mutter und
+Tochter gewechselt.</p>
+
+<p>Am Morgen nach ihrer Abreise gelang es Helena,
+zu entkommen, indem sie die Verwirrung benützte, die
+an beiden Klostertoren durch die Anwesenheit zahlreicher
+Maurer herrschte, welche im Garten neue Befestigungen
+aufführen sollten. Die kleine Marietta und
+sie hatten sich als Arbeiter verkleidet. Aber die Bürger
+hielten an den Toren der Stadt strenge Wacht und Helene
+war in großer Verlegenheit, wie sie durchkommen
+solle. Endlich war der kleine Krämer, der ihr schon die
+Briefe Brancifortes übermittelt hatte, einverstanden, sie
+als seine Tochter auszugeben und bis Albano zu begleiten.
+Helena fand dort ein Versteck bei ihrer alten
+Amme, der es ihre Wohltaten ermöglicht hatten, einen
+kleinen Laden zu halten. Kaum angelangt, schrieb sie an
+Branciforte, und die Amme fand, nicht ohne Schwierigkeit,
+einen Mann, der es wagen wollte, in den Wald von
+La Faggiola einzudringen, ohne das Losungswort der
+Leute des Colonna zu wissen.</p>
+
+<p>Nach drei Tagen kam der von Helena abgesandte Bote
+ganz verstört zurück; erst war es ihm unmöglich gewesen,
+Branciforte zu finden und seine unaufhörlichen
+Fragen nach dem jungen Hauptmann hatten ihn verdächtig
+gemacht, so daß er schließlich gezwungen war,
+zu flüchten.
+</p>
+
+<p><a id="page-294"></a><span class="pgnum">294</span>‚Man kann nicht zweifeln, der arme Giulio ist tot,‘
+sagte sich Helena, ‚und ich bin es, die ihn getötet hat!
+Das mußte die Folge meiner elenden Schwäche und
+meiner Zaghaftigkeit werden; er hätte eine starke Frau
+lieben sollen, die Tochter irgendeines Hauptmanns des
+Fürsten Colonna…‘</p>
+
+<p>Die Amme glaubte, daß Helena sterben würde. Sie stieg
+zum Kapuzinerkloster hinauf, das bei dem in die Felsen
+gehauenen Weg, wo einstens mitten in der Nacht Fabio
+und sein Vater den beiden Liebenden begegnet waren,
+lag. Die Amme sprach lange mit ihrem Beichtvater
+und unter dem Siegel der Beichte gestand sie ihm, daß
+die junge Helena von Campireali sich mit Giulio Branciforte,
+ihrem Gatten, vereinen wolle und daß sie geneigt
+wäre, dem Kloster eine silberne Lampe im Wert von
+hundert spanischen Piastern zu stiften.</p>
+
+<p>„Hundert Piaster!“ antwortete der Mönch gereizt.
+„Und was wird aus unsrem Kloster, wenn wir den Haß
+des Signor von Campireali auf uns ziehen? Es waren
+nicht hundert Piaster, sondern wohl tausend, ohne die
+Wachskerzen zu rechnen, die er uns gegeben hat, um
+den Leichnam seines Sohnes vom Schlachtfeld von
+Ciampi zurückzubringen.“</p>
+
+<p>Man muß zur Ehre des Klosters berichten, wie zwei
+betagte Mönche, welche genau über die Lage der jungen
+Helena unterrichtet waren, nach Albano hinabstiegen,
+um sie durch Zureden oder mit Gewalt zu veranlassen,
+in den Palast ihrer Familie zurückzukehren; sie wußten,
+daß Signor von Campireali sie dafür reich belohnen
+würde. Ganz Albano war von Gerede über die Flucht
+Helenas und von der Erzählung der glänzenden Versprechungen
+erfüllt, die ihre Mutter denen ausgesetzt
+hatte, die ihr Nachrichten über den Aufenthalt der
+<a id="page-295"></a><span class="pgnum">295</span>Tochter geben würden. Aber die beiden Mönche wurden
+von der Verzweiflung Helenas, die Giulio Branciforte
+tot glaubte, so gerührt, daß sie, weit davon entfernt, sie
+zu verraten und ihrer Mutter ihren Zufluchtsort anzuzeigen,
+sich sogar bereit erklärten, sie bis zur Festung
+La Petrella zu geleiten. Helena und Marietta begaben
+sich nachts, wieder als Arbeiter verkleidet, zu Fuß an
+eine bestimmte Quelle im Wald von La Faggiola, eine
+Stunde von Albano entfernt. Die Mönche hatten dorthin
+Maultiere bringen lassen, und als der Tag anbrach, machte
+man sich auf den Weg. Die Mönche, welche unter dem
+Schutz des Fürsten standen, wurden von den Soldaten,
+denen sie im Wald begegneten, mit Respekt gegrüßt, aber
+nicht so die beiden jungen Bürschchen, welche sie begleiteten:
+die Soldaten betrachteten sie zuerst mit
+strengen Blicken und kamen auf sie zu, dann brachen
+sie in Gelächter aus und machten den Mönchen Komplimente
+wegen der Reize ihrer Maultiertreiber.</p>
+
+<p>„Schweigt, Gottlose! und wißt, daß alles auf Befehl
+des Fürsten Colonna geschieht“, antworteten die Mönche
+im Weiterschreiten.</p>
+
+<p>Aber die arme Helena hatte Unglück; der Fürst war
+von La Petrella abwesend, und als er ihr drei Tage
+später, nach seiner Rückkehr, endlich eine Audienz gewährte,
+behandelte er sie sehr hart.</p>
+
+<p>„Warum kommt Ihr hierher, Fräulein? Was bedeutet
+dieser unvorsichtige Schritt? Euer Weibergeschwätz
+hat sieben der tapfersten Männer Italiens ins Verderben
+gestürzt, und das wird Euch kein verständiger Mensch
+je vergeben. Auf dieser Welt muß man wollen oder nicht
+wollen. Ohne Zweifel ist es neuen Klatschereien zu
+danken, daß Giulio Branciforte der Kirchenschändung
+angeklagt und verurteilt werden soll, zwei Stunden mit
+<a id="page-296"></a><span class="pgnum">296</span>glühenden Zangen gezwickt und dann wie ein Jude verbrannt
+zu werden, er, einer der besten Christen, die ich
+kenne! Wie hätte man ohne Euer schändliches Geschwätz
+diese schreckliche Lüge erfinden können, woher
+wissen sollen, daß Giulio Branciforte am Tage des
+Klosterüberfalls in Castro war? Alle meine Leute werden
+Euch sagen, daß man ihn gerade an diesem Tage hier in
+La Petrella gesehen hat und daß ich ihn gegen Abend
+nach Velletri schickte.“</p>
+
+<p>„Aber er lebt?“ rief die junge Helena zum zehnten
+Mal, indem sie in Tränen ausbrach. „Für Euch ist er
+tot,“ versetzte der Fürst, „Ihr werdet ihn niemals wiedersehen.
+Ich rate Euch, in Euer Kloster in Castro zurückzukehren
+und hütet Euch, von neuem zu schwatzen;
+binnen einer Stunde werdet Ihr La Petrella verlassen
+haben. Vor allem erzählt niemandem, daß Ihr mich
+gesehen habt, oder ich werde Euch zu strafen
+wissen.“</p>
+
+<p>Die arme Helena war tief betrübt über einen solchen
+Empfang von Seiten jenes berühmten Fürsten Colonna,
+den Giulio so verehrte und den sie liebte, weil er ihn
+liebte.</p>
+
+<p>Was auch der Fürst Colonna daran auszusetzen fand,
+war dieser Schritt Helenas doch nicht unklug gewesen.
+Wäre sie drei Tage früher nach La Petrella gekommen,
+so hätte sie Giulio Branciforte hier gefunden; die
+Wunde am Knie setzte ihn außerstand, selbst zu gehen,
+und der Fürst ließ ihn nach dem großen Marktflecken
+Avezzano im Königreich Neapel transportieren. Bei der
+ersten Nachricht des schrecklichen durch Signor von
+Campireali erkauften Haftbefehls gegen Giulio Branciforte,
+der ihn als Kirchenschänder und Klosterräuber
+erklärte, hatte der Fürst eingesehen, daß er auf drei
+<a id="page-297"></a><span class="pgnum">297</span>Viertel seiner Leute nicht würde zählen können, wenn
+es sich darum handeln sollte, Branciforte zu schützen.
+Das war eine Sünde gegen die Madonna, unter deren besonderem
+Schutz sich jeder der Briganten fühlte. Wenn
+einer der barigelli aus Rom kühn genug gewesen wäre,
+Giulio Branciforte mitten im Walde von La Faggiola
+zu verhaften, hätte es ihm gelingen können.</p>
+
+<p>Bei seiner Ankunft in Avezzano nannte sich Giulio
+Fontana, und die Leute, die ihn trugen, waren verschwiegen.
+Nach La Petrella zurückgekehrt, verkündeten
+sie traurig, daß Giulio auf der Reise gestorben sei,
+und von diesem Augenblick an wußte jeder der Soldaten
+des Fürsten, daß ein Dolchstich ins Herz dem sicher
+sei, der den verhängnisvollen Namen aussprach.</p>
+
+<p>Es war also vergeblich, daß Helena, nach Albano
+zurückgekehrt, Brief über Brief schrieb und, um Branciforte
+Nachricht zukommen zu lassen, ihre ganzen Zechinen
+ausgab. Die beiden alten Mönche, die ihre
+Freunde geworden waren — denn, sagt der florentinische
+Chronist, die wahre Schönheit ermangelt nicht,
+selbst auf durch niedrigsten Egoismus und Heuchelei
+verhärtete Herzen eine gewisse Herrschaft auszuüben —,
+die beiden Mönche, sagten wir, teilten dem armen
+jungen Mädchen mit, daß jeder Versuch, Branciforte
+auch nur ein Wort zukommen zu lassen, vergeblich sei:
+Colonna hatte erklärt, daß er tot wäre und sicher würde
+Giulio nicht wieder in dieser Welt erscheinen, ehe der
+Fürst es wollte. Die Amme Helenas kündigte ihr weinend
+an, daß <a class="sic" id="sicA-30" href="#sic-30">ihr</a> Mutter endlich ihren Zufluchtsort entdeckt
+habe und daß die strengsten Befehle ergangen
+seien, sie, und sei es mit Gewalt, in den Palast Campireali
+nach Albano zu bringen. Helena begriff, daß ihre
+Gefangenschaft, wenn sie einmal in diesem Palast war,
+<a id="page-298"></a><span class="pgnum">298</span>grenzenlos streng durchgeführt werden könne und daß
+man ihr jeden Verkehr mit der Außenwelt untersagen
+würde; dagegen genoß sie im Kloster von Castro die
+gleiche Freiheit, Briefe zu empfangen und abzusenden,
+wie alle Nonnen. Überdies, und das entschied ihr
+Schwanken, war es der Garten dieses Klosters, wo Giulio
+sein Blut für sie vergossen hatte; sie konnte den hölzernen
+Sessel der Pförtnerin wiedersehen, auf den er
+sich einen Augenblick gesetzt hatte, um die Wunde an
+seinem Knie zu beschauen, es war dort, wo er Marietta
+die blutbefleckten Blumen gegeben hatte, die sie nicht
+mehr verließen. Also kehrte sie traurig in das Kloster
+von Castro zurück, und man könnte ihre Geschichte
+hier beenden: es wäre gut für sie und vielleicht auch
+für den Leser. Denn tatsächlich werden wir dem langsamen
+Sinken einer edlen und reichen Seele zuschauen.
+Kluge Maßnahmen und gesellschaftliche Lügen, die sie
+von nun an rings umgaben, verdrängten die aufrichtigen
+Regungen lebhafter und natürlicher Leidenschaft. Der
+römische Chronist schaltet hier eine Betrachtung ein,
+die voll Naivetät ist: Weil sich eine Frau die Mühe gibt,
+eine schöne Tochter zur Welt zu bringen, glaubt sie
+das Talent zu besitzen, ihr Leben zu lenken; und weil
+sie ihr im Alter von sechs Jahren mit Grund sagte:
+„Mein Fräulein, richtet Euren Kragen“, glaubt sie, wenn
+diese Tochter achtzehn und sie fünfzig Jahre alt ist, — und
+diese Tochter ebensoviel oder mehr Geist besitzt
+als die Mutter —, hingerissen von der Gewohnheit des
+Herrschens noch immer das Recht zu haben, ihr Leben
+zu lenken, sei es auch durch Betrug.</p>
+
+<p>Wir werden sehen, daß Vittoria Carafa, die Mutter
+Helenas durch eine Reihe geschickter und überaus klug
+kombinierter Mittel den grausamen Tod ihrer so zärtlich
+<a id="page-299"></a><span class="pgnum">299</span>geliebten Tochter herbeiführte, nachdem sie durch
+ihre traurige Herrschsucht zwölf Jahre hindurch ihr
+Unglück gewesen war.</p>
+
+<p>Bevor er starb, hatte Signor von Campireali noch
+die Freude, in Rom den Richtspruch bekannt geben zu
+sehen, durch den Branciforte verurteilt ward, zwei
+Stunden lang an den Kreuzungen der Hauptstraßen
+Roms mit glühenden Zangen gezwickt und dann an
+langsamem Feuer verbrannt zu werden; seine Asche
+sollte man danach in den Tiber werfen. Die Fresken,
+des Klosters Santa Maria Novella in Florenz zeigen noch
+heute, wie man diese grausamen Urteile gegen die
+Kirchenschänder vollstreckte. Gewöhnlich war dabei ein
+großes Wachaufgebot nötig, um das empörte Volk
+zurückzuhalten, das sich an Stelle der Henker setzen
+wollte. Jeder gebärdete sich, als wäre er der vertraute
+Freund der Madonna. Signor Campireali hatte sich
+dieses Urteil noch wenige Minuten vor seinem Tode vorlesen
+lassen und schenkte dem Advokaten, welchem er
+es verdankte, seinen schönen, zwischen Albano und dem
+Meer gelegenen Landsitz dafür. Dieser Advokat war
+nicht ohne Verdienst, denn Branciforte war zu diesem
+gräßlichen Tod verurteilt worden, obwohl sich kein
+Zeuge fand, der ihn unter der Verkleidung des jungen,
+mit soviel Autorität die Bewegungen der Angreifer leitenden
+Kuriers erkannt haben wollte. Die unerhörte
+Größe dieser Schenkung brachte alle Intriganten Roms
+in Aufregung. Damals gab es bei Hof einen bekannten
+Fratone, einen undurchsichtigen und zu allem fähigen
+Menschen, — selbst dazu, den Papst zu zwingen, ihm den
+Hut zu verleihen; er besorgte die geschäftlichen Angelegenheiten
+des Fürsten Colonna und dieser gefährliche
+Klient verschaffte ihm großes Ansehen. Als
+<a id="page-300"></a><span class="pgnum">300</span>Signora Campireali ihre Tochter nach Castro zurückgekehrt
+wußte, ließ sie diesen Fratone rufen.</p>
+
+<p>„Euer Ehrwürden sollen glänzend belohnt werden,
+wenn Ihr einer höchst einfachen Sache, die ich Euch
+erklären werde, zum guten Ausgang verhelfet. In wenigen
+Tagen wird das Urteil, welches Giulio Branciforte
+zu einem schrecklichen Tod verdammt, auch im Königreich
+Neapel bekannt gemacht und vollstreckbar werden.
+Ich ersuche Euer Ehrwürden, diesen Brief des Vize-Königs
+zu lesen, der weitläufig mit mir verwandt ist
+und mir diese Neuigkeit zu melden geruht. In welchem
+Land kann Branciforte Zuflucht suchen? Ich werde
+dem Fürsten fünfzigtausend Piaster mit der Bitte übersenden,
+sie ganz oder zum Teil Giulio Branciforte unter
+der Bedingung zu geben, daß er beim König von Spanien,
+meinem Herrn, Dienst gegen die Rebellen von
+Flandern nimmt. Der Vize-König wird Branciforte ein
+Hauptmannsdiplom geben, und damit das Urteil wegen
+Gotteslästerung, welches wohl bald auch in Spanien vollstreckbar
+sein wird, ihn in seiner Laufbahn nicht
+hindert, wird er sich Baron Lizzara nennen, nach einem
+kleinen Gut, das mir in den Abruzzen gehört, dessen
+Besitz ich ihm durch einen Scheinkauf verschaffen
+werde. Ich glaube, daß Euer Ehrwürden noch nie eine
+Mutter so den Mörder ihres Sohns behandeln gesehen
+haben. Mit fünfhundert Piastern hätten wir uns längst
+dieses hassenswerten Menschen entledigen können: aber
+wir wollten uns nicht mit Colonna überwerfen. Habt
+also die Güte, den Fürsten wissen zu lassen, daß meine
+Achtung vor seinen Rechten mich sechzig- bis achtzigtausend
+Piaster kostet. Ich will nie wieder von diesem
+Branciforte sprechen hören — und vor allem versichert
+dem Fürsten meine Ehrerbietung.“
+</p>
+
+<p><a id="page-301"></a><span class="pgnum">301</span>Der Fratone sagte, daß er in drei Tagen eine Wanderung
+in die Gegend von Ostia machen werde, und
+Signora Campireali übergab ihm einen Ring im Wert
+von tausend Piastern.</p>
+
+<p>Einige Tage später erschien der Fratone wieder in
+Rom und sagte der Signora Campireali, daß er ihren
+Vorschlag dem Fürsten nicht zur Kenntnis gebracht
+hätte, aber daß der junge Branciforte sich binnen eines
+Monats nach Barcelona einschiffen würde, wo sie ihm
+bei einem der Bankiers dieser Stadt fünfzigtausend
+Piaster anweisen solle.</p>
+
+<p>Giulio bereitete dem Fürsten große Schwierigkeit,
+denn trotz der Gefahr, die er von nun ab in Italien lief,
+mochte sich der junge Verliebte nicht entschließen,
+dieses Land zu verlassen. Vergebens ließ der Fürst
+durchblicken, daß Signora Campireali sterben könne,
+vergebens versprach er ihm, daß er in jedem Fall
+nach drei Jahren sein Vaterland wiedersehen solle;
+Giulio vergoß Tränen, aber er stimmte nicht zu. Der
+Fürst war genötigt, diese Abreise als persönlichen Dienst
+von ihm zu verlangen; Giulio konnte dem Freund seines
+Vaters nichts abschlagen; aber vor allem wollte er Helenas
+Wünsche wissen. Der Fürst geruhte, die Übermittlung
+eines langen Briefes auf sich zu nehmen; ja
+er erlaubte Giulio, ihm einmal im Monat aus Flandern
+zu schreiben. Endlich schiffte sich der verzweifelte Liebhaber
+nach Barcelona ein. Alle seine Briefe wurden
+vom Fürsten, der nicht wollte, daß Giulio jemals nach
+Italien zurückkehre, verbrannt. Wir haben vergessen,
+zu sagen, daß der Fürst, obgleich seinem Wesen nichts
+ferner lag als eitle Anmaßung, sich doch, um die Geldgeschichte
+glücklich zu ordnen, zu der Äußerung verpflichtet
+glaubte, daß er es gewesen sei, der es für angemessen
+<a id="page-302"></a><span class="pgnum">302</span>hielt, dem einzigen Sohn eines der treuesten
+Diener des Hauses Colonna ein kleines Vermögen von
+fünfzigtausend Piastern zuzuwenden.</p>
+
+<p>Die arme Helena wurde im Kloster von Castro als
+Fürstin behandelt. Der Tod ihres Vaters hatte sie in den
+Besitz eines beträchtlichen Vermögens gesetzt und ein
+unermeßliches Erbteil kam noch hinzu. Als ihr Vater
+starb, ließ sie jedem Einwohner von Castro und Umgebung,
+der erklärte, um Herrn von Campireali Trauer
+tragen zu wollen, fünf Ellen schwarzen Tuchs schenken.
+Es war noch in den ersten Tagen, als ihr von gänzlich
+unbekannter Hand ein Brief Giulios zugestellt wurde.
+Es wäre schwierig, die Entzückungen zu schildern,
+mit denen dieser Brief geöffnet wurde; und nicht
+minder die tiefe Traurigkeit, die über sie kam, nachdem
+sie ihn gelesen hatte. Und doch war es ohne
+Zweifel die Handschrift Giulios; sie wurde mit der
+größten Aufmerksamkeit geprüft, der Brief sprach
+von Liebe; aber welcher Liebe, großer Gott! Und doch
+hatte ihn Signora Campireali, die so viel Geist besaß,
+verfaßt. Ihr Plan war: die Korrespondenz mit
+sieben oder acht Briefen voll leidenschaftlicher Liebe
+einzuleiten; so wollte sie auf die späteren vorbereiten,
+in denen diese Liebe nach und nach erlöschen
+sollte.</p>
+
+<p>Wir gehen rasch über zehn Jahre eines unglücklichen
+Lebens hinweg. Helena glaubte sich völlig vergessen;
+trotzdem wies sie mit Hochmut die Huldigungen der
+vornehmsten jungen Edelleute Roms zurück. Indessen,
+als man ihr von dem jungen Ottavio Colonna sprach,
+dem ältesten Sohn des berühmten Fabrizio, der sie
+einstens in La Petrella so schlecht empfangen hatte,
+war sie einen Augenblick unentschieden. Es erschien ihr,
+<a id="page-303"></a><span class="pgnum">303</span>wenn sie nun einmal einen Gatten nehmen mußte,
+um ihrem Besitz im Kirchenstaat und im Königreich
+Neapel einen Beschützer zu geben, als Linderung, den
+Namen eines Mannes zu tragen, den Giulio einstmals
+geliebt hatte. Hätte sie dieser Heirat zugestimmt, dann
+hätte Helena sehr bald die Wahrheit über Giulio Branciforte
+erfahren. Der alte Fürst Fabrizio sprach oft und
+mit Entzücken von der übermenschlichen Tapferkeit
+des Obersten Lizzara, welcher sich gleich den Helden
+des alten Roms schlage, und gleich ihnen sich durch
+große Taten von der unglücklichen Liebe abzulenken
+versuchte, die ihn für jedes Vergnügen unempfindlich
+machte. Giulio glaubte, daß Helena längst verheiratet
+sei: Signora von Campireali hatte nicht nur
+ihre Tochter mit Lügen umgeben.</p>
+
+<p>Helena hatte sich mit dieser so geschickten Mutter
+wieder halb versöhnt, deren größter Wunsch war, sie
+verheiratet zu wissen; die Mutter bat ihren Freund, den
+alten Kardinal Santi-Quatro, den Protektor der ‚Heimsuchung‘,
+der nach Castro reiste, er möge den ältesten
+Nonnen des Klosters im Vertrauen erzählen, daß seine
+Reise durch einen Gnadenakt verzögert worden sei: der
+gute Papst Gregor XIII. habe aus Mitleid für die Seele
+eines Briganten, namens Giulio Branciforte, der es einst
+versuchte, ihr Kloster zu schänden, bei der Nachricht
+von dessen Tode das Urteil der Gotteslästerung aufheben
+wollen, überzeugt davon, daß er unter der Last einer
+solchen Verdammung niemals das Fegefeuer wieder verließe;
+falls Branciforte, der in Mexiko von den Wilden
+überrascht und niedergemacht worden sei, überhaupt
+das Glück gehabt habe, nur ins Fegefeuer zu kommen.
+Diese Neuigkeit versetzte das ganze Kloster von Castro
+in Aufregung; sie gelangte auch zu Helena, die sich
+<a id="page-304"></a><span class="pgnum">304</span>damals allen Torheiten der Eitelkeit hingab, welche der
+Besitz eines großen Vermögens in einem aufs tiefste
+gelangweilten Menschen erwecken kann. Von diesem
+Augenblick an verließ sie nicht mehr ihr Zimmer. Man
+muß wissen, daß sie das halbe Kloster hatte umbauen
+lassen, um das kleine Zimmer der Pförtnerin, wo Giulio
+in jener Nacht einen Augenblick während des Kampfes
+ausgeruht hatte, bewohnen zu können. Nach unendlichen
+Mühen war es ihr geglückt, die drei noch lebenden Bravi
+zu entdecken, von den fünf aus Giulios Gefolge, die
+damals dem Gefecht in Castro entronnen waren, und sie
+hatte sie, trotz des schwer zu besänftigenden Skandals,
+in ihre Dienste genommen. Unter ihnen befand sich
+Ugone, jetzt alt und von Wunden bedeckt. Der Anblick
+dieser drei Männer hatte viel Murren erregt, aber
+schließlich war die Furcht, welche Helenas hochfahrender
+Charakter dem ganzen Kloster einflößte, größer,
+und man sah sie täglich in der Livree des Hauses Campireali
+Helenas Befehle am äußeren Gitter entgegennehmen,
+und oft weitläufig auf ihre Fragen antworten,
+die immer dem gleichen Gegenstand galten.</p>
+
+<p>Nach den ersten sechs Monaten der Einschließung
+in sich selbst und der Abkehr von allen weltlichen
+Dingen, die der Nachricht von Giulios Tod gefolgt
+waren, ist das erste Gefühl, welches diese durch einen
+unheilbaren Schmerz und eine namenlose Langweile bereits
+gebrochene Seele wieder zum Leben weckte, ein
+Gefühl der Eitelkeit gewesen.</p>
+
+<p>Vor kurzem war die Äbtissin gestorben. Dem Brauch
+gemäß, hatte der Kardinal Santi-Quatro, der trotz des
+hohen Alters von zweiundneunzig Jahren noch Protektor
+des Klosters zur ‚Heimsuchung‘ war, die Liste der
+drei vornehmen Nonnen aufgestellt, aus welchen der
+<a id="page-305"></a><span class="pgnum">305</span>Papst die Äbtissin wählen sollte. Es mußten sehr gewichtige
+Gründe im Spiel sein, wenn Seine Heiligkeit
+die beiden letzten Namen der Liste überhaupt las; gewöhnlich
+begnügte er sich damit, einen Strich mit der
+Feder durch diese Namen zu ziehen, und die Ernennung
+war geschehen.</p>
+
+<p>Eines Tages stand Helena am Fenster des ehemaligen
+Pförtnergemachs, das jetzt den äußersten Flügel des
+neuen, auf ihren Befehl hergestellten Anbaus bildete.
+Dieses Fenster lag höchstens zwei Fuß über dem Gang,
+der ehemals mit Giulios Blut getränkt war und jetzt
+einen Teil des Gartens bildete. Helena hatte die Augen
+sinnend auf den Boden geheftet. Die drei Damen, welche
+man seit einigen Stunden auf der Liste des Kardinals
+zur Nachfolge der verstorbenen Äbtissin wußte, kamen
+am Fenster Helenas vorüber. Sie bemerkte sie nicht und
+konnte sie daher auch nicht grüßen. Eine der Damen
+wurde dadurch gereizt und sagte laut genug zu den
+andren:</p>
+
+<p>„Das ist eine nette Art für eine Pensionärin, ihr
+Zimmer so den Augen aller zur Schau zu stellen.“</p>
+
+<p>Durch diese Worte aufgestört, sah Helena auf und
+begegnete drei boshaften Augenpaaren.</p>
+
+<p>‚Nun wohl,‘ sagte sie sich, das Fenster ohne Gruß
+schließend, ‚lange genug bin ich jetzt das Lamm in
+diesem Kloster gewesen, man muß Wolf sein, wäre es
+auch nur, um den Neugierigen in der Stadt etwas Abwechslung
+zu bieten!‘</p>
+
+<p>Eine Stunde später brachte einer ihrer Leute
+folgenden Kurierbrief ihrer Mutter, welche seit zehn
+Jahren in Rom lebte und verstanden hatte, sich dort
+großen Einfluß zu verschaffen.
+</p>
+
+<p class="letterfirst"><a id="page-306"></a><span class="pgnum">306</span>„Hochverehrte Mutter!</p>
+
+<p>Jedes Jahr schenkst Du mir an meinem Namenstage
+dreihunderttausend Francs, und ich verwende dieses
+Geld, um hier Torheiten zu begehen; ehrenvolle allerdings,
+aber doch Torheiten. Obwohl du es mir schon
+seit langem nicht mehr zu verstehen gibst, weiß ich
+doch, daß zwei Dinge imstande sind, Dir meine Dankbarkeit
+für all Deine guten Absichten zu beweisen. Verheiraten
+werde ich mich nicht mehr, aber ich würde mit
+Vergnügen Äbtissin dieses Klosters; ich bin auf diesen
+Einfall gekommen, weil die drei Damen, welche unser
+Kardinal Santi-Quatro auf die Liste gesetzt hat, die er
+dem Heiligen Vater vorlegt, meine Feindinnen sind;
+und welche immer gewählt wird, muß ich Ärger
+aller Art erwarten. Spende meine Festgabe den Personen,
+die in Betracht kommen; schaffen wir erst eine Verzögerung
+von sechs Monaten für die Ernennung; das
+wird die Priorin des Klosters, die meine intime Freundin
+ist und gegenwärtig die Zügel der Regierung in Händen
+hat, vor Freude außer sich bringen. Schon dies wird
+eine Quelle des Glückes für mich sein und es ist so
+selten, daß ich dies Wort anwenden kann, wenn ich
+von Deiner Tochter spreche. Ich finde meinen Einfall
+toll, aber wenn Du irgendeine Möglichkeit des Erfolgs
+siehst, werde ich binnen drei Tagen den weißen Schleier
+nehmen; ich habe das Recht auf Erlaß von sechs Monaten,
+da ich seit acht Jahren ununterbrochen im
+Kloster wohne. Der Dispens kostet vierzig Taler und
+wird nicht verweigert.</p>
+
+<p>Ich verbleibe respektvoll</p>
+
+<p class="letterlast">meine ehrwürdige Mutter usw.“</p>
+
+<p><a id="page-307"></a><span class="pgnum">307</span>Dieser Brief bereitete Signora von Campireali die
+größte Freude. Als sie ihn empfing, hatte sie schon
+lebhaft bereut, ihrer Tochter den Tod Brancifortes angekündigt
+zu haben; sie wußte nicht, wie diese tiefe
+Melancholie, die sie befallen hatte, enden würde; sie
+sah irgendeinen Gewaltstreich voraus; sie ging so weit,
+zu fürchten, ihre Tochter könnte nach Mexiko gehen,
+um den Ort zu suchen, wo, wie man behauptet hatte,
+Branciforte getötet worden war; in diesem Fall war es
+leicht möglich, daß sie in Madrid den wahren Namen
+des Oberst Lizzara erfuhr. Andrerseits war das, was
+ihre Tochter durch den Kurier verlangte, die schwierigste,
+und man kann wohl sagen, die absurdeste Sache
+von der Welt. Ein junges Mädchen, das nicht einmal
+Nonne war, und außerdem bloß durch die tolle Leidenschaft
+eines Briganten bekannt war, die sie vielleicht erwidert
+hatte, sollte an die Spitze eines Klosters gesetzt
+werden, in dem alle römischen Fürsten Verwandte
+hatten! ‚Aber‘, dachte sich Signora von Campireali,
+‚man sagt, daß jeder Prozeß geführt und deshalb auch
+gewonnen werden kann.‘ In ihrer Antwort machte
+Vittoria Carafa ihrer Tochter etwas Hoffnung, die gewöhnlich
+keine andren als absonderliche Wünsche hatte,
+zum Ausgleich aber sehr leicht den Geschmack daran
+verlor. Noch im Lauf des Abends unterrichtete sie sich
+über alles, was in näherer oder weiterer Beziehung zum
+Kloster von Castro stehen könnte und erfuhr, daß ihr
+Freund, der Kardinal Santi-Quatro seit mehreren Monaten
+sehr schlechter Laune sei; er wollte seine Nichte
+mit Don Ottavio Colonna, dem ältesten Sohn des Fürsten
+Fabrizio, von dem in dieser Geschichte so oft die Rede
+war, vermählen. Der Fürst bot ihm seinen zweiten
+Sohn Don Lorenzo an, denn um seine Vermögensverhältnisse
+<a id="page-308"></a><span class="pgnum">308</span>wieder in Ordnung zu bringen, die durch
+den Krieg äußerst zerrüttete waren, den der König
+von Neapel und der Papst — endlich einig — gegen
+die Briganten von La Faggiola geführt hatten,
+konnte er nicht davon abstehen, daß die Frau seines
+ältesten Sohnes eine Mitgift von sechshunderttausend
+Piastern dem Hause Colonna mitbringen müsse. Aber
+der Kardinal Santi-Quatro, wenn er selbst alle seine
+andren Verwandten in der anstößigsten Weise enterbte,
+vermochte höchstens ein Vermögen von dreihundertachtzigtausend
+oder vierhunderttausend Talern
+anzubieten.</p>
+
+<p>Vittoria Carafa verbrachte den Abend und einen Teil
+der Nacht damit, sich diese Tatsachen von allen
+Freunden des alten Santi-Quatro bestätigen zu lassen.
+Am nächsten Morgen ließ sie sich schon um sieben Uhr
+bei dem alten Kardinal melden. „Eminenz,“ sagte sie
+ihm, „wir sind alle beide recht alt, es ist unnötig, daß
+wir uns zu täuschen trachten, indem wir Dingen, die
+nicht schön sind, schöne Namen geben; ich werde Euch
+jetzt eine Tollheit vorschlagen: alles, was ich zu ihren
+Gunsten sagen kann, ist, daß sie nicht niedrig ist; aber
+ich muß selbst gestehen, daß ich sie über alle Maßen
+lächerlich finde. Als man wegen der Heirat meiner
+Tochter Helena mit Don Ottavio Colonna verhandelte,
+habe ich Freundschaft für diesen jungen Mann gewonnen
+und am Tage seiner Hochzeit werde ich Euch
+zweihunderttausend Piaster in Landbesitz oder in Silber
+geben, mit der Bitte, es ihm zuzuwenden. Aber damit
+eine arme Witwe wie ich ein so ungeheures Opfer
+bringen kann, muß meine Tochter Helena, die jetzt
+siebenundzwanzig Jahre zählt und seit dem Alter von
+neunzehn Jahren nicht einmal außerhalb des Klosters
+<a id="page-309"></a><span class="pgnum">309</span>geschlafen hat, Äbtissin von Castro werden; man muß
+zu diesem Zweck die Wahl um sechs Monate verzögern;
+die Sache entspricht dem geltenden Recht.“</p>
+
+<p>„Was sagt Ihr, Signora?“ rief der alte Kardinal außer
+sich, „Seine Heiligkeit selbst vermöchte das nicht, was
+Ihr von einem alten unvermögenden Greise verlangt.“</p>
+
+<p>„Ich habe Eurer Eminenz ja auch gesagt, daß die
+Sache lächerlich sei: die Toren werden sie toll finden,
+aber Leute, welche wohl über das unterrichtet sind, was
+bei Hof vor sich geht, werden denken, daß unser ausgezeichneter
+Fürst, der gute Papst Gregor XIII. die
+loyalen und langen Dienste Eurer Eminenz belohnen
+wollte, indem er eine Ehe erleichtert, von der ganz Rom
+weiß, daß Eure Eminenz sie wünscht. Im übrigen ist
+die Sache leicht möglich und entspricht vollkommen
+dem Recht, ich stehe dafür; meine Tochter wird schon
+morgen den weißen Schleier nehmen.“</p>
+
+<p>„Aber die Simonie, Signora!“ rief der alte Mann mit
+schrecklicher Stimme aus.</p>
+
+<p>Signora von Campireali schickte sich an zu gehen.</p>
+
+<p>„Was bedeutet das Papier, das Ihr hier laßt?“</p>
+
+<p>„Das ist die Liste der Güter, die ich im Werte von
+zweihunderttausend Piastern anbieten würde, wenn man
+bares Geld nicht wünscht; der Wechsel des Eigentümers
+könnte lange Zeit geheimgehalten werden; zum Beispiel:
+das Haus Colonna würde mir Prozesse machen, die ich
+verlieren würde…“</p>
+
+<p>„Aber die Simonie, Signora, erschreckliche Simonie!“</p>
+
+<p>„Vorerst muß man die Wahl um sechs Monate hinausschieben,
+ich werde morgen kommen, um die Anordnungen
+Eurer Eminenz entgegenzunehmen.“</p>
+
+<p>Ich glaube, daß es notwendig ist, Lesern, die nördlich
+der Alpen geboren sind, den fast offiziellen Ton
+<a id="page-310"></a><span class="pgnum">310</span>mehrerer Stellen dieser Unterredung zu erklären; ich
+erinnere daran, daß in streng katholischen Ländern die
+meisten Unterredungen über heikle Dinge schließlich
+zum Beichtstuhl gelangen, und dann ist es durchaus
+nicht gleichgültig, ob man ein respektvolles Wort gebraucht
+hat oder eine ironische Wendung.</p>
+
+<p>Im Laufe des nächsten Tages erfuhr Vittoria Carafa,
+daß die Wahl, zufolge eines großen, sachlichen Irrtums,
+der in der Liste der drei zur Äbtissin vorgeschlagenen
+Damen entdeckt worden war, um sechs Monate
+verschoben wurde: die an zweiter Stelle der Liste angeführte
+Dame hatte einen Renegaten in der Familie,
+einer ihrer Großonkel war in Udine zum Protestantismus
+übergetreten.</p>
+
+<p>Signora von Campireali glaubte einen besonderen
+Schritt beim Fürsten Fabrizio Colonna unternehmen zu
+sollen, dessen Hause sie einen so ansehnlichen Vermögenszuwachs
+angeboten hatte. Nach dreitägigen Anstrengungen
+gelang es ihr, eine Unterredung in einem
+Dorf nahe bei Rom zu erreichen; aber sie kehrte ganz
+erschreckt von dieser Audienz zurück; sie hatte den
+gewöhnlich so ruhigen Fürsten dermaßen benommen
+von dem Kriegsruhm des Obersten Lizzara gefunden,
+daß sie es für ganz zwecklos erachtete, ihn um
+Stillschweigen über diesen Fall zu ersuchen. Der
+Oberst war für ihn wie ein Sohn, ja noch mehr:
+wie ein geliebter Schüler. Der Fürst las gewisse Briefe,
+die aus Flandern kamen, wieder und immer wieder. Was
+würde aus dem Lieblingsplan, dem Signora von Campireali
+seit zehn Jahren schon so viel geopfert hatte, wenn
+ihre Tochter vom Leben und vom Ruhm des Oberst
+Lizarra erführe?</p>
+
+<p>Ich glaube, daß es besser ist, viele Umstände stillschweigend
+<a id="page-311"></a><span class="pgnum">311</span>zu übergehen, welche wohl die Sitten jener
+Zeit getreu spiegeln, aber trübselig zu erzählen sind.
+Der Autor des römischen Manuskripts hat sich unendliche
+Mühe gegeben, um den genauen Sachverhalt dieser
+Einzelheiten aufzufinden, die ich unterdrücke.</p>
+
+<p>Zwei Jahre nach der Zusammenkunft der Signora von
+Campireali mit dem Fürsten Colonna war Helena Äbtissin
+von Castro, aber der alte Kardinal von Santi-Quatro
+war vor Gram über diesen argen Akt von Simonie gestorben.
+Zu dieser Zeit hatte Castro den schönsten Mann
+des päpstlichen Hofs zum Bischof, Monsignor Francesco
+Cittadini, aus Mailändischem Geschlecht. Dieser
+junge Mann, der durch seinen bescheidenen Anstand
+und seinen Ton voll Würde auffiel, hatte viele Dinge
+mit der Äbtissin der ‚Heimsuchung‘ zu erledigen, besonders
+als sie einen neuen Kreuzgang zur Verschönerung
+des Klosters erbauen ließ. Dieser junge Bischof
+Cittadini, der damals neunundzwanzig Jahre alt war, verliebte
+sich grenzenlos in die schöne Äbtissin. In dem
+Prozeß, der ein Jahr später stattfand, berichteten viele
+Nonnen, daß der Bischof so oft wie möglich das Kloster
+aufsuchte und ihrer Äbtissin sagte: „An andren Orten
+befehle ich und wie ich zu meiner Schande gestehen
+muß, es bereitet mir ein gewisses Vergnügen. Euch
+gehorche ich wie ein Sklave, aber mit einem Genuß, der
+weit größer ist, als wenn ich anderswo befehle. Ich
+befinde mich unter dem Einfluß eines höheren Wesens;
+wenn ich es auch versuchen würde, könnte ich doch
+keinen andren Willen haben als den seinen und würde
+lieber in alle Ewigkeit der letzte seiner Sklaven sein,
+als fern von seinen Augen ein König.“</p>
+
+<p>Die Zeugen berichten, daß die Äbtissin ihm oft inmitten
+solcher eleganter Phrasen befahl, zu schweigen
+<a id="page-312"></a><span class="pgnum">312</span>und auf harte Weise, in Ausdrücken, die ihre Verachtung
+zeigten.</p>
+
+<p>„Um die Wahrheit zu sagen,“ fährt ein andrer Zeuge
+fort, <a class="sic" id="sicA-31" href="#sic-31">„</a>ihre Gnaden behandelte ihn oft wie einen Dienstboten;
+in solchen Fällen schlug der arme Bischof die
+Augen nieder und begann zu weinen, aber er ging nicht
+fort. Er fand jeden Tag neue Vorwände, um wieder im
+Kloster zu erscheinen, was die Beichtväter der Nonnen
+und die Feinde der Äbtissin sehr entrüstete. Aber die
+Frau Äbtissin wurde von der Priorin lebhaft verteidigt,
+ihrer intimen Freundin, welche unter ihrem unmittelbaren
+Befehl der inneren Leitung vorstand. „Ihr wißt,
+meine Schwestern,“ sagte diese, „daß seit jener vergeblichen
+Leidenschaft, die unsre Äbtissin in ihrer ersten
+Jugend für einen Söldner des Glücks gehegt hat, ihr
+viel bizarre Einfälle zurückgeblieben sind; aber Ihr
+kennt alle diesen bemerkenswerten Zug ihres Charakters,
+daß niemals jemand für sie in Betracht kommt, den
+sie einmal verachtet hat. Nun hat sie vielleicht in ihrem
+ganzen Leben nicht so viele beleidigende Worte geäußert,
+wie in unsrer eigenen Gegenwart zu dem armen
+Monsignor Cittadini: tagtäglich sehen wir ihn eine Behandlung
+erdulden, die uns für seine hohe Würde erröten
+läßt.“</p>
+
+<p>„Ja,“ antworteten die aufgebrachten Nonnen, „aber
+er kommt alle Tage wieder, also wird er wohl im Grunde
+nicht so schlecht behandelt werden, und in jedem Falle
+schadet auch der Anschein dieses Abenteuers dem Ansehen
+des Heiligen Ordens der Heimsuchung.“</p>
+
+<p>Der strengste Herr richtet an den ungeschicktesten
+Diener nicht ein Viertel der Beschimpfungen, mit denen
+die hochmütige Äbtissin den jungen Bischof samt seiner
+salbungsvollen Art überhäufte; aber er war verliebt und
+<a id="page-313"></a><span class="pgnum">313</span>er hatte aus seiner Heimat den unerschütterlichen
+Grundsatz mitgebracht, daß man sich bei einer Unternehmung
+dieser Art, — wenn sie einmal begonnen ist —,
+nur um das Ziel kümmern darf.</p>
+
+<p>„Am Schluß des Handels“, sagte der Bischof zu
+seinem Vertrauten, Cesare del Bene, „trifft die Verachtung
+den Liebhaber, der sich vom Angriff vorzeitig
+zurückzog, ohne durch Eingriffe höherer Gewalt dazu
+gezwungen worden zu sein.“</p>
+
+<p>Jetzt muß sich meine traurige Aufgabe darauf beschränken,
+einen notgedrungen sehr trockenen Auszug
+des Prozesses zu geben, in dessen Folge Helena den Tod
+fand. Die Beschreibung dieses Gerichtsverfahrens, die
+ich in einer Bibliothek gelesen habe, deren Namen ich
+verschweigen muß, umfaßt nicht weniger als acht Foliobände.
+Das Verhör und die Beweisfassung sind in lateinischer
+Sprache gehalten, die Antworten italienisch.
+Ich lese darin, daß sich im Monat November 1572,
+gegen elf Uhr abends, der junge Bischof allein zum
+Tore der Kirche begab, wo während des Tags die Gläubigen
+Einlaß finden; die Äbtissin selbst öffnete ihm
+dieses Tor und erlaubte ihm, ihr zu folgen. Sie empfing
+ihn in einem Zimmer, wo sie sich oft aufhielt, das durch
+eine geheime Tür mit den Emporen in Verbindung
+stand, welche das Kirchenschiff beherrschen.</p>
+
+<p>Eine Stunde mochte kaum verflossen sein, als der
+Bischof sehr erstaunt wieder nach Hause geschickt
+wurde; die Äbtissin selbst begleitete ihn zur Kirchentüre
+zurück und sagte ihm diese verbürgten Worte: „Kehrt
+in Euren Palast zurück, verlaßt mich schleunigst. Adieu
+Monsignore, Ihr erregt mir Abscheu; es ist mir, als
+hätte ich mich einem Lakaien hingegeben.“</p>
+
+<p>Indessen kam drei Monate später der Karneval. Die
+<a id="page-314"></a><span class="pgnum">314</span>Bewohner von Castro waren durch die Feste, die sie in
+dieser Zeit einander gaben, berühmt; die ganze Stadt
+widerhallte vom Lärm der Maskenscherze. Alles ging
+an einem kleinen Fenster vorüber, welches einer wohlbekannten
+Stallung des Klosters einen schwachen Lichtschein
+gab. Man weiß, daß schon drei Monate vor dem
+Karneval diese Stallung in einen Salon verwandelt
+worden war und zur Zeit der Maskeraden niemals leer
+wurde. Inmitten aller Narrheiten des Volks fuhr der
+Bischof in seiner Karosse vorüber; die Äbtissin gab
+ihm ein Zeichen und um ein Uhr der folgenden Nacht
+verfehlte er nicht, sich an der Kirchentür einzufinden.
+Er trat ein; aber nach weniger als dreiviertel Stunden
+wurde er im Zorn fortgeschickt. Seit dem ersten Stelldichein
+im Monat November kam er so etwa alle acht
+Tage ins Kloster. Man sah in seinem Gesicht einen
+leichten Ausdruck von Triumph und Dummheit, der
+niemandem entging und das Unglück hatte, den stolzen
+Charakter der jungen Äbtissin außerordentlich zu reizen.
+Besonders am Ostermontag behandelte sie ihn wie den
+letzten der Menschen und sagte ihm Worte, die sich
+der ärmste der Taglöhner des Klosters nicht hätte bieten
+lassen. Indessen gab sie ihm einige Tage später wieder
+das Zeichen, dem folgend der schöne Bischof nicht verfehlte,
+sich um Mitternacht an der Kirchentür einzufinden.
+Sie hatte ihn kommen lassen, um ihm mitzuteilen,
+daß sie schwanger sei. Bei dieser Ankündigung,
+heißt es in den Akten, erbleichte der schöne junge Mann
+vor Entsetzen und wurde ganz und gar blöde vor Angst.
+Die Äbtissin hatte Fieber, sie ließ den Arzt rufen und
+machte ihm gegenüber kein Geheimnis aus ihrem Zustand.
+Dieser Mann kannte den großmütigen Charakter
+der Kranken und sicherte ihr zu, ihr aus der Verlegenheit
+<a id="page-315"></a><span class="pgnum">315</span>zu helfen. Er begann damit, daß er sie mit einer
+hübschen jungen Frau aus dem Volk in Verbindung
+brachte, die nicht den Titel einer Hebamme besaß, aber
+deren Kunst ausübte. Ihr Mann war Bäcker. Helena
+war unbefriedigt von der Unterredung mit dieser Frau,
+die ihr erklärte, daß sie zur Ausführung des Plans,
+mit dessen Hilfe sie auf Rettung hoffte, zwei Vertraute
+im Kloster benötige.</p>
+
+<p>„Eine Frau euresgleichen, meinethalben; aber eine
+aus meinem Stande? Nein. Geht mir aus den Augen.“</p>
+
+<p>Die Hebamme zog sich zurück. Aber einige Stunden
+darauf ließ sie Helena, die es nicht klug fand, sich dem
+Geschwätz dieser Frau auszusetzen, durch den Arzt ins
+Kloster zurückholen, wo sie freigebig beschenkt wurde.
+Diese Frau schwur, daß sie niemals, auch wenn sie nicht
+zurückgerufen worden wäre, das ihr anvertraute Geheimnis
+verraten hätte, aber sie erklärte nochmals, daß
+sie sich auf nichts einlassen könne, wenn sie nicht im
+Kloster zwei dem Interesse der Äbtissin ergebene Mitwisserinnen
+hätte. Ohne Zweifel fürchtete sie die Anklage
+wegen Kindesmord.</p>
+
+<p>Nachdem sie viel darüber nachgedacht hatte, beschloß
+die Äbtissin, das schreckliche Geheimnis
+Schwester Vittoria anzuvertrauen, der Priorin des
+Klosters, aus der vornehmen Familie der Herzöge von
+C**, und Schwester Bernarda, der Tochter des Marchese
+P**. Sie ließ sie auf ihr Brevier schwören, niemals
+ein Wort von dem, was sie ihnen jetzt anvertrauen
+würde, verlauten zu lassen, nicht einmal vor dem hochnotpeinlichen
+Gericht. Diese Damen waren vor Schreck
+verstört. Sie gestanden später beim Verhör, daß sie sich
+unter dem Eindruck des hochfahrenden Charakters ihrer
+Äbtissin auf das Geständnis einer Mordtat gefaßt gemacht
+<a id="page-316"></a><span class="pgnum">316</span>hätten. Die Äbtissin sagte ihnen einfach und
+kalt:</p>
+
+<p>„Ich habe mich gegen alle meine Pflichten vergangen,
+ich bin schwanger.“</p>
+
+<p>Schwester Vittoria, die Priorin, war tief bewegt und
+ganz verwirrt wegen der langjährigen Freundschaft, die
+sie mit Helena verband, und nicht bloß aus Neugierde
+rief sie mit Tränen in den Augen aus:</p>
+
+<p>„Wer ist der Unvorsichtige, der dieses Verbrechen
+begangen hat!“</p>
+
+<p>„Ich habe es selbst meinem Beichtvater nicht gesagt;
+urteilt also, ob ich es euch sagen werde.“</p>
+
+<p>Diese beiden Damen beratschlagten sogleich über die
+Maßnahmen, um das verhängnisvolle Geheimnis dem
+übrigen Kloster zu verbergen. Sie entschieden vor allem,
+daß das Schlafzimmer der Äbtissin, das ganz im Mittelpunkt
+des Klosters lag, nach der Apotheke verlegt
+werden müsse, die man im entlegensten Teil des
+Klosters, im dritten Stock des großen, durch Helenas
+Freigebigkeit entstandenen Neubaus eingerichtet hatte.
+An diesem Ort war es, daß die Äbtissin einem Knaben
+das Leben schenkte. Seit drei Wochen war die Frau des
+Bäckers in den Gemächern der Priorin versteckt. Als
+diese Frau dann mit dem Kind schnell durch das Kloster
+eilte, begann es zu schreien, und die Frau flüchtete sich
+in ihrem Entsetzen in den Keller. Eine Stunde später
+gelang es Schwester Bernarda mit Hilfe des Arztes, eine
+kleine Gartentür zu öffnen, und die Frau des Bäckers
+verließ hastig das Kloster und bald darauf die Stadt.
+In die Campagna gelangt und von panischem Schrecken
+verfolgt, flüchtete sie sich in eine Grotte, die der Zufall
+sie in einem der Felsen entdecken ließ. Die Äbtissin
+schrieb an Cesare del Bene, den Vertrauten und ersten
+<a id="page-317"></a><span class="pgnum">317</span>Kammerherrn des Bischofs, der zu der bezeichneten
+Grotte eilte; er war zu Pferde, er nahm das Kind
+in seine Arme und ritt im Galopp nach Montefiascone.
+Das Kind wurde in der Kirche Santa Margherita getauft
+und empfing den Namen Alessandro. Die Gastwirtin
+des Orts hatte eine Amme verschafft, der Cesare
+acht Taler zurückließ; viele Frauen, die sich während
+der Tauffeierlichkeit um die Kirche angesammelt
+hatten, hörten nicht auf, Signor Cesare nach dem Vater
+des Kindes zu fragen.</p>
+
+<p>„Das ist ein großer Herr aus Rom“, sagte er ihnen,
+„der sich erlaubt hat, eine arme Bäuerin wie Ihr zu
+verführen.“</p>
+
+<p>Und er verschwand.</p>
+
+
+<h3>VII.</h3>
+
+<p>Bis dahin ging alles gut, trotz dieses ungeheuren
+Klosters, das von mehr als dreihundert neugierigen
+Frauen bewohnt wurde; niemand hatte etwas gesehen,
+niemand etwas gehört. Aber die Äbtissin hatte dem Arzt
+einige Hände voll neuer in der Münze Roms geprägter
+Zechinen übergeben. Der Arzt gab mehrere dieser Goldstücke
+der Frau des Bäckers. Diese Frau war hübsch
+und ihr Mann eifersüchtig; er durchstöberte ihren
+Koffer und fand diese glänzenden Goldstücke darin;
+und da er sie für den Preis seiner Schande hielt, setzte
+er seiner Frau ein Messer an die Kehle und zwang sie
+zu sagen, woher die Goldstücke stammten. Nach einigen
+Ausflüchten gestand die Frau die Wahrheit und der
+Friede wurde geschlossen. Die Eheleute begannen nun
+über die Verwendung einer so großen Summe zu beratschlagen.
+Die Bäckerin wollte einige Schulden bezahlen;
+aber der Mann fand es schöner, ein Maultier zu kaufen,
+<a id="page-318"></a><span class="pgnum">318</span>was auch geschah. Dieses Maultier erregte Aufsehen
+in dem Viertel, wo man die Armut des Ehepaars kannte.
+Alle Weiber der Stadt, Freundinnen und Feindinnen
+fragten eine nach der andern die Frau des Bäckers,
+wer der freigebige Liebhaber gewesen sei, der sie in
+Stand gesetzt habe, ein Maultier zu kaufen. Diese Frau
+wurde dadurch so gereizt, daß sie einige Male die Wahrheit
+antwortete. Eines Tages, als Cesare del Bene das
+Kind besucht hatte und zur Äbtissin zurückkehrte, um
+Bericht zu erstatten, schleppte sich diese, obgleich sie
+sehr unpäßlich war, bis zum Gitter und machte ihm
+wegen der Unzuverläßlichkeit der von ihm verwendeten
+Mittelspersonen Vorwürfe. Der Bischof seinerseits
+wurde krank vor Angst; er schrieb seinen Brüdern in
+Mailand, um ihnen die ungerechte Anklage, deren Ziel
+er war, zu erzählen; auch forderte er sie auf, ihm zu
+Hilfe zu kommen. Obwohl er sich schwer leidend fühlte,
+faßte er den Entschluß, Castro zu verlassen; aber bevor
+er es tat, schrieb er der Äbtissin:</p>
+
+<p>„Ihr wißt bereits, daß alles, was vorgefallen ist, bekannt
+wurde. Wenn Euch deshalb daran liegt, nicht
+allein meinen Ruf, sondern vielleicht mein Leben zu
+retten, und um den Skandal zu verkleinern, könnt Ihr
+Giovanni Battista Doleri beschuldigen, der vor zwei Tagen
+gestorben ist. Wenn Ihr auf diese Weise auch nicht Eure
+Ehre wiederherstellen könnt, so läuft wenigstens die
+meine keine Gefahr mehr.“</p>
+
+<p>Der Bischof ließ Don Luigi, den Beichtvater des
+Klosters von Castro, rufen:</p>
+
+<p>„Gebt dies eigenhändig der Frau Äbtissin“, sagte er
+zu ihm.</p>
+
+<p>Als diese das ehrlose Schreiben gelesen hatte, rief sie
+laut vor allen, die sich im Zimmer befanden:
+</p>
+
+<p><a id="page-319"></a><span class="pgnum">319</span>„So verdienen die törichten Jungfrauen behandelt zu
+werden, welche die Schönheit des Leibes über die der
+Seele stellen!“</p>
+
+<p>Das Gerücht von allem, was in Castro vor sich ging,
+kam rasch zu Ohren des schrecklichen Kardinals Farnese.
+Er hatte sich diese Bezeichnung seit einigen Jahren
+verdient, weil er hoffte, im nächsten Konklave die Unterstützung
+der Eiferer zu finden. Sogleich gab er der
+Obrigkeit von Castro den Auftrag, den Bischof Cittadini
+zu verhaften. Dessen ganze Dienerschaft ergriff aus
+Furcht vor der Folter die Flucht. Nur Cesare del Bene
+blieb seinem Herrn treu und schwur ihm, daß er eher
+auf der Folter sterben, als etwas gestehen würde, was
+ihm schaden könnte.</p>
+
+<p>Cittadini, der seinen Palast von Wachen umringt sah,
+schrieb aufs neue seinen Brüdern, die in großer Eile von
+Mailand ankamen. Sie fanden ihn schon im Gefängnis
+von Ronciglione eingekerkert.</p>
+
+<p>Ich entnehme aus dem ersten Verhör der Äbtissin,
+daß sie ihre Schuld offen zugestand, aber leugnete, in
+Beziehung zu dem Hochwürdigsten Bischof gestanden
+zu haben, ihr Mitschuldiger sei Gian-Battista Doleri,
+Advokat des Klosters, gewesen.</p>
+
+<p>Am 9. September 1573 befahl Gregor XIII., daß der
+Prozeß in aller Strenge und Eile erledigt werde. Ein
+Kriminalrichter, ein Fiskal und ein Kommissär begaben
+sich nach Castro und nach Ronciglione. Cesare del
+Bene, der erste Kammerherr des Bischofs, gestand,
+bloß ein Kind zu einer Amme gebracht zu haben. Man
+verhört ihn in Gegenwart der ehrwürdigen Klosterschwestern
+Vittoria und Bernarda. Man unterwarf ihn
+zwei Tage hintereinander der Tortur; er litt gräßlich,
+aber seinem Wort getreu, gestand er nur das, was zu
+<a id="page-320"></a><span class="pgnum">320</span>leugnen unmöglich war, und der Fiskal konnte nicht
+mehr aus ihm herausbringen.</p>
+
+<p>Als die Reihe an die ehrwürdigen Damen Vittoria und
+Bernarda kam, die Zeugen der Folterung Cesares gewesen
+waren, gestanden sie alles, was sie getan hatten.
+Alle Nonnen wurden nach dem Urheber des Verbrechens
+gefragt, die meisten antworteten, daß es der Hochwürdigste
+Herr Bischof gewesen sei. Eine der Schließerinnen
+berichtet die beleidigenden Worte, welche die Äbtissin
+gebraucht hatte, als sie den Bischof aus der Kirche wies.
+Sie fügte hinzu: „Wenn man in diesem Ton zueinander
+spricht, zeigt es an, daß man schon lange ein Liebesverhältnis
+hat. Der Herr Bischof, der sonst durch übermäßige
+Selbstgefälligkeit auffiel, hatte ein ganz linkisches
+Aussehen, als er die Kirche verließ.“</p>
+
+<p>Eine Nonne, im Anblick der Folterwerkzeuge verhört,
+antwortet, daß die Katze Urheber des Verbrechens sein
+müsse, weil die Äbtissin sie nie aus den Armen läßt
+und immerzu liebkost. Eine andre Nonne behauptet: der
+Urheber des Verbrechens müsse der Wind sein, weil die
+Äbtissin an Tagen, wo der Wind weht, glücklich und
+guter Laune sei; sie setze sich dem Wind auf einem
+Belvedere, das sie eigens hatte erbauen lassen, aus, und
+wenn man an diesem Ort eine Gnade erbitten kam, sei
+sie niemals verweigert worden. Die Frau des Bäckers,
+die Amme, die Weiber von Montefiascone bekannten aus
+Furcht vor den Folterqualen, die sie Cesare hatten erleiden
+sehen, die Wahrheit.</p>
+
+<p>Der junge Bischof war krank oder spielte in Ronciglione
+den Kranken, was seinen Brüdern Anlaß gab,
+durch das Ansehen und den Einfluß der Signora von
+Campireali unterstützt, sich mehrmals dem Papst zu
+Füßen zu werfen und von ihm zu erbitten, daß das Verfahren
+<a id="page-321"></a><span class="pgnum">321</span>aufgeschoben werde, bis der Bischof seine Gesundheit
+wiedererlangt habe. Auf dies hin vermehrte der
+schreckliche Kardinal Farnese die Zahl der Soldaten,
+die ihn in seinem Gefängnis bewachten. Da der Bischof
+nicht verhört werden konnte, begannen die Kommissäre
+in jeder ihrer Sitzungen immer wieder, die Äbtissin
+einem Verhör zu unterziehen. Eines Tages, als ihre
+Mutter ihr hatte sagen lassen, sie solle guten Mutes
+bleiben und fortfahren, alles zu leugnen, gestand sie alles.</p>
+
+<p>„Warum habt Ihr zuerst Gian-Battista Doleri bezichtigt?“</p>
+
+<p>„Aus Mitleid mit der Feigheit des Bischofs, und dann,
+wenn es ihm gelingt, sein teures Leben zu retten, damit
+er für meinen Sohn sorgen kann.“</p>
+
+<p>Nach diesem Geständnis schloß man die Äbtissin in
+eine Zelle des Klosters von Castro ein, deren Wände
+und Deckenwölbung acht Fuß dick waren; die Nonnen
+sprachen nur mit Schaudern von diesem Verlies, das
+unter dem Namen Mönchszelle bekannt war. Die Äbtissin
+wurde hier ständig von drei Frauen überwacht.</p>
+
+<p>Als sich die Gesundheit des Bischofs ein wenig gebessert
+hatte, kamen dreihundert Sbirren oder Soldaten,
+um ihn aus Ronciglione zu holen, und er wurde in einer
+Sänfte nach Rom geschafft. Dort brachte man ihn in
+einem Gefängnis unter, das Corte Savella hieß. Wenige
+Tage später wurden auch die Nonnen nach Rom eingeliefert;
+die Äbtissin wurde im Kloster Santa Marta,
+untergebracht. Vier Nonnen waren beschuldigt: die
+ehrwürdigen Schwestern Vittoria und Bernarda, die
+Schwester, welche an jenem Tage die Aufsicht führte,
+und die Pförtnerin, welche die beleidigenden Worte gehört
+hatte, die von der Äbtissin an den Bischof gerichtet
+wurden.
+</p>
+
+<p><a id="page-322"></a><span class="pgnum">322</span>Der Bischof wurde vom Auditor der päpstlichen Kammer
+vernommen, einem der höchsten Vertreter des Richterstandes.
+Man spannte den armen Cesare del Bene von
+neuem auf die Folter; doch er gestand nichts, ja er
+sagte sogar Dinge aus, die dem Staatsanwalt peinlich
+waren, was ihm eine neue Folterung eintrug. Diese Einleitungsmarter
+mußten auch die ehrwürdigen Schwestern
+Vittoria und Bernarda erleiden. Der Bischof leugnete
+alles in dümmster Weise, aber mit einer gefälligen Hartnäckigkeit;
+er zählte mit den größten Einzelheiten alles
+auf, was er an den drei offenkundig bei der Äbtissin verbrachten
+Abenden vorgenommen haben wollte.</p>
+
+<p>Schließlich stellte man die Äbtissin dem Bischof
+gegenüber, und obgleich sie beständig die Wahrheit gesagt
+hatte, wurde sie dennoch der Folterung unterworfen.
+Weil sie auf dem beharrte, was sie auf ihrem ersten
+Geständnis immer ausgesagt hatte, überhäufte sie der
+Bischof, seiner Rolle getreu, mit Beleidigungen.</p>
+
+<p>Nach mehreren andren, im Grunde vernünftigen Maßnahmen,
+die aber von jenem Geist der Grausamkeit befleckt
+sind, der seit der Regierung Karls V. und Philipps
+II. zu sehr an den Tribunalen Italiens vorwiegt,
+wurde der Bischof zu lebenslänglicher Gefangenschaft
+in der Engelsburg verurteilt. Die Äbtissin wurde verurteilt,
+ihr ganzes Leben im Kloster von Santa Marta,
+wo sie sich aufhielt, eingekerkert zu werden. Aber schon
+hatte es Signora von Campireali unternommen, um ihre
+Tochter zu retten, einen unterirdischen Gang ausheben
+zu lassen. Dieser Gang begann bei einer der aus der
+Herrlichkeit des alten Rom zurückgebliebenen Kloaken
+und sollte bei dem tiefen Kellergewölbe enden, wo man
+die sterblichen Reste der Nonnen von Santa Marta beisetzte.
+Dieser Gang von zwei Fuß Breite hatte Bretterwände,
+<a id="page-323"></a><span class="pgnum">323</span>um das Erdreich rechts und links zu stützen und
+als Deckenwölbung gab man ihm, im Maße man vorwärts
+kam, zwei wie die Schenkel eines großen A gestellte
+Bretter.</p>
+
+<p>Man grub diesen unterirdischen Weg in einer Tiefe
+von etwa dreißig Fuß. Das schwierigste war, ihn in der
+rechten Richtung weiterzuführen; jeden Augenblick
+waren die Arbeiter durch antike Brunnen und Grundmauern
+gezwungen, eine Wendung zu machen. Eine
+andre große Schwierigkeit bereitete die weggeräumte
+Erde, mit der man nichts Rechtes anzufangen wußte;
+es sah aus, als ob man sie nachts in allen Straßen Roms
+aussäte. Man wunderte sich über diese Menge Erde, die
+sozusagen vom Himmel fiel.</p>
+
+<p>Wie groß die Summen auch waren, welche Signora
+von Campireali ausgab, um ihre Tochter zu retten, wäre
+ihr unterirdischer Gang doch sicher entdeckt worden;
+aber der Papst Gregor XIII. starb 1585, und die Herrschaft
+der Unordnung zog mit der Vakanz des Heiligen
+Stuhls ein.</p>
+
+<p>Helena ging es in Santa Marta sehr schlecht; man
+kann sich denken, wie sehr die einfachen und armen
+Nonnen wetteiferten, eine so reiche, eines solchen Verbrechens
+überführte Äbtissin zu quälen. Helena erwartete
+mit Ungeduld das Ergebnis der von ihrer Mutter unternommenen
+Arbeit. Aber plötzlich erfuhr ihr Herz seltsame
+Bewegung. Schon vor sechs Monaten hatte Fabrizio
+Colonna, der angesichts des schwankenden Gesundheitszustands
+Gregors XIII. große Pläne für die
+Zeit des Interregnums faßte, einen seiner Offiziere zu
+Giulio Branciforte geschickt, der jetzt in der spanischen
+Armee unter dem Namen Oberst Lizzara sehr bekannt
+geworden war. Er rief ihn nach Italien zurück. Giulio
+<a id="page-324"></a><span class="pgnum">324</span>brannte darauf, seine Heimat wiederzusehen. Er landete
+unter einem angenommenen Namen in Pescara, einem
+kleinen Hafen des Adriatischen Meeres, der unterhalb
+Chieti in den Abruzzen lag, und kam über das Gebirge
+nach La Petrella. Die Freude des Fürsten setzte alle Welt
+in Erstaunen. Er teilte Giulio mit, daß er ihn zurückrufen
+ließ, um ihn zu seinem Nachfolger zu machen
+und ihm den Befehl über seine Soldaten zu übergeben.
+Worauf Branciforte antwortete, daß, militärisch gesprochen,
+das Unternehmen nichts mehr wert sei, was
+er leicht beweisen könne; wenn jemals Spanien ernstlich
+wollte, würde es in sechs Monaten mit geringen
+Auslagen sämtliche Briganten Italiens vernichten.</p>
+
+<p>„Aber trotz allem,“ fügte der junge Branciforte hinzu,
+„wenn Ihr es wollt, bin ich bereit zu marschieren, mein
+Fürst. Ihr werdet stets in mir den Nachfolger des
+tapferen, bei Ciampi gefallenen Ranuccio finden.“</p>
+
+<p>Vor Giulios Ankunft hatte der Fürst befohlen, so wie
+er zu befehlen verstand, daß sich niemand in Petrella
+unterfangen solle, von Castro und von dem Prozeß der
+Äbtissin zu sprechen; Todesstrafe ohne Nachsicht war
+auf das geringste Geschwätz gesetzt. Mitten in den
+Freundschaftsergüssen, mit denen er Branciforte empfing,
+bat er ihn, niemals ohne ihn nach Albano zu
+gehen, und seine Art, diese Reise zu machen, bestand
+darin, daß er die Stadt durch tausend seiner Leute besetzen
+ließ, und eine Vorhut von zwölfhundert Mann
+auf der Straße nach Rom aufstellte. Man stelle sich vor,
+was der arme Giulio empfand, als der Fürst den alten
+Scotti, welcher noch lebte, in das Haus, wo er sein Hauptquartier
+aufgeschlagen hatte, holen ließ und ihn in das
+Zimmer rief, wo er sich mit Giulio aufhielt. Als die
+beiden Freunde einander umarmt hatten, rief er Giulio
+<a id="page-325"></a><span class="pgnum">325</span>zu sich: „Jetzt, mein armer Oberst, mußt du dich auf
+das Schlimmste gefaßt machen.“</p>
+
+<p>Darauf blies er das Licht aus und verließ das Zimmer,
+in dem er die beiden Freunde einschloß.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen schickte Giulio, der sein Zimmer
+nicht verlassen wollte, die Bitte zum Fürsten, nach
+La Petrella gehen und sich dafür einige Tage beurlauben
+zu dürfen. Aber man brachte ihm die Meldung, daß der
+Fürst verschwunden sei samt seinen Truppen.</p>
+
+<p>In der Nacht hatte er den Tod Gregors XIII. erfahren;
+er hatte seinen Freund Giulio vergessen und war
+über Land. Bei Giulio waren nur etwa dreißig Mann
+geblieben, die einst zur Kompanie Ranuccios gehörten.
+Es ist bekannt genug, daß in jenen Zeiten während der
+Vakanz des Heiligen Stuhls die Gesetze schwiegen; jeder
+dachte nur daran, seine Leidenschaften zu befriedigen
+und es galt nur die Kraft; darum hatte, noch vor dem
+Ende des Tags, Fürst Colonna schon mehr als fünfzig
+seiner Feinde aufhängen lassen. Giulio aber, obgleich
+er nicht vierzig Mann bei sich hatte, wagte es, nach Rom
+zu marschieren.</p>
+
+<p>Die ganze Dienerschaft der Äbtissin von Castro war
+ihr treu geblieben; sie hatten sich in den ärmlichen
+Häusern um das Kloster Santa Marta herum eingemietet.
+Der Todeskampf Gregors XIII. hatte länger als eine
+Woche gedauert; Signora von Campireali erwartete ungeduldig
+die Tage der Verwirrung, die seinem Tod folgen
+würden, um die letzten fünfzig Schritt ihres unterirdischen
+Ganges in Angriff zu nehmen. Da man die
+Keller von mehreren bewohnten Häusern durchqueren
+mußte, fürchtete sie sehr, das Ziel ihrer Unternehmung
+nicht länger verbergen zu können.</p>
+
+<p>Schon am übernächsten Tag nach der Ankunft Brancifortes
+<a id="page-326"></a><span class="pgnum">326</span>in La Petrella, schienen die drei ehemaligen
+Bravi Giulios, welche Helena in ihre Dienste genommen
+hatte, närrisch geworden zu sein. Obgleich jedermann
+nur zu gut wußte, daß sie in strenger Geheimhaft gehalten
+und von Nonnen bewacht wurde, die sie haßten,
+kam doch Ugone, einer der Bravi, zum Klostertor und
+bat inständigst unter den seltsamsten Vorwänden, daß
+man ihm erlauben möge, seine Herrin zu sehen, und
+zwar auf der Stelle. Er wurde abgewiesen und zur Tür
+hinausgeworfen. In seiner Verzweiflung blieb der Mann
+aber hier stehn und fing an, jedem der Bediensteten des
+Hauses, mochte er ein- oder ausgehn, einen Bajocco
+zu geben, wobei er stets diese gleichen Worte sagte:
+„Freut Euch mit mir, Signor Giulio Branciforte ist
+angekommen, er lebt: sagt dies Euren Freunden.“</p>
+
+<p>Die beiden Kameraden Ugones verbrachten den Tag
+damit, ihm Bajocchi zuzutragen, und sie fuhren Tag und
+Nacht darin fort, sie mit den immer gleichen Worten
+zu verteilen, bis ihnen nichts mehr blieb. Aber die drei
+Bravi fuhren, einander ablösend, trotzdem fort, die
+Wache an der Tür des Klosters Santa Marta zu beziehen
+und richteten mit tiefen Verbeugungen an alle Aus- und
+Eintretenden immer die gleichen Worte: „Signor Giulio
+ist angekommen…“</p>
+
+<p>Der Einfall dieser braven Leute hatte Erfolg: keine
+sechsunddreißig Stunden nach der Verteilung des ersten
+Bajocco wußte die arme Helena trotz ihrer Einzelhaft
+in der Tiefe ihres Kerkers, daß Giulio lebte; dieses Wort
+versetzte sie in Raserei:</p>
+
+<p>„O meine Mutter,“ rief sie aus, „habt Ihr mir genug
+Leid zugefügt?“</p>
+
+<p>Einige Stunden später wurde ihr diese erstaunliche
+Neuigkeit durch die kleine Marietta bestätigt, die all
+<a id="page-327"></a><span class="pgnum">327</span>ihren Goldschmuck für die Erlaubnis geopfert hatte,
+der Schwester Pförtnerin, die der Gefangenen die Mahlzeiten
+brachte, zu folgen. Helena warf sich in ihre Arme
+und weinte vor Freude.</p>
+
+<p>„Das ist sehr schön,“ sagte sie ihr, „aber ich werde
+kaum mehr bei dir bleiben.“</p>
+
+<p>„Gewiß!“ sagte Marietta, „ich denke wohl, daß die
+Zeit des Konklaves nicht verstreichen wird, ohne daß
+sich Euer Gefängnis in eine einfache Verbannung verwandelt.“</p>
+
+<p>„Ach, meine Teure, Giulio wiedersehen! Und ihn
+wiedersehen, und ich schuldig!“</p>
+
+<p>In der Mitte der dritten Nacht, die dieser Unterredung
+folgte, stürzte ein Teil des Fußbodens der Kirche mit
+großem Getöse ein; die Nonnen von Santa Marta glaubten,
+daß das Kloster versinke. Äußerste Verwirrung
+herrschte, alle Welt glaubte an ein Erdbeben. Ungefähr
+eine Stunde nach dem Einsturz des Marmorfußbodens
+der Kirche drang Signora von Campireali, ihr voran
+die drei Bravi aus Helenas Diensten, durch den unterirdischen
+Gang in den Kerker.</p>
+
+<p>„Sieg, Sieg, Herrin!“ riefen die Bravi. Helena befiel
+Todesangst, sie glaubte, daß Giulio Branciforte
+mit ihnen käme. Sie beruhigte sich und ihre Züge
+nahmen den gewohnten strengen Ausdruck an, als sie
+ihr sagten, daß sie nur Signora von Campireali begleiteten
+und daß Giulio noch in Albano sei, welches
+er mit wenigen tausend Mann besetzt hielte.</p>
+
+<p>Nach einigen Minuten Wartens erschien Signora von
+Campireali; sie ging mit großer Mühe und hatte den
+Arm ihres Haushofmeisters genommen, der in großem
+Staat war, mit dem Degen an der Seite; aber sein prächtiges
+Gewand war ganz mit Erde beschmutzt.
+</p>
+
+<p><a id="page-328"></a><span class="pgnum">328</span>„O meine teure Helena! Ich komme, um dich zu
+retten!“ rief Signora von Campireali.</p>
+
+<p>„Und wer sagt Euch, daß ich gerettet sein will?“</p>
+
+<p>Signora von Campireali war verblüfft; sie sah ihre
+Tochter mit großen Augen an, sie schien sehr aufgeregt.</p>
+
+<p>„Nun wohl, meine teure Helena,“ sagte sie endlich,
+„das Schicksal zwingt mich, dir eine Handlung einzugestehen,
+die nach dem Unglück, das ehemals unsrer
+Familie zustieß, vielleicht ganz natürlich war, die ich
+aber bereue und dich zu verzeihen bitte: Giulio Branciforte…
+lebt.“</p>
+
+<p>„Und weil er lebt, will ich nicht leben!“</p>
+
+<p>Signora von Campireali verstand erst gar nicht, was
+ihre Tochter meinte, dann richtete sie die flehentlichsten,
+zärtlichsten Bitten an sie; aber sie erhielt keine Antwort:
+Helena hatte sich zu ihrem Kruzifix gewendet und
+betete, ohne sie zu hören. Es war vergeblich, daß Signora
+von Campireali eine Stunde lang die äußersten Anstrengungen
+machte, um ein Wort oder einen Blick zu erlangen.
+Endlich sagte ihre Tochter ungeduldig:</p>
+
+<p><a class="sic" id="sicA-32" href="#sic-32">Unter</a> dem Marmor dieses Kruzifixes waren seine
+Briefe in meinem kleinen Zimmer in Albano verborgen;
+es wäre besser gewesen, mich von meinem Vater töten
+zu lassen! Geht… und laßt mir Gold zurück.“</p>
+
+<p>Als Signora von Campireali trotz der besorgten Zeichen
+ihres Haushofmeisters noch länger mit ihrer Tochter
+reden wollte, wurde Helena ärgerlich:</p>
+
+<p>„Laßt mir wenigstens eine Stunde Freiheit. Ihr habt
+mein Leben vergiftet, wollt Ihr nun auch meinen Tod
+vergiften?“</p>
+
+<p>„Wir werden über den unterirdischen Gang noch zwei
+oder drei Stunden verfügen können; ich wage zu hoffen,
+daß du dich noch eines Besseren besinnen wirst,“ rief
+<a id="page-329"></a><span class="pgnum">329</span>Signora von Campireali, in Tränen ausbrechend. Und
+sie nahm den Weg unter die Erde zurück.</p>
+
+<p>„Ugone, bleibe bei mir“, sagte Helena zu einem ihrer
+Bravi, „und sei wohl bewaffnet, mein Bursche, denn vielleicht
+gilt es, mich zu verteidigen. Laß mich deinen
+Dolch, dein Schwert, dein Messer sehen!“</p>
+
+<p>Der alte Soldat zeigte ihr seine beruhigend guten
+Waffen.</p>
+
+<p>„Nun wohl, halte dich dort vor meinem Gefängnis auf,
+ich werde Giulio einen langen Brief schreiben, den du
+selbst ihm zustellen wirst; ich will nicht, daß er durch
+andre Hände als deine geht, da ich nichts habe, um
+ihn zu schließen. Du kannst alles lesen, was dieser Brief
+enthält. Nimm das ganze Gold, das meine Mutter hiergelassen
+hat, in deine Taschen; ich brauche nur noch
+fünfzig Zechinen für mich, lege sie auf mein Bett.“</p>
+
+<p>Nach diesen Worten begann Helena zu schreiben:</p>
+
+<p>„Ich zweifle nicht an Dir, mein teurer Giulio; ich
+gehe von hinnen, weil ich in Deinen Armen vor Schmerz
+sterben müßte; ich würde sehen, wie groß mein Glück
+gewesen wäre, wenn ich nicht einen Fehltritt begangen
+hätte. Glaub nicht, daß ich jemals nach Dir ein andres
+Wesen auf der Welt geliebt habe; weit entfernt davon,
+war mein Herz immer von der lebhaftesten Verachtung
+für den Mann erfüllt, den ich bei mir einließ. Mein Fehltritt
+geschah einzig aus Langweile und — wenn man
+will — aus Leichtfertigkeit. Bedenke, daß mein Geist,
+der durch den vergeblichen Versuch zu La Petrella so
+geschwächt war, wo der Fürst, den ich verehrte, weil
+Du ihn liebtest, mich so grausam empfing — bedenke,
+sage ich, daß mein so geschwächter Geist zwölf Jahre
+lang von Lügen umlagert war. Alles, was mich umgab,
+war falsch und verlogen, und ich wußte es. Ich erhielt
+<a id="page-330"></a><span class="pgnum">330</span>anfangs etwa dreißig Briefe von Dir, urteile selbst, mit
+welchem Entzücken ich die ersten öffnete! Aber indem
+ich sie las, wurde mein Herz zu Eis. Ich prüfte diese
+Schrift, ich erkannte die Züge Deiner Hand wieder, aber
+nicht Dein Herz. Glaub mir, daß diese erste Lüge mein
+innerstes Leben so zerstört hat, daß ich soweit kam, einen
+Brief mit Deiner Handschrift ohne Freude zu öffnen!
+Die verabscheuungswürdige Ankündigung Deines Todes
+vernichtete vollends alles in mir, was noch aus den
+glücklichen Zeiten unsrer Jugend übriggeblieben war.
+Meine erste Absicht war, wie Du wohl verstehen wirst,
+die Küste Mexikos aufzusuchen und die Stelle mit meinen
+Händen zu berühren, wo die Wilden Dich, wie man mir
+sagte, getötet hatten. Wenn ich diesen Gedanken ausgeführt
+hätte… würden wir jetzt glücklich sein, denn
+wie groß auch die Zahl und die Geschicklichkeit der von
+einer wachsamen Hand um mich gesäten Spione gewesen
+wäre, hätte ich doch in Madrid alle Seelen, in denen
+noch Mitleid und Güte lebte, mir günstig gestimmt, und
+wahrscheinlich hätte ich die Wahrheit erfahren; denn
+schon, mein Giulio, hatten Deine Heldentaten die Aufmerksamkeit
+der Welt auf Dich gelenkt und vielleicht
+wußte irgendwer in Madrid, daß Du Branciforte seist.
+Willst Du, daß ich Dir sage, was unser Glück verhinderte?
+Zuerst die Erinnerung an den grausamen und
+kränkenden Empfang, den mir der Fürst in La Petrella
+bereitet hatte: welche mächtigen Hindernisse gab es von
+Castro bis Mexiko zu überwinden! Du siehst, meine Seele
+hatte schon ihre Kraft verloren. Dann kam mir eine
+Eingebung der Eitelkeit. Ich hatte große Bauten im
+Kloster durchführen lassen, um die Loge der Pförtnerin,
+worin Du in der Kampfnacht Zuflucht fandest, als Zimmer
+zu nehmen. Eines Tages betrachtete ich den
+<a id="page-331"></a><span class="pgnum">331</span>Boden, den Du ehemals für mich mit Deinem Blut getränkt
+hattest; da hörte ich ein verächtliches Wort; ich
+erhob die Augen und sah gehässige Gesichter; um mich
+zu rächen, wollte ich Äbtissin werden. Meine Mutter,
+die sehr wohl wußte, daß Du am Leben warst, leistete
+das Äußerste, um diese ungeheuerliche Ernennung zu
+erreichen. Diese Stellung war für mich nur eine Quelle
+von Langweile; durch sie wurde meine Seele vollends
+erniedrigt. Ich fand Vergnügen daran, meine Macht oft
+nur im Unglück der andren zu genießen; ich beging Ungerechtigkeiten.
+Ich sah mich mit dreißig Jahren in den
+Augen der Welt tugendhaft, reich, angesehen und trotzdem
+vollkommen unglücklich. Da zeigte sich dieser
+arme Mensch, der ja die Güte selbst war, aber die Unbedeutendheit
+in Person. Seine Unbedeutendheit machte,
+daß ich seine ersten Anträge ertrug. Meine Seele war
+so unglücklich durch alles, was mich seit Deiner Abreise
+umgab, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, der kleinsten
+Versuchung zu widerstehen. Soll ich Dir etwas sehr Indezentes
+gestehen? Aber einer Toten ist alles erlaubt.
+Wenn Du diese Zeilen lesen wirst, werden die Würmer
+diese angeblichen Schönheiten verzehren, die nur Dir
+gehören durften. Endlich muß ich Dir das sagen, was
+mir schwer wird; ich sah nicht ein, warum ich nicht,
+wie alle unsre römischen Damen, die Liebe der Sinne
+versuchen sollte; ich hatte eine Anwandlung von Leichtfertigkeit;
+aber ich konnte mich nie jenem Menschen
+hingeben, ohne ein Gefühl des Abscheus und des Ekels
+zu empfinden, das jedes Vergnügen zerstörte. Ich sah
+immer Dich an meiner Seite, in unserm Garten in Albano,
+als die Madonna Dir den edlen Gedanken eingab, der aber
+dann durch meine Mutter zum Unglück unsres Lebens
+geworden ist. Du warst nicht drohend, sondern zärtlich
+<a id="page-332"></a><span class="pgnum">332</span>und gut, wie Du immer warst; Du sahst mich an und
+dann empfand ich Wut gegen diesen andren Mann und
+ich ging soweit, ihn aus aller Kraft zu schlagen. Das
+ist die ganze Wahrheit, mein teurer Giulio, ich wollte
+nicht sterben, ohne sie Dir zu sagen — und ich dachte
+auch, daß diese Zwiesprache mit Dir vielleicht den Gedanken
+an den Tod von mir nehmen könnte. Ich ersehe
+aber nur klarer daraus, wie meine Freude gewesen wäre,
+wenn ich Deiner wert geblieben wäre. Ich befehle Dir zu
+leben und die militärische Karriere fortzusetzen, die mir
+solche Freude bereitet hat, als ich von Deinen Erfolgen
+hörte. Was wäre gewesen, großer Gott! wenn ich Deine
+Briefe erhalten hätte, besonders nach der Schlacht von
+Achenne! Lebe und rufe Dir oft Ranuccio ins Gedächtnis
+zurück, der bei Ciampi fiel, und Helena, die in Santa
+Marta starb, weil sie in Deinen Augen keinen Vorwurf
+lesen wollte.“</p>
+
+<p>Nachdem sie den Brief beendet hatte, näherte sich
+Helena dem alten Soldaten, den sie schlafend fand; sie
+nahm seinen Dolch, ohne daß er es merkte, dann weckte
+sie ihn.</p>
+
+<p>„Ich bin zu Ende,“ sagte sie ihm, „ich fürchte, daß
+sich unsre Feinde des unterirdischen Zugangs bemächtigen.
+Nimm schnell meinen Brief, der auf dem Tisch
+liegt und bring ihn Giulio, du selbst bringst ihn,
+verstehst du? Und gib ihm noch mein Taschentuch,
+dieses hier; sag ihm, daß ich ihn auch in diesem Augenblick
+nicht mehr liebe, als ich ihn immer geliebt habe,
+immer, hörst du wohl!“</p>
+
+<p>Ugone blieb stehen und ging nicht fort.</p>
+
+<p>„Geh doch!“</p>
+
+<p>„Signora, habt Ihr es wohl überlegt? Signor Giulio
+liebt Euch so sehr!“
+</p>
+
+<p><a id="page-333"></a><span class="pgnum">333</span>„Ich auch, ich liebe ihn, nimm den Brief und übergib
+ihn selbst.“</p>
+
+<p>„Nun wohl, möge Gott Eure Güte segnen!“</p>
+
+<p>Ugone ging und kehrte schnell zurück. Er fand Helena
+tot: sie hatte den Dolch im Herzen.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-335"></a><span class="pgnum">335</span>SCHWESTER SCOLASTICA</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-336"></a><span class="pgnum">336</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p>
+
+
+<p><a id="page-337"></a><span class="pgnum">337</span>In Neapel hörte ich im Jahr 1824 in der Gesellschaft
+von der Geschichte der Schwester Scolastica und dem
+Kanonikus Cibo sprechen. Neugierig, wie ich bin, kann
+man sich denken, wie ich herumfragte. Aber kein Mensch
+wollte mir klar und deutlich Auskunft geben; man
+fürchtete, sich zu kompromittieren. In Neapel spricht
+man nämlich von politischen Dingen niemals klar und
+deutlich; und dies ist der Grund davon: Eine neapolitanische
+Familie, die zum Beispiel aus drei Söhnen,
+einer Tochter, Vater und Mutter besteht, zerfällt in drei
+verschiedene Parteien — Verschwörungen, wie man das
+in Neapel nennt. So gehört die Tochter zur Partei ihres
+Liebhabers; jeder der Söhne gehört einer bestimmten
+Partei, und die Eltern sprechen mit einem Seufzer vom
+Hofe, der regierte, als sie zwanzig Jahre alt waren. Aus dieser
+Isolierung der Individuen ergibt sich, daß man
+niemals ernstlich und offen von Politik spricht. Bei der
+geringsten etwas präziseren Aufstellung, die um etwas
+den Gemeinplatz verläßt, erblassen ein paar Gesichter.</p>
+
+<p>Da mein Ausfragen nach der Geschichte mit dem
+barocken Namen in der Gesellschaft keinerlei Ergebnis
+hatte, glaubte ich, es handle sich in der Geschichte dieser
+Schwester Scolastica um eines jener grauenvollen Ereignisse
+kürzester Vergangenheit, aus dem Jahre 1820
+zum Beispiel.
+</p>
+
+<p><a id="page-338"></a><span class="pgnum">338</span>Eine vierzigjährige Witwe, eine gute, aber nichts
+weniger als schöne Frau vermietete mir die Hälfte ihres
+kleinen Hauses in einer Gasse hundert Schritte weit vom
+reizenden Park von Chiaja, am Fuß des Hügels, den
+hier die Villa der Prinzessin Florida krönt, der Freundin
+des alten Königs. Es ist das vielleicht das einzige ruhige
+Viertel von Neapel. Meine Witwe hatte einen alten Galan,
+dem ich eine Woche durch den Hof machte. Als
+wir eines Tages miteinander durch die Stadt schlenderten,
+zeigte er mir die Stellen, wo sich die Lazzaroni gegen
+die Truppen des Generals Championnet geschlagen und
+den Hinterhof, wo sie den Herzog von *** lebendig verbrannt
+hatten; da fragte ich ihn im Überfall, doch ganz
+ruhig, weshalb man ein solches Geheimnis mit der Geschichte
+der Suor Scolastica mache.</p>
+
+<p>Er gab mir ganz ruhig die Antwort: „Die fürstlichen
+Namenstitel, die jene trugen, sind auf deren heute
+lebende Nachfahren gekommen, und die würde es vielleicht
+peinlich berühren, ihre Namen mit einer Geschichte
+vermengt zu sehen, die so tragisch und für alle
+Welt so traurig war.“</p>
+
+<p>„Ist die Sache denn nicht im Jahre 1820 passiert?“</p>
+
+<p>„Wer hat Ihnen das gesagt?“ sagte mein Neapolitaner
+und lachte laut auf über meine Jahreszahl. „Wer hat
+Ihnen denn was von 1820 gesagt?“ wiederholte er mit
+dieser wenig höflichen italienischen Lebhaftigkeit, die
+dem Pariser so auf die Nerven fällt.</p>
+
+<p>„Wenn Ihnen an Ihrem Menschenverstand liegt, so
+sagen Sie 1745, also das Jahr nach der Schlacht von
+Velletri, die unserem großen Don Carlos den Besitz von
+Neapel einbrachte. Hierzulande nannte man ihn Carl VII.,
+und später dann, in Spanien, wo er so Außerordentliches
+vollbrachte, hieß man ihn Carl III. Er hat in
+<a id="page-339"></a><span class="pgnum">339</span>unsere königliche Familie die große Nase der Farnese
+gebracht.</p>
+
+<p>Man nennt heute den Erzbischof nicht gern bei seinem
+richtigen Namen, vor dem ganz Neapel zitterte, als ihm
+höchst unangenehm der Name Velletri in die Ohren
+tönte. Die Deutschen lagerten auf den Hügeln um Velletri
+und versuchten unsern großen Carlos im Palazzo
+Grineti, den er bewohnte, auszuheben.</p>
+
+<p>Es war ein Mönch, der die Anekdote aufgeschrieben
+haben soll, von der Sie redeten. Die junge Nonne, die er
+mit dem Namen Suora Scolastica bezeichnet, war aus
+der Familie des Herzogs von Bissignano. Der gleiche
+Chronist gibt in seiner Geschichte Proben eines leidenschaftlichen
+Hasses gegen den Erzbischof von damals,
+der, ein mächtiger Politiker in dieser ganzen Affäre, den
+Kanonikus Cibo als den Handelnden vorschob. Vielleicht
+war der schreibende Mönch ein Günstling des
+jungen Don Genarino, Marquis de las Flores, von dem
+man annimmt, daß er dem Carlos das Herz der schönen
+Rosalinda streitig gemacht hat, dem sehr galanten König
+sowohl wie auch dem alten Herzog Vargas del Prado,
+der für den reichsten Mann seiner Zeit galt. Es gibt
+sicher in der Geschichte dieser Katastrophe Sachen,
+welche Personen, die 1760 noch mächtig waren, schwer
+hätten beleidigen können, denn der Mönch, der um das
+Jahr schrieb, hütet sich, deutlich zu sein; seine Wortkunst
+ist beträchtlich; er redet immer in allgemeinen
+Maximen, sicher von perfekter Moral, aber Bestimmtes
+ist nicht daraus zu entnehmen. Nur zu oft muß man das
+Manuskript zuschlagen, um über das nachzudenken,
+was der gute Pater etwa hat sagen wollen. So wird er
+zum Beispiel beim Tode des Don Genarino fast unverständlich.
+Ich kann Ihnen vielleicht in einigen Tagen
+<a id="page-340"></a><span class="pgnum">340</span>die Handschrift leihen, die so ennervierend ist, daß ich
+Ihnen nicht rate, sie zu kaufen. Vor zwei Jahren verkaufte
+man sie übrigens auf dem Bureau des Notars B.
+für nicht weniger als vier Dukaten.“</p>
+
+<p>Acht Tage später war ich im Besitz dieser Handschrift,
+deren Verfasser jeden Augenblick seine Geschichte,
+statt sie zu Ende zu erzählen, in andern Worten
+immer wieder von vorne anfängt; erst glaubt der verzweifelte
+Leser, daß es sich um ein neues Faktum handelt,
+und schließlich wird die Konfusion so groß, daß
+man gar nicht mehr weiß, wovon die Rede ist.</p>
+
+<p>Man muß nämlich wissen, daß im Jahre 1742 ein
+Neapolitaner, ein Mailänder, die vielleicht in ihrem
+ganzen Leben nicht hundert Worte hintereinander in toskanischer
+Sprache gesprochen haben, sich des Toskanischen
+für den Druck bedienen, weil sie das für schön
+halten. Der vortreffliche General Colleta, der größte
+italienische Historiker, hatte auch ein bißchen diese
+Manie, die seinen Leser oft unsicher über das vom Verfasser
+Gemeinte macht. Das kaum verständliche Manuskript,
+das sich Suora Scolastica betitelte, zählte nicht
+weniger als 310 Seiten. Ich erinnere mich, gewisse Seiten
+daraus ins reine geschrieben zu haben, um des Sinnes
+sicher zu sein, den ich dem Gelesenen gab.</p>
+
+<p>Sowie ich einmal die Geschichte genau kannte, hütete
+ich mich, direkte Fragen zu stellen. Sooft mir aus vielem
+Geschreibsel des Mönches irgendein sicheres Faktum
+deutlich war, erbat ich mir mit der unschuldigsten Miene
+einige Aufklärungen. Und nach einiger Zeit gab mir eine
+Person, die zwei Monate früher mir jede Antwort auf
+meine Fragen glatt verweigert hatte, ein kleines handgeschriebenes
+Heftchen von 60 Seiten, das auf die Geschichte
+selber nicht weiter eingeht, aber über gewisse
+<a id="page-341"></a><span class="pgnum">341</span>Fakten pittoreske Details gibt. Zum Beispiel über die
+rasende Eifersucht.</p>
+
+<p>Aus den Worten ihres Almoseniers, den der Erzbischof
+dazu gewonnen hatte, erfuhr eines Tages die
+Prinzessin Donna Ferdinanda de Bissignano, daß der
+junge Don Genarino nicht in sie, sondern in ihre Stieftochter
+Rosalinde verliebt sei. Sie rächte sich an ihrer
+Rivalin, die sie vom König Carlos geliebt glaubte, indem
+sie Don Genarino de las Flores in eine heftige Eifersucht
+hetzte. Dieses folgende nun ist die Geschichte,
+welche ganz Neapel im Jahre 1740 so heftig bewegt
+hat.</p>
+
+<p>Im Jahre 1740 regierte in Neapel Don Carlos. Er
+war der Sohn der Fürstin Elisabet von Parma, einer
+Farnese, die ihm, trotzdem er der Jüngere war, gern eine
+Krone verschafft hätte, weshalb sie ihm zu günstiger
+Stunde nach Italien mit einer Armee dirigierte. Er gewann
+die Schlacht bei Velletri, trotzdem der Kampftag
+für ihn damit begonnen hatte, daß ihn eine Kompagnie
+Österreicher des Morgens in seinem Zimmer überraschte.
+Der Herzog Vargas del Prado, einer der spanischen
+Granden, welche die Elisabet Farnese ihrem Sohn als
+Stab gegeben hatte, rettete ihm das Leben oder doch die
+Freiheit, indem er ihm einen Fußtritt versetzte, der ihn
+ans Fenster seines nicht niedrig gelegenen Schlafzimmers
+beförderte, durch das er entkam.</p>
+
+<p>Don Carlos mit der ungeheuern Nase war nicht ohne
+Geist. Als Karl III. von Neapel hielt er einen glänzenden
+Hof. Er brachte sich seine Untertanen mit festlichem
+Zirzenses nah und führte gleichzeitig strenges Regiment
+in allen Zweigen der Verwaltung. Die spanischen Vizekönige,
+deren Klugheit durch Masaniellos Revolte berühmt
+geblieben ist, hatte man davongejagt; die harten
+<a id="page-342"></a><span class="pgnum">342</span>und geldgierigen österreichischen Generäle hatte man
+davongejagt; in der Folge so vieler Wechsel und Konfiskationen
+sah sich der neue König Herr fast über alles
+Hab und Gut. Die meisten Edelleute hatten die Konfiskation
+einiger ihrer Güter erlebt oder wurden mit
+konfisziertem Grundbesitz jener Unzufriedenen beschenkt,
+die von erkauften Subjekten Verräter genannt
+wurden. Diese Unsicherheit aller Vermögen verband sich
+mit der Notwendigkeit großer Ausgaben um der Gunst
+des Königs willen, und das verpflichtete die großen
+Herren, hinsichtlich ihrer Geschäfte die Augen recht
+offen zu halten.</p>
+
+<p>Der Adel drängte sich an den Hof, und der Handelsstand
+gratulierte sich dazu, die unglaublichen Plackereien
+der Vizekönige und die Habsucht der österreichischen
+Generäle los zu sein; das gemeine Volk aber war höchlichst
+erstaunt, eine Regierung zu haben, von der es nicht
+immerzu geschunden wurde und gewöhnte sich daran,
+Steuern zu zahlen, von denen ein Teil als Premie an Adel
+und Geistlichkeit verteilt wurde.</p>
+
+<p>Also regierte Don Carlos seit fünf Jahren; Ruhe und
+Wohlstand kehrten wieder; glückliche Zufälle halfen
+dabei. Der Winter von 1740 auf 1741 sah Festlichkeiten,
+wie schon lange keiner mehr. Acht oder zehn
+Damen von seltener Schönheit teilten sich in alles Lob
+und Preis, aber der junge König, der ein feiner Kenner
+war, erklärte für die schönste Dame seines Hofes Rosalinda,
+die Tochter des Principe d'Atella. Dieser Principe
+d'Atella, früher österreichischer General, war ein
+ebenso trübseliger wie kluger Mann, der gegen seinen
+Willen Donna Ferdinanda, seinem zweiten Weibe, darin
+nachgab, daß sie sich zu Hofe von seiner Tochter, der
+schönen Rosalinda, begleiten ließ, die der König für die
+<a id="page-343"></a><span class="pgnum">343</span>allerschönste erklärte und die noch nicht sechzehn Jahre
+zählte.</p>
+
+<p>Der Principe d'Atella hatte drei Söhne aus erster Ehe,
+deren standesgemäße Versorgung ihm Schwierigkeiten
+machte. Die Titel dieser Söhne, die alle Herzöge oder
+Prinzen waren, fand er in keinem Verhältnisse zu dem
+mäßigen Vermögen stehend, das er ihnen hinterlassen
+konnte.</p>
+
+<p>D'Atella liebte seine sehr lustige und sehr unvorsichtige
+Frau, die, wenn auch um dreißig Jahre jünger als
+er, doch nicht mehr jung war, und es während der köstlichen
+Feste dieses Winters nur der Anwesenheit ihrer
+Tochter Rosalinda verdankte, immer von einem hofmachenden
+Schwarm der glänzendsten Jugend Neapels
+umgeben zu sein. Ihre besondere Aufmerksamkeit
+schenkte sie dem jungen Genarino de las Flores, dessen
+etwas hochfahrenden spanischen Manieren dem hübschen
+und lustigen Gesichte mit dem blonden Bärtchen und
+den blauen Augen, einer Seltenheit in Neapel, sehr gut
+standen; besonders von diesen blauen Augen waren die
+Damen des Hofes ganz entzückt. So sehr entzückt, daß
+Genarino schon zwei Wunden aus Duellen mit Bräutigamen
+oder Brüdern trug, in deren Familie er Unordnung
+gebracht hatte.</p>
+
+<p>Der junge Marquis war geschickt genug, die Principessa
+d'Atella zu überzeugen, daß ihr seine Huldigung
+gelte, aber tatsächlich war er in die junge Rosalinda verliebt
+und, was mehr ist, eifersüchtig auf sie. Eben jener
+Herzog, der in der Nacht vor der Bataille von Velletri
+dem Don Carlos so von Nutzen gewesen war und sich
+nun der höchsten Gunst des jungen Königs erfreute,
+war aufs tiefste berührt von der naiven Grazie der jungen
+Rosalinda und ganz besonders von ihrem einfachen
+<a id="page-344"></a><span class="pgnum">344</span>Wesen und ihrer aus den Augen strahlenden Aufrichtigkeit;
+er machte ihr auf eine majestätische Weise den
+Hof, wie sich dies für einen dreifachen spanischen
+Granden gehört. Aber er schnupfte und trug eine
+Perücke; und gerade Schnupftabak und Perücke sind
+für eine junge Neapolitanerin die zwei Dinge, die sie
+nicht ausstehen kann. Und trotz der nur bescheidenen
+Mitgift von vielleicht zwanzigtausend Francs und keiner
+andern Aussicht als das vornehme Kloster San Petito
+ganz oben in der Toledanerstraße, dem Modegrab der
+jungen Mädchen aus dem Hochadel, konnte sich Rosalinda
+nicht entschließen, die leidenschaftlichen Augen
+des Herzogs von Prada zu verstehen; wohl aber begriff
+sie sehr gut, was ihr Don Genarino mit seinen Blicken
+sagte, wenn ihn die Principessa d'Atella gerade nicht
+beobachtete. Der Herzog von Prada war sich nicht ganz
+sicher, ob die junge Rosalinda nicht manchmal auch
+Antwort auf Genarinos fragende Augen gab.</p>
+
+<p>Die Liebe der beiden hatte wirklich, vernünftig betrachtet,
+gar keinen Sinn. Gewiß gehörte die Familie
+der Las Flores zum Hochadel, aber der alte Herzog dieses
+Namens, Genarinos Vater, besaß drei Söhne und hatte
+nach Brauch des Landes deren Angelegenheiten so arrangiert,
+daß der älteste etwa fünfzehnhundert Dukaten
+Rente bekam, während die beiden jüngeren sich mit
+zwanzig Dukaten im Monat zufrieden geben mußten
+samt Logis im Stadtpalais und in der Villa, zufrieden
+geben mußten, aber nicht damit zufrieden waren.</p>
+
+<p>Don Genarino und Rosalinda verwandten all ihre Geschicklichkeit
+darauf, was sie für einander empfanden,
+vor der Principessa d'Atella zu verbergen, deren kokettischer
+Anspruch auf Begehrtwerden dem jungen Marquis
+niemals die falschen Gedanken verziehen hätte, die
+<a id="page-345"></a><span class="pgnum">345</span>sie sich hinsichtlich seiner Liebe zu ihr machte. Aber
+ihr Gatte, der alte General, hatte bessere Augen als sie.
+Beim letzten Ball, den in diesem Winter König Carlos
+selber gab, war es ihm ganz klar geworden, daß der bereits
+durch mehr als ein Abenteuer berühmte Don Genarino
+es unternommen hatte, entweder seiner Frau oder
+seiner Tochter zu gefallen; und das eine paßte ihm so
+wenig wie das andere. Nächsten Morgen hieß er nach
+dem Frühstück seine Tochter, mit ihm auszufahren,
+und er brachte sie, ohne weiter auch nur ein Wort zu
+sprechen, nach dem Kloster von San Petito; es ist das
+jenes damals sehr modische Kloster, dessen köstliche
+Fassade man ganz oben zur linken in der Calle di Toledo
+sieht neben dem magnifiken Palazzo dei Studi.</p>
+
+<p>Die langhin sich streckenden Mauern, die man bei
+einem Spaziergang auf der Wiese von Vomero immer
+im Rücken hat, sollen das profane Auge abhalten, in
+die Gärten von San Petito zu blicken.</p>
+
+<p>Der alte Fürst tat erst den Mund auf, als er seiner
+Schwester seine Tochter vorstellte. Wie eine Mitteilung,
+die er ihr aus Höflichkeit mache und für die sie ihm
+dankbar sein müsse, sagte er zu Rosalinda, daß sie das
+Kloster nur ein einziges Mal noch verlassen würde, nämlich
+am Vorabend des Tages ihrer Profeß.</p>
+
+<p>Rosalinda war über alles das nicht weiter erstaunt;
+sie wußte ganz gut, daß sie höchstens durch ein Wunder
+eine Verheiratung erwarten konnte, und den Herzog
+Vargas del Prado zu heiraten, davor graute ihr in diesem
+Augenblick. Außerdem hatte sie einige Jahre als Pensionärin
+in dem Kloster geweilt, in das man sie jetzt
+zurückbrachte, und alle ihre Erinnerungen an ihren
+frühern Klosteraufenthalt waren lustig und amüsant; so
+war sie am ersten Tage nicht arg betroffen von ihrem
+<a id="page-346"></a><span class="pgnum">346</span>Lose; aber schon am nächsten Tage war ihr deutlich,
+daß sie den jungen Don Genarino niemals wiedersehen
+würde, und das traf sie, trotz ihres Alters Kindlichkeit,
+tief. Verspielt und betäubt die ersten Tage, wurde sie
+bald die am wenigsten resignierte und traurigste unter
+den Mädchen des Klosters. Wohl zwanzig Male dachte
+sie im Tage an Genarino, den sie nicht mehr sehen sollte,
+während doch früher und zu Hause an diesen liebenswürdigen
+jungen Mann zu denken ihr höchstens zweimal
+im Tage eingefallen war.</p>
+
+<p>Drei Wochen nach ihrem Eintritt im Kloster geschah
+es ihr, daß sie beim Abendgebet die marianische Litanei
+ohne jeden Fehler hersagte und ihr dafür die Novizenmutter
+für den andern Tag erlaubte, zum erstenmal, auf
+das Belvedere hinaufzusteigen; so nennt man die weitläufige
+Galerie, von den Nonnen mannigfaltig mit Bildern
+und Arabesken geschmückt, die ganz oben an der
+Außenmauer des Klosters gegen die Toledanerstraße zu
+offen liegt.</p>
+
+<p>Rosalinda war entzückt über die doppelte Wagenreihe,
+die um diese Zeit des Korso die Straße füllt; sie erkannte
+die meisten Wagen und die Damen darin. Das amüsierte
+sie und bedrückte sie zugleich.</p>
+
+<p>Aber Verwirrung kam in ihr Herz, als sie unter einem
+Torweg einen jungen Mann erkannte, der zärtlich zu ihr
+hinauf einen Strauß wundervoller Blumen bewegte; es
+war Don Genarino, der seit Rosalindas Entführung ins
+Kloster jeden Tag hierher kam in der Hoffnung, sie
+auf dem Belvedere zu sehen; und da er um ihre Blumenliebe
+wußte, hatte er jedesmal, um ihre Aufmerksamkeit
+auf sich zu lenken, einen Strauß seltenster Blumen mitgebracht.
+Als Genarino sich erkannt sah, gab er ein
+sichtbares Zeichen seiner Freude, und bald <a class="sic" id="sicA-33" href="#sic-33">folgtem</a>
+<a id="page-347"></a><span class="pgnum">347</span>diesem andere Zeichen, die zu beantworten sich Rosalinda
+hütete. Sie überlegte, daß nach der vom Kloster
+befolgten Regel Benedicti gut ein paar Wochen bis zu
+neuerlicher Erlaubnis das Belvedere zu besuchen vergehen
+könnten. Um sie herum war eine Menge sehr
+lustiger Nonnen, von denen fast alle ihren Freunden
+Zeichen machten, und diese jungen Damen schienen
+etwas geniert von der Anwesenheit dieses jungen Mädchens
+im weißen Schleier, die doch etwas erstaunt sein
+könnte über ihr wenig klösterliches Benehmen und ihr
+Sprechen mit den Herren da unten. Man muß wissen,
+daß in Neapel die Mädchen von Kindheit an die Fingersprache
+sprechen, bei der die verschiedenen Stellungen
+der Finger zueinander das Alphabet bilden. Man kann
+die Mädchen im Salon auf diese Weise leise sprechen
+sehen, während sich die betreffenden Eltern laut unterhalten.</p>
+
+<p>Genarino zitterte bei dem Gedanken, Rosalindas
+Nonnentum könnte echt sein. Er war noch etwas weiter
+zurück in den Torweg getreten und sagte ihr von hier
+aus in den Kindersprache der Finger:</p>
+
+<p>„Seitdem ich Sie nicht mehr sehe, bin ich unglücklich.
+Sind Sie im Kloster glücklich? Haben Sie so viel Freiheit,
+öfter auf das Belvedere zu kommen? Lieben Sie
+immer noch die Blumen?“</p>
+
+<p>Rosalinda sah ihm voll ins Gesicht, aber antwortete
+nicht. Auf einmal verschwand sie, entweder von der
+Novizenmutter gerufen oder von den wenigen Worten
+Don Genarinos beleidigt. Der stand eine Weile bestürzt.</p>
+
+<p>Dann stieg er das kleine Gehölz von Aranella hinauf,
+das über Neapel liegt; bis da hinauf zieht sich die Umfassungsmauer
+des weiten Klostergartens von San Petito.
+Weiter ging er seinen melancholischen Spaziergang
+<a id="page-348"></a><span class="pgnum">348</span>und kam auf die Wiesenfläche von Vomero, von wo
+aus man über Neapel und das Meer blickt; nach ein
+paar hundert Schritten stand er vor dem großartigen
+Schlosse des Herzogs Vargas del Prado ehemals eine
+mittelalterliche Festung mit schwarzen kranelierten
+Mauern und berühmt in Neapel wegen seiner Düsterkeit
+und der Manie des Herzogs, sich nur von spanischen
+Domestiken bedienen zu lassen, die genau so alt waren
+wie er. Der alte Herzog sagte, daß er sich auf seinem
+Schlosse in Spanien glaube, und um diesen Eindruck
+zu vermehren, hatte er auch alle Bäume in der Umgebung
+umhauen lassen. Sooft es ihm nur der Dienst
+beim König erlaubte, begab sich der Herzog, um Luft
+zu schnappen, nach seinem Schloß San Nicola.</p>
+
+<p>Das düstere Schloß vermehrte noch Genarinos
+Melancholie. Da packte ihn, als er unter der Mauer der
+Gärten von San Petito hinschritt, ein Gedanke. ‚Natürlich
+liebt sie noch die Blumen,‘ sagte er sich; ‚die Nonnen
+dürften deren kultivieren in ihrem Garten; also muß
+es wohl Gärtner geben; ich muß diese Gärtner kennenlernen.‘</p>
+
+<p>In dieser sehr verlassenen Gegend gab es eine Osteria,
+in die Genarino eintrat; sein Anzug war für diesen Ort
+viel zu prächtig, und er merkte mit einigem Unbehagen,
+daß seine Anwesenheit Überraschung und Mißtrauen
+hervorrief; da tat er, als ob er sehr müde wäre und
+machte sich Liebkind mit den Wirtsleuten und dem
+Volk, das da seinen Schoppen Wein trank. Seiner offenen
+Art hatte er es zu danken, daß die Leute in der Kneipe
+ihm seine für den Ort etwas zu kostbaren Kleider verziehen.
+Genarino scheute sich nicht, mit dem Wirt und
+dessen Freunden ein paar Gläser von dem Bessern zu
+leeren, den er kommen ließ. Nach Verlauf einer Stunde
+<a id="page-349"></a><span class="pgnum">349</span>Arbeit machte seine Anwesenheit keinen mehr mißtrauisch.
+Man riß Witze über die adeligen Nonnen von
+San Petito und über die Besucher, die manche von ihnen
+über die Gartenmauer weg empfingen.</p>
+
+<p>Genarino bekam die Gewißheit, daß, worüber man
+in Neapel so viel redete, wirklich existiere. Die guten
+Leute von Vomero scherzten darüber, aber zeigten sich
+nicht im mindesten entrüstet über die weltlichen Gewohnheiten
+der Nonnen von San Petito.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-351"></a><span class="pgnum">351</span>DER CHEVALIER
+VON SAINT-ISMIER</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-352"></a><span class="pgnum">352</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p>
+
+
+<p><a id="page-353"></a><span class="pgnum">353</span>Man schrieb das Jahr 1640. Richelieu war, schlimmer
+als je, Herr Frankreichs. Sein eiserner Wille und
+seine Launen eines großen Mannes suchten jene turbulenten
+Geister zu beugen, die Krieg und Liebe mit der
+gleichen Leidenschaft trieben. Die Galanterie war noch
+nicht auf die Welt gekommen. Die Religionskriege und
+die um das Gold des düstern Philipp II. erkauften Fraktionen
+hatten in den Herzen ein Feuer entzündet, das der
+Anblick der auf Befehl Richelieus vom Rumpfe getrennten
+Köpfe noch nicht zum Erlöschen gebracht hatte.
+Reim Bauern, beim Edelmann, beim Bürger traf man
+auf eine Energie, die man in dem Frankreich nach den
+72 Jahren Herrschaft Ludwig XIV. nicht mehr kannte.
+Im Jahr 1640 war der französische Charakter noch imstande,
+Energisches zu verlangen, aber die Tapfersten
+fürchteten den Kardinal; sie wußten ganz genau, daß man
+ihm nicht entginge, besäße man die Unbesonnenheit, im
+Lande zu bleiben, nachdem man ihn beleidigt hatte.</p>
+
+<p>Solchem gab der Chevalier von Saint-Ismier seine Gedanken,
+ein junger Offizier aus einer der reichsten Adelsfamilien
+des Languedoc. An einem der schönsten Juniabende
+ritt er nachdenklich am rechten Dordogneufer
+hin, Moulons gegenüber. Er hatte nur einen Domestiken
+zur Begleitung. Er wußte, wagte er nach Bordeaux zu
+gehen, daß er es hier mit dem Kapitän Rochegude zu
+tun habe. Dieser Stadtgewaltige war eine Kreatur des
+<a id="page-354"></a><span class="pgnum">354</span>Kardinals, und Saint-Ismier kannte die schreckliche
+Eminenz. Trotz seiner fünfundzwanzig Jahre hatte sich
+der junge Edelmann im deutschen Kriege rühmlichst
+ausgezeichnet. Aber da hatte er zuletzt auf dem Schloß
+einer Tante, die er beerben sollte, auf einem Balle Streit
+mit dem Grafen de Chaix bekommen, dem Verwandten
+eines Parlamentspräsidenten der Normandie und treu
+ergebenen Dieners des Kardinals, für dessen Rechnung
+er in seiner Körperschaft intrigierte. Alle Welt in Rouen
+wußte das, und so war der Präsident mächtiger als der
+Gouverneur selber. Darum beeilte sich Saint-Ismier auch,
+nachdem er den Grafen elf Uhr des Nachts unter einer
+Straßenlaterne getötet hatte, aus der Stadt hinauszukommen;
+er nahm nicht einmal Abschied von seiner
+Tante.</p>
+
+<p>Auf der Höhe des Berges Sainte-Catherine versteckte
+er sich in dem Walde, der die Spitze damals noch
+krönte. Seinem Diener ließ er durch einen Bauern, dem
+er auf der Landstraße begegnet war, Nachricht zugehen.
+Der Diener nahm sich nur so viel Zeit, die Tante zu
+verständigen, daß der Chevalier sich sofort zu seinem
+Schutz auf das Schloß einer befreundeten Familie in
+die Nähe von Orleans begebe, und traf mit zwei Pferden
+im Walde ein. Kaum war er zwei Tage auf jenem
+Schlosse, als ein Kapuziner, ein Protegé des berühmten
+Pater Joseph und Freund des Schloßherrn, diesem einen
+Diener zuschickte, der in höchster Eile aus Paris gekommen
+war, auf zu Tode gehetzten Postpferden. Der
+Diener überbrachte einen Brief, der nichts als diese
+Worte enthielt:</p>
+
+<p>„Ich kann nicht glauben, was man von Ihnen spricht.
+Ihre Feinde behaupten, Sie gäben einem Rebellen gegen
+Seine Eminenz Unterschlupf.“
+</p>
+
+<p><a id="page-355"></a><span class="pgnum">355</span>Der arme Saint-Ismier mußte aus dem Schlosse bei
+Orléans flüchten, wie er aus Rouen geflohen war. Der
+Schloßherr, sein Freund, suchte ihn auf der Jagd auf
+am andern Ufer der Loire, um ihm den schlimmen
+Brief zu übergeben. Der Chevalier nahm dankbaren Abschied
+und ging an den Fluß hinunter in der Hoffnung,
+da ein Boot zu finden; zu seinem Glück traf er auch
+einen Fischer, der in einem winzigen Kahn gerade sein
+Netz einzog. Er rief den Mann an.</p>
+
+<p>„Meine Gläubiger sind hinter mir her. Du bekommst
+einen halben Louis, wenn du die ganze Nacht ruderst.
+Du mußt mich nah meinem Haus ans Ufer setzen, eine
+halbe Meile vor Blois.“</p>
+
+<p>Saint-Ismier fuhr die Loire hinunter bis ***; kamen
+sie an Städte, stieg er aus und ging zu Fuß durch; die
+Flucht währte Tag und Nacht. Seinen Diener mit den
+Pferden erreichte er erst bei ***, einem kleinen Dorf
+in der Nähe von **. Dann ritt er die Küste entlang südwärts.
+Auf drängende Fragen ließ er verstehen, daß
+er ein protestantischer Edelmann und mit den Daubigné
+verwandt sei und darum ein bißchen verfolgt
+werde. So erreichte er ohne Abenteuer die Mündung
+der Dordogne. Wichtige Interessen riefen ihn nach Bordeaux,
+aber er fürchtete, wie gesagt, der Kapitän Rochegude
+habe bereits einen Verhaftsbefehl gegen ihn erhalten.</p>
+
+<p>‚Der Kardinal‘, sagte er sich, ‚holt viel Geld aus der
+Normandie, die unter unsern Wirren am wenigsten gelitten
+hat. Der Präsident Lepoitevin ist das Hauptwerkzeug
+in seiner Hand, alle die Steuern einzutreiben,
+er wird sich recht wenig aus dem Leben eines Edelmanns
+wie mir machen, um des Preises der Staatsräson willen,
+die ihm zuruft: Vor allem Geld! Mein Unglück ist gerade
+<a id="page-356"></a><span class="pgnum">356</span>darum größer, daß der Kardinal mich kennt; ich
+habe nicht die Chance, vergessen zu werden.‘</p>
+
+<p>Aber die Gründe, die ihn nach Bordeaux zu gehen
+zwangen, waren zu mächtig. Er setzte seinen Weg die
+Dordogne entlang fort und traf in dunkler Nacht hinter
+der Vereinigung mit der Garonne bei *** ein. Ein Fährmann
+setzte ihn, seine Pferde und den Diener aufs linke
+Ufer über. Hier hatte er das Glück, auf Weinhändler
+zu stoßen, die sich gerade vom Kapitän Rochegude einen
+Permiß zur nächtlichen Einfahrt nach Bordeaux gekauft
+hatten, da die Tageshitze ihrem Weine nicht bekomme.
+Der Chevalier warf seinen Degen auf einen
+ihrer Karren und fuhr um Mitternacht in Bordeaux ein,
+eine Peitsche in der Hand und im Gespräch mit einem
+der Fuhrleute. Einen Augenblick später ließ er einen
+Taler in die Tasche des Mannes gleiten, nahm ruhig
+seinen Degen und verschwand, ohne ein Wort zu sagen
+um eine Straßenecke.</p>
+
+<p>Der Chevalier kam bis ans Kirchentor von Saint-Michel;
+hier ließ er sich auf den Stufen nieder.</p>
+
+<p>‚Da bin ich also in Bordeaux‘, sagte er sich. ‚Was
+gebe ich für eine Antwort, wenn die Wachrunde
+mich fragt? Wenn diese Leute nicht gerade betrunkener
+sind als gewöhnlich, hat es wenig Aussicht auf Glauben,
+wenn ich ihnen sage, ich sei ein Weinhändler; die Antwort
+wäre neben den Fuhrwerken und den Fässern möglich
+gewesen. Ich hätte mir, bevor ich meine Pferde
+wegschickte, Bedientenkleider anziehen sollen, aber so
+angezogen wie ich bin, kann ich nichts andres sein als
+ein Edelmann; und als Edelmann errege ich die Aufmerksamkeit
+dieses Rochegude, der mich in die Feste
+Trompette steckt, und in zwei Monaten fällt mein Kopf
+auf dem Marktplatz, hier oder in Rouen. Wird mich
+<a id="page-357"></a><span class="pgnum">357</span>mein Kusin, der Marquis von Miossens, der so vorsichtig
+ist, aufnehmen? Wenn er von meinem Zweikampf in
+Rouen nichts weiß, so wird er meine Ankunft mit Festen
+begehen wollen; er wird allen diesen Gaskognern sagen,
+ich sei ein Günstling des Kardinals. Weiß er aber, daß
+ich der Eminenz mißfallen könnte, so wird er erst seinen
+Frieden finden, wenn er seinen Sekretär mit der Anzeige
+zu Rochegude geschickt hat. Es wäre nötig, zuerst
+zur guten Marquise zu gelangen, ohne daß ihr Mann
+von mir weiß. Aber sie hat Liebhaber, und der Marquis
+ist so eifersüchtig, daß er, wie man sagt, Duennen
+aus Spanien nach Paris kommen ließ zu ihrer ständigen
+Überwachung. Wir machten uns lustig über ihn, daß
+sein Bordeauleser Haus bewacht sei wie eine Festung.
+Und dann, wie zu dem Haus gelangen, das sehr prächtig
+sein soll? Ich war nie in Bordeaux gewesen. Wie soll
+ich einem Passanten sagen: Zeigen Sie mir das Haus
+Miossens und wie ich ohne Wissen des Marquis hineinkomme?
+Das wäre verrückt. Sicher aber ist, bleibe ich
+hier bei den armseligen Häusern um die Kirche herum,
+besteht keine Aussicht, dem prächtigen Hause meines
+Kusins zu begegnen.‘</p>
+
+<p>Die Turmuhr der Kirche schlug ein Uhr.</p>
+
+<p>‚Keine Zeit mehr zu verlieren‘, sagte sich der Chevalier.
+‚Warte ich hier den Tag ab, um dann in irgendein
+Haus zu treten, so hat Rochegude davon sofort
+Nachricht. In diesen Provinzstädten kennt einer den
+andern, besonders unter den Leuten gleichen Standes.‘</p>
+
+<p>Der arme Chevalier machte sich also auf die Suche,
+sehr behindert von seiner Person und nicht wissend,
+wohin sich eigentlich wenden. Eine tiefe Stille lag in
+allen Gassen, die er durchschritt, und nicht minder tief
+war die Dunkelheit.
+</p>
+
+<p><a id="page-358"></a><span class="pgnum">358</span>‚Ich zieh mich aus dieser Geschichte nicht heraus.
+Morgen abend sitze ich im Fort Trompette; daraus entweicht
+keiner mehr.‘</p>
+
+<p>Da erblickte er in einiger Entfernung ein Haus, in
+dem Licht war.</p>
+
+<p>‚Und wenn's der Teufel selber wäre,‘ sagte sich der
+Chevalier, ‚ich muß mit den Leuten da drin sprechen.‘</p>
+
+<p>Als er näher kam, vernahm er Lärm. Er lauschte und
+suchte zu erraten, um was es sich handle. Da flog eine
+kleine Pforte auf, und ein breiter Lichtstrom fiel über
+die Gasse und noch das gegenüberliegende Haus hinauf.
+In dem Licht stand ein prächtig gekleideter, junger,
+sehr schöner Mensch, den Degen in der Faust; er sah
+verärgert aus, aber nicht wütend, oder es war die hinter
+Verärgertheit maskierte Wut eines Gecken. Die Leute
+seiner Umgebung hatten das Wesen von Untergebenen
+und schienen ihn beschwichtigen zu wollen, wobei sie
+ihn Herr Graf nannten.</p>
+
+<p>Saint-Ismier war noch etwa zwanzig Schritte von der
+hellen Pforte entfernt, als der junge schöne Mann, der
+etwa eine halbe Minute in der Türschwelle wie zögernd
+gestanden hatte, plötzlich und immer wie einer, der, um
+dafür bewundert zu werden, Wut zeigt, schreiend und
+fluchend und immerzu mit dem Degen fuchtelnd in die
+Gasse hinausging, gefolgt von einem, prächtig gekleidet
+wie er. Saint-Ismier sah auf die beiden, als er von dem
+ersten bemerkt wurde, den man Herr Graf nannte. Alsbald
+stürzte der Graf auf Saint-Ismier los und wollte
+ihm mit einem Fluche den Degen durch das Gesicht
+ziehen. Saint-Ismier, auf solchen Angriff nicht im mindesten
+gefaßt, hatte gerade eine Höflichkeit überlegt,
+die er dem jungen Manne sagen wollte mit der Frage, wo
+das Haus Miossens läge. Heiteren Wesens hatte er seinem
+<a id="page-359"></a><span class="pgnum">359</span>Körper schon jenes liebenswürdige Balancieren eines
+Chevaliers gegeben, der den Weinen des Landes herzhaft
+zugesprochen, denn er fand es so lustiger wie sicherer,
+den Edelmann anzusprechen wie ein leicht Trunkener.
+Er gab seinen Lippen schon das Lächeln der Liebenswürdigkeit,
+mit der er beeindrucken wollte, als er den
+ihm bestimmten Hieb des Grafen vor seinen Augen sah.
+Und er fühlte dessen ganze Schwere auf den rechten
+Arm niedersausen, mit dem er sein Gesicht deckte.</p>
+
+<p>Er tat einen Sprung nach rückwärts.</p>
+
+<p>‚Ich habe einen Schlag bekommen‘, sagte er sich und
+Wut stieg ihm rot ins Gesicht. Er ging heftig den
+frechen Burschen an.</p>
+
+<p>„Also du willst mehr davon,“ rief der Graf, „nur zu,
+das ist's ja, was ich wollte. Du sollst deine Schläge
+haben.“ Und er warf sich mit toller Kühnheit auf Saint-Ismier.</p>
+
+<p>‚Gott verzeih mir, er will mir ans Leben,‘ sagte sich
+der Chevalier, ‚ich muß kaltes Blut bewahren.‘</p>
+
+<p>Saint-Ismier bekam mehrere Stiche ab, denn nun hatte
+auch der Edelmann aus des Grafen Begleitung den
+Degen gezogen, sich an seines Freundes Seite gestellt.</p>
+
+<p>‚Sie wollen mich umbringen‘, sagte sich Saint-Ismier,
+und machte einen Ausfall. Dabei zog er aus einer Unvorsichtigkeit
+des Grafen Vorteil, der sich ungedeckt
+auf ihn gestürzt hatte, um ihm den Degen durch den
+Leib zu rennen. Der Graf parierte den Stich, indem er
+ihn nach oben abdrängte; da aber sprang der Degen
+dem Grafen sechs Daumen tief ins rechte Auge; der
+Chevalier spürte, wie das Eisen auf etwas Hartes stieß;
+es war der innere Schädelknochen. Der Graf stürzte tot.</p>
+
+<p>Als der Chevalier, stark erschrocken über dieses Ergebnis,
+ein bißchen zögerte, seinen Degen zurückzuziehen,
+<a id="page-360"></a><span class="pgnum">360</span>gab ihm der Mensch, der hinter dem Grafen
+gestanden hatte, einen starken Hieb in den Arm, und
+im gleichen Augenblick fühlte der Chevalier mächtig
+das Blut fließen. Dazu rief dieser Gegner aus allen
+Lungenkräften um Hilfe. Acht oder zehn Leute stürzten
+aus der Herberge, denn eine solche und die erste von
+Bordeaux war das erleuchtete Haus. Saint-Ismier sah
+gut, daß die Hälfte der Leute bewaffnet war. Er nahm
+seine Beine unter die Arme und lief, was er konnte.</p>
+
+<p>‚Ich habe einen Menschen getötet,‘ sagte er sich, ‚ich
+bin mehr als gerächt für einen Hieb in den Arm. Übrigens
+ist Gefängnis oder Tod für mich das gleiche.
+Nur wird mir, falle ich Rochegude in die Hände, der
+Kopf ganz gewiß auf dem Marktplatz abgeschlagen, und
+an einer Straßenecke sterbe ich als ein tapferer Mensch
+im Kampfe um mein Leben.‘</p>
+
+<p>Doch aber lief unser Held, was er konnte, um sein
+Leben zu retten. Er kam wieder an der Kirche vorbei,
+kam dann in eine sehr breite und wie ihm schien, sehr
+lange Straße. Die Verfolger hielten an, als sie hier
+zwei- oder dreihundert Schritte hinter ihm hergelaufen
+waren. Es war höchste Zeit für den ganz atemlosen
+Chevalier. Auch er hielt inne, etwa hundert Schritte
+weiter als die Verfolger; er machte sich, indem er sich
+stark bückte, so klein als möglich; dann versteckte er
+sich hinter dem Pfosten einer Brustwehr, die sich in der
+Straße etwa sechs acht Fuß vor den Häusern befand.
+Die Verfolger tauchten wieder auf, und der Chevalier
+begann wieder so gut er konnte zu laufen, immer die
+breite lange Straße hinauf. Da hörte er vor sich Schritte
+im Takt; er hielt sofort im Laufen inne.</p>
+
+<p>‚Die Scharwache!‘ dachte er.</p>
+
+<p>Und warf sich laufend in eine sehr enge Seitengasse,
+<a id="page-361"></a><span class="pgnum">361</span>lief durch viele Gäßchen, jede halbe Minute stillstehend,
+lauschend; zunächst stieß er nur auf Katzen, denen er
+Furcht einjagte; aber als er in eine Gasse einbog, hörte
+er vier fünf Männer kommen; deutlich vernahm er ihr
+schweres und wohlgesetztes Reden.</p>
+
+<p>‚Wieder die Wache! Der Teufel hol mich!‘</p>
+
+<p>Er stand gerade an einem mächtigen, derb holzgeschnitzten
+Tor; aber zehn Schritte davon bemerkte
+er eine ganz kleine Tür; er stürzte hin. Die Tür war
+offen. Er verschwand dahinter und verschnaufte. Er
+dachte, die Männer, die er reden gehört hatte, müßten
+ihn hier eintreten gesehen haben und hinter ihm
+hereinkommen; dann würde er sich hinter der Tür verstecken
+und sobald die Männer eingetreten und bis in
+den kleinen Hofgarten, den er bemerkte, gekommen
+wären, zu dem diese Tür führte, würde er wieder sehen,
+daß er hinaus und weiterkomme. Er stand schweratmend
+hinter der kleinen Tür und wartete. Die Männer
+blieben just davor stehen und schwatzten. Aber sie
+traten nicht ein und gingen weiter.</p>
+
+<p>Angst in den Gliedern schlich Saint-Ismier in was
+ihm ein Garten schien der hohen Bäume wegen; er
+kam in einen großen Hof, dann in einen kleineren, der
+ihm mit kleinen marmornen Tafeln gepflastert schien.
+Er spähte vorsichtig, ob er niemanden sähe, mit dem
+er sprechen könnte.</p>
+
+<p>‚Das ist ein reiches Haus. Besser konnte ich es nicht
+treffen. Finde ich da einen Domestiken, so wird er für
+meinen Taler empfänglich sein und mich zum Palais
+Miossens bringen. Vielleicht versteckt er mich für zwei
+Taler heute Nacht und morgen in seinem Zimmer. Ja,
+wer weiß, vielleicht wird er einmal noch mein eigener
+Diener? Glücklicher könnte ich es mir nicht wünschen.‘
+</p>
+
+<p><a id="page-362"></a><span class="pgnum">362</span>Solches hoffend fand Saint-Ismier eine Treppe, die
+er hinaufstieg. Sie führte in das erste Stockwerk, wo
+sie aufhörte. Er trat auf einen Altan und sah sich um.
+Da war es ihm, als vernehme er ein Geräusch auf der
+Treppe. Er schwang sich sofort über das Geländer des
+Balkons und trat auf ein Gesims der Hauswand; mit
+den Händen hielt er sich an der Holzjalousie des
+nächsten Fensters fest. Vorsichtig tastete er sich auf
+dem Gesims weiter und kam auf einen zweiten Balkon,
+vom ersten ein paar Fuß entfernt. Durch ein offenes
+Fenster stieg er ein. Eine wie ihm schien marmorne
+und sehr prächtige Treppe führte in das zweite Stockwerk.
+Hier stand er nun vor einem mit goldenen Nägeln
+verzierten Türvorhang. Durch den Spalt zwischen Türvorhang
+und Boden kam ein schwacher Lichtschein. Er
+zog die Portiere ganz leise an sich und stand einer Tür
+gegenüber, deren silberne oder kupferne Ornamente im
+Dunkel glänzten. Aber wichtiger für den armen Chevalier
+war das bißchen Licht, das durch das Schlüsselloch
+drang. Er brachte sein Auge daran; doch sah er
+nichts; er glaubte einen Vorhang unterscheiden zu
+können, der im Raume nah vor der Tür hing.</p>
+
+<p>‚Das ist jedenfalls ein vornehmer Wohnraum‘, sagte
+er sich. Sein nächster Gedanke war, keinerlei Geräusch
+zu machen. ‚Aber‘, dachte er, ‚schließlich muß ich ja
+doch einmal mit jemandem reden, und so allein, verloren
+in einem weitläufigen Hause und mitten in der
+Nacht, ist's besser, ich spreche mit einem Herrn statt
+mit einem Lakaien. Der Herr wird leicht begreifen,
+daß ich kein Dieb bin.‘</p>
+
+<p>Er faßte mit der linken Hand die Portiere, diese beiseite
+haltend, und faßte mit der rechten an den Türknopf;
+<a id="page-363"></a><span class="pgnum">363</span>er öffnete ganz leise und sagte mit seiner
+liebenswürdigen Stimme:</p>
+
+<p>„Herr Graf, erlauben Sie, daß ich eintrete?“</p>
+
+<p>Keine Antwort. Er blieb eine Weile in seiner Stellung,
+auf dem Boden zwischen seinen Füßen den Degen, damit
+er ihn, wenn nötig, rasch zur Hand hätte. Er wiederholte
+das Kompliment, so reizend als möglich von ihm
+ausgedacht:</p>
+
+<p>„Herr Graf, wollen Sie mir erlauben, daß ich eintrete?“</p>
+
+<p>Keine Antwort. Der Chevalier sah sich in dem mit
+der Großartigkeit neuesten Stiles gezierten Prunkgemach
+um. Die Wände deckten gebuckelte vergoldete
+Ledertapeten. Der Tür gegenüber stand ein mächtiger
+Schrank aus Ebenholz mit einer Menge kleiner Säulen,
+deren Kapitale aus Perlmutter waren. Zur Rechten
+breitete sich ein Bett, dessen Vorhänge aus rotem
+Damast zugezogen schienen. Er konnte nicht in das
+Bett sehen. Die eine Fußsäule, die er bemerken konnte,
+war vergoldet. Zwei Genien, wohl aus Goldbronce,
+stützten mit ihren hochgehaltenen Armen einen kleinen
+Tisch mit ockergoldner Platte; zwei vergoldete Leuchter
+standen darauf, in deren einem eine Kerze brannte;
+und was den Chevalier nicht wenig beunruhigte, war,
+daß er neben dem brennenden Leuchter ganz deutlich
+fünf, sechs edelsteinblitzende Ringe liegen sah.</p>
+
+<p>Er machte einen kleinen Schritt ins Gemach, mit
+kleinen Verbeugungen und schüchtern-liebenswürdigen
+„Verzeihung, Herr Graf“.</p>
+
+<p>Über einem Kamin hing ein strahlender Venetianer
+Spiegel. Da stand ein großer Toilettentisch, mit schwerer
+grüner Seide überzogen. Auch auf diesem Tisch lagen
+<a id="page-364"></a><span class="pgnum">364</span>Ringe und eine steinverzierte Uhr; ihr leises Ticken
+war das einzige wahrnehmbare Geräusch im Raum.</p>
+
+<p>‚Wie wird der Besitzer aller dieser Kostbarkeiten aufschreien,
+wenn er jetzt aus dem Bett springt und mich
+erblickt! Aber ich muß doch zu einem Ende kommen,
+so oder so. Eine Viertelstunde hab ich schon in Zwecklosigkeiten
+und in der verrückten Hoffnung verloren,
+nicht für einen Dieb gehalten zu werden.‘ Er ließ die
+Tür los, die sich mit einem kleinen Geräusch schloß.
+Sie war von innen nicht zu öffnen, wie sich der Chevalier
+gleich überzeugte. ‚Ich bin gefangen‘, sagte er
+sich und untersuchte genauer noch die Tür; es war
+unmöglich, sie zu öffnen. ‚Ich bin eingesperrt.‘ Von
+diesem Umstand beunruhigt, ging der Chevalier entschlossen
+auf das Bett zu. Dessen Vorhänge waren fest
+zugezogen. Er schlug sie auseinander, immer allerlei
+lächelnde Entschuldigungen für die im Bett vermutete
+Person stammelnd.</p>
+
+<p>Das Bett war leer. Aber in hinreichender Unordnung,
+die sagte, daß es eben noch besetzt war. Die Vorhänge
+trugen reiche Spitzen. Der Chevalier griff nach dem
+Leuchter, um besser zu sehen; er steckte eine Hand unter
+die Decke; es war noch warm da. Nun untersuchte
+eiligst der Gefangene mit dem Leuchter das Zimmer
+nach einem Ausgang; zu seinem großen Verdruß fand er
+keinen andern als die Tür, die sich von innen nicht
+öffnen ließ, und ein Fenster. Er wußte nichts andres
+als die Bettvorhänge zu zerreißen und daraus etwas wie
+ein Seil zu drehen, mit dessen Hilfe er den Abstieg
+durchs Fenster in ein dunkles Ungewisses wagen könnte,
+in etwa vierzig Fuß Tiefe, wie er schätzte; ob das da
+unten ein Dach oder ein Hof sei, dies zu unterscheiden
+machte er vergebliche Anstrengungen.
+</p>
+
+<p><a id="page-365"></a><span class="pgnum">365</span>‚Und was, wenn ich da unten heil und ganz ankomme?
+Ich bin da vielleicht genau so gefangen wie
+hier.‘</p>
+
+<p>Da blitzte ihm ein Gedanke auf:</p>
+
+<p>‚Ich sehe keinen Degen hier im Zimmer. Die
+Kammerdiener der hier hausenden vornehmen Persönlichkeit
+haben deren Kleider ohne Zweifel mit fortgenommen.
+Aber seinen Degen hätten sie ihm doch dagelassen.
+Aber vielleicht drangen Diebe ins Haus und er
+hat für ihre Verfolgung das Bett verlassen, den Degen
+in der Faust? Seltsam ist es doch, daß keine Waffe hier
+im Zimmer ist.‘</p>
+
+<p>Und mit äußerster Sorgfalt ging nun der Chevalier
+daran, das Zimmer zu durchforschen. Da stieß er ganz
+nah am Bett auf dem Teppich auf zwei kleine Schuhe
+aus weißer Seide und auf ein Paar außerordentlich
+dünne Seidenstrümpfe.</p>
+
+<p>‚Ich bin doch ein großer Schafskopf! Ich bin hier
+bei einer Frau!‘</p>
+
+<p>Gleich darauf fand er ein paar Strumpfbänder aus
+Silberspitze; auf einem Fauteuil einen kleinen Unterrock
+aus rosarotem Satin.</p>
+
+<p>‚Es ist eine junge Frau‘, rief er hingerissen, und seine
+Neugierde war so mächtig erregt, daß er ganz seine
+Angst vor dem Gefängnis oder vielmehr vor dem Tode
+vergaß, die sein einziges Gefühl war seit der Minute, als
+er den jungen Menschen mitten auf der Straße niedergestochen
+hatte. In seiner Neugier vergaß der Chevalier
+auch gänzlich, für einen Dieb gehalten zu werden. Er
+öffnete, das Licht in der Hand, den Degen unterm Arm
+alle Schubfächer des Toilettentischs. Er fand eine große
+Menge kostbaren Schmucks und von erlesenem Geschmack;
+einige kleine Kassetten trugen gravierte Inschriften
+<a id="page-366"></a><span class="pgnum">366</span>in italienischer Sprache. ‚Die Herrin dieses
+Raumes muß bei Hofe gewesen sein‘, sagte er sich. Er
+fand außerordentlich kleine Handschuhe, die getragen
+waren. ‚Entzückende Hände hat sie‘, sagte er. Da stieß
+er zu seiner größten Freude auf einen Brief.</p>
+
+<p>‚Dieses Gemach ist also von einer offensichtlich
+jungen und schönen Frau bewohnt. Ein Mann macht
+ihr die Cour und ohne Glück.‘</p>
+
+<p>Des Chevaliers Neugierde war zunächst befriedigt,
+und eine große Müdigkeit kam über ihn. Um sich eine
+Zeit zu geben, die wohl gleich eintretende Person sich
+anzusehen, setzte er sich in den Alkov zwischen Bett
+und Wand nieder. Er rechnete bestimmt darauf,
+wachend das Ende eines Abenteuers abzuwarten, das
+schlecht für ihn ausgehen konnte, aber er schlief sehr
+rasch ein.</p>
+
+<p>Er wachte von dem kleinen Geräusch der Tür auf;
+die Kammerzofe hatte sie geöffnet.</p>
+
+<p>„Geh zu Bett. Ich brauch dich nicht mehr. Aber
+weck mich sofort, wenn es meiner Mutter wieder
+schlechter geht.“</p>
+
+<p>Saint-Ismier hatte, aus dem Schlaf geschreckt, kaum
+Zeit, diese gehörten Worte zu verstehen. Der Bettvorhang
+öffnete sich; ein junges Mädchen stand da,
+einen Armleuchter mit zwei brennenden Kerzen in der
+Hand, die volles Licht über das Zimmer warfen. Ein
+ungeheurer Schrecken drückte sich in ihren Zügen aus,
+als sie hinter ihrem Bette einen blutbedeckten Menschen
+liegen sah. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, stützte
+sich auf das Bett. Und starrer Schrecken verzerrte das
+Gesicht, als Saint-Ismier sich aufrichtete, um sie zu
+stützen. Nun schrie sie laut auf und sank, wie der Chevalier
+aus der Folge erfuhr, in Ohnmacht, erst auf
+<a id="page-367"></a><span class="pgnum">367</span>das Bett, dann auf den Boden. Der Leuchter fiel
+und erlosch. Saint-Ismier wußte erst nicht, was tun;
+er war ratlos. Den letzten Rest von Schlaftrunkenheit
+abzuschütteln, setzte er sich mit einem Ruck auf. Er
+griff nach seinem Degen und horchte; alles war tiefste
+Stille. Er tastete nach dem, was ihm über die Beine
+gefallen war; fand eine Frau, die er für tot glaubte;
+er griff eine Hand, deren Kleinheit und zarte Haut ihn
+denken ließ, es sei eine Frau, die irgendein Eifersüchtiger
+getötet habe.</p>
+
+<p>‚Man muß ihr helfen‘, sagte er sich und hatte von
+diesem Augenblick wieder sein kaltes Blut. Der Kopf
+der Frau lag auf seinem Knie. Er zog es so vorsichtig
+als er nur konnte, zurück, hob das Köpfchen und bettete
+es auf einen Schemel. Er fand so viel Wärme unter den
+Achseln dieses Leibes, als er ihn hob, daß ihm der Gedanke
+kam, die Person dürfte nur infolge einer großen
+Verwundung ohnmächtig sein.</p>
+
+<p>‚Ich muß um alles in der Welt von hier heraus‘, sagte
+er sich. ‚Da ist keine Hoffnung, mit dem eifersüchtigen
+Gatten oder dem wütenden Vater, dem diese Dame getötet
+wurde, vernünftig zu reden. Unmöglich, daß er
+nicht gleich zurückkomme, um zu sehen, ob seine Rache
+gelungen oder um den Leichnam wegzuschaffen; und
+findet er mich hier blutbedeckt und ich kann nicht
+sagen, wie hierhergekommen, so kann ihm leicht der
+Gedanke einfallen, sich auf meine Kosten unschuldig
+zu machen und mich als den Mörder dieser Dame zu
+bezeichnen; ich könnte nichts darauf antworten, das
+Verstand hätte.‘</p>
+
+<p>Mit größter Vorsicht erhob sich Saint-Ismier, ganz
+bedacht nur, der Dame nicht weh zu tun, die in der
+engen Bettgasse auf ihm lag. Aber da stieß sein Fuß
+<a id="page-368"></a><span class="pgnum">368</span>an den Armleuchter, der mit großem Geräusch ins
+Zimmer rollte. Der Chevalier blieb stehen, unbeweglich
+und die Hand am Degengriff. Aber alles blieb still.
+Schritt um Schritt ging nun Saint-Ismier das Gemach
+ab, mit dem Degen die Wände abtastend. Es war vergeblich;
+er fand nicht Öffnung noch Tür; die von
+außen nur zu öffnende war ohne Gewalt nicht aufzubrechen.
+Von neuem öffnete er das Fenster. Da war
+weder ein Balken noch ein Gesims, die einen Ausbruch
+erlaubt hätten.</p>
+
+<p>‚Ich hab mir wahrhaftig nichts vorzuwerfen, wenn
+mich dieser Zwischenfall auf der Flucht vor dem Gefängnis
+aufs Schafott bringt: ich hab mich selber gefangen
+gesetzt.‘</p>
+
+<p>Er horchte; es war ihm, als hätte er vom Bett her
+etwas sich bewegen gehört. Er tastete sich im Dunkel
+eilends hin. Es war die junge verwundet geglaubte
+Dame, die aus der Ohnmacht durch das Geräusch erwacht
+war, das er mit dem Fenster machte. Er nahm
+sie beim Arm und die Furcht brachte sie vollends zu
+sich. Da entriß sie ihm den Arm und gab dem Chevalier
+einen Stoß, so stark sie konnte.</p>
+
+<p>„Sie sind ein Scheusal! Was Sie tun, ist grauenvoll!
+Sie wollen meine Ehre besudeln und mich dadurch
+zwingen, Ihre Frau zu werden. Aber ich weiß alle Ihre
+Absichten zu nichte zu machen. Gelingt es Ihnen, mich
+vor den Augen der Welt zu entehren, so geh ich eher
+ins Kloster, als daß ich eine Marquise von Buch werde.“</p>
+
+<p>Der Chevalier trat einige Schritte zurück auf die
+andere Seite des Bettes.</p>
+
+<p>„Verzeihen Sie, Madame, die Angst, die ich Ihnen
+verursache. Zunächst kann ich Ihnen eine vortreffliche
+Neuigkeit berichten: ich bin nicht der Marquis von
+<a id="page-369"></a><span class="pgnum">369</span>Buch, ich bin der Chevalier von Saint-Ismier, Kapitän
+im Regiment Royal-Cravatte, von dem Sie, wie ich
+glaube, nie reden gehört haben. Ich bin in Bordeaux
+heut abend um neu Uhr eingetroffen, und auf der Suche
+nach dem Hause der Miossens wurde ich von einem
+gutgekleideten Menschen mit dem Degen angefallen, auf
+der Straße. Wir haben uns geschlagen, und ich habe
+ihn getötet. Man hat mich verfolgt. Ich fand eine kleine
+Tür offen; sie führte in Ihren Garten. Ich stieg eine
+Treppe hinauf, und da ich mich noch immer verfolgt
+glaubte, stieg ich über einen Balkon in eine Antichambre.
+Ich sah Licht hier und trat ein, mit vielen Entschuldigungen
+für den Edelmann, den ich störte, und erzählte
+ihm, es war etwas lächerlich, laut meine ganze Geschichte,
+wie ich es eben jetzt tue. Ich starb vor Angst,
+für einen Dieb gehalten zu werden. Alle meine lächerlichen
+Höflichkeiten waren Grund, daß ich erst nach
+einer Viertelstunde merkte, daß das Bett leer war. Dann
+bin ich, scheint es, eingeschlafen. Ich wachte auf, als
+der Leib einer getöteten Dame über mich fiel. Ich griff
+eine entzückende kleine Hand; ich bin hier im Brautgemach
+eines sehr eifersüchtigen Edelmanns, dessen Geschmack
+und Reichtum zu bewundern ich alle Gelegenheit
+hatte. Ich sagte mir, der Eifersüchtige würde behaupten,
+ich hätte seine Frau umgebracht. Da legte
+ich Ihr Köpfchen, Madame, so zart ich vermochte, auf
+einen Schemel, und versuchte mein Letztes, aus diesem
+Gemach herauszukommen. Ich wiederhole, Madame,
+ich halte mich für einen sehr tapfern Menschen,
+und bin seit heute abend um neun zum erstenmal
+in Bordeaux. Ich habe Sie also noch nie gesehen,
+Madame, weiß nicht einmal Ihren Namen und bin
+in Verzweiflung über die Ungelegenheiten, die ich
+<a id="page-370"></a><span class="pgnum">370</span>Ihnen mache. Aber Sie haben von mir wenigstens
+nichts zu <a class="sic" id="sicA-34" href="#sic-34">fürchten.</a></p>
+
+<p>„Ich tue mein Möglichstes, um mir Sicherheit zu
+geben“, sagte die Dame nach einer Weile. „Ich glaube
+alles, was Sie mir sagen, aber doch kann der grausame
+Zufall, dessen Umstände Sie mir erzählen, mich meine
+Ehre kosten. Ich bin allein mit Ihnen in diesem Gemach,
+ohne Licht, und es ist drei Uhr nachts; es gehört
+sich, daß ich gleich meine Kammerjungfer rufe.“</p>
+
+<p>„Verzeihen Sie, Madame, daß ich nochmals von mir
+spreche. Der Kommandant Rochegude ist mein Feind,
+und ich flüchtete nach Bordeaux, eines andern Duells
+wegen verfolgt, das ich vor einiger Zeit schlagen zu
+müssen das Unglück hatte. Ein Wort von Ihnen, Madame,
+kann mich auf die Feste Trompette bringen, und
+da jener, den ich tötete, sich gewiß aller Protektion erfreut,
+verlasse ich dies Fort nur auf dem Wege zum
+Richtblock.“</p>
+
+<p>„Ich werde vorsichtig sein,“ sagte die Dame, „aber
+lassen Sie mich nun gehen.“</p>
+
+<p>Sie schritt zur Tür, die sie durch ein Geheimschloß
+öffnete. Nun fiel sie mit dem festen Geräusch wieder
+zu, und Saint-Ismier war aufs neue allein, ohne Licht,
+gefangen.</p>
+
+<p>‚Ist die Frau häßlich und aus diesem Grunde böse,‘
+dachte der Chevalier, ‚so bin ich verloren. Aber sie hatte
+eine zarte Stimme. Jedenfalls werden Domestiken auf
+mich losgelassen. Da wird's nichts zu markten geben;
+ich steche den ersten nieder, der sich zeigt. Das schafft
+dann einen Augenblick Verwirrung, die ich nütze, die
+Stiege hinunter und auf die Gasse zu kommen.‘</p>
+
+<p>Er vernahm draußen Stimmen.</p>
+
+<p>‚Gleich wird sich alles entscheiden‘, sagte er sich.
+</p>
+
+<p><a id="page-371"></a><span class="pgnum">371</span>Er packte mit der Linken einen Schemel, den er
+seinem Angreifer zwischen die Augen werfen wollte,
+und stellte sich hinter den Bettvorhang.</p>
+
+<p>Die Tür ging auf. Er sah ein leidlich hübsches Mädchen
+eintreten, in der Hand ein Licht, mit der andern die
+Portiere haltend. Sie sah den Raum mit den Blicken ab
+und fand den Fremden nicht. Da lachte sie.</p>
+
+<p>‚Ich dachte mir's doch, daß es nur ein Scherz wäre.
+Sie wollten mich nur durch eine seltsame Geschichte am
+Schlafen hindern, gnädiges Fräulein.‘</p>
+
+<p>Da trat eine Dame ein, achtzehn oder zwanzig Jahre
+alt und von blendender Schönheit; doch blickte sie ernst
+und sogar ein wenig unruhig. Sie ließ die Tür zufallen
+und ohne ein Wort zu der zuerst eingetretenen Jungfer
+zu sprechen, machte sie ihr ein Zeichen gegen den Alkoven
+hin.</p>
+
+<p>Als der Chevalier bloß die beiden Frauen sah, trat er,
+den Degen in der Hand, hinter dem Vorhang hervor.
+Aber der nackte Stahl und das Blut, das ihn bedeckte,
+machten Wirkung auf die Zofe, die sich ganz blaß ans
+Fenster zurückzog. Der Chevalier dachte weder an Gefängnis
+mehr noch an seine Duelle; er bewunderte die
+außerordentliche Schönheit der jungen Person, die aufrecht
+vor ihm stand und ein wenig bestürzt. Nun fiel
+heftige Röte über ihr Gesicht, und ihre Augen wurden
+groß vor Neugierde.</p>
+
+<p>‚Man möchte glauben, sie erkenne mich‘, dachte Saint-Ismier.
+Und dann: ‚Ich bin nicht goldbestickt wie der
+junge Mann, den ich erstochen habe; er war neueste
+Pariser Mode. Aber vielleicht gefällt ihrem guten Geschmack
+meine einfache Eleganz.‘ Er fühlte sich von
+Respekt ganz durchdrungen.</p>
+
+<p>„Das Dunkel war nicht günstig, Madame. Es ließ mir
+<a id="page-372"></a><span class="pgnum">372</span>aber mein kaltes Blut. Erlauben Sie mir, daß ich meine
+Entschuldigungen wiederhole für die schrecklichen Ungelegenheiten,
+in die Sie mein Unglück gebracht haben.“</p>
+
+<p>„Sie erlauben, Herr Chevalier, daß alles, was Sie betrifft,
+auch von meiner Jungfer Alix gewußt wird. Sie
+hat viel Menschenverstand, alles Vertrauen meiner Mutter
+und ihr Rat wird uns nützlich sein — Sie erlauben?“</p>
+
+<p>Alix hatte mehrere Kerzen angezündet. Nun nahm sie
+auf ein Zeichen ihrer Herrin auf einem Stuhl neben
+dem Fauteuil Platz, in dem sich diese selbst niedergelassen
+hatte.</p>
+
+<p>Die junge Dame schien Mißtrauen und Unruhe verloren
+zu haben. Sie begann die Unterhaltung damit, den
+Chevalier aufzufordern, seine Geschichte nochmals zu
+erzählen. Währenddem dachte Saint-Ismier:</p>
+
+<p>‚Allem Anschein nach hat diese Demoiselle Alix großen
+Einfluß auf die Mutter der jungen Dame, die wünscht,
+daß die Mama alle Einzelheiten dieser Nacht aus dem
+Munde dieser Alix erfahre.‘</p>
+
+<p>Aber etwas beunruhigte fortwährend den Chevalier:
+das schöne Mädchen machte ihrer Alix heimliche
+Zeichen.</p>
+
+<p>‚Wär's möglich, daß diese Frauen mich verrieten?
+Daß sie, mich hier durch Erzählen festhaltend, nur die
+Wache erwarten, nach der sie meinetwegen geschickt
+haben? Komme, was mag — ich glaube, in meinem
+Leben habe ich keine schönere und eindrucksvollere Frau
+gesehen.‘</p>
+
+<p>Der Verdacht des Chevaliers wuchs, als die junge
+Dame zu ihm mit einem unerklärlichen Lächeln sagte:</p>
+
+<p>„Wollen Sie mit uns in eine ganz nahe Galerie treten,
+Chevalier?“</p>
+
+<p>‚Weiß Gott,‘ dachte der Chevalier, ‚was für eine Gesellschaft
+<a id="page-373"></a><span class="pgnum">373</span>uns in der Galerie erwartet! Ich hätte Lust,
+das Fräulein zu erinnern, was mir bevorsteht, wenn man
+mich ins Gefängnis abführt.‘</p>
+
+<p>So klug zu denken bringt nur ein Mann in großer
+Todesnot fertig; es auszusprechen, konnte er sich
+nicht entschließen; er fürchtete die Verachtung einer
+Dame dadurch zu riskieren, die ein so großartiges Wesen
+zeigte.</p>
+
+<p>Alix öffnete die Tür. Der Chevalier bot der schönen
+Dame den Arm, deren Namen er noch immer nicht
+wußte. Man schritt über den Vorplatz der kleinen Marmorstiege.
+Alix drückte auf einen im Zierwerk der Wand
+verborgenen Knopf und man trat durch die sich öffnende
+Geheimtür in eine weitläufige Bildergalerie; der Chevalier
+packte fest seinen Degen.</p>
+
+<p>„Hier wollen Sie sich versteckt halten so lange, bis
+meine Mutter sich über die Vorfälle dieser Nacht unterrichten
+konnte, die Sie zu uns geführt haben. Es ist
+angebracht, daß ich Ihnen sage, in welchem Hause Sie
+sich befinden. Ich bin Marguerite, Prinzessin de Foix.
+Die Leute des Herrn Rochegude werden es nicht wagen,
+hier einzudringen.“</p>
+
+<p>„Es scheint mir ganz unmöglich, gnädiges Fräulein,
+daß der Chevalier mit Ihnen unter einem Dache wohne.
+Wird es bekannt, läßt es sich nicht mehr leugnen. Man
+muß eine Erklärung geben, und jede Erklärung ist tödlich
+für den Ruf eines jungen Mädchens, besonders wenn
+dieses Mädchen die reichste Erbin der Provinz ist.“</p>
+
+<p>„Vor drei Jahren, Chevalier, verlor ich in der Bataille
+von ** meine beiden Brüder. Seitdem ist meine Mutter
+plötzlichen und sehr beunruhigenden Anfällen unterworfen.
+Wie heute nacht wieder. Ich weilte bei ihr,
+währenddem Sie in mein Zimmer dringen konnten auf
+<a id="page-374"></a><span class="pgnum">374</span>so sonderbare Weise. Diese Galerie enthält nur mäßig
+merkwürdige Bilder. Ich bitte Sie, sehen Sie sich einige
+davon an.“</p>
+
+<p>Der Chevalier blickte die Prinzessin an.</p>
+
+<p>‚Sie ist verrückt,‘ dachte er, ‚wie schade.‘ Und er ging
+mit ihr ganz unter dem Eindruck dieser Meinung einige
+Schritte vor ein Bild.</p>
+
+<p>„Hier sehen Sie einen jungen Krieger in einer heute
+nicht mehr üblichen Rüstung. Immerhin schätzt man
+das Bild des Malers.“</p>
+
+<p>Der Chevalier stand versteinert vor Erstaunen: er erkannte
+in dem Bilde sein eigenes Porträt. Er blickte auf
+die Prinzessin, deren vornehm ernstes Wesen unverändert
+blieb, nichts verriet.</p>
+
+<p>„Mir kommt vor,“ sagte er nach einer Weile, „als
+sähe ich in dem Bilde eine zufällige Ähnlichkeit mit
+mir.“</p>
+
+<p>„Ich weiß nicht,“ sagte die Prinzessin, „aber dies ist
+das Konterfei des Raymond von Saint-Ismier, Fahnenjunker
+im Garderegiment. Vor vier Jahren wollte mein
+armer älterer Bruder, der Herzog von Condal, hier die
+Bildnisse aller jener Verwandten beisammen haben, deren
+Familien noch existierten. Du siehst, Alix, wie es wohl
+nicht unmöglich ist, daß meine Mutter einem unsrer Verwandten
+Asyl gewährt, dem Chevalier von Saint-Ismier,
+verfolgt wegen eines unverzeihlichen Verbrechens, eines
+Duells.“</p>
+
+<p>Bei diesen Worten lächelte Marguerite zum erstenmal
+und mit entzückendem Zauber.</p>
+
+<p>„Es soll alles geschehen, wie das gnädige Fräulein
+wünschen. Es geht natürlich nicht, die gnädige Frau
+Prinzessin, Ihre Mutter, nach der schrecklichen Nacht,
+die sie gehabt hat, aufzuwecken. Ich bitte das gnädige
+<a id="page-375"></a><span class="pgnum">375</span>Fräulein, mir Befehle zu erteilen, aber nicht Ratschläge
+von mir zu verlangen.“</p>
+
+<p>„Und ich verdürbe mir das <a class="sic" id="sicA-35" href="#sic-35">außerdentliche</a> Glück,
+das ich diesem Bildnis eines meiner Ahnen verdanke,
+wenn ich duldete, daß das, was das gnädige Fräulein
+einem leider sehr entfernten Verwandten schuldig zu sein
+glaubte, zu irgendeinem Schritt führte, den Mademoiselle
+Alix mißbilligt.“</p>
+
+<p>„Ja, wenn Sie fortwollen,“ sagte Marguerite mit reizender
+Anmut, „dann bin ich hinsichtlich des Mittels
+in großer Verlegenheit. Das Haus hat einen Torwächter,
+einen alten Soldaten, der den pompösen Titel Gouverneur
+führt. Jeden Abend muß unser Gouverneur die äußeren
+Tore sperren und die Schlüssel verwahren. Die kleine
+Gartentür, durch die Sie gekommen sind, ist jetzt
+zu. Heut nacht um zwölf sah ich, wie unser Pförtner
+alle Schlüssel meiner Mutter brachte. Sie liegen auf
+einem kleinen Tisch neben ihrem Kamin. Alix, willst
+du von dem Tisch den Schlüssel holen, damit wir den
+Chevalier hinauslassen können?“</p>
+
+<p>„Bei Madame der Prinzessin wachen vier, fünf
+Frauen,“ sagte Alix, „und den Schlüssel zu holen, wäre
+das Unklügste, was wir tun könnten.“</p>
+
+<p>„Dann gib doch ein andres Mittel an, wie wir den
+Chevalier von Saint-Ismier, unsern Vetter, aus dem Hause
+bringen.“</p>
+
+<p>Man besprach manches, ohne Erfolg. Da machte Alix,
+von den Einwendungen ihrer Herrin in die Enge getrieben,
+zum Schlusse eine Unklugheit.</p>
+
+<p>„Sie wissen, gnädiges Fräulein, daß das Appartement
+des Herzogs von Condal unberührt und unbetreten ist.
+Bei einem Bette liegt, wie ich weiß, eine seidene Strickleiter,
+die vierzig Fuß lang sein muß. Sie ist leicht, und
+<a id="page-376"></a><span class="pgnum">376</span>ein Mann kann sie unter dem Arm tragen. Auf dieser
+Leiter steigt der Herr in den Garten. Ist er einmal da
+und entdeckte man ihn auch im Garten, so ist die Sache
+schon weit weniger kompromittierend für Sie. Es gibt
+doch so viele Frauen im Hause! Am Ende des Gartens,
+gegen die kleine Kirche vom fleischgewordenen Worte
+zu, ist eine Stelle, wo die Mauer nicht höher ist als acht
+Fuß; im Garten gibt's allerlei Leitern. Der Herr kann
+leicht die Mauer hinaufkommen und auf der andern
+Seite dient ihm ein Stück der Strickleiter.“</p>
+
+<p>Als die weise Alix mit ihrem Fluchtplan soweit war,
+lachte die Prinzessin hellauf.
+</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-377"></a><span class="pgnum">377</span>AUS ITALIENISCHEN
+CHRONIKEN</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-378"></a><span class="pgnum">378</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p>
+
+
+<p><a id="page-379"></a><span class="pgnum">379</span>Ich kann mir denken, daß meine Zeitgenossen aus
+dem Jahre 1833 von den naiven und lebhaften Geschichten,
+die man hier in der Sprechweise einer Gevatterin
+wiedergegeben findet, wenig erbaut sein
+dürften. Mir liefert die Erzählung all dieser Prozesse
+und Hinrichtungen wahrhafte Daten über das menschliche
+Herz, über die man des Nachts im Postwagen gern
+nachdenkt. Es wäre mir viel lieber gewesen, ich hätte
+Geschichten von Liebeshändeln, Heiraten, klugen Erbschleichereien
+gefunden. Aber in solche Geschichten
+hätte, auch wenn ich deren gefunden hätte, die Eisenhand
+der Gerechtigkeit nicht hineingegriffen, und sie
+würden mir auch, fände ich welche, wenig vertrauenswürdig
+vorkommen. Immerhin sind gefällige Leute in
+diesem Augenblick bemüht, für mich derlei auszuforschen.</p>
+
+<p>Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hat die Eitelkeit,
+le desir de parestre, wie der Baron de Foeneste, sagt,
+in Frankreich einen dichten Schleier über das Tun der
+Menschen geworfen und insonders über die Motive des
+Tuns. In Italien ist die Eitelkeit von ganz andrer Art,
+dessen ich den Leser mit meinem Ehrenwort versichern
+kann; sie hat hier eine bedeutend geringere Wirkung.
+Man denkt im allgemeinen an den Nachbar nur, wenn
+man ihn haßt oder ihm nicht traut; Ausnahmen davon
+<a id="page-380"></a><span class="pgnum">380</span>gibt es höchstens bei den drei oder vier großen Festen
+im Jahr; dann erzwingt sich jeder, der ein Fest gibt,
+sozusagen mathematisch des Nachbarn billigende Zustimmung.
+Es gibt da keine flüchtigen Nuancen, die
+man in jeder Viertelstunde des Lebens mit tödlicher
+Unruhe im Fluge sich erhascht und merkt. Man sieht
+hier keines jener unruhigen und magern Gesichter,
+durch welche alle Ängste einer stets leidenden Eitelkeit
+blicken, keines dieser Gesichter à la Vixault, Deputierter
+des Herault im Jahr 1833.</p>
+
+<p>Diese italische Eitelkeit ist so sehr verschieden und
+so sehr viel schwächer als unsere französische, und dies
+hat mich darauf geführt, die nachfolgenden Klatschgeschichten
+abschreiben zu lassen. Meine Vorliebe für
+diese Geschichten dürfte jeden meiner französischen
+Zeitgenossen spaßig und gesucht vorkommen, die gewohnt
+sind, ihr literarisches Vergnügen und das Abbild
+des menschlichen Herzens in Werken wie denen der
+Herrn Villmain und Delavigne zu suchen. Dessen bin
+ich sicher, daß das heutige England, Deutschland und
+Frankreich viel zu zerfressen sind von Affektiertheit
+und aller Art Eitelkeit, als daß sie imstande wären,
+ein so scharfes Licht in die Tiefen des menschlichen
+Herzens zu werfen, wie es diese alten italienischen Berichte
+tun.</p>
+
+<p>Ich muß gestehen, daß ich sehr wenig neugierig bin
+auf die Denk- und Lebensgewohnheiten der Bewohner
+von Ceylon oder von Neu-Holland. Diese Völker sind
+allzuverschieden von den Menschen, die meine Freunde
+und Nebenbuhler waren. Sie bringen mich zum Gähnen
+wie die Achille, und Agamemnone und die Helden Racines:
+ich kenne diese Herrschaften nicht. Aber ich
+schmeichle mir, die Franzosen und die Italiener meiner
+<a id="page-381"></a><span class="pgnum">381</span>Zeit zu kennen; ich liebe das, was das Herz des
+Menschen darstellt, aber des Menschen, den ich kenne.</p>
+
+<p>Rom, Palazzo Cavalieri</p>
+<p class="lettersecond">24. April 1833.</p>
+
+<p>Man wird in dem Folgenden keine komponierten
+Landschaften finden, sondern wahrhafte Naturansichten.
+Die Wahrheit muß hier für alle sonstigen
+Vorzüge stehen; aber wir leben in einer Zeit, der die
+Wahrheit nicht genügt und die sie nicht genug pikant
+findet. Die sich in dieser Verfassung Geistes befinden,
+denen rate ich, jede Woche nur eine der folgenden
+Geschichten zu lesen, deren Sprache ich liebe; es ist
+die des Volkes, voller Pleonasmen und alle schrecklichen
+Dinge bei ihrem schrecklichen Namen nennend. Aber
+gerade dadurch schildert der Erzähler unbewußt sein
+Jahrhundert und dessen gemeinübliche Denkweise.</p>
+
+<p>Die mehreren dieser Geschichten sind wenige Tage
+nach dem Tode der armen Teufel niedergeschrieben
+worden, von denen sie Bericht geben. Meine Korrekturen
+versuchten, die Sprache etwas weniger dunkel zu
+machen, damit ich nicht schon beim dritten Lesen die
+Geduld verliere. Es ist ja überhaupt die Dunkelheit ein
+großer Fehler des Italienischen oder vielmehr der acht
+oder zehn italienischen Sprachen, von denen keine ihre
+Rivalinnen besiegt hat, so wie die Sprache von Paris
+die Montaignes getötet hat. So sagt man in Rom: vi
+vedrò domani al giorno, was in Florenz kein Mensch
+verstünde. Ich persönlich läse lieber eine Geschichte in
+englischer als in italienischer Sprache, sie wäre mir deutlicher.</p>
+
+<p>Nur ein Volk, in dem die Stärke des unmittelbaren
+Eindruckes, wie in Neapel, und die Stärke der vom
+<a id="page-382"></a><span class="pgnum">382</span>Geiste ohne Pause geförderten Leidenschaft, wie in
+Rom, so bedeutend war, vermochte es, in solch hohem
+Maße Affektiertheit und Eitelkeit zu unterdrücken oder
+auszuschalten. Ich bin nicht sicher, ob man außerhalb
+Italiens — und Spaniens vor der Unnatur des 19. Jahrhunderts — eine
+Epoche fände, kultivierter und interessanter
+als die der Riccaras, von denen Franklin berichtet,
+und doch wieder so sehr ohne Eitelkeit, daß
+das menschliche Herz fast bloß liegt. In diesem Jahre
+1833 kann ich feststellen, daß man in Frankreich und
+besonders in England Totschlag vorwiegend des Geldes
+wegen begeht. Aber von den beiden armen Teufeln, die
+vorgestern hier hingerichtet wurden, hat der dreiundzwanzigjährige
+Vivaldi seine Frau umgebracht, weil er
+eine andere liebte, und der zweite, siebenundzwanzigjährig,
+hatte aus politischen Gründen einen Arzt erschossen,
+der wahrscheinlich ein Vaterlandsverräter war.
+Von Geldinteressen keine Spur.</p>
+
+<p>Rom, 15. Mai 1833.</p>
+
+
+
+
+<h3>DER KARDINAL ALDOBRANDINI</h3>
+
+<h4>I.</h4>
+
+
+<p>Paolo Santacroce, ein römischer Edelmann aus Fano,
+war wiederholt mit Bitten in seine Mutter gedrungen, sie
+solle ihn zum gesetzlichen Erben ihres Vermögens einsetzen.
+Da sie sich dessen weigerte, beschloß er, sie ums
+Leben zu bringen. In solcher Absicht schrieb er an
+seinen älteren Bruder Onofrio Marchese von Oriolo,
+der damals von Rom abwesend war, ihre Mutter beflecke
+durch ihre Ausschweifungen die Ehre ihres edlen
+Hauses und daß sie derzeit schwanger sei. In Wahrheit
+<a id="page-383"></a><span class="pgnum">383</span>war die arme Frau wassersüchtig, wie sich nach ihrem
+Tode herausstellte. Onofrio schrieb seinem Bruder zur
+Antwort, er solle tun, was ein Edelmann seiner Ehre
+schuldig sei. Daraufhin erdolchte Paolo seine Mutter
+und floh nach Neapel, wo er bald darauf den Tod
+fand.</p>
+
+<p>Diesem Verbrechen Pardon zu geben schien der Papst
+gar nicht geneigt, zumal kurz vorher der Brudermord
+des Marc Anton Massimi sich ereignet hatte und der
+Prozeß der Cenci wegen Vatermordes im Gange war.
+Papst Clemens VII. befahl strenge Untersuchung, zumal
+der Hauptschuldige fehlte; man fand die beiden
+Briefe der Brüder und alsbald wurde Onofrio verhaftet,
+gerade als er auf dem Grundstück der Orsini dem Ballspiel
+oblag.</p>
+
+<p>Als des Papstes Neffe, der Kardinal Aldobrandini, von
+dieser Verhaftung hörte, gab er dem Monsignore Taverna,
+Gouverneur von Rom, den Auftrag, sich persönlich
+des Prozesses anzunehmen und versprach ihm durch
+Verwendung bei seinem Onkel den Kardinalshut, wenn
+es ihm gelänge, gegen Onofrio ein Todesurteil zu erreichen.
+Es tut aber selber Hut mehr Wirkung auf die
+römischen Prälaten als die Farbe des Goldes auf die
+Augen der Banditen. Der Monsignore Taverna tat getreu,
+wie ihm aufgetragen.</p>
+
+<p>Solange das Verhör dauerte, wollte der Kardinal
+Aldobrandini ihm anwohnen, und war ihm da kein Tag
+zu heiß und keine Mittagsstunde; also sah man ihn oft
+mitten im Juli sein Haus gegen die siebzehnte Stunde
+verlassen und sich nach dem Kerker von Tordi Nona
+begeben, woselbst er sieben und acht Stunden hintereinander
+blieb, um dem Verhör beizuwohnen. Selbes
+drehte sich immer um jene Briefstelle, in der Onofrio
+<a id="page-384"></a><span class="pgnum">384</span>schrieb, sein Bruder möge tun, was die Ehre einem Edelmanne
+gebiete, und immer wieder wollte der Gouverneur
+wissen, was er mit diesen Worten gemeint habe.
+Verwirrt im Geiste durch das lange Verhör gab endlich
+Onofrio zu, daß er damit den Tod der Mutter gemeint
+und verlangt habe, auf daß der Flecken abgewaschen
+würde, mit dem die vermeinte Schwangerschaft des unglücklichen
+Weibes die Ehre seines berühmten Hauses
+befleckt habe.</p>
+
+<p>Dieses Geständnis kostete ihm das Leben; er wurde
+zum Tode verurteilt und enthauptet.</p>
+
+<p>Man sah eine große Dummheit darin, daß er dieses
+Geständnis gemacht hatte; denn hätte er erklärt, jene
+Stelle in dem Briefe bedeutete, daß der Eintritt jener unwürdigen
+Frau ins Kloster die Schmach abwasche, so
+hätte er damit nicht nur sein Leben gerettet, sondern
+Lob geerntet, zumal es nach den Gesetzen ritterlicher
+Ehre nicht zu den Pflichten des Sohnes gehört, Fehltritte
+der Mutter zu rächen, sondern nur solche der
+Gattin oder der unverheirateten Schwester.</p>
+
+<p>Unter den Kardinälen, welche der Papst im
+Jahre 1604 ernannte, befand sich auch Monsignore Taverna.
+Er hätte seine Barretta im Blute des Onofrio
+Santacroce rot gefärbt, sagte man damals in Rom.</p>
+
+<p>Es soll aber das Verlangen des Kardinals Aldobrandini
+nach der Verurteilung des Santacroce seinen Grund
+in der Nebenbuhlerschaft bei einer Dame gehabt haben,
+die er leidenschaftlich liebte und welche des Onofrio
+Geliebte gewesen sein soll. Von Aldobrandini hatte sie
+einen kostbaren Diamantring zum Geschenk erhalten,
+den die Dame wieder dem Onofrio schenkte, der mit
+dieser Gunst seiner Geliebten prahlte. Als er eines Tags
+den Kardinal begrüßte, legte er die Hand auf den Schlag
+<a id="page-385"></a><span class="pgnum">385</span>der Sänfte, so daß der Diamant jenem in die Augen
+funkelte.</p>
+
+<p>Man erzählt auch, daß Onofrio eines Nachts den
+Kardinal mit Faustschlägen angriff, als dieser gerade
+am Hause seiner Geliebten vorbeiging; und am andern
+Morgen sei er im Vorzimmer des Kardinals erschienen,
+um ihm seine Aufwartung zu machen, und tat so, als
+ob er ihn nicht erkannt hätte. Daher die Wut und Rache
+des Kardinals.</p>
+
+
+
+<h4>II.</h4>
+
+<p>Unter dem Papste Clemens VII. war dessen Neffe,
+eben der genannte Kardinal Aldobrandini, mit der geistlichen
+und weltlichen Gerichtsbarkeit des Kirchenstaates
+betraut. Der Papst hielt streng darauf, daß unter seinem
+Pontifikat die Gesetze gerecht und genau befolgt
+würden, weshalb er auch seinen eignen Neffen mit
+diesem Vertrauensposten bekleidet hatte. Und es wurden
+auch in der Tat viele Schuldige bestraft, aber andere
+Verbrechen wieder blieben ungesühnt; so die Ermordung
+des römischen Ritters Girolamo Longobardi.</p>
+
+<p>Dieses Longobardi Haupt fand man am Morgen des
+Karsamstag auf dem Petersplatz auf eine Lanze gespießt
+und daran einen Zettel mit dieser Aufschrift: „Du hast
+allzu tyrannisch regiert und was du andern antun
+wolltest, das hat man dir angetan.“</p>
+
+<p>Man kannte nicht die Motive, welche den Kardinal
+Aldobrandini zum Todfeind dieses kaum zwanzigjährigen
+Longobardi machten, der von allen, die ihn
+kannten, so geliebt wurde wie gehaßt jener Kardinal,
+dem der Papst, da er ihn mit dem Purpur bekleidete,
+sagte: „Trachte, deine neue Würde nicht zu entehren,
+denn es wird dir, tust du Böses, nichts nützen, daß du
+mein Neffe bist.“
+</p>
+
+<p><a id="page-386"></a><span class="pgnum">386</span>Longobardi hatte zur Geliebten eine junge Sängerin
+von großem Talente und von außerordentlicher Schönheit,
+namens Anna Felice Brocchi. Der Kardinal-Nepot
+hatte durch das Gerede bei Hofe und in der Stadt Talent
+und Schönheit der Sängerin rühmen hören. Eines Tages,
+als er an ihrem Hause vorbeiging, erblickte er sie am
+Fenster liegen und entbrannte allsogleich in heftiger
+Liebe zu ihr. Und suchte nach einem Mittel, ihr dies
+zu sagen. Da er sich aber von seinem Onkel überwacht
+wußte, mußte er hiebei mit äußerster Vorsicht zu Werk
+gehen. Er erfuhr, daß diese Brocchi dem Longobardi gehöre,
+den er haßte.</p>
+
+<p>Die Sängerin hatte die Leidenschaft des Kardinals
+wohl bemerkt und fühlte seine Liebe, da er jeden Mittag
+an ihrem Hause vorbeiging, gerade zu der Zeit, wo sie
+zur Messe in Santa Maria della Pace zu gehen pflegte
+und wohin ihr der Kardinal folgte. Hier sah sie der
+Kardinal unausgesetzt zärtlich an und versuchte es, ihr
+durch bestimmte Zeichen seine Liebe bekannt zu geben.</p>
+
+<p>Dieses Spiel währte eineinhalb Jahr, ohne daß Aldobrandini
+anders als durch Zeichen mit Anna Brocchi
+sprechen konnte.</p>
+
+<p>Solches erzählte sie nun eines Tages alles dem Longobardi.
+Worauf dieser sagte, daß es wegen der Feindschaft
+zwischen ihm und dem Kardinal sehr übel ausgehen
+könnte; er empfahl ihr größte Zurückhaltung
+und den lügnerischen Versprechungen des Kardinals
+nicht zu glauben, vor allem aber, ihn nie bei sich zu
+empfangen. Auch nicht zu grüßen oder sonst zu beachten.</p>
+
+<p>Longobardi, erregt von der Mitteilung und den Versprechungen
+Annas wenig trauend, ließ seine Geliebte
+durch Spione beobachten und ihr Haus bewachen, wovon
+<a id="page-387"></a><span class="pgnum">387</span>allem Anna nichts merkte, da es mit großer Heimlichkeit
+geschah.</p>
+
+<p>Und bald erfuhr der junge Edelmann durch seine
+Leute, daß die Liebe zwischen jenen beiden nicht nur
+nicht aufhörte, sondern täglich fester wurde. Um sich
+selber davon zu überzeugen, begab er sich am Sankt
+Matthäustage zur gleichen Zeit wie Anna Brocchi in
+die Kirche della Pace, wo er sich in einer Seitenkapelle
+verbarg, von der aus er alles genau sehen konnte, was
+sich zwischen der Sängerin und dem Kardinal begab.
+Und es blieben ihm keine Zweifel mehr, als die Brocchi,
+gefolgt vom Kardinal, die Kirche verließ und dieser sie
+lachend grüßte, was ihm die Sängerin mit einem Blick
+zurückgab, der deutlich genug war.</p>
+
+<p>Der arme Longobardi lief wütend zu der Sängerin
+und machte ihr Vorwürfe wegen ihres von ihm doch
+verbotenen Kirchenbesuches und daß sie den Kardinal
+gegrüßt habe. Die Brocchi gab den Kirchenbesuch zu,
+leugnete aber, den Kardinal Aldobrandini da gesehen zu
+haben. Und fuhr trotz seiner Bitten fort, dieses zu behaupten,
+daß sie jenen weder gesehen noch gegrüßt
+habe. Da riß der Ritter Longobardi seinen Dolch heraus
+und bedrohte sie mit dem Tode, wenn sie nicht die
+Wahrheit sage. Da gestand die erschrockene Sängerin,
+den Kardinal gesehen und gegrüßt zu haben, aber dies
+nur in höflicher Antwort auf seinen Gruß und auf ganz
+übliche Weise. Sie habe anfangs dies nur geleugnet, weil
+sie so geringfügiger Ursache wegen keinen Streit
+zwischen den beiden Männern entfachen wollte.</p>
+
+<p>Diese Antwort beruhigte etwas den jungen Edelmann,
+und er bat sie aufs neue, die Kirche della Pace nicht
+zu besuchen und den Kardinal nicht zu grüßen oder gar
+zu sprechen, denn anders würde es sie das Leben kosten,
+<a id="page-388"></a><span class="pgnum">388</span>dessen könne er sie versichern. Und die Sängerin versprach,
+wenn auch sehr gegen ihren Willen, alles zu
+tun, wie er wünsche.</p>
+
+<p>Aldobrandini vermißte zu wiederholten Malen die
+Sängerin in der Kirche und konnte sich den Grund
+ihrer unbegreiflichen Abwesenheit nicht erklären; er beschloß
+aber, auf das Geheimnis zu kommen; doch löste
+es sich ihm auf eine nicht erwartete Weise. Er erhielt
+von Anna Brocchi einen Brief, in dem sie ihm mitteilte,
+daß sie sich unter seinen Schutz stelle; er möge sie von
+Longobardi befreien, der sie mit grausamer Härte behandle.
+Der Kardinal war entrüstet über das, was er die
+Frechheit des Ritters nannte und ließ Anna sagen, daß
+er ihr ergeben sei und sich um nichts andres kümmere,
+als ihr zu dienen. Sofort suchte er nach einem Mittel,
+sich seines Rivalen zu entledigen. Alsbald fand man an
+jenem Ostersamstag das Haupt des Longobardi auf eine
+Lanze gespießt auf dem Petersplatze.</p>
+
+<p>Der Verdacht richtete sich alsobald auf Aldobrandini,
+von dessen Besuch bei der Sängerin am selben Abende
+des Mordes man erfuhr. Und alle Welt wunderte sich
+über die geringe Tätigkeit, welche die Justiz in dieser
+Mordsache entfaltete, und über das Schweigen des
+Papstes in dieser Sache.</p>
+
+<p>Den Kardinal sah man nun zu jederzeit in das Haus
+der Sängerin gehen, derart, daß es ein großes Ärgernis
+gab.</p>
+
+<p>Umgeben von Kreaturen des Kardinals, konnte der
+Papst nichts wissen. Man pries ihm die Sittenstrenge
+seines Neffen, an die zu glauben ihn wohl auch seine
+verwandtschaftlichen Gefühle bewogen. Aldobrandini
+hätte sich auch fernerhin alles Vertrauen des Papstes,
+seines Onkels, erfreuen können, hätte diesen nicht ein
+<a id="page-389"></a><span class="pgnum">389</span>Zufall mit dem Leben des allzuverliebten Kardinals bekannt
+gemacht.</p>
+
+<p>Im Verlaufe eines Gespräches mit dem spanischen
+Gesandten beleidigte der Kardinal diesen auf das
+schwerste. Der Gesandte, ein Edelmann von feinstem
+Geiste, wollte die guten Beziehungen zwischen seinem
+Hofe und dem päpstlichen Stuhle von diesem Zwischenfall
+nicht trüben lassen und tat, als ob er die Beleidigung
+nicht merkte, bereitete aber im Geheimen seine Rache.
+Nun erfuhr er durch seine Leute von der Beziehung
+Aldobrandinis zur Sängerin Brocchi, der schamlosen
+Straflosigkeit des Kardinals und daß der Papst von den
+Schandtaten seines Neffen nichts wisse. Dieser pflegte
+die Sängerin unter den größten Vorsichtsmaßregeln
+gegen vier Uhr des Nachts zu verlassen; Diener und
+Wagen erwarteten ihn ein paar Schritte vom Hause
+entfernt um eine Straßenecke, wohin er sich immer
+zu Fuß begab. Der Gesandte schickte nun einen seiner
+Lakaien zu Anna Brocchi und ließ sie bitten, ob er an
+einem bestimmten Abend zu ihr kommen könne, sie
+singen zu hören. Er ließ ihr auch sagen, daß sie zu niemandem
+von dieser Einladung sprechen möge, damit
+daraus kein Gerede entstehe.</p>
+
+<p>Die Sängerin war sehr geschmeichelt, von einer so
+hohen Persönlichkeit bemerkt worden zu sein, und gab
+ihre Zustimmung bereitwilligst.</p>
+
+<p>An dem beschlossenen Abend schickte der Gesandte
+einige vertraute Diener voraus, die sich im Treppenhaus
+versteckt halten sollten. Alle waren mit großen Fackeln
+versehen, geschickt in besonders dazu gefertigten Gehäusen
+verborgen. Als nun Aldobrandini heimlich und
+leise seine Schöne verließ, hielten ihm die Kerle des Gesandten
+ihre leuchtenden Fackeln ins Gesicht, als Ehrengeleite,
+<a id="page-390"></a><span class="pgnum">390</span>wie sie sagten. Der Kardinal, dem diese starke
+Beleuchtung gar nicht paßte, wollte die Leute wegschicken,
+aber sie blieben durchaus und geleiteten den
+Kardinal, der, so gut er konnte, mit seinem Mantel sein
+Gesicht verhüllte, bis an seinen Wagen.</p>
+
+<p>Die Geschichte wurde bald bekannt und kam endlich
+auch zu den Ohren des Papstes, der alles zu wissen begehrte.
+In großem Zorne entzog er seinem Neffen sein
+Vertrauen, entkleidete ihn seiner Ämter und Titel und
+verbot ihm, jemals mehr vor seinen Augen zu erscheinen,
+falls er nicht auch des Purpurs verlustig gehen wolle;
+denn es blieb dem Papste kein Zweifel mehr, daß Aldobrandini
+auch an der Ermordung jenes Longobardi
+schuldig war.</p>
+
+
+
+
+<h3>VERBRECHEN UND TOD
+DES GIROLAMO BIANCINFIORE EINES
+FLORENTINISCHEN EDELMANNES</h3>
+
+
+<p>Zur Zeit, als sich der fünfte Karl bemühte, das Haus
+Medici in Florenz auf den Thron zu bringen, gab es
+unter den edlen Familien dieser Stadt auch eine, die ganz
+besonders dem Unglücke geweiht zu sein schien, das
+Geschlecht der Biancinfiore. So starben im Jahre 1520
+Madonna Constanza Biancinfiore und ihre Kinder plötzlich
+an Gift, ohne daß man dem Urheber dieses Verbrechens
+auf die Spur kam. Nur eines der Kinder kam
+mit dem Leben davon; es war dies Signor Girolamo
+Biancinfiore, der fortan in Neapel lebte. Man war allgemein
+des Glaubens, daß er selber seine Familie umgebracht
+habe, um deren einziger Vertreter zu sein;
+darum begab er sich, um sein Leben bangend, alsofort
+<a id="page-391"></a><span class="pgnum">391</span>nach Rom, als er erfuhr, daß sein Landsmann, der Papst
+Leo X. aus dem Hause Medici den päpstlichen Thron
+bestiegen hatte. Er warf sich dem Papst zu Füßen, der
+ihn gnädig aufnahm.</p>
+
+<p>Dieser Girolamo war von hoher Intelligenz und einer
+über alle Probe erhabenen Tapferkeit. Unglücklicherweise
+hatte ihm diese Tapferkeit zu nichts anderem gedient
+als dazu, ein leidenschaftlicher Zweikämpfer zu
+werden; denn mit dem Degen verstand er vortrefflich
+umzugehen. In Neapel hatte er im Zweikampf mehr als
+sechsunddreißig Gegner getötet, und zumeist aus ganz
+nichtigen Gründen, was ihn ebenso gefürchtet machte
+wie den Verdacht bestärkte, den man hinsichtlich des
+Todes seiner Familie auf ihn geworfen hatte.</p>
+
+<p>Girolamo ließ sich in Rom nieder, mietete hier ein
+Haus und lebte in einem Aufwand, der bald alle seine
+Einkünfte verschlungen hatte. Er verkehrte mit einer
+Anzahl junger Adeliger, die ihn nicht wegen seiner persönlichen
+Tugenden schätzten als wegen der Länge und
+Lebhaftigkeit seines Schwertes, weshalb sie sich auch
+hüteten, mit ihm in Streit zu kommen. Aber Girolamo,
+der sich von denen, die er seine Freunde nannte, so
+geschätzt sah oder vielmehr glaubte, brannte darauf,
+eine Probe seines Wertes und seiner Geschicklichkeit
+abzugeben, rühmte er sich doch immer, nie noch einen
+Gegner verfehlt zu haben. Und da bot sich ihm
+auch schon so sehr verlangte Gelegenheit. Am Ostersonntag
+beleidigte er ohne jeden Grund und Anlaß
+mitten in der Kirche von Santa Maria in Trefontana
+einen neapolitanischen Edelmann, den Grafen von Alincastro,
+den er von früher her kannte, und der in der
+Kirche seine Andacht verrichten wollte. Der Graf, der
+ein frommer Mann war, sagte leise zu Biancinfiore:
+<a id="page-392"></a><span class="pgnum">392</span>„Signor Girolamo, es ist dies weder der Ort noch die
+Stunde, Händel auszutragen, aber zu anderer Zeit und
+an anderm Orte mögt Ihr mich immer finden.“ Darauf
+verließ Girolamo wütend die Kirche und wartete
+draußen auf den Grafen. Als er ihn aus dem Kirchentor
+treten sah, ging er auf ihn zu und forderte ihn mit
+Beschimpfungen zum Zweikampf. Und nannte ihn einen
+Feigling, wenn er die Herausforderung nicht annehme.
+Da solches vor vielem Volke sich zutrug, blieb dem
+Grafen, der Ehre und Ruf bedroht sah, nichts andres,
+als den Zweikampf anzunehmen. Er holte bei einem
+Freunde, wo er ihn gelassen hatte, seinen Degen und
+focht mit Biancinfiore; eine große Menge sah zu. Der
+Graf bekam einen Stich in die Brust, und verschied
+eine halbe Stunde danach.</p>
+
+<p>Die Familie des Grafen erhob beim Papste Klage
+gegen Biancinfiore, von dessen ruchlosen Taten in
+Neapel der Papst bei dieser Gelegenheit erfuhr. Er ließ
+ihn in die Engelsburg werfen. Aber ein paar einflußreiche
+Freunde Girolamos verwandten sich für ihn und
+es gelang ihnen, die Sippe des Erschlagenen versöhnlich
+zu stimmen. Darauf begnadigte ihn auch der Papst, doch
+unter der Bedingung, daß er in Rom nie mehr Waffen
+tragen dürfe, unter Strafe des Todes.</p>
+
+<p>Dieses päpstliche Verbot machte des Girolamo Bekannte
+weniger ängstlich vor ihm, denn jeder war der
+Meinung, er würde jenes Gebot achten. Aber es waren
+noch nicht zwei Monate nach seiner Haftentlassung vergangen,
+als er sich durch ein zweideutiges Wort eines
+venetianischen Edelmanns beleidigt glaubte und diesen,
+wie er es gewohnt war, mit Beschimpfungen zum Zweikampf
+forderte. Darauf begab er sich nach Hause,
+seinen Degen zu holen, und fand sich an dem Orte
+<a id="page-393"></a><span class="pgnum">393</span>ein, wo ihn der Venetianer erwartete. Dieser war ein
+gewandter Fechter, hatte aber das Mißgeschick, über
+einen Stein zu stolpern und hinzufallen. Alsogleich
+stürzte Biancinfiore über ihn her und versetzte ihm so
+viele Stiche, daß dem Unglücklichen kaum Zeit zur
+Beichte mehr blieb, als er seinen Geist aufgab.</p>
+
+<p>Biancinfiore flüchtete vor dem Zorn des Papstes in
+eine Kirche, wo er sich zwei Monate lang verborgen
+hielt. Während dieser Zeit legten sich neuerlich einige
+seiner Freunde beim Papste ins Mittel, und dieser verzieh
+ihm zum zweiten Male; Girolamo hatte eine hohe Geldbuße
+zu zahlen und nachher den Kirchenstaat zu verlassen.
+Nun war aber Biancinfiore schon aus Neapel,
+Florenz und andern Orten verwiesen und wußte nicht
+mehr, wohin er sich begeben sollte; also ließ er dem
+Papste die Beteuerung seiner Reue und seines Gehorsams
+zukommen und daß er ihn nur immer schwer
+strafen möge, wenn er inkünftig sein Gebot übertrete.
+Der Papst begnadigte, gerührt von diesen inständigen
+Bitten, Girolamo zum andern Male, und hinfort lebte
+dieser sehr zurückgezogen, um jeden neuen Anlaß zu
+Vergehungen zu vermeiden.</p>
+
+<p>Nun geschah es aber, daß er viel im Hause der Gräfin
+Oddi zu verkehren begann und sich heftig in die Gräfin
+verliebte, die auch ihrerseits bald eine solche starke
+Zuneigung zu ihm empfand, daß sie ihm nicht nur ihren
+Wagen überließ, sondern ihm alles gab, wessen er bedurfte,
+ja ihn in einem Trakte ihres Hauses wohnen ließ.
+Daraus entstand, daß sich Girolamo bald wie ein Eheherr
+fühlte, denn er verbot, eifersüchtigen Wesens, der
+Gräfin, die ein großes Haus führte, jede Geselligkeit,
+insonders den Empfang von Herren in ihrem Hause.
+Aber die Gräfin kümmerte sich um solches nicht und
+<a id="page-394"></a><span class="pgnum">394</span>begann den Biancinfiore lästig zu finden; sie sagte
+ihm, daß er sie mit seiner Eifersucht langweile. Solche
+Worte kränkten den Eifersüchtigen um so mehr, als er
+die Gäste, die er täglich mit bösen Blicken sah, nicht
+mehr vor seine Klinge fordern konnte. Er konnte es
+nicht hindern, daß die Gräfin Herren und Damen zu
+einem Gastmahl lud, worunter besonders ein paar junge
+Edelleute seinen Haß hervorgerufen hatten; da nahm
+er seine Zuflucht zu Gift, wohl in der Hoffnung, daß
+auch dieser Giftmord wie der an seiner Familie verborgen
+bleiben oder daß ihm dabei das Glück so
+günstig sein würde wie bei seinen beiden Zweikämpfen.
+Einen ihm sehr ergebenen Diener der Gräfin
+machte er zu seinem Vertrauten, indem er ihn mit Geld
+bestach. Die Gäste waren bereits versammelt, als er
+diesen Diener in sein Gemach rief und ihm sagte: „Streu
+dieses Pulver hier unvermerkt auf das letzte Gericht,
+das du aufträgst, und gib mir dann ein Zeichen. Du
+bekommst als Lohn mehr als du dir träumst.“</p>
+
+<p>Hierauf setzte er sich zu den fröhlich Tafelnden und
+aß mehr wie sonst; als der Diener aber das Zeichen
+machte, da hörte er zu essen auf. Alle nun, die von der
+vergifteten Speise gegessen hatten, wanden sich bald
+in großen Schmerzen, und auch Biancinfiore rannte
+als wie besessen von Schmerzen durch das Zimmer. Die
+Mühe der herbeigerufenen Ärzte war vergeblich. Die
+Gräfin, ihre kleine Tochter und drei Edelleute verstarben.
+Nur bei Biancinfiore, der sich zu Bett begeben
+hatte, wirkten die Mittel der Ärzte, die dieses mit
+Staunen sahen, aber schließlich froh waren, wenigstens
+einen von sechsen gerettet zu haben.</p>
+
+<p>Kaum sah sich Biancinfiore allein, so rief er nach
+seinem Diener. Er bedrohte ihn mit dem Tode, falls er
+<a id="page-395"></a><span class="pgnum">395</span>vor Gericht das Geringste verriete, und gab ihm Geld.
+Die päpstliche Justizbehörde ordnete Nachforschungen
+an über dieses auffallende plötzliche Sterben, und als
+die Gerichtsärzte an den ausgegrabenen Leichen Gift
+feststellten, wurde die ganze Dienerschaft der Gräfin
+verhaftet und verhört. Trotz der Folter, unter die man
+einen Diener stellte, der widerspruchsvoll ausgesagt
+hatte, kam kein Licht in die Sache, und man mußte
+alle wieder entlassen, darunter auch jenen Diener. Aber
+es faßte diesen plötzlich die Furcht. Er flüchtete in eine
+Kirche und erklärte, er wolle ein Geständnis ablegen,
+wenn man ihm Straflosigkeit zusichere. Solches geschah,
+und vor den Gouverneur von Rom geführt, enthüllte er
+die Untat, zu der er, wie er sagte, durch die Drohungen
+Biancinfiores gezwungen worden wäre. Dieser wurde
+verhaftet und in den Kerker von Corte Savella gebracht.
+Der Papst, der sich selber große Schuld zumaß, ordnete
+eine strenge Untersuchung an.</p>
+
+<p>Anfangs leugnete Biancinfiore alles, auch als man ihn
+mit dem Diener zusammenbrachte. Aber beim Anblick
+der Folterwerkzeuge gestand er nicht nur das letzte Verbrechen,
+sondern auch den Giftmord an seiner Familie.
+Das Gericht verurteilte ihn zum Feuertode und vorherigem
+Zwicken mit glühenden Zangen, aber der Papst
+verwandelte diese Strafe in Ansehung seines adeligen
+Hauses in einfache Hinrichtung im Kerker. Noch am
+selben Abende empfing Biancinfiore das Todesurteil.
+Er erhob ein großes Wehklagen, aber seine Beichtiger
+beruhigten ihn und tiefe Reue kam über ihn, Gott so
+sehr beleidigt zu haben. Er bat um Verzeihung für alle
+seine Missetaten und dankte ihm für seinen bußfertigen
+Tod. Vor seiner Hinrichtung erbat er sich noch die
+Gnade des päpstlichen Segens, der ihm auch von einem
+<a id="page-396"></a><span class="pgnum">396</span>Prälaten des päpstlichen Hauses überbracht wurde. Dann
+legte er das Haupt auf den Richtblock.</p>
+
+<p>Also endete der letzte aus dem Hause der Biancinfiore.</p>
+
+
+
+
+<h3>DER HERZOG VON SAVELLI</h3>
+
+
+<p>Des Herzogs von Savelli einziger Sohn war, wie der
+Kardinal Gaetani in einem Briefe schreibt, ein junger
+Mann von lebhaftem Geiste, großem Mute und untadeligen
+Sitten, was alles ihn sehr beliebt am römischen
+Hofe machte. Er wollte kaiserliche Dienste nehmen, aber
+der Vater war damit nicht einverstanden, dessen Trost
+im Alter, Stolz und einzige Hoffnung seines Hauses er
+war; zudem plante er seine Verheiratung mit der Tochter
+eines der ersten neapolitanischen Geschlechter, des
+des Marchese de Vastro, deren Mitgift 800&nbsp;000 Skudi
+betrug. Die Braut zählte aber erst zehn Jahre, weshalb
+die Eheschließung auf den Tag verschoben wurde, der
+ihr dreizehnter Geburtstag war.</p>
+
+<p>Inzwischen lebte der junge Herzog auf seinem Landgute
+Ariccia, wo er sich in ein junges Mädchen von
+großer Schönheit und Tochter ehrbarer Eltern verliebte,
+die aber bereits einem jungen Manne des Ortes, namens
+Christofano, versprochen war. Um die Tochter den Nachstellungen
+des jungen Herzogs zu entziehen, drängten
+die Eltern mit der Eheschließung. Sie hielten das Mädchen
+streng im Hause, auf daß sie der Herzog nicht
+sehe, der ihr aber insgeheim einige Liebesbriefe hatte
+zukommen lassen. Es fand die Hochzeit statt und der
+Herzog sandte als Hochzeitsgabe ein reich mit Blumen
+verziertes Mieder, was die Eifersucht des jungen Gatten
+in hohem Maße erregte. Aber er war ein Vasall des Herzogs
+und konnte mit ihm nicht rechten, ja mußte um
+<a id="page-397"></a><span class="pgnum">397</span>sein Leben fürchten, falls er sich den Wünschen seines
+Herrn widersetzte. Aber er wollte lieber sterben, als
+solches dulden; so schwor er. Und seine Frau war mit
+ihm ganz einig. Sie übergab auch die Briefe, mit denen
+sie der Herzog bestürmte, ihrem Gatten, und sie bezogen
+ein anderes Haus, als der Herzog in ein nah benachbartes
+Haus zog, von dessen Fenster aus er die junge Frau zu
+sprechen suchte. Dem Gatten schien nur die Wahl
+zwischen Unehre und Tod zu bleiben, und er begann
+seine Heirat zu bereuen. In seiner Verzweiflung beschloß
+er, den jungen Herzog zu ermorden, um die Ehre seines
+Ehebettes zu retten.</p>
+
+<p>Er veranlaßte seine Frau, auf einen der Briefe des
+Herzogs zu antworten, und sie schrieb ihm, er möge um
+Mitternacht verkleidet zu ihr kommen, damit man ihn
+nicht erkenne; ihr Mann sei in Geschäften nach Rom
+gefahren. Daß er den Herzog ermorden wollte, davon
+sagte Christofano seiner Frau kein Wort; er wollte ihm
+nur einen Streich spielen, sagte er ihr, ohne ihn zu
+beleidigen, was die junge Frau in ihrer Unschuld auch
+glaubte. Der Herzog eilte verkleidet zu dem Stelldichein,
+aber statt in die Arme seiner Geliebten, fiel er in die
+ihres Gatten, der die Kleider seiner Frau angelegt hatte
+und den Liebhaber durch eine Magd in ein entlegenes Gemach
+führen ließ. Hier schoß er, kaum daß er eingetreten
+war, fünf Kugeln aus seiner Pistole auf ihn ab
+und durchschnitt ihm mit einem Messer die Kehle,
+damit er nicht schrie. Mit Hilfe eines Genossen, den er gedungen
+hatte, schleppte er hierauf den Leichnam bis zum
+Tor des Schlosses, wo er ihn in seinem Blute liegen ließ.</p>
+
+<p>Nach Haus zurückgekehrt, wollte er nun auch seine
+Frau ermorden, aber diese war in das Haus ihrer Eltern
+geflüchtet. Christofano floh mit seinem Genossen nach
+<a id="page-398"></a><span class="pgnum">398</span>Aleppo in der Türkei, von wo er Nachricht nach Rom
+sandte.</p>
+
+<p>Auf die Kunde von dem Verbrechen sandte der Papst
+viele seiner Gerichtsbeamten nach Ariccia, die alsbald
+in Christofanos Haus die große Blutlache fanden. Die
+Gattin wurde verhaftet und nach Borgo Castello gebracht,
+wo sie zwei Monate lang verhört wurde. Sie wurde
+verschiedenen Graden der Folter unterworfen und gab
+das Folgende zu Protokoll:</p>
+
+<p>„Es ist so, daß mich der junge Herzog Savelli, während
+ich im Elternhause lebte, mehrfach durch Briefe
+zu einem Stelldichein zu überreden suchte. Meine Mutter
+aber sagte mir, ich dürfe darauf nicht antworten, denn
+er sei ein leichtfertiger junger Mann, der seine Leute um
+nichts ermorden lasse. So sagten auch mein Vater und
+alle meine Verwandten. Es war das erste, was mir mein
+Mann Christofano sagte, daß ich den jungen Herzog
+nicht ansehen solle. Als er eines Tages an das Fenster
+des Nachbarhauses trat, stürzte mein Mann mit dem
+offenen Messer auf mich zu, aber sein Bruder, der
+Priester Don Angelo Maria, fiel ihm in den Arm. Wir
+zogen in ein andres Haus, das mein Mann gemietet hatte,
+dasselbe, in dem der junge Herzog ermordet wurde. Der
+sandte mir aufs neue Briefe, die ich meinem Manne
+zeigte. Dann gab er ihm Antwort in einem Briefe und
+lud ihn zu Mitternacht in unser Haus, um ihm, wie
+er mir sagte, einen Streich zu spielen. Was ich um so
+mehr glaubte, da er meine eignen Kleider anlegte, auch
+Halsband und Ringe, die ich trug. So trat er um Mitternacht
+dem Herzog gegenüber, mit Messer und Pistole.
+Ich starb vor Schrecken, als ich den ersten Schuß hörte.
+Ich habe nichts gesehen, denn ich floh aus dem Haus,
+aus Angst, es könnten mich die Diener des Herzogs umbringen.
+<a id="page-399"></a><span class="pgnum">399</span>Ich floh zu meinen Eltern. Meine Mutter sagte
+mir, ich dürfe von dem allen nichts verraten, und wir
+gingen zum Podesta.“</p>
+
+<p>Die junge Frau blieb fest bei ihrer Aussage im Gefühle
+ihrer Unschuld; sie wurde aber doch zum Tode
+durch Enthaupten verurteilt, welche Strafe die Familie
+des alten Herzogs verlangte.</p>
+
+<p>Als die Herzogin Margarete von Parma von der Schönheit
+der Verurteilten hörte, wollte sie sie durchaus sehen,
+und da sie großen Gefallen an ihr fand, beschloß sie
+ihre Rettung. Sie verhandelte mit dem Papste. Der aber
+wollte sie nur begnadigen, wenn der alte Herzog Savelli
+damit einverstanden wäre. Die Herzogin erreichte es von
+ihm, daß ihr die Verurteilte als gerichtet überantwortet
+würde. Darauf nahm sie sie als Hoffräulein in ihre
+Dienste und erreichte ihre völlige Freisprechung.</p>
+
+<p>Umsonst ließ Papst Paul III. den Mörder in allen
+Teilen des Kirchenstaates suchen, denn der war in
+Aleppo. Aber die Eltern der Frau mußten lange im
+Kerker schmachten und wurden dann aus Ariccia und
+dem Kirchenstaate verwiesen. Das war die einzige Genugtuung
+für den Herzog, der über den Tod seines Sohnes
+dem Wahnsinn verfiel.</p>
+
+
+
+
+<h3>DIE RACHE ARIBERTIS</h3>
+
+
+<p>Ariberti, ein Mailänder Edelmann und Besitzer mehrerer
+Ortschaften, hatte gegen ein Mitglied der Familie Pecchio
+einen tödlichen Haß gefaßt; er war in seinem Besitztum
+und später auch in seiner Liebe schwer beleidigt
+worden. Pecchio führte gegen ihn einen Prozeß, den er
+gewann. Im Verlaufe dieses durch Jahre sich hinziehenden
+<a id="page-400"></a><span class="pgnum">400</span>Prozesses fiel Pecchio des Ariberti schöne Frau
+auf, und es gelang ihm, sie von seiner Liebe wissen zu
+lassen und die ihre zu gewinnen. Nach Verlust des Prozesses
+erging sich Ariberti in Drohungen gegen seinen
+Gegner. Pecchio erfuhr, daß Aribertis Gattin auf einem
+der Schlösser ihres Gatten in strengem Gewahrsam gehalten
+wurde. Sie trug nur nach einem in der Welt Verlangen:
+aus Aribertis Tyrannei erlöst zu werden. Insgeheim
+hatte sie genügend Geld für ihren Unterhalt zusammengebracht.
+Das Schloß, in dem sie eingeschlossen
+war, lag nah bei Lecco, eine Stunde Wegs von der Adda,
+die das Venetianische vom Mailändischen trennt; einmal
+auf venetianischem Gebiet, konnte sie einen andern Namen
+annehmen und war vor allen Verfolgungen so gut wie
+sicher. Und ging es nicht anders, so wollte sie in Venedig
+in ein Kloster gehen, dessen Regeln zu jenen Zeiten nicht
+sehr streng waren.</p>
+
+<p>Während der kurzen Beziehungen zu Pecchio hatte
+er ihr Geständnis empfangen. Seitdem waren drei Jahre
+vergangen, und Aribertis Tyrannei war unerträglich geworden;
+er hatte drei spanische Duennen in Dienst genommen,
+die seine Frau abwechselnd bewachten; nicht
+einmal des Nachts war die Unglückliche allein: die
+wachthabende Duenna schlief bei ihr im Zimmer.</p>
+
+<p>Eine Kammerfrau, vormals die Vertraute von Aribertis
+Gattin in ihrer Liebschaft, war zwar nicht
+davongejagt, aber zur Gänsemagd degradiert worden, als
+welche sie an dem Ufer der Adda ihre Herden hütete.
+Der seltsame und in der Kunst der Rache raffinierte
+Mann hatte zu der Kammerfrau gesagt: „Ich strafe dich
+so mehr, als wenn ich dich wegschicke.“ Und als die
+Unglückliche den Wunsch aussprach, bei einer andren
+Herrschaft in Dienst treten zu dürfen, antwortete ihr
+<a id="page-401"></a><span class="pgnum">401</span>Ariberti: „Versuch es nur, aber in weniger als vier
+Wochen bist du tot.“</p>
+
+<p>Pecchio wußte um alle diese Dinge, die übrigens in
+Mailand Stadtgespräch waren zu der Zeit, als er sich
+für die Drohungen rächen wollte, die Ariberti überall
+gegen ihn ausstieß seit dem Verluste seines Prozesses.
+Eines Tages ging Pecchio, wie er sagte, auf die Jagd,
+wozu er sich als Bauer verkleidete; so kam er an die
+Adda, wo er die Gänseherde seines Feindes aufsuchte.
+Er vergewisserte sich, daß an diesem Tage jener Kammerfrau
+allein die Obhut der Gänse anvertraut war und
+traf sie wie zufällig.</p>
+
+<p>„Großer Gott, wie seid Ihr verändert!“ rief er ihr zu,
+„kaum seid Ihr wieder zu erkennen!“</p>
+
+<p>Die Kammerfrau brach in Tränen aus und sprach kein
+Wort.</p>
+
+<p>„Wie leid mir Euer Unglück tut,“ sagte Pecchio, „erzählt
+mir doch, wie das kam; zuvor aber wollen wir
+uns hinter jener Hecke verbergen, damit uns nicht einer
+der Spione bemerkt, die immer um das Schloß streichen.“</p>
+
+<p>Die Kammerfrau erzählte ihr und ihrer Herrin Unglück.
+Sprach die Herrin ihre frühere Kammerfrau
+einmal an oder lächelte sie ihr nur zu, so wurde die
+Kammerfrau auf acht Tage bei Wasser und Brot eingesperrt.
+Die Behandlung ihrer Herrin schien weniger
+hart, war aber noch grausamer. Ariberti sprach mit ihr
+immer nur in einem spottenden höhnenden Ton.</p>
+
+<p>Pecchio schien von diesen endlosen Berichten sehr
+bewegt.</p>
+
+<p>„Ach, Herr, wenn Ihr ein Christ seid, so solltet Ihr
+diese unglückliche Frau, die Ihr einst so liebtet, retten.
+Bleibt sie noch ein Jahr in diesem Zustande, so stirbt
+sie für sicher. Und sie wäre schon glücklich, könnte sie
+<a id="page-402"></a><span class="pgnum">402</span>nur eine Meile weit von hier fern sein! Sie hat ein Kästchen
+voll Goldzechinen und zudem, wie Ihr wißt, viele
+Diamanten.“</p>
+
+<p>„Wohlan, ich werde sie retten“, sagte Pecchio.</p>
+
+<p>Die alte Kammerfrau und jetzt Gänsemagd fiel auf
+die Knie.</p>
+
+<p>„Ich fürchte nur eines,“ sagte Pecchio, „Euer Geschwätz.
+Du oder deine Herrin, ihr werdet reden, werdet
+euch jemandem anvertrauen und werdet mir den Tod
+bringen.“</p>
+
+<p>Und als darauf die Kammerfrau sich zu schweigen
+verschwor, fuhr er fort: „Genau heut in acht Tagen,
+am nächsten Dienstag, ist Neumond und zudem Jahrmarkt
+in Lecco. Die Nacht über wird die Straße voller
+singender Betrunkener sein. In dieser Nacht, wenn's zehn
+Uhr auf der Kirchenuhr schlägt, werde ich auf der Adda
+sein, unten am Schloßgarten, dort, wo die Maulbeerbäume
+und die vielen Nesseln stehen und wo ich mich
+früher immer einschlich. Ich werde selber vom Comersee
+mein Boot herrudern; es ist sehr klein; hoffentlich
+wird man mich nicht bemerken.“</p>
+
+<p>„Aber wir brauchen mindestens zwei Männer, um
+die Duennen festzuhalten und ihnen einen Knebel in den
+Mund zu stecken; denkt daran, daß sie schreien werden
+und daß man Euch auf der Adda verfolgen wird. Die
+Schiffleute Aribertis sind lauter junge Leute, die den
+Preis auf der Regatta gewonnen haben. Und wie soll
+ich es anstellen, meiner Herrin Nachricht zukommen zu
+lassen? Ich kann ihr zwar durch ein zwischen uns verabredetes
+Zeichen zu verstehen geben, daß ich ihr Wichtiges
+zu sagen habe, aber wie soll ich ihr es sagen?
+Es geht oft monatelang, ohne daß ich sie sprechen
+kann.“
+</p>
+
+<p><a id="page-403"></a><span class="pgnum">403</span>Die Kammerfrau konnte nicht schreiben; alles schien
+sich zu vereinigen gegen Pecchios Pläne. Schließlich
+wurde vereinbart, daß Pecchio ein Fläschchen mit Mohnsaft,
+ein berühmtes Betäubungsmittel, das man damals
+in Venedig bereitete, in zwei Tagen bringen solle. Berta
+hatte Angst, es möchte Gift sein; aber Pecchio beruhigte
+sie, und sie kamen überein, daß Berta den Duennen etwas
+von dem Safte geben solle. Darauf sollte sie jenen
+Dienstboten, welche die Duennen nicht leiden konnten,
+Geld in die Hand geben, auf diese Weise zu ihrer Herrin
+kommen und endlich, wenn sie Pecchio etwas zu melden
+hätte, einen einzelwachsenden kleinen Weidenbaum
+knicken, der mitten auf einer nahen Wiese stand.
+Pecchio kehrte nach Mailand zurück und früher als gewöhnlich
+trieb Berta ihre Gänse in den Schloßhof. Sie
+suchte hier eine Gelegenheit, mit ihrer Herrin zu
+sprechen, noch vor der Ankunft jener Betäubungsmittel.
+Der Herr Pecchio war jung und stand im Rufe geringer
+Beständigkeit. Berta, welche seine Rachepläne nicht
+kannte, fürchtete, er könnte vergessen, zum Stelldichein
+an der Adda zu kommen.</p>
+
+<p>Alles ging nach Wunsch. Berta schläferte mit dem
+Mohnsaft die Duennen ein, sprach mit ihrer Herrin, und
+am Jahrmarktstage in Lecco betranken sich alle Dienstleute
+Aribertis, wozu die Zechinen dienten, welche
+Pecchio der Kammerfrau zugesteckt hatte. Ariberti selber
+war in Mailand auf einem Balle, den die Signora Arezi,
+eine der vornehmsten Damen des Landes, gab.</p>
+
+<p>Zur ausgemachten Stunde fand Pecchio sich mit
+seinem Boote an jenem einsamen Ufer des Schloßgartens
+ein. Die Duennen konnten die Flucht ihrer Herrin nicht
+verhindern. Berta hatte alle Angst, sie zu vergiften, verloren
+und ihrem Wein eine sehr große Menge von dem
+<a id="page-404"></a><span class="pgnum">404</span>Mohnsaft beigemischt. Sie folgte ihrer Herrin auf das
+kleine Boot.</p>
+
+<p>Zu seinem großen Leidwesen sah Pecchio, daß Donna
+Teresa Ariberti noch große Leidenschaft für ihn hegte
+oder daß diese neu entflammt war, während sein einziger
+Gedanke war, sich von ihr zu befreien. Sobald das
+Boot auf venetianischem Boden war, übergab er die
+Dame einem Franziskanermönch, den er bestochen hatte
+und der ihn auf einer kleinen Insel nah dem venetianischen
+Addaufer erwartete. Der Mönch versprach, Donna
+Teresa auf Umwegen nach Venedig zu bringen. Aber
+sie beschwor Pecchio, sie nicht zu verlassen, und da der
+Edelmann sich taub stellte, ging sie soweit, ihm Vorwürfe
+zu machen, daß er sie unter dem Versprechen,
+mit ihr zusammenzuleben, aus ihrem Schlosse entführt
+habe. Pecchio beeilte sich, auf das mailändische Ufer
+zu kommen, wo er bereits vorbereitete Relais fand, die
+ihn um zwei Uhr morgens nach Mailand auf den Ball
+der Signora Arezi brachten. Einer der ersten, die er hier
+traf, war Ariberti, der, obwohl jung und schön, nicht
+tanzte und düster dreinsah, als ahnte er, was sich auf
+seinem Schlosse zugetragen hatte.</p>
+
+<p>Am andren Tage erhielt er die traurige Kundschaft. In
+großer Eile fuhr er heim und stellte genaue Nachforschungen
+an, konnte aber nichts entdecken. Die Duennen
+waren noch halbtot und vermochten keine Antwort zu
+geben, dank der ungeheuren Menge Mohnsaft, die Berta
+in ihrem Zorne ihnen beigebracht hatte. Nach einigen
+Tagen vergeblichen Forschens entdeckte Ariberti beim
+Durchsuchen des Zimmers der einen Duenna ein merkwürdig
+geformtes Fläschchen. Die Duenna antwortete
+auf seine Frage, sie habe das Fläschchen erst vor
+zwei Tagen gefunden und es wäre ihr, als habe sie es
+<a id="page-405"></a><span class="pgnum">405</span>in den Händen von Berta gesehen. Ariberti schlug sie
+fast tot dafür, daß sie ihm das nicht früher schon gesagt
+hatte.</p>
+
+<p>Voll Verzweiflung, kein Anzeichen gefunden zu haben,
+kehrte Ariberti nach Mailand zurück, das Fläschchen
+nicht vergessend. Er selber nahm sich die Mühe, bei
+allen Apothekern der Stadt damit herumzugehen und
+sie auszufragen. Bei einem erfuhr er, das Fläschchen
+stamme aus einer berühmten, von einem entlaufenen
+griechischen Mönch gehaltenen Apotheke. Ariberti begriff,
+daß der Apotheker mehr wußte, als er sagte; er
+bedrohte ihn erst, dann gab er ihm Geld. Da gestand
+der Apotheker, daß das Fläschchen kein Gift enthalten
+habe, sondern ein starkes Betäubungsmittel, das man den
+Kranken in gewissen Fällen gebe, und daß er selber
+dieses Fläschchen ein paar Tage zuvor an den Signor
+Pecchio verkauft habe…</p>
+
+
+
+
+<h3>DIE BRÜDER MASSIMI</h3>
+
+
+<p>Der Marchese Massimi, ein Verwandter der Colonna
+und andrer altadeliger römischer Geschlechter, war
+Witwer geworden und nannte fünf Söhne sein eigen.
+Nun geschah es, daß sich der alte Marchese ganz toll
+in die Geliebte des Marcantonio Colonna verliebte, einer
+sehr schönen Dame, die der Colonna aus Neapel mitgebracht
+hatte. So stark war die Liebe des Marchese zu
+dieser Dame, daß er sie zu ehelichen beschloß, was
+durchaus nicht den Absichten seiner vier älteren Söhne
+entsprach, die diese Heirat mit allen Mitteln zu hintertreiben
+dachten. Am Abend nach der vollzogenen Hochzeit
+verlangte die junge Frau, ihre Stiefsöhne zu sehen,
+die sie noch nicht kannte. Diese ließen aber durch den
+<a id="page-406"></a><span class="pgnum">406</span>nach ihnen geschickten Diener sagen, daß sie an diesem
+Abend das Glück der Jungvermählten nicht stören wollten,
+aber andren Tages nicht verfehlen würden, ihre Aufwartung
+zu machen.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen begab sich der Marchese wie
+gewöhnlich nach dem Vatikan, denn er war Cameriere
+di Spada e Cappa beim Papste. Dieses hatten die Söhne
+gesehen, drangen alsbald in das Schlafgemach ihrer
+Stiefmutter, töteten sie mit Pistolenschüssen und ergriffen
+die Flucht.</p>
+
+<p>Der alte Marchese war von dem Anblick, der sich ihm
+bei seiner Rückkehr bot, zu Tode getroffen. Dann ergriff
+er ein Kruzifix, verfluchte seine Söhne und rief Gott
+dafür zum Zeugen, daß er seine vier Söhne enterbe zugunsten
+seines Jüngsten, der an dem Morde nicht teilgenommen
+hatte.</p>
+
+<p>Bald danach starb der alte Marchese, und die Mörder
+kehrten dank ihrer hohen Beziehungen und ihrer vornehmen
+Verwandtschaft nach Rom zurück, ohne Strafe
+oder Verfolg. Aber der väterliche Fluch erfüllte sich
+bald.</p>
+
+<p>Marcantonio, den zweiten, gelüstete es nach der Würde
+des erstgebornen Luca und er brachte den Unglücklichen
+mit Gift beiseite. Er hatte das Gift zuerst an seinem
+Kutscher ausprobiert. Erst leugnete er seine Tat und
+wurde freigelassen. Als sich aber neue Verdachtsgründe
+zeigten, wurde er in den Kerker von Tordinona gebracht,
+wo er angesichts der Folter sein Verbrechen in allen
+Einzelheiten gestand. Der Papst verurteilte ihn am
+16. Juni 1599 zum Tode, den er, mit Gott versöhnt
+und mutig, ertrug. Er legte für die Hinrichtung Festkleider
+an, als ob es zu einem Mahle ginge. Der Scharfrichter
+wollte ihm seine Halskrause abnehmen, aber er
+<a id="page-407"></a><span class="pgnum">407</span>sagte befehlend zu ihm: „Rühr mich nicht an!“ Und
+als er seiner Fesseln wegen selber den Kragen nicht abnehmen
+konnte, bat er einen seiner Begleiter, solches zu
+tun. Hierauf legte er selber sein Haupt auf den Richtblock
+und fragte den Henker, ob es so richtig sei, worauf
+dieser Ja sagte und ihm das Haupt abschlug. Seine
+letzten Worte waren: „In manus tuas, Domine, commendo
+spiritum meum.“</p>
+
+<p>Auch die beiden andern Brüder erreichte die strafende
+Hand Gottes. Der eine, der Malteserritter war, wurde
+von den Türken getötet. Der andere wurde in einem
+Liebeshandel aus einem Hinterhalt erschossen.</p>
+
+
+
+
+<h3>GEORGE PIKNON</h3>
+
+
+<p>In den ersten Jahren des Pontifikates des Papstes Clemens
+VIII. traf ein Irländer namens George Piknon
+während der Oktave der Auferstehung den Erzpriester
+von San Celso und San Giuliano in Banchi auf seinem
+Wege in die Kirche, um den Kranken die Kommunion
+zu spenden. Beim Anblick des Prälaten packte den
+Irländer sinnlose Wut; er ohrfeigte ihn so heftig, daß
+der Erzpriester das Ziborium fallen ließ. Piknon hätte
+den Leib Christi mit Füßen getreten ohne die
+Dazwischenkunft der wütenden Menge.</p>
+
+<p>Soldaten entrissen ihn dem Volke und er wurde eingesperrt
+und verhört. Aber auf alle Fragen antwortete
+er nur, daß er nichts als seine Pflicht getan habe und
+bedaure, sie nicht voll erfüllt zu haben. Vergeblich versuchten
+einige Mönche seiner Nationalität, ihn zu bekehren
+und zum katholischen Glauben zu bringen: es
+war verlorene Mühe.</p>
+
+<p>Indem der Papst hoffte, ihn solcherweise zu besseren
+<a id="page-408"></a><span class="pgnum">408</span>Gefühlen zu bringen, befahl er, daß man Piknon im Gefängnis
+behalte, aber mit Nachsicht und Güte behandle.
+Aber es war unnütz. Piknon wollte sich auf nichts einlassen.</p>
+
+<p>Schließlich kündigte man ihm an, daß er gehenkt
+würde; er antwortete mit Hohnlachen; man gab ihm
+darauf noch die weitere Strafe, das Zwicken mit glühenden
+Zangen auf dem Wege zum Richtplatz.</p>
+
+<p>Als am Abend vor der Hinrichtung der Kerkermeister
+ihm nach Brauch das Urteil verlas, lachte Piknon auf
+und spie, von plötzlicher Wut gepackt, dem Mann ins
+Gesicht und versuchte ihm Fußtritte zu geben. Keinem
+der Geistlichen, die um ihn waren, gelang es, von ihm
+andres zu erreichen als eine abweisende Geste.</p>
+
+<p>Inmitten einer ungeheuren Menge wurde er zu Tode
+geführt und mit den Zangen gezwickt, was ihn brüllen
+machte wie ein Stier, und wovon ein solcher schlechter
+Geruch entstand, daß einer der ihn begleitenden Geistlichen
+ohnmächtig wurde. Er übergab sich selbst dem
+Henker. Sein Leichnam wurde verbrannt und seine Asche
+in alle Winde verstreut.</p>
+
+
+
+
+<h3>DIE FARNESE</h3>
+
+
+<p>Es geben einige Schriftsteller der Familie Farnese
+einen uralten Adel, aber, ohne damit die großen Talente
+ihrer vorzüglichsten Glieder zu leugnen, muß gesagt werden,
+daß wahrhafter Ursprung der Größe dieser Familie
+kein andrer war als die Anmut und Schönheit ihrer
+Ahnin, der Vanozza Farnese.</p>
+
+<p>Ranuccio Farnese, ein römischer Edelmann von mäßigem
+Vermögen, hatte drei Kinder: Pier Luigi, Giulia
+und Vanozza. Pier Luigi und Giulia heirateten; der
+<a id="page-409"></a><span class="pgnum">409</span>erstere hatten einen Sohn, Alexander, der eines Tages die
+Tiara tragen sollte.</p>
+
+<p>Was Vanozza betrifft, so verführte sie durch ihre ungewöhnliche
+Schönheit den Roderigo Lenzuoli, durch
+seine Mutter Neffe Calixtus III. aus der Familie der
+Borgia, der ihm im Jahre 1456 den Purpur verschaffte
+und ihm die Würde des Vizekanzlers mit einigen tausend
+Talern Einkünften und sonstigen Benefizien erteilte,
+wodurch er einer der reichsten Kardinäle wurde.</p>
+
+<p>Vanozza wurde die Geliebte dieses Roderigo und hatte
+einige Kinder von ihm, die, wie der berühmte Cesare
+Borgia, mit großem Aufwande erzogen wurden, als ob
+sie zu den mächtigsten Fürstengeschlechtern gehörten.
+Alexander, ein Sohn jenes Pier Luigi, den seine Tante
+Vanozza sehr protegierte, trat trotz seiner sehr leichten
+Sitten in den Dienst des Kardinals Roderigo und war
+noch nicht zwanzig Jahre alt. Dieser Alexander war in
+Liebeshändeln höchst verwegen, hatte manche Dolchstiche
+ausgeteilt und empfangen und fürchtete nichts
+sonst als die Unerbittlichkeit des sehr gerechten Papstes
+Innozenz VIII., der von 1484 bis 1491 regierte, und
+vor dem sein Treiben durchaus geheim gehalten werden
+mußte. Alexander zählte dreißig Jahre, als er ein Abenteuer
+bestand, ob dessentwillen ihn die Frommen noch
+mehr haßten, aber jene, die ihn verehrten, noch mehr
+liebten.</p>
+
+<p>Er ritt eines Tages durch die Campagna und machte
+zwei Miglien vor Rom halt, um Ausgrabungen zu besichtigen,
+die er hier von einigen Bauern aus Aquila ausführen
+ließ. Da kam an der Stelle eine junge Frau aus
+edlem römischen Geschlecht vorbei, die in ihrem Wagen
+nach Tivoli fuhr und von drei Bewaffneten begleitet
+war. Alexander war von der Schönheit der Dame so betroffen,
+<a id="page-410"></a><span class="pgnum">410</span>daß er unverzüglich die Bewaffneten anfiel und
+dem Kutscher zuschrie: „Halt! Das sind meine Pferde!
+Ihr habt sie gestohlen!“</p>
+
+<p>Alexander war gut bewaffnet, aber seine beiden Diener
+hatten nur ganz kurze Schwerter und nahmen gleich
+Reißaus. Alexanders Leben war in Gefahr. „Herbei,
+tapfere Aquilaner!“ schrie er, und die Leute verließen
+ihre Arbeit in dem Augenblick, da er von den Bewaffneten
+umringt war. Was Alexander so wütend machte,
+war nicht seine persönliche Gefahr, sondern daß der
+Kutscher nun seine Pferde antrieb und davonfuhr im
+Galopp. „Dem Wagen nach!“ schrie Alexander zweien
+von den Aquilanern zu, „und tötet eins der Pferde!“</p>
+
+<p>Zum Glücke für Alexander wurde dieser Befehl von
+allen vernommen. Zwei liefen dem Wagen nach und die
+andren schlugen mit Harken, ihren einzigen Waffen,
+auf die Begleitmannschaft ein, die das Leben des jungen
+Farnese bedrohte. Er stach einen der Leute nieder, zwei
+andre fielen vom Pferde und liefen davon. Alexander
+hatte ein paar leichte Wunden erhalten; das hinderte
+ihn aber nicht, hinter dem Wagen mit der Dame herzurennen.
+Sie war in Ohnmacht gefallen und er ließ
+den Wagen querfeldein nach einer kleinen Villa zu
+fahren, die ihm gehörte, etwa zwei Miglien von Palestrina
+entfernt. Hier verlebte er einen glückseligen
+Monat. Niemand in Rom außer dem Kardinal Roderigo
+wußte um seinen Aufenthalt.</p>
+
+<p>Am Tage jenes Verbrechens war Alexander so klug
+gewesen, jedem der Aquilaner sechs Zechinen zu geben
+und ihnen zu befehlen, sofort über Tivoli und Rio Freddo
+in das Königreich Neapel zu verschwinden, was auch
+getreulich ausgeführt wurde, so daß das Verbrechen
+ziemlich lange unentdeckt blieb. Aber schließlich kam
+<a id="page-411"></a><span class="pgnum">411</span>es doch dem Papste zu Ohren. Der Kardinal wollte nicht
+als der Schuldige an der Entführung gelten, denn er
+hatte sich erst kurz vorher einer ähnlichen Untat schuldig
+gemacht. So wurde Alexander trotz aller Mühe, die sich
+Vanozza für ihren Neffen gab, in die Engelsburg gesperrt.
+Der Gouverneur von Rom ließ alle Diener Alexanders
+einsperren, aber erst auf der Folter redeten sie, und
+so erfuhr er auch von den Aquilanern. Er ließ sie von
+Sbirren betrunken machen und über die nahe Grenze
+locken; hier wurden sie gefaßt und verhört. Erst nach
+Monaten war die Untersuchung abgeschlossen, und es
+drohte Alexander schwere Gefahr. Da gelang es dem
+Kardinal Roderigo und Pietro Marzano, einem Verwandten
+der Farnese, Alexander ein Seil zukommen zu
+lassen. Und er war kühn genug, sich von der Höhe der
+Engelsburg, wo er gefangen war, bis in die Gräben
+hinunterzulassen. Das Seil war an 300 Fuß lang und
+von großem Gewicht.</p>
+
+<p>Nach dem Tode Innozenz VIII. wurde der Kardinal
+Roderigo unter dem Namen Alexander VI. Papst. Damit
+gelangte Vanozza zu höchster Macht und sie erreichte
+es, daß Alexander begnadigt und zum Kardinal gemacht
+wurde. Er lebte sein wildes Leben weiter wie zuvor und
+bis zu dem Tage, da er sich in ein adeliges Mädchen
+namens Celia verliebte, die er als seine Frau behandelte
+und von der er einige Kinder hatte.</p>
+
+<p>Nach dem Tode Clemens VII. wurde Alexander unter
+dem Namen Paul III. Papst.</p>
+
+
+
+
+
+<h3>DIE FÜRSTIN VON SALERNO</h3>
+
+
+<p>Romandina war die schönste von drei Schwestern,
+Töchtern des Gabriele del Balzo Orsini, Herzogs von
+<a id="page-412"></a><span class="pgnum">412</span>Venosa, und mit Roberto Sanseverino verheiratet, erstem
+Fürsten von Salerno und Großadmiral des Königreichs
+Neapel. Ihm folgte ihr Sohn Antonello in der Herrschaft.
+Carlo Caraffa, der jüngste Sohn des Galeazzo und der
+Corella Brancaccio war des Fürsten nächster Freund,
+jungaussehend wie ein Knabe noch, schön, hochherzig
+und voll Begabung. Die beiden waren unzertrennlich;
+weilte der Fürst in Neapel, so zeigten sie sich überall
+zusammen.</p>
+
+<p>Nun begab es sich, daß Carlo im Duell einen Edelmann
+aus der Familie Capece erstach und aus Neapel
+fliehen mußte: er begab sich nach Salerno, wo ihn die
+Fürstin Romandina auf das liebevollste aufnahm, eingedenk
+der Freundschaft ihres Gatten. Allmählich entbrannten
+aber die beiden in Liebe füreinander, und eine
+Abwesenheit des Fürsten benutzend, verrieten sie ihn,
+sie den Gatten und er den Freund. Die Fürstin vertraute
+ihre Liebe einem ziemlich hübschen, aber boshaften
+Kammermädchen namens Giovanna an und bat, sich
+ihr hilfreich und wachsam zu zeigen.</p>
+
+<p>Als der Fürst zurückkehrte, begrüßte er den ungetreuen
+Freund auf das herzlichste; er hatte die Verhandlungen
+zwischen ihm und der Familie des Getöteten geführt
+und es durch seinen Einfluß zu einem Vergleich
+gebracht; so daß Carlo zum großen Schmerze der
+Fürstin nach Neapel zurückkehrte.</p>
+
+<p>Es ließ ihm aber nach einigen Monaten die Fürstin
+durch ein Schreiben wissen, wie sehr sie sich über seine
+Fremdheit beklage, indem er so lange Zeit nicht nach
+Salerno gekommen wäre, sie zu sehen. Carlo antwortete,
+daß er mehr denn je von Liebe für sie erfüllt sei, doch
+hätte er Salerno gemieden, um sie nicht zu verraten und
+sie nicht beide um Leben und Ehre zu bringen. Dieser
+<a id="page-413"></a><span class="pgnum">413</span>Brief mißfiel aber der Fürstin und sie schrieb ihm, er
+hätte sie immer besuchen sollen. Dieser Brief brachte
+Carlo in großen Zwiespalt. Ginge er nicht nach Salerno,
+so verlöre er die Liebe der Fürstin nicht nur, sondern
+sie würde ihn für untreu und falsch nehmen. Gehorchte
+er aber ihrem Wunsche, so würde ihre Liebe leicht
+bekannt werden durch einen Zufall oder den Ungestüm
+der Fürstin. Aber nach vielem Schwanken entschied sich
+Carlo, seiner Geliebten zu folgen, und er ging unverzüglich
+nach Salerno.</p>
+
+<p>Den Fürsten, der sehr erfreut über Carlos Ankunft
+war, sagte dieser, daß ihm seine Feinde trotz des geschlossenen
+Friedens nach dem Leben trachteten, weshalb
+er in Salerno für kurze Zeit ein Asyl suche, während
+welcher Zeit er sich mit den Wissenschaften, den
+lange vernachlässigten, beschäftigen wolle. Solches
+sagte Carlo besonders der Vasallen des Herzogs wegen,
+die ihn mit mißtrauendem Auge ansahen. Der Fürst bot
+seinem geliebten Freunde einen einsam liegenden Ort
+seiner Herrschaft zum Aufenthalte an, aber Carlo sagte,
+er würde wohl auch am Hofe in Salerno selber einen
+Platz finden, der ihm erlaubte, sich seinen Studien mit
+aller Muße hinzugeben; nur daß er zurückgezogen lebe,
+möge ihm der Fürst erlauben, was ihm dieser gerne
+zusagte.</p>
+
+<p>Die Fürstin aber wartete voll Sehnsucht der Nacht,
+da ihr Gemahl mit seinem Hofstaat ein Schauspiel besuchen
+wollte. Giovanna war die Wächterin, und es
+gaben sich die beiden Liebenden solchem Glücke hin,
+daß sie schier daran zu versterben meinten.</p>
+
+<p>Ein Jahr lang genossen sie dieses Glück, wenn anders
+solche verbrecherische Liebe ein Glück genannt werden
+kann, und nicht der leiseste Verdacht fiel auf sie.
+</p>
+
+<p><a id="page-414"></a><span class="pgnum">414</span>Da starb Carlos Vater, Galeazzo, und er mußte der
+damit verursachten Geschäfte wegen nach Neapel zurückkehren.
+In dieser Zeit ließ der Fürst seinen einzigen
+Sohn Antonello aus Neapel zurückkommen, wo er
+als Page dem König Ferrante bis zu seinem vierzehnten
+Jahr gedient hatte. An diesem Hofe herrschte die
+Liebe, und des Knaben Sinn war ganz von ihr erfüllt,
+denn er war heißen Blutes. Er verliebte sich in die lebhafte
+Giovanna, die wie zwanzig aussah, wenn sie damals
+auch schon fünfunddreißig zählte. Die Kammerfrau
+erriet sehr bald die Absichten des jungen Herrn Antonio
+und tat, als wiese sie ihn ab, um ihn noch stärker an
+sich zu fesseln. Die Fürstin, die dieses Spiel der beiden
+merkte, fürchtete, es könnte zur Entdeckung ihrer
+eigenen Liebschaft führen und verbot der Giovanna,
+sich mit ihrem Sohne einzulassen. Und sie drohte ihr
+mit Züchtigung, als sie merkte, daß Giovanna ihrem
+Verbote nicht folgte. Dieses war sehr unbedacht von
+ihr, denn sie hätte sich sagen müssen, daß es ihre eigene
+Ehre verlange, die Schwächen andrer zu schonen.</p>
+
+<p>Giovanna fand sich durch solche Behandlung schlecht
+für ihre treuen Dienste belohnt; sie nahm Abschied von
+ihrer Herrin und stellte sich unter Antonellos Schutz, der
+nun fünfzehn Jahre alt geworden war. Zu spät bereute
+Ramondina, und in ihrer Angst, jene möchte sie verraten,
+beschloß sie den Tod der Kammerfrau; einige
+ihrer Getreuen betraute sie mit dieser Tat. Als diese
+Leute nun Giovanna mit Dolchen angingen, erhob sie
+ein großes Geschrei, und es gelang ihr, zu entfliehen; sie
+rettete sich in die Kammer einer Magd, wo sie laut um
+Hilfe rief. Eine Menge Menschen lief zusammen, und
+als auch der Bargello erschien, flüchteten die Mörder in
+die Kirche San Mateo. Antonello, der auf das Geschrei
+<a id="page-415"></a><span class="pgnum">415</span>herbeieilte, fand seine Geliebte in ihrem Blute. Er ließ
+die Kirche umstellen, um die Mörder zu fassen. Seine
+Mutter befahl ihm aber, sie entkommen zu lassen; was
+er versprach.</p>
+
+<p>Er erzählte sehr unklug Giovanna von dem Befehl
+seiner Mutter. Da erfaßte die Kammerfrau großer Zorn
+gegen die Fürstin und sie erzählte Antonello die Geschichte
+seiner Mutter mit Carlo Caraffa. Antonello berichtete
+es sofort seinem Vater. Dieser wollte es von Giovanna
+selber hören, und sie erzählte ihm den Liebeshandel
+mit allen Einzelheiten, so daß er weder mehr an
+der Untreue seines Freundes noch an der seines Weibes
+zweifeln konnte. Er gebot Giovanna und Antonello
+tiefstes Schweigen.</p>
+
+<p>Die Fürstin hatte von der Unterredung durch ihre
+Spione erfahren und machte sich auf Gift gefaßt, weshalb
+sie täglich Gegengifte und Elixiere einnahm. Auch
+Carlo sandte sie durch den Sohn einer alten Dienerin
+Botschaft von dem Vorgefallenen und ihren Befürchtungen.
+Aber des Herzogs Spione fingen den Boten ab,
+und er erfuhr so die Untreue seines Weibes aus ihrem
+eigenen Schreiben. Nun zögerte er nicht länger und
+gab ihr Gift, durch das sie ein schleichendes Fieber
+bekam.</p>
+
+<p>Sie starb nach vierzehn Tagen. Dienstleute des Herzogs
+ermordeten Carlo in Neapel. Auch Giovanna traf
+seine Rache: er ließ ihre Wunden vergiften.</p>
+
+<p>Als der Herzog von Salerno erfuhr, daß einer der vornehmsten
+Herren von Neapel, der ein schönes aber lasterhaftes
+Weib hatte, von der Unehre sprach, welche die
+Fürstin Romandina über das Haus Sanseverino gebracht
+hatte, da ließ der Herzog gegenüber der Kirche Santa
+Chiara einen prächtigen Palast bauen und über dem
+<a id="page-416"></a><span class="pgnum">416</span>Portal sein Wappen anbringen. Den Wappenhelm krönten
+zwei Hörner, welche diese Schrift trugen:</p>
+
+<div class="poem">
+<p>Porto le Corna che ognun le vede.</p>
+<p>Altro le porta che non se lacrede.</p>
+</div>
+
+<p>Zu deutsch:</p>
+
+<div class="poem">
+<p>Ich trage Hörner, die ein jeder siecht.</p>
+<p>Ein andrer trägt sie und er weiß es nicht.</p>
+</div>
+
+
+
+
+<h3>DIE NONNEN VON BOLOGNA</h3>
+
+
+<p>Daß die Klosterfrauen eine andre als die himmlische
+Liebe in ihrem Herzen tragen dürfen, dieses habe ich
+nie geglaubt, denn indem sie sich der irdischen Liebe
+ergeben, schänden sie nicht allein ihren Leib, sondern
+auch ihre Seele und jagen daraus die Gottheit, die in
+ihnen hausen soll. Aber ich habe oft gehört, daß manche
+Nonnen gegen ihren Willen ins Kloster getan wurden
+und daß diese, weit entfernt, Gott ihren Leib zu weihen,
+sich dafür entschuldigen wollen, daß man sie von der
+Welt abschloß.</p>
+
+<p>Was ich nun erzähle, ereignete sich unter dem Pontifikat
+des Maffeo Barberini, der als Papst Urban VIII.
+hieß, und zwar in Bologna, wo des Papstes Neffe, der
+Kardinal Antonio Barberini, als Legat residierte.</p>
+
+<p>Im Konvertitinnenkloster von Bologna waren damals
+zwei Nonnen von großer Schönheit und lieblicher Anmut,
+deren eine die Teverona hieß, die andre wegen der
+Farbe ihres Haares die Rote. Mit dieser Roten begann der
+Hauptmann Donato Antonio einen Liebeshandel, während
+ein Günstling des Kardinals, ein gewisser Carlo Possenti,
+sich mit Erfolg um die Teverona, bewarb. Beide
+beschlossen, die Nonnen zu entführen, worein diese gerne
+<a id="page-417"></a><span class="pgnum">417</span>willigten. Sie bekamen weltliche Tracht und wurden nahe
+bei der Porta Carrese mit Hilfe des Grafen Ranucci,
+eines Freundes des Possenti, untergebracht bei einem
+gewissen Pallade, wo sie aber nur ein paar Tage verweilten,
+um in das Haus des Grafen Alessandro Maria
+Pepoli und von da in das Haus eines Dieners dieses
+Grafen gebracht zu werden.</p>
+
+<p>Inzwischen war man der Missetat auf die Spur gekommen
+und eine genaue Untersuchung eingeleitet worden.
+Des Donato Bruder, der Oberst seines Regimentes
+war, schickte den Donato schleunigst nach der Romagna
+ins Quartier und versprach ihm, die Rote alsbald
+nachzuschicken. Possenti, der inzwischen Vize-Herzog
+von Segni geworden und nicht mehr in Bologna war,
+hoffte, man würde die Sache bald vergessen, worauf
+er sich seine Teverona nachkommen lassen wollte. Aber
+der Prozeß wurde sehr eindringlich geführt, so daß der
+Oberst für das Leben seines Bruders fürchtete; er verständigte
+sich mit dem Grafen Pepoli und die beiden
+beschlossen, die zwei Nonnen umzubringen, was auch
+geschah. Sie wurden im Keller ihres letzten Wohnortes
+bei dem Diener begraben. Solange Urban Papst war,
+wurde das Verbrechen totgeschwiegen, denn man vermutete
+in dem Kardinal Antonio den Anstifter, der die
+Nonnen geliebt und nachdem er ihrer überdrüssig geworden
+wäre, hätte er sie man weiß nicht wohin geschickt.</p>
+
+<p>Als nun nach Urbans Tode Innozenz X. den Thron
+bestieg, standen die zahlreichen Feinde der Barberini auf
+und klagten den Kardinal vieler während der Regierung
+seines Onkels begangener Verbrechen an, und obzwar
+der Papst den Barberinis die Tiara verdankte, verfolgte
+er doch den Kardinal. Jener Graf Pepoli war inzwischen
+<a id="page-418"></a><span class="pgnum">418</span>gestorben und das Haus seines Dieners wechselte den
+Besitzer. Der entdeckte die Leichen im Keller und erstattete
+Bericht an die Justiz. Pallade, bei dem sie zuerst
+gewohnt hatten, machte aus Angst und in Hoffnung auf
+die päpstliche Gnade ein offenes Geständnis. Darauf
+wurden am 30. Juli 1645 im Palaste des Kardinals Antonio
+in Rom jener Carlo Possenti und des Kardinals
+Haushofmeister verhaftet und nach Bologna gebracht.
+Auch der Oberst, Donatos Bruder, wurde eingezogen und
+mit Pallade und Possenti konfrontiert. Possenti starb
+ohne etwas zu verraten in der Folter. Auch der Oberst
+ertrug ohne ein Wort die Folter und der Haushofmeister
+erwies auf ihr seine Unschuld. Er wurde wie der Graf
+Ranucci nach Pataro verbannt.</p>
+
+<p>Der Kardinal floh am hellichten Tage, als ob er einen
+Spaziergang machen wolle, nach Frankreich. Später
+söhnte er sich mit dem Papste aus. Von jenem Verbrechen
+an den beiden Nonnen war nie mehr die Rede.</p>
+
+
+
+
+<h3>DIE BRÜDER MISSORI</h3>
+
+
+<p>Die beiden Brüder Missori erfreuten sich der Gunst
+des Marchese del Monte, Ministers der Königin Christine
+von Schweden. Sie trieben was sie wollten in jenem Stadtviertel
+Roms, das die Königin während ihres Aufenthaltes
+in der Stadt bewohnte. Christine setzte alles Vertrauen
+in die Brüder und war gegen ihre Taten um so
+nachsichtiger als sie sich mit der Absicht trug, aus
+dem von ihr bewohnten Viertel eine Freistätte zu
+machen. Solcherart hatten die Gerichtsbeamten keinen
+Zutritt in dieses Viertel und die immer es versuchten,
+wurden umgebracht und in den Tiber geworfen.
+<a id="page-419"></a><span class="pgnum">419</span>Hier in diesem Viertel fanden zumal alle Frauen,
+die aus irgendwelchen Gründen ihre Männer verlassen
+hatten, Zuflucht.</p>
+
+<p>Dies währte Jahre, und die Königin zog sich die allgemeine
+Verachtung zu, da sie sich auf jene Mordbuben
+stützte, und vergeblich ließ der Papst sie durch mehrere
+Kardinäle ersuchen, die Verbrecher zu bestrafen; sie
+verharrte nur um so stärker auf ihren verbrieften Rechten
+eigener Jurisdiktion, als schlimme Ratgeber ihr einredeten,
+die Kardinäle wollten sie um ihre Herrschaft
+bringen.</p>
+
+<p>Der Papst sagte immer nur: „Der höchste Richter
+wird hier Abhilfe schaffen“, und er begünstigte mit
+dieser Schwäche das schändliche Treiben der beiden
+Brüder, die selbst davor nicht zurückschreckten, Kindern
+Gewalt anzutun. Täglich kamen neue Klagen, und
+so mußte der Papst doch dem Gouverneur den Befehl
+geben, sich der Brüder Missori zu bemächtigen; aber
+es war ihm dieses nicht gestattet, da sie den Titel
+„Garde der Königin“ führten. Man mußte daher
+danach trachten, sie außerhalb des Bannkreises von
+Christinens Macht zu fangen.</p>
+
+<p>Als dieses die Missori erfuhren, verließen sie das
+Viertel nicht mehr. Spione wurden von den Bravi der
+Königin erkannt, zu Tode geprügelt, erschossen oder in
+den Tiber geworfen. Der Marchese vermehrte die Wachen
+des Viertels um fünfundzwanzig Mann. Die Verbrechen
+nahmen Tag für Tag zu.</p>
+
+<p>Nun gelang es einem der Königin wie dem Gouverneur
+befreundeten Kardinal, die Majestät mit guten Gründen
+zu veranlassen, daß die Brüder Missori den Kirchenstaat
+verließen, was sie auch taten. Nicolo wollte sich nach
+Neapel wenden, während Bernardino dem Großherzogtum
+<a id="page-420"></a><span class="pgnum">420</span>Toskana den Vorzug gab, dessen Herr der Königin befreundet
+war.</p>
+
+<p>Der Papst erhielt sofort Nachricht von dem Aufenthalte
+der Brüder und schickte gleich einen Kurier an
+den Großherzog mit einem Schreiben, worin er bat, zwei
+junge Leute auszuliefern, die von Rom nach Toskana
+gereist wären. Cosimo III. wußte nicht, daß sich die
+Brüder der Gunst der Königin erfreuten und ließ die
+Brüder in Livorno verhaften, von wo sie unter Bedeckung
+nach Rom gebracht und in der Engelsburg eingekerkert
+wurden. Erst dann erhielt Cosimo die Briefe der Königin,
+worauf er ihr schrieb, daß es ihm leid täte und wie es
+der Papst angestellt hätte, die Brüder in seine Hand zu
+bekommen.</p>
+
+<p>Die Brüder waren getrennt untergebracht und mit
+schweren Fußeisen gefesselt. Bei ihrem ersten Verhör
+leugneten sie, Missori zu heißen und Brüder zu sein,
+aber zahlreiche Zeugen erkannten sie. Die Königin bemühte
+sich ohne Erfolg um ihre Freilassung; in eigner
+Person begab sie sich nach dem Monte Cavallo zum
+Staatssekretär, wurde aber nicht vorgelassen. Der Papst
+war für den Tod der Brüder, sowie sie als die Missori
+erkannt wären, auch ohne ihr eigenes Geständnis, causis
+nobis notis, wie er hinzusetzte.</p>
+
+<p>Bernardino sah sich, zurückgeführt in seine Zelle,
+schon dem Tode verfallen; er schrie nach dem Kerkermeister.
+„Warum“, schrie er, „hat man mir den Bart
+geschoren, mich in Eisen gelegt? Soll ich sterben? Laßt
+mich nicht in Ungewißheit.“ Aber der Kerkermeister
+sagte, dies seien nur rechtmäßige Prozeduren und keine
+Vorbereitungen zur Hinrichtung. Davon gewann Bernardino
+einige Beruhigung, die aber wieder schwand, als
+man das Fenster seiner Zelle vermauerte.
+</p>
+
+<p><a id="page-421"></a><span class="pgnum">421</span>Viele hatten schon die Brüder erkannt, als ein Edler
+von San Stefano, der sie sehr gut zu kennen behauptete,
+erklärte, er könne die beiden jungen Leute, die man ihm
+hier vorführe, nicht als die Missori erkennen. Aber es
+half dieses nichts, denn der Papst hatte das Todesurteil
+unterzeichnet, und am 14. Januar 1685 begab sich der
+Marchese Strozzi nach der Engelsburg, um sich mit dem
+Kommandanten Massimi über die Vorbereitungen zur
+Hinrichtung zu verständigen. Als man Nicolo das Abendbrot
+brachte, fragte er: „Wer ist heute nach der Engelsburg
+gekommen?“ Man sagte ihm, daß es nichts Neues
+gebe. Aber er war voll Angst und aß nichts.</p>
+
+<p>Bernardino fragte, ob die Folterinstrumente in der
+Engelsburg seien. Der Leutnant Marzio antwortete, er
+sei zwanzig Jahre in der Festung und wisse nichts von
+solchen Werkzeugen. Bernardino bat um Tabak.</p>
+
+<p>Am Tage, da man sie zur Richtstätte führte, den
+15. Januar des Jahres, war der Platz vor der Engelsbrücke
+dicht besetzt von Sbirren, da man einen Rettungsversuch
+der Königin befürchtete. Deshalb waren
+die Kanonen auch nach dem Platz gerichtet und mit
+Kartätschen geladen. Auch war der Befehl gegeben,
+bei dem geringsten Zeichen von Unruhe zu feuern.</p>
+
+<p>Die Missori kamen, der ältere voran. Er war mit seinen
+sechsundzwanzig Jahren ein Mensch von hohem Wuchs
+und schönem Ansehn. Seine Haare und Augen waren
+schwarz und die Farbe seiner Haut olivengrün. Sein
+Bruder, der ihm festen Schrittes folgte, war um drei
+Jahre jünger, hatte kastanienfarbnes Haar und einen
+rötlichen Bart, eine weiße Haut und lebhafte Augen.
+Beide trugen hirschfarbene Wamse, hellseidne Strumpfhosen
+und weiße Schuhe; ein grauer Mantel mit pfaufarbnem
+Futter fiel ihnen bis auf die Füße. Als Bernardino
+<a id="page-422"></a><span class="pgnum">422</span>unter der Menge einen Freund erkannte, rief er:
+„Lieber Freund, wie siehst du mich wieder! Ich empfehle
+dir meine Seele, die bald ihrem Körper entfliehen
+wird!“ Der also Angerufene fiel bei diesen Worten in
+Ohnmacht und kam erst wieder zu sich, als die beiden
+schon tot waren.</p>
+
+<p>Sie hatten seit dem Morgen des vorigen Tages nichts
+gegessen. Bei der Kapelle an der Engelsbrücke bot man
+ihnen Nahrung. Bernardino wies sie ab, aber Nicolo
+nahm aus Gehorsam einen in Wein getauchten Zwieback.
+Er ging als erster in den Tod. Bernardino fiel
+in Ohnmacht, als er seinen geliebten Bruder verscheiden
+sah. Man brachte ihn rasch wieder zu sich. Er legte mit
+größter Ruhe sein Haupt selber auf den Block. Als der
+Kopf fiel, donnerte ein Kanonenschuß, wie zuvor bei
+der Hinrichtung Nicolos. Diese Schüsse waren eine besondere
+Gnade des Papstes, der während der Hinrichtung
+in seinem Schlafgemach auf den Knien zu Gott um das
+Seelenheil der Hingerichteten betete. Bei jedem Kanonenschuß
+sandte er dem Verschiedenen den Segen in articulo
+mortis nach.</p>
+
+
+
+
+<h3>POMPILIA COMPARINI</h3>
+
+
+<p>Der Abbate Paolo Franceschini aus Arezzo war wohl
+von edler Herkunft, aber nur sehr wenig mit Glücksgütern
+gesegnet. Doch besaß er genügend Geist, sein
+Glück zu versuchen, und begab sich nach Rom, wo er
+vom Kardinal Lauria als Sekretär bestellt wurde. Er gewann
+bald die Gunst des wegen seiner Gelehrsamkeit
+im heiligen Kollegium sehr geschätzten Kardinals, und
+ausgerüstet mit dieser Gunst wollte Paolo sein Glück und
+Ansehn damit fördern, daß er seinem Bruder eine reiche
+Frau verschaffe.
+</p>
+
+<p><a id="page-423"></a><span class="pgnum">423</span>Der Bruder Guido war schon ein älterer Mann, von
+wenig gewinnendem Äußern und geringer Begabung.
+Er war Sekretär beim Kardinal Nerli gewesen, hatte die
+Stelle aber verloren, was für die Heiratspläne des Abbate
+nicht günstig war. Aber er hoffte, die Mängel seines
+Bruders durch die Vorzüge seiner eignen Person zu ersetzen.
+Nach mancher Umschau richtete er seine Absicht
+auf Francesca Pompilia, die einzige Tochter des
+Pietro Comparini und seiner Gattin Violante, die eine
+Erbschaft von zwölftausend Skudi zu erwarten hatte.
+Um so leichter erschien ihm diese Heirat fertig zu bekommen,
+als die Familie Comparini der seinen nicht
+ebenbürtig war.</p>
+
+<p>Er bediente sich als Vermittlerin einer Haarkräuslerin,
+die im Hause der Comparini arbeitete und dort vertraulich
+war. Er versprach ihr für ihre Vermittlung eine
+Belohnung von fünfzig Goldgulden, und die Frau machte
+sich gleich ans Werk. Sie redete mit Violante, die ihr
+versprach, mit ihrem Manne zu reden. Denn der Nießbrauch
+jener Erbschaft blieb der Familie nur für den
+Fall, daß direkte Nachkommen vorhanden waren. Der
+alte Comparini erklärte sich nicht abgeneigt, wenn es
+mit dem Besitze der Franceschini so stimme, wie sie ihm
+gesagt hätten.</p>
+
+<p>Paolo drang auf Eile; er fürchtete, die Sache könnte
+ihm entgehen. Er ließ vom Kardinal Lauria den Ehevertrag
+aufsetzen, was dieser Mann aus Gefälligkeit gegen
+den von ihm geschätzten Abbate tat. Inzwischen hatte
+sich Comparini aber anderweitig über die Vermögensumstände
+der Franceschini erkundigt und die Auskünfte
+lauteten sehr verschieden von denen des Abbate und
+dessen Gewährsmänner. Es kam dadurch zu heftigen
+Auftritten zwischen Mann und Frau, die durchaus auf
+<a id="page-424"></a><span class="pgnum">424</span>der Heirat bestand und sagte, daß dies nur Machenschaften
+von Neidern des Glückes ihrer Tochter wären.
+Aber der Gatte blieb um so kühler, je mehr die Frau in
+Hitze kam und sagte, er wolle durch die Verheiratung
+ja nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren. Aber
+Pietro hatte innerlich längst seinem Weibe, das er zärtlich
+liebte, nachgegeben, denn er tat ihr immer jeden
+Willen. Violante aber fürchtete, er könne es schließlich
+doch noch durch gute Ratschläge von Freunden bereuen,
+und so beschloß sie, die Hochzeit ohne Wissen
+ihres Mannes statthaben zu lassen. Die Tochter, immer
+folgsam dem was die Mutter verlangte, war einverstanden.
+Man verabredete sich mit Guido, und frühmorgens
+wurden sie in der Kirche San Lorenzo getraut.
+Pietro war sehr aufgebracht, als er davon hörte. Doch
+war an der Sache nichts mehr zu ändern, und er richtete
+die Hochzeit in seinem Hause, gab seiner Tochter eine
+Mitgift von fünfundzwanzig päpstlichen Anleihescheinen
+und machte sie zu seiner Erbin.</p>
+
+<p>Schon am Hochzeitstage war es zwischen dem Alten
+und den Brüdern zum Streit gekommen über die Vorteile,
+die den beiden Familien aus dieser Heirat erwüchsen,
+und man war übereingekommen, daß die Comparinis
+nach Arezzo übersiedeln und im Hause der Franceschini
+den Rest ihres Lebens verbringen sollten. Comparini
+überließ seinem Schwiegersohne auch die Verwaltung
+seines ganzen Besitztumes.</p>
+
+<p>In Arezzo wurden die alten Comparini von den alten
+Franceschini und deren Sippschaft mit großer Liebenswürdigkeit
+empfangen, wie dies Brauch ist. Aber
+bald kam es zu Streitigkeiten und schließlich zu offnem
+Bruch. Guidos Mutter war eine anmaßende und geizige
+Frau, herrisch schaltend in ihrem Hause. Auf des alten
+<a id="page-425"></a><span class="pgnum">425</span>Comparini Vorhaltungen antwortete Guido erst wegwerfend,
+dann drohend, was Violante in Wut brachte,
+die an Hochmut der alten Franceschini nichts nachgab.
+Sie begann Pietro zu quälen und fluchte dem Tag, der
+sie nach Arezzo gebracht habe und gab ihm alle Schuld,
+die sie selber hatte. Pietro, von Weibertränen eingenommen,
+fiel es nicht ein, seinem Weibe zu sagen, daß
+diese Ehe gegen sein Wissen und Wollen geschlossen
+worden wäre; er bat sie vielmehr zärtlich, doch die
+kleinen Unannehmlichkeiten hinzunehmen und abzuwarten,
+daß die Franceschini ihr Unrecht einsehen.</p>
+
+<p>Da starb der Kardinal Lauria, und Paolo wurde römischer
+Sekretär des Malteserordens; dadurch stieg sein
+Hochmut über alle Begriffe. Violante, selber zu herrschen
+gewohnt, wollte es nicht länger ertragen und bestürmte
+ihren Mann, nach Rom zurückzukehren. Die
+Franceschinis gaben ihnen für die Reisekosten noch eine
+Summe Geldes.</p>
+
+<p>Alsbald in Rom setzte Pietro zu allgemeinem Staunen
+eine gerichtliche Denkschrift auf, worin er nachwies,
+daß Francesca Pompilia gar nicht seine leibliche Tochter
+sei, und er daher gar nicht verpflichtet war, die Mitgift
+auszuzahlen. Violante habe sich schwanger gestellt
+und ein von einer Hebamme für hundertfünfzig Skudi
+gekauftes Kind untergeschoben zu dem Zweck, ihrer
+Familie die Nutznießung der fünfundzwanzig Stück
+päpstlicher Anleihe zu erhalten. Sie hätte diese Täuschung
+sehr geschickt ins Werk gesetzt.</p>
+
+<p>Diese Denkschrift Pietros wurde bald stadtbekannt
+und erregte mehr Unwillen als Erstaunen, denn man
+sagte sich, daß die Franceschini von diesem Schriftstück
+sehr beleidigt werden müßten. Die Franceschini überlegten,
+daß man, wenn Pompilia kein eheliches Kind
+<a id="page-426"></a><span class="pgnum">426</span>sei, die Ehe nichtig erklären und so den guten Ruf der
+Familie wieder herstellen könne. Die Rechtskundigen,
+die sie darüber befragten, waren aber verschiedener Meinung
+und so trauten sich die Franceschini nicht an einen
+so zweifelhaften Prozeß. Was sie erreichten, war die
+Anerkennung von Pompilias ehelicher Geburt und damit
+die rechtsgültige Erbschaft der Anleihescheine. Dagegen
+appellierte Pietro beim päpstlichen Gericht und erreichte,
+daß die Franceschini wohl nur die Ausgaben jener Übertragung,
+nicht aber die Nutznießung des Fideikommisses
+zugesprochen bekamen.</p>
+
+<p>Aller Haß der Franceschini wandte sich auf die unglückliche
+Pompilia, die in Arezzo zurückgeblieben war.
+Von den eigenen Eltern als Kind verleugnet, wurde sie
+von ihrem Gatten täglich mit dem Tode bedroht. Die
+sechzehnjährige Pompilia ertrug alle Grausamkeit, wie
+sie vermochte; als sie aber keinen Ausweg mehr sah,
+wandte sie sich an den Statthalter von Arezzo, aber ohne
+Erfolg. Nun warf sie sich dem Bischof zu Füßen, und
+dieser ließ den Guido rufen und mahnte ihn zu Versöhnlichkeit.
+Aber diese öffentliche Beschwerde brachte
+ihn ganz außer sich, und er drohte seinem Weibe, es
+zu töten, wenn sie es nochmals wagen sollte, sich zu
+beklagen. Da es aber in nichts besser wurde, wandte
+sich Pompilia an einen Schwager ihres Mannes, den
+Canonicus Conti, der ihren Jammer kannte, und bat ihn,
+ihr das Leben zu retten. Der Canonicus sah das Heil
+nur in der Flucht aus dem Hause; da er sich aber nicht
+die Feindschaft seiner Sippe aufladen wollte, empfahl
+er Pompilia, sich an den Canonicus Caponzachi zu wenden,
+einen Freund und entfernten Verwandten der Franceschini,
+einen rechtschaffenen und erprobten Mann.
+Dieser hatte nun erst Bedenken, eine Frau ihrem Manne
+<a id="page-427"></a><span class="pgnum">427</span>zu entführen, wenn auch nur zu ihren Eltern, aber
+schließlich gewann ihn doch das Mitleid und er versprach
+seine Hilfe. Als diese nicht rasch genug kam,
+schrieb Pompilia an ihn, leidenschaftlich und schmeichelnd,
+doch nie derartiges, daß man daraus eine Verletzung
+ihres ehelichen Treugelöbnisses hätte lesen
+können, wie die erhaltenen Briefe zeigen. In einem dieser
+Briefe lobt sie des Caponzachis Bescheidenheit, in
+einem andern beschwert sie sich über einige frivole Gedichte,
+die er ihr geschickt habe und bittet ihn, ihr
+seinen Edelmut rein zu erhalten.</p>
+
+<p>Am verabredeten Tage der Flucht bestiegen der Canonicus
+und Pompilia den Reisewagen und erreichten
+in raschester Fahrt am frühen Morgen des andern Tags
+Castelnuovo; da hier der Wirt ihnen nur ein Bett bieten
+konnte, verbrachte Pompilia die Rast auf einem Lehnstuhl,
+während der Canonicus im Stall zum Kutscher ging.</p>
+
+<p>Kurz nach der Flucht entdeckte Guido das leere Bett
+und den offenen Schrank, in dem eine darin verwahrte
+Geldsumme fehlte. Zu Pferde eilte er den Flüchtigen
+auf der Straße nach Rom nach. Er traf eine Stunde
+nach ihrer Ankunft in jener Herberge ein, stieß auf
+Caponzachi, der ihn einen Schurken und Tyrannen
+nannte. Guido war sehr überrascht, den Canonicus bei
+seiner Frau zu treffen, und er verlor allen Mut so sehr,
+daß er wieder nach Hause ritt. Hier angekommen verklagte
+er seine Frau wegen Flucht und Ehebruch, womit
+er seine Mitgift gewonnen zu haben glaubte. Sein
+Bruder, der Abbate Paolo, erhob Beschwerde beim Papste
+Innozenz XII. und beim Gouverneur von Rom, dieser
+möge den Canonicus Caponzachi als Entführer und
+Ehebrecher erklären und seinem Bruder die Mitgift zusprechen.
+</p>
+
+<p><a id="page-428"></a><span class="pgnum">428</span>Der mit aller Strenge geführte Prozeß ergab aber
+nichts gegen das Paar, außer dem Briefwechsel vor der
+Flucht, diese selber und die Aussage des Kutschers, der
+erklärte, er hätte beim Umsehen des öftern die beiden
+Wange an Wange liegend im Wagen gesehen. Aber es
+möchte dessen Ursache die schlechte Straße gewesen
+sein. Endlich verfügte das Gericht die Verbannung des
+Canonicus für Jahre nach Civitavechia wegen Begünstigung
+der Flucht, wenn auch in guter Absicht.
+Pompilia wurde mit Zustimmung der Franceschinis in
+loco carceris nach dem Kloster delle Scalette an der
+Lungara gebracht, wo Guido ihren Unterhalt zu bestreiten
+hatte. Da sie aber ihrer Schwangerschaft wegen
+nicht länger an diesem Orte bleiben konnte, verfügte
+der Gouverneur ihre Übersiedlung in das elterliche Haus,
+womit auch der Unterhalt durch den Gatten sein Ende
+fand.</p>
+
+<p>Des Geredes über diese Sache war in Rom so viel, daß
+der Abbate Paolo seine Stelle beim Malteserorden verlor.
+Worauf er sich entschloß, Rom zu verlassen und
+in ein Land zu gehen, wohin kein Gerücht von der Unehre,
+die ihn betroffen, gedrungen sein konnte. Er
+hinterließ Guido die Pflicht, die Ehre des Hauses wieder
+herzustellen.</p>
+
+<p>Pompilia gebar einen Sohn, der den Namen Moschio
+erhielt und von den Comparinis zur Pflege außer Haus
+gegeben wurde. Alle Welt hoffte, Guido würde nun
+zur Besinnung kommen und sich mit seinem Weibe versöhnen;
+aber Guido hatte ganz andere Gedanken: er
+wollte seine Ehre mit dem Blute aller Contarinis reinwaschen.</p>
+
+<p>Einem Feldarbeiter, einem Menschen niedern Wandels,
+vertraute er seine Schmach und seinen Racheplan
+<a id="page-429"></a><span class="pgnum">429</span>an, und der Mensch erbot sich, mit Hilfe von vier, fünf
+sichern Leuten den Racheplan auszuführen. Zu fünft
+begaben sie sich verkleidet nach Rom und klopften des
+Nachts um zwei bei den Comparinis an. Einer rief, er
+habe einen Brief Caponzachis zu bestellen, aber die
+Frauen hatten Angst und rieten Pietro, nicht zu öffnen.
+Der aber, auf den Brief neugierig, öffnete die Tür und
+Guido stürzte mit zweien seiner Leute herein, während
+die andern zwei draußen Wache standen. Er stieß dem
+Alten das Messer in den Leib, so daß er ohne einen
+Laut hinfiel und starb. Hierauf ermorderte er Violante
+und die unglückliche Pompilia mit vielen Messerstichen
+und Fußtritten. Einem seiner Leute befahl er, nachzusehen,
+ob die Frauen tot seien; der zog sie an den
+Haaren hoch, ließ sie hinfallen und sagte, sie seien tot.
+Er zahlte ihnen dann den Lohn aus und wollte sich von
+ihnen trennen; dies aber ließen die vier Gesellen nicht
+zu, aus Angst, und so gingen sie alle miteinander zu
+Fuß die Straße nach Arezzo zu.</p>
+
+<p>Guido und Violante waren tot, aber Pompilia lebte
+noch, trotzdem sie die meisten Messerstiche bekommen
+hatte. Nun rief sie um Hilfe, so daß die Nachbarn
+herbeieilten. Mit großer Standhaftigkeit ertrug sie ihre
+schwere Verwundung, beklagte auch nicht ihren Gatten,
+sondern bat den Himmel, daß er ihm seine Tat vergebe,
+und starb eines seligen Todes, bis zuletzt ihre Unschuld
+beteuernd.</p>
+
+<p>In einer Hütte nahe Rom wurden die Mörder aufgegriffen.
+Guido gestand erst beim Anblick der Folter,
+rechtfertigte seine Tat aber als seiner Ehre wegen getan.
+Seine Mitschuldigen wurden an den Galgen geknüpft;
+er selber wurde geköpft.
+</p>
+
+
+
+
+<h3><a id="page-430"></a><span class="pgnum">430</span>KÖNIGIN CHRISTINE</h3>
+
+
+<p>Die Königin Christine hatte Jahre in Rom gelebt und
+entschloß sich, einer Einladung Ludwigs XIV. zu folgen
+und nach Frankreich zu reisen. Mit einem großen Gefolge
+von Kavalieren und Pagen verließ sie Rom. Der
+König hatte für seinen erlauchten Gast einen prunkvollen
+Palast richten lassen und dem Gefolge ein Kavalierhaus
+angewiesen. In diesem Gefolge befanden sich
+zwei Herren, die sie mit ihrer besonderen Gunst auszeichnete;
+Tag und Nacht waren der Marchese Monaldeschi
+und der Marchese Santinelli um sie, der erste
+ein witziger Poet in der modischen Art der Marini, der
+den königlichen Hof zum großen Ergötzen seiner
+Herrin in scharfen Satiren durchhechelte. Dies führte
+dazu, daß ihn die Königin zu ihrem geheimen Vertrauten
+machte. Darüber fühlte sich Santinelli zurückgesetzt,
+wenn auch die Königin alles tat, ihn huldvoll
+zu behandeln. Monaldeschi merkte die Eifersucht seines
+Nebenbuhlers um die Gunst und wollte sich diese allein
+erhalten; also ließ er am Hofe Briefe mit verstellter
+Hand verbreiten, in denen sehr vertrauliche Mitteilungen
+der Königin an Santinelli und was sie miteinander taten,
+auf das respektloseste erzählt wurden. Diese Briefe
+kamen auch in Santinellis Hände, und er erkannte die
+verstellte Handschrift. Er beschloß die Vernichtung
+seines Gegners. Er brachte, mit der Königin einmal
+im Garten lustwandelnd, das Gespräch auf jene Briefe,
+über die man sich bei Hofe sehr skandalisierte. Die
+Königin verlangte die Briefe zu lesen; doch schwieg sie
+dazu und bat Santinelli nun, nicht weiter darüber zu
+sprechen. Ein neuer Brief, in anderer Hand, aber
+gleichem Stile, teilte weiteres von den Beziehungen der
+<a id="page-431"></a><span class="pgnum">431</span>Königin zu Santinelli mit. Die Königin wollte nun die
+verdiente Strafe für den Briefschreiber nicht länger
+hinausschieben, aber sie lebte in Frankreich, wo die Gesetze
+jede Gewalttat strenge ahnden. Die Gesetze waren
+erst vor kurzem vom Kardinal Richelieu erlassen
+worden, um den zahlreichen Bluttaten zu steuern. Der
+König hatte ihre geringste Verletzung mit dem Tode
+bestraft, auch wenn es Mitglieder seines Hauses waren,
+die sich solches zuschulden kommen ließen. Durch
+eine Ermordung des Monaldeschi hatte die Königin den
+Zorn des Königs zu fürchten; doch war ihre Ehre allzu
+sehr beleidigt und solches allgemein bekannt geworden.</p>
+
+<p>Eines Tages legte die Königin dem Monaldeschi einen
+mit verstellter Hand geschriebenen Brief vor, er möge
+ihn lesen.</p>
+
+<p>„Wer ihn wohl geschrieben haben mag,“ sagte sie,
+„ich kenne die Handschrift nicht.“</p>
+
+<p>Und als Monaldeschi schwieg, sagte sie: „Welche
+Strafe verdient wohl der Schreiber solcher Böswilligkeiten?“</p>
+
+<p>„Sicher den Tod,“ sagte der Marchese, „den Tod,
+den ihm Eure Majestät wählen.“</p>
+
+<p>„Den Tod, meint Ihr? Ich werde mich Eures Urteils
+erinnern. Denkt daran.“</p>
+
+<p>Die Furcht, in die Monaldeschi nach dieser Unterredung
+geriet, ließ ihn zu Santinelli gehen, von dem
+er wußte, daß er einige ähnliche Schreiben verwahre;
+er wollte von ihm erfahren, ob die Königin auf ihn
+einen Verdacht geworfen habe. Doch Santinelli beruhigte
+ihn derart, daß Monaldeschi ahnungslos in den
+Tod ging.</p>
+
+<p>Die Königin ließ eines Tages einen Edelmann ihrer
+Leibwache kommen und gab ihm den Auftrag, am
+<a id="page-432"></a><span class="pgnum">432</span>nächsten Morgen in einem entlegenen Zimmer den
+Marchese Monaldeschi heimlich und ohne Lärm mit
+einem Degenstoß ins Herz beiseite zu schaffen. Auch
+einen Mönch ließ sie sich bereithalten, den Marchese auf
+sein Ende vorzubereiten. Der Mönch bat die Königin,
+ihm solchen schweren Auftrag zu erlassen, da ihm sonst
+die Ungnade des Königs sicher sei. Doch sie gab ihm
+ihr Wort, daß er nichts zu befürchten habe, und versprach
+ihm eine Belohnung.</p>
+
+<p>Andern Morgens ließ sie Monaldeschi in den Garten
+rufen; sie zeigte ihm wieder einen Brief und neben
+diesen hielt sie seine Handschrift: er konnte nicht mehr
+leugnen. Er fiel der Königin zu Füßen und bat um
+Gnade. Die Königin sagte: „Was Euer Seelenheil anbetrifft,
+so habe ich Euch der Huld Gottes empfohlen;
+was mich betrifft, so verzeih ich Euch. Ihr habt in
+Eurer Sache selbst gerichtet. Euer Urteil soll vollstreckt
+werden.“ Damit verließ sie ihn. Zwei Leute hielten den
+Marchese fest, der ihr nachspringen wollte, und
+führten ihn in ein abgelegenes Gartenzimmer, wo er,
+wie sie ihm sagten, gefangen bleiben sollte. Da traf
+er den Mönch, der ihm auf Befehl der Königin das
+Urteil verkündete.</p>
+
+<p>Auf Ansuchen des Marchese begab sich der Mönch
+zur Königin und bat um das Leben; aber die rachsüchtige
+Frau bestand auf seinem sofortigen Tode. So
+bat der Mönch den Marchese, sich zum Tode vorzubereiten
+und seine Sünden zu beichten, zumal die
+Henker schon warteten. Aber der Marchese verweigerte
+die Beichte, in ungeheurer Wut durch das Gemach
+stampfend. Da überfielen ihn jene beiden; und der eine
+stach nach ihm mit dem Degen; doch glitt er am Wamse
+ab. Ein zweiter Stich, den er abwehren wollte, durchbohrte
+<a id="page-433"></a><span class="pgnum">433</span>ihm die Hand und verletzte ihn am Kopfe. Jetzt
+erst, aus zwei Wunden blutend, verlangte er zu beichten,
+was die beiden Mörder nur auf Bitten des Mönchs gewährten,
+der nicht mehr wußte, in welcher Welt er
+lebte. Nach der Absolution wollte Monaldeschi sein
+Wams ablegen, um einem Stoß ins Herz freien Weg zu
+geben; aber als er sein Kleid auszog, drangen ihm zwei
+Degen durch den Hals, daß er aufstöhnend verschied.
+‚Herr Jesus‘ war sein letztes Wort. Den Leichnam
+schnürte man in eine Decke und vergrub ihn gar kläglich
+neben einer nahen Kirche, rasch, damit man von
+dem Tode nichts erführe. Aber es kam doch dem König
+zu Ohren, der genaues wissen wollte. Er war nah daran,
+die Königin aus dem Reiche zu verweisen. Er ließ den
+toten Marchese ausgraben und mit allem Pomp beisetzen,
+auf daß jeder von der grausamen Tat der blutdürstigen
+Frau erfahre. Hatte der König vor jener Tat
+die Königin mit seinem Besuche beehrt, so brach er
+nun jeden Verkehr mit ihr ab; worin sie eine Beleidigung
+sah und abreisen wollte. Sie wollte das, um ihre
+Mißachtung gegen den König damit auszudrücken, ohne
+jede Förmlichkeit tun; aber der König, der den Tag
+ihrer Abreise erfahren hatte, besuchte sie und verabschiedete
+sich kurz von ihr. Soldaten eskortierten sie ein
+paar Meilen weit; es sah wie eine Ehrung aus, aber es
+geschah zu ihrer Bestrafung, denn die Soldaten begleiteten
+sie wie eine Gefangene.</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-435"></a><span class="pgnum">435</span>ZWEI ROMAN-ENTWÜRFE</h2>
+
+<p class="xlat"><a id="page-436"></a><span class="pgnum">436</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p>
+
+
+
+<h3><a id="page-437"></a><span class="pgnum">437</span>I.</h3>
+
+<h4>AN-IMAGINATION</h4>
+
+
+<p>Der leidenschaftliche Mensch, der junge Jean-Jacques
+haftet sich an die Weisungen seiner Einbildungskraft,
+Robert tut nur, was er unmittelbar wahrnimmt.
+Der Verfasser dachte öfters daran, einen jungen
+Menschen zu gestalten, der aus der Welt einer bestimmten
+Epoche, z.B. der Welt von 1811, zu Glück
+und Ruhm aufsteigt, 1811: Cambacèrés, der Staatsrat,
+der Kaiserliche Hof in den Tuilerien etc.</p>
+
+<p>Der Verfasser wollte vor zehn Jahren einen zärtlichen
+und anständigen jungen Mann gestalten, und er machte
+ihn ehrgeizig, aber doch voller Imaginationen und Illusion:
+Julien Sorel.</p>
+
+<p>Er möchte nun diesen Robert völlig frei von jeder
+Imagination gestalten außer dieser einen, die dazu dient,
+alle die nötigen Schliche zu erfinden, um zu Reichtum
+zu gelangen; aber Robert gibt sich keineswegs dem
+müßigen Vergnügen hin, sich den Reichtum und dessen
+Genüsse vorzustellen. Erfahrung hat ihm schon beigebracht,
+daß sich derlei müßige Träumereien niemals
+realisieren. Alors comme alors ist sein Wahlspruch.</p>
+
+<p>Küßt er die schönste Frau, so sieht er nur, was auch
+der ausgedörrteste Jockey nicht zu leugnen wüßte, nämlich
+Schönheit und Wert ihrer Ohrgehänge. Indem
+<a id="page-438"></a><span class="pgnum">438</span>Robert seiner Einbildung nicht das geringste Vergnügen
+verdankt, schenkt er der Bequemlichkeit seines Fauteuil
+größte Aufmerksamkeit, der Qualität seines Diners,
+dem Komfortablen seiner Wohnung etc. etc.</p>
+
+<p>Robert ist, was das Herz anlangt, mit vierzehn
+Jahren ein vollendeter kleiner Lump. Er stiehlt Bonbons
+aus den Auslagen der kleinen Händler, gemeinsam
+mit seinem sechzehnjährigen Kameraden Carière. Dieser
+Carière hat keinerlei freundschaftliche Gefühle für
+Robert, erhofft sich aber von dessen Geschicklichkeit
+Annehmlichkeiten. Der Verfasser erzählt von Carière,
+dem Bastard einer diebischen Kammerfrau. Carière ist
+anständig nur eigentlich aus Mangel an Geist; man
+glaubt, er verspreche was für die Zukunft. Dadurch
+ist er Robert von Nutzen; Carière zieht sich aus allen
+Einzelheiten geschickt heraus, hat in der Hauptsache
+das gleiche Verdienst wie Robert: sein Auge ist nie
+vom Hauch des Imaginären getrübt.</p>
+
+<p>Er erkennt, was in seinem Interesse liegt, aber er
+steckt voll kleinem Stolz. Diese Schwäche liefert das
+Komische der Figur. Auch Robert ist nicht ohne diese
+selbstgefällige Eitelkeit, aber er verneint sie. Carière
+liefert das Komische.</p>
+
+<p>Bertrand, höchst simplen Wesens, führt Roberts Befehle
+aus, ohne sie zu verstehen.</p>
+
+<p>Damit der Robert Effekt mache, muß man ihn
+handeln sehen.</p>
+
+<p>Daher darf sein Reichtum noch keine Tatsache sein.
+Man muß ihn sehen, wie er sich diesen Reichtum
+schafft.
+</p>
+
+
+
+<h3><a id="page-439"></a><span class="pgnum">439</span>II.</h3>
+
+<h4>EINE SOZIALE POSITION</h4>
+
+
+<p>September 1832—Juli 1833.</p>
+
+<p>Ich vermache dieses Manuskript dem Maler Herrn
+Ab. Constantin, meinem Nachbarn, mit der Bitte, es
+nicht vor 1880 zu zeigen. Rome, 4. Oktober 1882.
+H. Beyle. — Es muß hierin mehr Wohlklang als in Le
+Rouge sein, damit es leichter ins Ohr gehe.</p>
+
+<p>Plan. — Die Herzogin will de Roizard nur als Tröster.</p>
+
+<p>Sie fürchtet nur dieses eine: daß er sie verliebt anblicke.</p>
+
+<p>Später sagt sich Roizard: sie will ganz einfach geliebt
+sein, und parbleu, ich werde sie nicht lieben.</p>
+
+<p>Sein Erstaunen, als er entdeckt, daß sie Liebe gar
+nicht will.</p>
+
+<p>Bin ich denn zu alt? fragt er sich. Und da verliebt
+er sich.</p>
+
+<p>Zunächst Beschreibung der Charaktere; die Charaktere
+gehen aus den Umständen hervor.</p>
+
+<p>Die Charaktere sehr sauber festhalten: die Ereignisse
+bloß en masse, die Details nur in dem Maße zulassen,
+als sie sich einstellen (12. Dezember 1882).</p>
+
+<p>Grund: man denkt nur im Augenblicke des Schreibens
+selber wirklich und ernsthaft an die Details. Ohne mir
+das vorher zu sagen, habe ich so in Le Rouge gehandelt.
+Das Detail strömte mir im Schreiben erst zu.</p>
+
+<p>Statt das Buch mit dem Stumpfsinn der Beschreibung
+nach der Methode Walter Scotts zu beginnen, könnte
+man anfangen mit der Charakteranalyse der Herzogin,
+wie ich diese mir aufschrieb im September 1882. Ich
+fand am 12. Dezember diese zwei Seiten vortrefflich,
+<a id="page-440"></a><span class="pgnum">440</span>und hatte sie während der Bataillen von Vidau völlig
+vergessen.</p>
+
+<p>Nach diesen beiden Seiten die Beschreibung der Rue
+de Palais, und die Soiree oder den Empfang bei der
+Herzogin.</p>
+
+<p>Die Herzogin. Madame la Duchesse de Vaussay, über
+dreißig alt, eine Leidenschaftliche. Fortgerissen von
+einem Feuertemperament ergab sie sich allen Freuden
+und Genüssen, hatte aber doch immer die höchste Idee
+von der Pflicht, nicht eine vernünftige Idee, sondern
+eine ganz abergläubische, deren Fond sie niemals untersuchte
+und deren sie sich aus ihrer Leichtigkeit, gerührt
+zu werden, bemächtigt hatte.</p>
+
+<p>Sie hat, wie man sagt, einige Liebhaber gehabt, und
+ist das ohne weiteres zu glauben; ihre Seele war Leben und
+Bewegung; immer war sie von den geschickten Manövern
+eines Mannes fortgerissen, der Frauen zu haben
+gewohnt war, oder sie erlag mit blinder Leidenschaft
+einem wirklich von ihr eingenommenen Manne. Niemals
+liebte sie als die erste, niemals wollte sie sich hingeben,
+sondern voller Gewissensqualen über ihren Fall,
+dem sie ruhigen Blutes nicht ins Gesicht schauen konnte,
+glaubte sie ihn auslöschen zu können, indem sie dieses
+Gewissen durch eine völlige Unterwerfung unter den
+Mann beschwor, der gerade ihr Herr war. In ihrem
+guten Glauben hielt sie sich noch durch eine befehlende
+Pflicht gebunden, wenn ihr Verstand ihr schon deutlich
+sagte, daß der Mann, dem sie ihr Herz bewahrte,
+längst eine andere anführte.</p>
+
+<p>Roizard. For me. In einem Wort ist Roizard der
+idealisierte Dominique. Ersichtlich höchst wechselvollen
+veränderlichen Charakters; ein Wort bringt ihn das eine
+Mal zu Tränen, das andere Mal macht es ihn ironisch,
+<a id="page-441"></a><span class="pgnum">441</span>hart, aus Angst, davon weich zu werden und sich hinterher
+dieser Schwäche wegen zu verachten. Er war von
+mittlerer Größe und zählte über vierzig Jahre. Seine
+Züge waren groß, nicht schön, aber höchst beweglich.
+Seine Augen drückten die geringste Nuance seiner Gefühle
+aus. Und darüber war sein Stolz verzweifelt. Da er
+dieses Malheur fürchtete, war er brillant, witzig, voller
+amüsanter Geschichten, elektrisierte seine Zuhörer und
+machte das Gähnen im Salon unmöglich. In solchen
+Augenblicken erregte er Abneigungen wie heftigste Bewunderung
+seiner Person. Man kann nicht geistvoller
+sein, sagten seine Bewunderer. Aber die Mittelmäßigen
+erschreckte die Lebhaftigkeit seines Imprevu. Ohne
+Emotion war er ohne Geist. Im übrigen war sein Erinnerungsvermögen
+schwach, oder er mißachtete, es zu
+Hilfe zu rufen. Dann war sein Wort so diskret wie
+indiskret der Ausdruck seiner Physiognomie. Daß man
+erriete, was er fühlte, hätte seinen Stolz zur Verzweiflung
+gebracht. Das Pompöse — la sostenutezza — im
+Ausdruck eines Gefühles, Affektation im Ausdruck
+eines Schmerzes waren ihm fremd und zuwider, so legitim
+solcher Ausdruck auch sein mochte; in solchen
+Fällen war Roizard Ironie in Blick und Wort. Seriöses,
+Pompöses, Trauriges waren nie in seiner Konversation,
+und nie sprach er von dem einzigen, das ein Recht
+auf sein Interesse hatte; ein echtes Gefühl oder Heroismus,
+die sich für das Vaterland opferten.</p>
+
+<p>Wie weit darf der familiäre Ton des Verfassers dieses
+Romans gehen? Die außerordentliche Familiarität
+Walter Scotts und Fieldings bereitet sehr gut die Momente
+des Enthusiasmus vor. Ist der Ton in Le Rouge
+nicht zu römisch? 4. Oktober 1832.
+</p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-442"></a><span class="pgnum">442</span>ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS</h2>
+
+
+<p>In diesem Bande sind die novellistischen Arbeiten
+Stendhals gesammelt, deren Abfassungszeit nach Le
+Rouge et le Noir fällt, also in die Zeit von 1830 bis zum
+Tode des Schriftstellers. Zwei Romanentwürfe, der eine
+aus dem Jahre 1882, der andere etwa aus dem Jahre
+1840, finden in diesem Bande ihren Platz. In der folgenden
+Bibliographie sind bloß die ersten Drucke angegeben;
+von einer Aufzählung der oft sehr zahlreichen
+nachfolgenden Drucke ist abgesehen.</p>
+
+<p><i>Les Cenci</i> (1599): erster Druck in der Revue des
+Deux Mondes, 1. juillet 1837, pag. 5-32. Auf eine
+1825 in Paris erschienene Broschüre von 87 Seiten:
+Histoire de la famille Cinci. Ouvrage traduit sur l'original
+italien trouve dans la Bibliothèque du Vatican,
+par M. l'Abbé Angelo Maio, son conservateur, hat
+G. Hanotaux aufmerksam gemacht und hinter dem Verfasser
+„Angelo Maio“ Stendhal vermutet. Auch eine
+Relation de la mort de Giacomo et Beatrix Cenci, französisch
+und italienisch 1828 in den Mélanges der Société
+des Bibliophiles français veröffentlicht und in der
+kurzen Vorrede mit ‚Malartic‘ unterzeichnet, dürfte
+Stendhal zum Verfasser haben. Vgl. G. Vicaire in Manuel
+de l'Amateur de Livres du XIX. siècle, I, 1894,
+col. 464-465, und: Gli originali delle Chroniques italiennes,
+<a id="page-443"></a><span class="pgnum">443</span>con postille autografe inedite: Les Cenci, a cura
+del dott. Giov. Barburo. Casale, 1912, pag. 27.</p>
+
+<p>Die Fürstin von Campobasso, unter dem Titel: <i>San
+Francesco a Ripa</i>, zuerst gedruckt in der Revue des Deux
+Mondes. Juli 1853, pag. 166-179.</p>
+
+<p><i>La Duchesse de Palliano</i>. Zuerst gedruckt in der
+Revue des Deux Mondes. August 1838, pag. 535-554.</p>
+
+<p><i>Vittoria Accoramboni</i>. Zuerst gedruckt in der Revue
+des Deux Mondes. März 1837, pag. 560-584.</p>
+
+<p><i>L'Abbesse de Castro</i>. Geschrieben um 1838 und zuerst
+gedruckt in der Revue des Deux Mondes, Februar
+1839, pag. 273-328 und März 1839, pag. 628-653.
+Die erste Buchausgabe: L'Abbesse de Castro par M. de
+Stendhal, Auteur de Rouge et Noir, de La Chartreuse
+de Parme etc. Paris, Dumont, éditeur, Palais-Royal, 88,
+au Salon litteraire, 1839, in 8°, SS. 329. Der Band
+enthält außerdem Vittoria Accoramboni, Les Cenci. Von
+der Äbtissin von Castro, meist vereinigt mit andern Novellen
+aus dem italienischen Kreise, sind erschienen:
+fünfzehn französische, drei deutsche Ausgaben, je
+eine spanische, italienische, schwedische, flämische,
+tschechische, russische und polnische Ausgabe.</p>
+
+<p>Ein Aufsatz Stendhals über etruskische Gräberfunde
+Les Tombeaux de Corneto, den man in den französischen
+Ausgaben meist den Novellen beifügt, findet in unserer
+Ausgabe seinen richtigen Platz in den Essais.</p>
+
+<p><i>Suora Scolastica</i>, deren Vorrede vom 21. März 1842
+datiert ist — Stendhal erlitt andern Tags einen Schlaganfall
+und starb am 23. März des Jahres — ist 1837
+begonnen, wie sich aus einem Briefe vom 16. März
+1837 an die Comtesse de Tracy ergibt, und unvollendet
+geblieben. Das Fragment wurde zuerst von C. Stryienski
+in La Chronique de Paris Nr. IV, 25. Februar 1893,
+<a id="page-444"></a><span class="pgnum">444</span>pag. 195-200, veröffentlicht, die Vorrede in der Revue
+rétrospective, XVIII, 1. Mai 1898, pag. 289-293.
+Beides dann in den Soirées du Stendhal Club, Paris
+1904, pag. 127-141.</p>
+
+<p><i>Trop de faveur nuit</i> wurde um 1838 geschrieben und
+aus der Handschrift zum erstenmal veröffentlicht von
+F. von Oppeln-Bronikowski in La Revue de Paris,
+15. Dezember 1912, pag. 678-696, und 1. Januar
+1918, pag. 5-26. Dem Manuskript Stendhals gehen
+folgende Zeilen von seiner Hand voraus: „‚Zu viel Gunst
+schadet‘ (aufgegeben am 15. April 1889). Personen:
+der Fürst, Großherzog und Kardinal; der Graf Buondelmonte;
+die Äbtissin Virgilia; Felizia, Geliebte Roderigos;
+Rodelinde, Geliebte Lancelottos, Freundin Felizias;
+Fabiana, 17 Jahre alt, munter, unbesonnen, Geliebte
+von X**; Celiana, düstre Geliebte von X**, Freundin
+Fabianas; Martona, Vertraute der Äbtissin Virgilia;
+Roderigo L., Geliebter Rodelindens; Lorenzo R., Geliebter
+Fabianas; sie liebt ihn über alles und hat seinetwegen
+Don Cesare, Malteserritter, aufgegeben; Pierantonio
+D., Geliebter Celianas, die nur eine sinnliche
+Liebe zu ihm fühlt; Livia, adelige Kammerzofe Rodelindens.
+Trop de faveur nuit, Historie aus dem Jahre
+1589. Dies der Titel, den ein spanischer Dichter dieser
+Geschichte gab, aus der er eine Tragödie machte. Ich
+werde mich wohl hüten, irgendeine der Ausschmückungen
+zu gebrauchen, mit deren Hilfe die Phantasie dieses Spaniers
+versucht hat, diese traurige Schilderung klösterlichen
+Lebens zu verschönern. Gewiß steigern einige dieser Zutaten
+das Interesse, aber ich bleibe bei meiner Absicht,
+die elementaren passionierten Menschen jener Zeit zu
+zeigen, von denen unsere Zivilisation stammt; darum
+gebe ich diese Erzählung ganz schmucklos.“ Stendhal
+<a id="page-445"></a><span class="pgnum">445</span>hat seine Erzählung aus einer Chronik entnommen, wonach
+sich der Vorfall im Kloster von Bajano bei Neapel
+zutrug. Der Schluß der Erzählung ist nach Stendhals
+Aufzeichnungen gegeben.</p>
+
+<p><i>Le Chevalier de Saint-Ismier.</i> Erstmals nach der
+Handschrift veröffentlicht von F. von Oppeln-Bronikowski
+in der Revue Bleue, 7. Dezember 1912,
+pag. 709-714, und 14. Dezember 1912, pag. 737-740.</p>
+
+<p><i>Zwei Roman-Entwürfe.</i> Erstmals von C. Stryienski veröffentlicht
+in den Soirées du Stendhal Club, Paris 1904,
+pag. 95-100. Der erste Plan — A-Imagination,
+das A ist alpha privativum — ist gegen 1840 aufgeschrieben,
+wie sich aus der Julien Sorel erwähnenden
+Textstelle ergibt. Den zweiten Entwurf hat Stendhal
+selber datiert. Der in dem Legat angegebene Abraham
+Constantin war ein Miniaturenmaler auf Porzellan und
+Kopist alter Meister, dessen Hauptwerke sich im Museum
+von Turin befinden. Die Duchesse de Vaussey
+dürfte in Menta ihr Urbild haben. Vgl. Vie de Henri
+Brulard und einen Brief Mentas in Comment a vécu
+Stendhal, 1900. Roizard ist Selbstporträt; R. Colomb
+benützt es in seiner Notice.</p>
+
+<p><i>Aus italienischen Chroniken</i>. Im Jahre 1833 erstand
+Stendhal zwölf — nach Oppeln-Bronikowski, Einleitung
+zu Chroniken 1908, dreizehn — handgeschriebene
+Foliobände mit zeitgenössischen Berichten aus dem Italien
+des Seicento, vornehmlich des römischen. Was er
+damit für Absichten hatte und wie er durch ihre Verwendung
+der Originator des Renaissancismus wurde,
+geht aus Briefen an den Freund R. Colomb und den
+Verleger Calman Levy und aus Tagebuchaufzeichnungen
+hervor: sie sollten ihm das stoffliche Material zu einer
+Reihe von Erzählungen liefern, denen er den gemeinsamen
+<a id="page-446"></a><span class="pgnum">446</span>Titel „<i>Les Bois de Premol</i>“ geben wollte und die
+sechs Bände umfassen sollten. „Ich habe alles nichts
+als Historische beiseite gelassen und nur das gesucht,
+was das menschliche Herz schildert“ und unterm
+27. April 1882 an Colomb aus Palermo: „was geht
+uns heute ein Interdikt gegen Venedig an oder die Geschichte
+der zahllosen Verträge zwischen Rom und
+Neapel? Aber es interessiert uns, wie man sich in jener
+Zeit an einem Nebenbuhler rächte oder eine Frau eroberte.
+Ich las das Manuskript dieser alten Berichte wie
+einen Roman.“</p>
+
+<p>Und: „Die Eitelkeit und die öffentliche Meinung
+waren kaum im Entstehen, und vom Fürsten verliehene
+Ehren nahm man mitnichten ernst… Manche glauben
+ja gar, jene Kultur wäre der unsern, auf die wir so
+stolz sind, gleichwertig. Aber wir haben da ein Plus
+von zwei hübschen Dingen: die Wohlanständigkeit und
+die Heuchelei. Unsere heutige Prüderie hat nicht die
+leiseste Vorstellung von jener Kultur… Aber dafür
+wären auch alle unsere mumienhaften Tugenden den
+Zeitgenossen Ariostos und Raffaels höchst lächerlich vorgekommen.
+Denn man schätzte damals am Manne nur,
+was er als Person, als er selber war, und es war keine
+Eigenschaft der Person, so zu sein wie jedermann: die
+Dummköpfe und Einfaltspinsel hatten da kein Terrain.“
+Und: „Das Leben ohne die Dinge, die es glücklich
+machen, wurde nicht hoch eingeschätzt. Ehe man den
+beklagte, der es verlor, rechnete man die Summe von
+Glück aus, die er genossen, und in dieser Rechnung
+nahmen die Frauen einen weit größeren Raum ein als
+heutzutage.“ Und: „Diese Sitten haben einen Raffael und
+Michel Angelo hervorgebracht, die man heute höchst
+lächerlich durch Kunstakademien hervorbringen will.
+<a id="page-447"></a><span class="pgnum">447</span>Man vergißt, daß es einer kühnen Seele bedarf, um den
+Pinsel recht zu führen, und erzielt nichts als arme
+Teufel, die einem Bureauchef den Hof machen müssen,
+damit er bei ihnen ein Bild bestelle.“</p>
+
+<p>Einiges aus diesen Handschriften hat Stendhal in die
+Formen seiner Novellen gebracht; fast wörtlich folgt er
+seinen Quellen in der Vittoria Accoramboni und den
+Cenci. Anderes wird Episode, ja dient als Fabel, wie in
+der Chartreuse de Parme. An der Ausführung seines
+Planes der weiteren Bände wurde Stendhal durch den
+Tod verhindert; der Vertrag über neue Chroniques italiennes
+mit der Revue des Deux Mondes war bereits
+abgeschlossen und 1500 Franken an Stendhal als Vorzahlung
+geschickt worden.</p>
+
+<p>Stendhals Schwester Pauline Périer-Lagrange verkaufte
+durch Mérimées Vermittlung die Manuskriptbände
+der Quellen an die Bibliothèque nationale: es sind
+die Codices Italiani 169-179 und 296-297 der Handschriftenabteilung.
+Zum ersten Male haben gleichzeitig
+Oppeln-Bronikowski a.a.O. und C. Stryienski im
+zweiten Bande der Soirées du Stendhal Club, Paris
+1908, pag. 214-267, daraus einiges publiziert, der
+Deutsche sechzehn, der Franzose zwölf gekürzte Stücke.
+Oppeln-Bronikowski hat außerdem eine genaue Beschreibung
+der Codices gegeben, die ungeführ fünfzig
+Geschichten enthalten. Ein kleiner Teil dieser Geschichten
+ist von Stendhal durchkorrigiert — „ich mache
+Bleistiftkorrekturen, um nicht beim dritten Lesen die
+Geduld zu verlieren“, wie er in einer Vorrede schreibt.
+Unserer Übersetzung dienten als Vorlage: Abschriften
+nach den Originalen in Paris, Stryienskis Text und für
+<i>Ariberti</i> und <i>Farnese</i> Stendhals Correspondance. Die
+ausgewählten Beispiele wären leicht zu vermehren gewesen,
+<a id="page-448"></a><span class="pgnum">448</span>doch schien dies überflüssig. Das begrifflich und
+dokumentarisch Neue von 1830 ist durch Burckhardt
+und Nietzsche und ihnen nachfolgend durch zahlreiche
+Veröffentlichungen der Dokumente so vertraut geworden,
+daß ein ausführlicherer Abdruck Stendhalscher
+Exzerpte obsolet wäre. Aus einem der drei oder vier literar-kritischen
+Werke von Rang, die in den letzten zwanzig
+Jahren in Deutschland veröffentlicht wurden, aus
+F.F. Braungartens ‚Das Werk Conrad Ferdinand Meyers,
+Renaissance-Empfinden und Stilkunst‘, G. Müller,
+München 1920, seien hier einige Sätze zitiert: <a class="sic" id="sicA-36" href="#sic-36">„</a>Bei
+Stendhal ist die Renaissancebegeisterung wesentlich revolutionäre
+Weltanschauung: Stendhals Renaissancehelden
+sind die Abenteurer, die Briganti und Condottieri.
+Cesar Borgia, ‚le représentant de son siècle‘ heißt es bei
+Stendhal… Er stellt die Renaissance als Ziel des natürlichen
+und freien Menschen in Gegensatz zu der Knechtschaft
+und Verlogenheit des ancien régime. Er verherrlicht
+die Leidenschaft und Aufrichtigkeit der Renaissance
+als lichte Gegenbilder der Eitelkeit und der
+Galanterie und des verlogenen Ehrbegriffs des ancien
+régime, die den Mann im Herrendienst und Frauendienst
+zum Sklaven macht. Auf diesen von Stendhal festgelegten
+Grundzügen baut sich das Renaissanceempfinden
+auf. Auch das erschöpfendste Renaissancebild:
+die Darstellung Burckhardts hat hier ihre Aufgabe.
+Stendhal, der immer nur an das XVI. Jahrhundert denkt
+und von dessen civilisation renaissante spricht, kennt
+übrigens das Wort Renaissance noch nicht. Stendhal
+hat die Renaissance als Folie des ancien régime, d.h.
+des Barocks, geschaut… Das Renaissancebild des Romanciers
+Stendhal war rein psychologisch. Er hatte bereits
+1817 der Renaissancebewunderung das Losungswort
+<a id="page-449"></a><span class="pgnum">449</span>gegeben: „le seul siècle, qui ait eu à la fois de
+l'esprit et de l'énergie“.</p>
+
+<p>Stendhal hat einigen seiner Auszüge Bemerkungen
+vorangestellt; sie sind folgend wiedergegeben:</p>
+
+<p><i>Zu Kardinal Aldobrandini</i>: „Das wirkliche Herz der
+italienischen Kurtisane; die Sitten waren zu wild, als
+daß sie den Kurtisanen eine leichtherzige Güte erlaubt
+hätten. Mit dieser Geschichte die Sammlung anfangen.
+Hierauf chronologische Folge. In der Biographie
+Michaud den Artikel Aldobrandini zu lesen,
+um über die Lügereien zu lachen. Alles das ist vor
+der Kopie von mir in den Originalmanuskripten gelesen
+worden. Augenschmerzen wegen des Staubes.“</p>
+
+<p><i>Girolamo Biancinfiore</i>: „Art Don Juan oder giftmischender
+Casanova. Wildes Geschwätz, sehr abzukürzen,
+macht den Eindruck, als ob es für Kinder
+erzählt wäre. 24. April 1833.“</p>
+
+<p><i>Die Brüder Massimi</i>: „Aus Höflichkeit, aus mondäner
+Klugheit diese Geschichte nach Neapel verlegen.
+Anfangen mit der Geschichte der Stiefmutter, umgebracht
+von den vier Brüdern.“</p>
+
+<p><i>George Picknon</i>: „Unter Ganganelli kam ein Engländer,
+wie ich glaube, nach Rom, um den Papst zu
+bekehren. Ganganelli ließ ihm einiges Geld für die
+Heimreise geben. Ich hätte den Mann zu meinem
+Amüsement kommen lassen, aber wahrscheinlich hatte
+der arme Ganganelli, mit den Jesuiten beschäftigt, keine
+Zeit, sich zu amüsieren.“</p>
+
+<p><i>Die Farnese</i>: „Bericht voll naiver Wahrheit im römischen
+Patois. Rom 1834. To make of this sketch a
+Romanzotto, 16. August 38. Courier hat ganz Recht.
+Durch eine oder mehrere Huren haben die meisten
+großen Familien ihr Glück gemacht. Das ist nun ja in
+<a id="page-450"></a><span class="pgnum">450</span>New York nicht möglich, da gähnt man sich aber auch
+die Kinnbacken aus. Alessandros idealisierte Porträtbüste
+von della Porta in Sankt Peter auf seinem Grabmal.
+Das wahrhafte Porträt Alessandros, der Paul III.
+wurde, zeigen im höchsten Alter zwei Büsten im Palazzo
+Farnese, eine davon dem Michel Angelo zugeschrieben.
+Spaßiger aber seiner würdiger Schmuck auf dem Ornat
+des Papstes.“</p>
+
+<p>Im ersten Bande von Stendhals Novellen ‚Eine Geldheirat‘
+sind folgende Versehen zu korrigieren. S. 371,
+letzte Zeile, haben die Neuausgaben von Contes bruns
+zu heißen: Phil. Chasles und Ch. Rabou. Auf S. 372:
+Le Mari d'argent ist zuerst gedruckt in den Nouvelles
+Inédites 1855. Die genannte Ausgabe ist der 1902 erschienene
+Neudruck von den alten Platten. S. 369, Zeile
+fünf von oben muß es heißen Nouvelles Inédites. Arthur
+Schurig macht mich auf eine erotische Geschichte aufmerksam,
+die unediert in Grenoble liegt, die erste
+schriftstellerische Arbeit des jungen Beyle. Es ist zur
+Zeit davon keine Abschrift zu erhalten gewesen. Die
+Heldin der Novelle ‚Mina von W.‘ heißt in Stendhals
+Handschrift richtig Wrangel. Da die Arbeit unter dem
+Namen Wangel bekannt wurde, schien es besser, dabei
+zu bleiben. Zumal auch ein umfangreicher, noch nicht
+veröffentlichter Roman den Titel ‚Mme de Wrangel‘
+trägt und dieser dann zur Unterscheidung von der
+wesentlich verschiedenen Novelle den richtigen Namen
+in unserer Ausgabe behalten wird.</p>
+
+<p class="letterlast"><span class="spaced">Franz Blei</span></p>
+
+
+
+
+<h2><a id="page-451"></a><span class="pgnum">451</span>INHALTSVERZEICHNIS</h2>
+
+<div class="content">
+<p><a href="#page-1">Die Fürstin von Campobasso</a></p>
+<p><a href="#page-23">Die Herzogin von Palliano</a></p>
+<p><a href="#page-59">Die Cenci</a></p>
+<p><a href="#page-105">Zu viel Gunst schadet</a></p>
+<p><a href="#page-161">Vittoria Accoramboni</a></p>
+<p><a href="#page-199">Die Äbtissin von Castro</a></p>
+<p><a href="#page-335">Schwester Scolastica</a></p>
+<p><a href="#page-351">Der Chevalier von Saint-Ismier</a></p>
+<p><a href="#page-377">Aus italienischen Chroniken</a></p>
+<p><a href="#page-435">Zwei Roman-Entwürfe</a></p>
+<p><a href="#page-442">Anmerkung des Herausgebers</a></p>
+</div>
+
+<hr class="front" />
+
+<p class="center"><a id="page-452"></a><span class="pgnum">452</span>Gedruckt für Georg Müller in München<br/>
+von Poeschel &amp; Trepte in Leipzig. Gebunden von<br/>
+H. Pikentscher in Leipzig nach dem Entwurf<br/>
+von Paul Renner</p>
+
+
+<hr class="front" />
+
+<h2>Fußnoten</h2>
+
+<div class="FN"><p><a id="FN-1" href="#FNA-1"><sup>1</sup></a> Ein wenig weiter unten kommt Stendhal darauf zurück und
+läßt Felizia in einer andern Weise handeln. Dieser ganze Absatz
+scheint ein erster Entwurf zu sein. D.H.</p></div>
+
+<div class="FN"><p><a id="FN-2" href="#FNA-2"><sup>2</sup></a> Siehe weiter oben.</p></div>
+
+<div class="FN"><p><a id="FN-3" href="#FNA-3"><sup>3</sup></a> Die Corte wagte nicht in den Palast eines Fürsten einzudringen.</p></div>
+
+<div class="FN"><p><a id="FN-4" href="#FNA-4"><sup>4</sup></a> Sixtus V. wurde 1585 mit 68 Jahren Papst und regierte fünf
+Jahre und vier Monate; er hat verblüffende Ähnlichkeiten mit Napoleon.</p></div>
+
+<div class="FN"><p><a id="FN-5" href="#FNA-5"><sup>5</sup></a> Gasparone, der letzte der Briganten, unterhandelte 1826 mit der
+Regierung; er sitzt in der Festung von Civita Vecchia mit sechsunddreißig
+seiner Leute gefangen. Der Wassermangel auf den
+Höhen des Apennin, wohin er sich geflüchtet hatte, nötigte ihn zu
+kapitulieren. Er ist ein Mann von Geist, von einnehmendem Äußern.</p></div>
+
+<div class="transcribers-notes">
+<hr class="front"/>
+
+<h2>Transkriptions-Notizen</h2>
+<p>Typografische Unstimmigkeiten der Vorlage, egal ob vom Schriftsetzer oder dem Autor/Übersetzer zu verantworten,
+wurden möglichst unverändert übertragen.
+Zur Unterscheidung von Fehlern bei der Übertragung wurden sie so weit wie
+möglich gekennzeichnet.</p>
+
+<div class="FN"><p><a id="sic-1" href="#sicA-1">“</a> &mdash; statt: ‘</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-2" href="#sicA-2">Domitiano</a> &mdash; weiter unten: Domiziano</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-3" href="#sicA-3">„</a> &mdash; Das schließende Anführungszeichen fehlt.</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-4" href="#sicA-4">„</a> &mdash; Die Setzung der Anführungszeichen der nächsten vier Absätze entspricht durchaus der Vorlage.</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-5" href="#sicA-5">daß</a> &mdash; statt: das</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-6" href="#sicA-6">anzukleiden.</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-7" href="#sicA-7">“</a> &mdash; statt: ‘</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-8" href="#sicA-8">„</a> &mdash; statt: ‚</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-9" href="#sicA-9">größte</a> &mdash; statt: grüßte</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-10" href="#sicA-10">Buondelonte</a> &mdash; statt: Buondelmonte</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-11" href="#sicA-11">Diszipin</a> &mdash; statt: Disziplin</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-12" href="#sicA-12">“</a> &mdash; überzähliges Anführungszeichen</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-13" href="#sicA-13">einen</a> &mdash; statt: einem</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-14" href="#sicA-14">Mönch!</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-15" href="#sicA-15">ihm zu</a> &mdash; statt wie sonst: ihn zur</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-16" href="#sicA-16">Angelegeheiten</a> &mdash; statt: Angelegenheiten</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-17" href="#sicA-17">Übriggebiebenen</a> &mdash; statt: Übriggebliebenen</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-18" href="#sicA-18">venezianische</a> &mdash; sonst einheitlich: venetianische</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-19" href="#sicA-19">verstecken.</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-20" href="#sicA-20">armsäligen</a> &mdash; sonst einheitlich: armseligen</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-21" href="#sicA-21">‚</a> &mdash; statt: „</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-22" href="#sicA-22">Gewandheit</a> &mdash; statt: Gewandtheit</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-23" href="#sicA-23">Wer</a> &mdash; statt: Wir</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-24" href="#sicA-24">sollen.</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-25" href="#sicA-25">Kampagnie</a> &mdash; statt: Kompagnie</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-26" href="#sicA-26">„</a> &mdash; Anführungszeichen wohl überzählig, da Rede fortgesetzt wird.</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-27" href="#sicA-27">ist.</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-28" href="#sicA-28">Tür.</a> &mdash; Hier fehlt wohl: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-29" href="#sicA-29">es</a> &mdash; statt: er</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-30" href="#sicA-30">ihr</a> &mdash; statt: ihre</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-31" href="#sicA-31">„</a> &mdash; Schließendes Anführungszeichen fehlt (wohl einige Absätze weiter).</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-32" href="#sicA-32">Unter</a> &mdash; Vorab fehlt: „</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-33" href="#sicA-33">folgtem</a> &mdash; statt: folgten</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-34" href="#sicA-34">fürchten.</a> &mdash; Fehlt: “</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-35" href="#sicA-35">außerdentliche</a> &mdash; statt: außerordentliche</p></div>
+<div class="FN"><p><a id="sic-36" href="#sicA-36">„</a> &mdash; Anführungszeichen am Ende des Zitats (wohl am Absatzende nach dem Losungswort) fehlt.</p></div>
+
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Die Abtissin von Castro, by Stendhal
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ABTISSIN VON CASTRO ***
+
+***** This file should be named 14330-h.htm or 14330-h.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/4/3/3/14330/
+
+Produced by Juliet Sutherland, Hagen von Eitzen and the Online
+Distributed Proofreading Team.
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
+
+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
+Gutenberg-tm License (available with this file or online at
+https://gutenberg.org/license).
+
+
+Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
+electronic works
+
+1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
+and accept all the terms of this license and intellectual property
+(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
+the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
+all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
+freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
+this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
+the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
+keeping this work in the same format with its attached full Project
+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
+
+1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
+what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
+a constant state of change. If you are outside the United States, check
+the laws of your country in addition to the terms of this agreement
+before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
+creating derivative works based on this work or any other Project
+Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
+the copyright status of any work in any country outside the United
+States.
+
+1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
+
+1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
+access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
+whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
+phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
+Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
+copied or distributed:
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
+from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
+posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
+or charges. If you are redistributing or providing access to a work
+with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
+work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
+Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
+1.E.9.
+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
+word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
+distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
+"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
+
+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
+
+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
+property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
+computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
+your equipment.
+
+1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
+Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
+Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
+liability to you for damages, costs and expenses, including legal
+fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
+TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
+
+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
+receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
+written explanation to the person you received the work from. If you
+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
+</html>