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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 04:44:16 -0700 |
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| committer | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 04:44:16 -0700 |
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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Die Abtissin von Castro + +Author: Stendhal + +Release Date: December 11, 2004 [EBook #14330] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ABTISSIN VON CASTRO *** + + + + +Produced by Juliet Sutherland, Hagen von Eitzen and the Online +Distributed Proofreading Team. + + + + + + +</pre> + +<p class="front"><big><big><b><i>STENDHAL</i></b></big></big></p> + +<h1>DIE ÄBTISSIN VON CASTRO</h1> + + +<p class="front"><i>DER NOVELLEN ZWEITER BAND</i></p> + + +<p class="front"><span style="letter-spacing: 0.2ex">GEORG MÜLLER VERLAG * MÜNCHEN</span><br/> +<span style="letter-spacing: 1.6ex">1922</span></p> + +<hr class="front" /> + +<p class="front"><i>Alle Rechte vorbehalten</i> * <i>Erstes bis drittes Tausend</i></p> + +<hr class="front" /> + + +<h2><a id="page-1"></a><span class="pgnum">1</span>DIE FÜRSTIN VON CAMPOBASSO</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-2"></a><span class="pgnum">2</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<p><a id="page-3"></a><span class="pgnum">3</span>Ich übersetze aus einem italienischen Chronisten den +genauen Bericht über die Liebschaft einer römischen +Fürstin mit einem Franzosen. Es war im Jahre 1726, +und alle Mißbräuche des Nepotismus blühten damals in +Rom; niemals war der Hof glänzender gewesen. Benedikt +XIII. Orsini regierte, oder vielmehr: es leitete sein +Neffe, der Fürst Campobasso unter seinem Namen alle +Geschäfte. Von allen Seiten strömten Fremde nach Rom; +italienische Fürsten, spanische Granden, noch reich an +Gold der Neuen Welt, kamen in Menge, und wer reich +und mächtig war, stand dort über den Gesetzen. Galanterie +und Verschwendung schienen die einzige Beschäftigung +aller dieser Fremden aller Nationen zu sein.</p> + +<p>Des Papstes beide Nichten, die Gräfin Orsini und die +Fürstin Campobasso genossen vor allen die Macht ihres +Oheims und die Huldigungen des Hofs. Ihre Schönheit +hätte sie aber auch aus den untersten Schichten der Gesellschaft +hervorgehoben. Die Orsini, wie man sie familiär +in Rom nannte, war heiter und, wie man hier +sagt, disinvolta, die Campobasso zärtlich und fromm, +aber diese zärtliche Seele war der gewalttätigsten Leidenschaften +fähig. Obgleich sie nicht erklärte Feindinnen +waren und nicht nur jeden Tag sich am päpstlichen Hof +trafen, sondern sich auch oft besuchten, waren diese +Damen Rivalinnen in allem: Schönheit, Ansehen und +Glücksgütern.</p> + +<p><a id="page-4"></a><span class="pgnum">4</span>Gräfin Orsini, weniger hübsch, aber glänzend, ungezwungen, +beweglich und für Intrigen begeistert, hatte +Liebhaber, die sie wenig kümmerten und nicht länger +als einen Tag beherrschten. Ihr Glück war, zweihundert +Menschen in ihren Salons zu sehn und unter ihnen als +Königin zu glänzen. Sie lachte über ihre Kusine Campobasso, +welche die Ausdauer gehabt hatte, sich drei Jahre +hindurch mit einem spanischen Herzog zu kompromittieren, +um ihm schließlich sagen zu lassen, daß er Rom +binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe, wenn +ihm sein Leben lieb sei. „Seit diesem großen Hinauswurf“, +sagte die Orsini, „hat meine erhabene Kusine +nicht mehr gelächelt. Seit einigen Monaten ist es klar, +daß die arme Frau vor Langweile oder vor Liebe stirbt, +aber ihr gewitzter Gatte rühmt dem Papst, unserm +Oheim, diese Langweile als hohe Frömmigkeit. Bald aber +wird sie diese Frömmigkeit dazu bringen, eine Pilgerfahrt +nach Spanien zu unternehmen.“</p> + +<p>Indes war die Campobasso weit davon, ihren spanischen +Herzog zu vermissen, der sie während seiner Herrschaft +tödlich gelangweilt hatte. Hätte sie ihn vermißt, +würde sie ihn zurückgerufen haben, denn sie besaß jenen +in Rom nicht seltenen Charakter, ebenso natürlich und +unmittelbar in der Gleichgültigkeit wie in der Leidenschaft +zu sein. In ihrer exaltierten Frömmigkeit bei ihren +kaum dreiundzwanzig Jahren und in der Blüte aller +Schönheit widerfuhr es ihr, daß sie sich eines Tags vor +ihrem Oheim auf die Knie warf und ihn um den päpstlichen +Segen bat, der — was nicht genug bekannt ist — ohne +jede vorhergehende Beichte von allen Sünden freispricht, +mit Ausnahme zweier oder dreier Todsünden. +Der gute Benedikt XIII. aber weinte vor Zärtlichkeit: +„Erhebe dich, meine Nichte, du hast meinen Segen nicht +<a id="page-5"></a><span class="pgnum">5</span>notwendig, denn du giltst mehr als ich in den Augen +des Herrn.“</p> + +<p>Aber trotz seiner Unfehlbarkeit täuschte sich Seine +Heiligkeit hierin, wie übrigens ganz Rom. Die Campobasso +war kopflos verliebt und ihr Geliebter teilte ihre +Leidenschaft; und dennoch war sie sehr unglücklich. +Schon seit mehreren Monaten traf sie fast jeden Tag +den Chevalier von Sénecé, den Neffen des Herzogs von +Saint-Aignan, welcher damals Botschafter Ludwigs XV. +in Rom war.</p> + +<p>Sohn einer der Mätressen Philipps von Orléans, war +der junge Sénecé stets Gegenstand der ausgewähltesten +Gunstbezeugungen gewesen. Schon lange Oberst, obgleich +er kaum zweiundzwanzig Jahre zählte, hatte er +einige anmaßende Gewohnheiten, doch ohne Unverschämtheit. +Natürliche Fröhlichkeit, das Verlangen, sich +immer zu unterhalten und alles unterhaltsam zu finden, +Unbesonnenheit, Mut und Güte zeichneten seinen Charakter +eigentümlich aus, von dem man freilich damals +lobend nur hätte sagen können, daß er in allem ein +Musterbeispiel des Charakters seiner Nation war. Diese +nationale Eigenart hatte vom ersten Augenblick an die +Campobasso berückt. „Ich mißtraue Ihnen, Sie sind +Franzose“, hatte sie ihm gesagt, „aber ich sage Ihnen +etwas im voraus: Den Tag, wo man in Rom wissen wird, +daß ich Sie manchmal im Geheimen empfange, werde +ich überzeugt sein, daß Sie selber das verbreitet haben, +und ich werde Sie nicht mehr lieben.“</p> + +<p>So mit der Liebe spielend verstrickte sich die Campobasso +in eine wütende Leidenschaft. Auch Sénecé liebte +sie; aber es waren schon acht Monate her, daß dieses +Verhältnis dauerte, und die Zeit, welche die Leidenschaft +einer Italienerin verdoppelt, tötet die eines Franzosen. +<a id="page-6"></a><span class="pgnum">6</span>Die Eitelkeit des Chevalier tröstete ihn ein wenig über +seine Langeweile: er hatte schon zwei oder drei Bildnisse +der Campobasso nach Paris geschickt. Er übertrug +die Gleichgültigkeit seines Charakters gegen Güter und +Vorteile aller Art, mit denen er seit seiner Kindheit überschüttet +worden war, auch auf die Interessen der Eitelkeit, +die sonst die Herren seiner Nation gewöhnlich sehr +besorgt hüten.</p> + +<p>Sénecé verstand nicht im geringsten den Charakter +seiner Geliebten; deshalb belästigten ihn öfters ihre Seltsamkeiten. +So hatte er jedesmal an allen kirchlichen +Feiertagen, wie am Festtag der Heiligen Balbina, deren +Namen sie trug, die Verzückungen und die Selbstanklagen +einer glühenden und wahren Frömmigkeit auszuhalten. +Sénecé hatte seine Geliebte nicht die Religion +vergessen lassen, wie dies bei den gewöhnlichen Frauen +Italiens vorkommt; er hatte sie nur mit starker Kraft +besiegt, und der Kampf erneuerte sich immer wieder.</p> + +<p>Dieses Hindernis, das erste, das dem mit allen Gaben +des Glückes überschütteten jungen Mann in seinem +Leben begegnet war, hielt die Gewohnheit lebendig, zärtlich +und zuvorkommend gegen die Fürstin zu sein; von +Zeit zu Zeit erachtete er es für seine Pflicht, sie zu +lieben. Sénecé hatte nur einen Vertrauten in seinem Botschafter, +dem Herzog von Saint-Aignan, dem er durch +die Campobasso manchen Dienst leisten konnte. Außerdem +war ihm die Bedeutung, die er durch seine Liebesaffäre +in den Augen des Botschafters gewann, außerordentlich +schmeichelhaft. Die Campobasso, ganz anders +als er, war dagegen von der gesellschaftlichen +Stellung ihres Liebhabers gar nicht berührt. Geliebt oder +nicht geliebt zu sein war alles für sie. „Ich opfere ihm +meine ewige Seligkeit,“ sagte sie, „und er, der ein Häretiker, +<a id="page-7"></a><span class="pgnum">7</span>ein Franzose ist, kann mir nichts, was dem +gleicht, opfern.“ Aber sobald der Chevalier erschien, +füllte seine gefällige und dabei so ungezwungene Heiterkeit +die Seele der Campobasso mit Entzücken und bezauberte +sie. Bei seinem Anblick verschwand alles, was +sie sich ihm zu sagen vorgenommen hatte, und alle +trüben Gedanken. Dieser für diese hochmütige Seele so +neue Zustand hielt noch lange an, nachdem Sénecé gegangen +war. Und schließlich fand sie, daß sie fern von +Sénecé weder denken noch leben könne.</p> + +<p>Während in Rom durch zwei Jahrhunderte die Spanier +in Mode gewesen waren, begann man sich damals ein +wenig den Franzosen zuzuneigen. Man begann, einen +Charakter zu verstehn, der Vergnügen und Heiterkeit +überall hinbrachte, wo er sich zeigte, und diesen Charakter +gab es damals nur in Frankreich; seit der Revolution +von 1789 gibt es ihn nirgends mehr. Denn eine +so beständige Frohmütigkeit braucht Unbekümmertsein, +Sorglosigkeit, und es gibt für niemand mehr heute eine +sichere Zukunft in Frankreich, nicht einmal für geniale +Menschen, falls es solche gäbe. Es herrscht erklärter +Krieg zwischen Menschen vom Schlage Sénecés und der +Masse der Nation. Auch Rom war damals vom heutigen +Rom sehr verschieden. Um 1726 hatte man keine +Ahnung von dem, was sich siebenundsechzig Jahre später +ereignen sollte, als das von einigen Geistlichen aufgehetzte +Volk den Jakobiner Basseville umbrachte, der, +wie er sagte, die Hauptstadt der christlichen Welt zivilisieren +wollte.</p> + +<p>Durch Sénecé hatte die Campobasso zum erstenmal +die Vernunft verloren, hatte sich, aus Gründen, die vom +gesunden Menschenverstand nicht gebilligt werden, bald +im Himmel befunden, bald im fürchterlichen Unglück. +<a id="page-8"></a><span class="pgnum">8</span>Nun hatte Sénecé auch die Religion besiegt; nun mußte +sich diese Liebe, welche für diese strenge und wahre +Frau weit größere und ganz andere Bedeutung als die +Vernunft hatte, schnell in die wildeste Leidenschaft +steigern.</p> + +<p>Die Fürstin hatte einen Monsignore Ferraterra begünstigt +und seine Laufbahn erleichtert. Wie wurde ihr +zumute, als dieser Ferraterra ihr mitteilte, daß Sénecé +nicht nur öfter als üblich zur Orsini gehe, sondern daß +die Gräfin seinetwegen den berühmten Kastraten fortgeschickt +habe, der seit mehreren Wochen ihr offizieller +Liebhaber gewesen war!</p> + +<p>Hier beginnt, was wir zu erzählen haben: An dem +Abend des Tages, wo die Campobasso diese verhängnisvolle +Nachricht erhalten hatte.</p> + +<p>Sie saß reglos in einem hohen Lehnstuhl aus goldfarbenem +Leder. Neben ihr, auf einem kleinen schwarzen +Marmortisch standen auf hohen Füßen zwei silberne Lampen, +Meisterwerke des Cellini, und erleuchteten kaum das +Dunkel eines weitläufigen Saales im Erdgeschoß ihres +Palastes. Kaum, daß Licht auf die Gemälde an den +Wänden fiel, die nachgedunkelt waren; denn die Zeit +der großen Maler lag damals schon weit zurück.</p> + +<p>Der Fürstin gegenüber und fast zu ihren Füßen zeigte +der junge Sénecé auf einem kleinen Stuhl aus Ebenholz, +mit Ornamenten aus massivem Gold verziert, seine elegante +Person. Die Fürstin hatte den Blick auf ihn gerichtet; +sie war ihm nicht entgegengeeilt, als er eintrat, +hatte sich nicht in seine Arme gestürzt und nicht ein +Wort an ihn gerichtet.</p> + +<p>Im Jahre 1726 war Paris schon Königin des reichen +und eleganten Lebens. Sénecé ließ durch Kuriere regelmäßig +alles kommen, was die Reize eines der hübschesten +<a id="page-9"></a><span class="pgnum">9</span>Männer Frankreichs hervorheben konnte. Trotz +der für einen Mann seines Ranges natürlichen Sicherheit, +noch dadurch verstärkt, daß er seine ersten Waffengänge +mit den Schönheiten am Hof des Regenten unter +der Leitung des berühmten Canillac, seines Oheims, eines +der Roués dieses Fürsten gehabt hatte, konnte man eine +leichte Verlegenheit in Sénecés Zügen bemerken. Das +schöne blonde Haar der Fürstin war etwas in Unordnung; +die großen schwarzblauen Augen sahen den +Mann starr an; ihr Ausdruck war schwer zu deuten. +Dachte sie an tödliche Rache? War es nur der tiefe Ernst +leidenschaftlicher Liebe?</p> + +<p>„Also Sie lieben mich nicht mehr?“ sagte sie endlich +leise. Ein langes Schweigen folgte dieser Kriegserklärung.</p> + +<p>Es wurde der Fürstin schwer, sich der reizenden Anmut +Sénecés zu entziehen, der ihr, machte sie ihm keine +Szene, tausend Torheiten sagen würde; aber sie besaß +zu großen Stolz, um die Auseinandersetzung hinauszuschieben. +Eine Kokette ist aus Eigenliebe eifersüchtig, +eine galante Frau aus Gewohnheit; aber eine Frau, die +wahr und leidenschaftlich liebt, hat das ganze Bewußtsein +ihres Rechtes. Diese Art, der römischen Leidenschaft +eigen, amüsierte Sénecé sehr; er sah darin Tiefe +und Unbestimmtheit; man glaubte, die unverhüllte Seele +zu schauen. Der Orsini fehlte dieser Reiz der Campobasso.</p> + +<p>Aber da diesmal das Schweigen so lange anhielt, sah +der junge Franzose, der nicht die Kunst verstand, in die +verborgenen Gefühle eines italienischen Herzens einzudringen, +darin einen Schein von Ruhe und Vernunft, +und das machte ihn arglos. Zudem drückte ihn gerade +in diesem Augenblick ein Kummer. Als er das unterirdische +<a id="page-10"></a><span class="pgnum">10</span>Gewölbe durchschritt, das von einem benachbarten +Haus in diesen Saal des Palastes Campobasso +führte, hatten sich einiges Spinngewebe auf die ganz +frische Stickerei seines entzückenden, gestern aus Paris +gekommenen Anzugs gelegt. Das verursachte ihm Unbehagen +und außerdem waren ihm Spinnen schrecklich.</p> + +<p>Da er im Auge der Fürstin Ruhe zu lesen glaubte, +dachte er, ob es nicht besser sei, eine Aussprache zu +vermeiden und den Vorwurf sanft abzubiegen, statt ihm +zu entgegnen; aber durch die Mißstimmung, die er +fühlte, mehr zum Ernst geneigt, sagte er sich: ‚Wäre +dies nicht günstigste Gelegenheit, die Wahrheit durchblicken +zu lassen? Sie selber hat die Frage gestellt, also +ist die halbe Peinlichkeit schon erledigt. Ich bin ja +sicher nicht für die Liebe geschaffen. Ich habe zwar nie +etwas so Schönes wie diese Frau mit ihren sonderbaren +Augen gesehen, aber sie hat schlechte Gewohnheiten. +Sie läßt mich durch widerliche, unterirdische Gewölbe +kommen. Immerhin ist sie die Nichte des Herrschers, +zu dem mich mein König geschickt hat. Und mehr noch, +sie ist blond in einem Land, wo alle Frauen dunkel sind; +das ist eine große Seltenheit. Täglich höre ich ihre +Schönheit von Leuten in den Himmel heben, deren +Zeugnis unverdächtig ist und die nicht im Entferntesten +ahnen, mit dem glücklichen Besitzer dieser Reize zu +sprechen. Was die Macht betrifft, die ein Mann über seine +Geliebte haben soll, brauche ich nicht beunruhigt zu +sein. Wollte ich mir die Mühe nehmen, ein Wort zu +sagen, so verließe sie ihr Haus, ihre Goldmöbel, ihren +königlichen Oheim, und all das würde sie tun, um sich +in Frankreich in die tiefste Provinz zu vergraben und +auf einem meiner Güter kümmerlich und kläglich zu +leben… Morbleu, die Aussicht auf solches Opfer begeistert +<a id="page-11"></a><span class="pgnum">11</span>mich nur zu dem festen Beschluß, es niemals +von ihr zu verlangen. Die Orsini ist ja viel weniger +hübsch; sie liebt mich, wenn sie mich überhaupt liebt, +grade ein wenig mehr als den Kastraten Butafoco, den +ich sie gestern wegschicken hieß; aber sie hat Lebensart, +sie versteht zu leben, man kann im Wagen bei ihr vorfahren. +Und ich bin sicher, daß sie mir nie eine Szene +machen wird; sie liebt mich dazu nicht genug.‘</p> + +<p>Während des langen Schweigens hatte der starre Blick +der Fürstin die hübsche Stirn des jungen Franzosen +nicht verlassen.</p> + +<p>‚Ich werde ihn nicht mehr sehen‘, sagte sie sich. Und +plötzlich warf sie sich in seine Arme und bedeckte mit +Küssen die Stirn und die Augen, die sich nicht mehr +mit Glück füllten, wenn sie von ihnen erblickt wurde. +Der Chevalier würde es sich nie vergeben haben, hätte +er nicht in diesem Augenblick jeden Plan eines Bruchs +fallen gelassen. Aber seine Geliebte war zu tief aufgewühlt, +um ihre Eifersucht zu vergessen. Wenige Augenblicke +nachher betrachtete Sénecé sie mit Verwunderung. +Tränen des Zornes liefen ihr über die Wangen. ‚Wie!‘ +sagte sie sich, ‚ich erniedrige mich so tief, daß ich von +seiner Veränderung spreche; ich werfe sie ihm vor, ich, +die ich mir geschworen hatte, es niemals zu bemerken! +Und das ist noch nicht genug Niedrigkeit, ich muß auch +noch der Leidenschaft nachgeben, die mir dieses entzückende +Gesicht einflößt! Ah, verächtlich, verächtlich! +Es muß ein Ende nehmen.‘</p> + +<p>Sie trocknete die Tränen und schien wieder beruhigter. +„Chevalier, wir müssen ein Ende machen“, begann sie +ruhig; „Sie besuchen häufig die Gräfin…“ Da erbleichte +sie. Und nach einer Weile: … — „Wenn du +sie liebst, geh alle Tage hin, meinetwegen! Aber komm +<a id="page-12"></a><span class="pgnum">12</span>nicht mehr hierher.“ Sie hielt wie gegen ihren Willen +an. Sie erwartete ein Wort des Chevaliers; das Wort +wurde nicht gesprochen. Mit einem kleinen krampfhaften +Zucken preßte sie durch die Zähne: „Das soll +mein Todesurteil sein, und das Ihre.“</p> + +<p>Diese Drohung wirkte entscheidend auf die zage Seele +des Chevaliers, der bis dahin über die unvorhergesehene +Krisis nach solcher Hingabe nur erstaunt war. Er begann +zu lachen.</p> + +<p>Ein plötzliches Rot bedeckte die Wangen der Fürstin, +die wie Scharlach wurden. ‚Der Zorn wird sie ersticken,‘ +dachte der Chevalier, ‚sie wird einen Schlaganfall bekommen.‘ +Er näherte sich, um ihr Kleid aufzuschnüren, +sie stieß ihn mit einer Festigkeit und Kraft zurück, die +er nicht gewohnt war. Sénecé erinnerte sich später, daß +er bei diesem Versuch, sie in seine Arme zu schließen, +sie mit sich selbst hatte sprechen hören. Er zog sich ein +wenig zurück, unnötig, denn sie schien ihn nicht mehr +zu sehen. Mit tiefer Stimme sprach sie, als wäre sie +hundert Meilen von ihm entfernt: „Er beleidigt mich, +er fordert mich heraus. Bei seiner Jugend und mit der +seinem Volke eigentümlichen Indiskretion wird er sicher +der Orsini alle Unwürdigkeiten, zu denen ich mich erniedrige, +erzählen. Ich bin meiner nicht sicher, ich kann +nicht dafür einstehen, daß ich diesem Gesicht gegenüber +unempfindlich bleibe.“ Hier folgte ein neues Schweigen, +das dem Chevalier sehr langweilig vorkam. Die Fürstin +erhob sich endlich und sagte in einem klagenden Ton: +„Man muß ein Ende machen.“</p> + +<p>Sénecé, der durch die Wiederversöhnung den Glauben +an den Ernst der Aussprache verloren hatte, sagte einige +scherzhafte Worte über ein Abenteuer, von dem in Rom +viel gesprochen wurde.</p> + +<p><a id="page-13"></a><span class="pgnum">13</span>„Verlassen Sie mich, Chevalier,“ unterbrach ihn die +Fürstin, „ich fühle mich nicht wohl…“</p> + +<p>‚Diese Frau langweilt sich,‘ dachte Sénecé, indem er +sich beeilte, ihr zu gehorchen, ‚und nichts ist so ansteckend +wie die Langweile.‘ Die Fürstin war ihm bis +zum Ende des Saals mit den Blicken gefolgt. ‚Und ich +war im Begriff, unbesonnen das Geschick meines Lebens +zu entscheiden!‘ sagte sie mit einem Lächeln. ‚Zum +Glück haben mich seine Scherze ernüchtert! Wie dumm +ist doch dieser Mensch! Wie kann ich ein Wesen lieben, +das mich so wenig versteht? Er will sich und mich mit +einem scherzhaften Wort amüsieren, wenn es sich um +mein Leben und um das seine handelt!‘ Sie erhob sich. +‚Wie seine Augen schön waren, als er das Wort sagte! +Man muß zugeben, die Absicht des armen Chevaliers +war liebenswürdig; er hat meinen unglücklichen Charakter +erkannt; wollte mich den trüben Schmerz, der +mich bewegt, lieber vergessen lassen, statt mich nach +seiner Ursache zu fragen. Ach, der liebenswürdige Franzose! +Habe ich denn das Glück gekannt, bevor ich ihn +liebte?‘</p> + +<p>Und sie gab sich mit Entzücken den Gedanken an die +Vorzüge ihres Geliebten hin. Aber allmählich gingen +diese ihre Gedanken auf die Reize der Gräfin Orsini +über, und ihre Seele stürzte ins Dunkel. Qualen der +furchtbaren Eifersucht ergriffen sie. Schon seit zwei Monaten +beunruhigte sie eine unheilvolle Vorahnung. Ihre +einzigen erträglichen Augenblicke waren jene, welche sie +mit dem Chevalier verbrachte und doch sprach sie, wenn +sie nicht in seinen Armen lag, fast immer gereizt mit +ihm.</p> + +<p>Der Abend wurde schrecklich. Ganz erschöpft und fast +ein wenig durch den Schmerz beruhigt, kam ihr der +<a id="page-14"></a><span class="pgnum">14</span>Einfall, mit dem Chevalier zu sprechen. ‚Er hat mich +wohl gereizt gesehen, aber er weiß nicht den Grund. +Vielleicht liebt er die Gräfin nicht. Vielleicht geht er +nur zu ihr, weil ein Fremder die Gesellschaft des Landes, +in dem er sich befindet, sehen muß und besonders die +Familie des Herrschers. Wenn ich mir Sénecé offiziell +vorstellen lasse, und er frei und offen zu mir kommen +kann, vielleicht wird er ebensogern ganze Stunden bei +mir, wie bei der Orsini verbringen.‘</p> + +<p>Aber wieder kam der wildeste Zorn über sie. ‚Nein, +ich würde mich erniedrigen, wenn ich ihn spreche; er +wird mich nur verachten, und das wird mein ganzer +Gewinn sein. Das leichtfertige Wesen der Orsini, das +ich Närrin so verachtet habe, ist ja wirklich angenehmer +als mein Charakter, gar in den Augen eines Franzosen! +Ich bin bestimmt nur dazu geschaffen, mich mit einem +Spanier zu langweilen. Was gibt es auch Sinnloseres als +immer nur schwer und ernst zu sein! Als ob, was das +Leben mit sich bringt, dies nicht selber schon genügend +wäre! Gott, was wird aus mir, wenn ich nicht mehr +den Chevalier habe, der mir das Leben gibt, und das +Feuer mir ins Herz senkt, das mir fehlt!‘</p> + +<p>Sie hatte Befehl gegeben, niemanden vorzulassen, aber +dieser Befehl galt nicht für den Monsignore Ferraterra, +der ihr zu berichten kam, was man bis ein Uhr morgens +bei der Orsini getrieben habe. Dieser Prälat hatte bisher +aus besten Kräften den Abenteuern der Fürstin gedient; +aber seit diesem Abend zweifelte er nicht daran, daß +Sénecé der Geliebte der Gräfin Orsini werden würde, +wenn er es nicht schon war.</p> + +<p>‚Die fromme Fürstin wird mir mehr nützen‘, dachte +er bei dieser Beobachtung, ‚als die galante. Immer wird +es sonst einen geben, den sie mir vorzieht, nämlich ihren +<a id="page-15"></a><span class="pgnum">15</span>Liebhaber; und ist eines Tages dieser Liebhaber ein +Römer, so kann er einen Onkel haben, den man zum +Kardinal machen muß. Wenn ich sie bekehre, muß sie +vor allem und mit dem ganzen Feuer ihres Wesens an +den denken, der ihre Seele lenkt, was kann ich nicht +alles durch sie von ihrem Oheim erhoffen!‘ Und der ehrgeizige +Prälat verlor sich in köstliche Zukunftsträume; +er sah die Fürstin, wie sie sich ihrem Oheim zu Füßen +warf, um für ihn den Kardinalshut zu erbitten. Der +Papst würde ihm für das, was er eben zu unternehmen +im Begriff war, sehr dankbar sein müssen. Sobald die +Fürstin bekehrt wäre, würde er Benedikt XIII. die unwiderleglichen +Beweise ihrer Liebschaft mit dem jungen +Sénecé vorlegen. Religiös, aufrichtig und die Franzosen +verabscheuend, wird der Papst ewige Dankbarkeit für +den tatkräftigen Prälaten haben, der einer Intrige, die +Seiner Heiligkeit so mißliebig, ein Ende bereitet hat. +Dieser Ferraterra gehörte dem Hochadel Ferraras an, +war reich und über fünfzig Jahre alt. Durch die so +deutliche Vision des Kardinalshutes angeregt, wagte er +seine Rolle bei der Fürstin jäh zu ändern. Vorher, während +der zwei Monate, da Sénecé sie vernachlässigte, war +es dem Prälaten zu gefährlich erschienen, den Franzosen +anzugreifen; denn er hielt Sénecé, den er schlecht +verstand, für ehrgeizig.</p> + +<p>Der Leser würde die genaue Wiedergabe der Zwiesprache, +welche die junge Fürstin, toll vor Liebe und +Eifersucht, mit dem ehrgeizigen Prälaten hatte, sehr lang +finden. Ferraterra hatte mit einer vollen Eröffnung der +traurigen Wahrheit begonnen; und nach solchem heftigen +Anfang wurde es ihm nicht schwer, alle Gefühle +der Religion und der leidenschaftlichen Frömmigkeit +wiederzuerwecken, die im Herzen der jungen Römerin +<a id="page-16"></a><span class="pgnum">16</span>nur eingeschlummert waren; sie besaß den wahren +Glauben. „Jede gottlose Leidenschaft muß mit Unglück +und Schande enden“, sagte nun der Prälat.</p> + +<p>Es war heller Tag, als er den Palast Campobasso verließ. +Er hatte der neu Bekehrten das Versprechen abgefordert, +an diesem Tag Sénecé nicht zu empfangen. +Dieses Versprechen war der Fürstin nicht schwer gefallen: +sie glaubte, daß sie fromm sei und fürchtete zugleich, +in den Augen des Chevaliers durch eine Schwäche +verächtlich zu erscheinen. Ihr Entschluß hielt bis vier +Uhr stand: das war die Zeit der Besuche des Chevaliers. +Er ging durch die Gasse hinter dem Garten des Palastes +Campobasso und sah das Signal, das die Unmöglichkeit +einer Zusammenkunft bekanntgab; er eilte, sehr zufrieden +damit, zur Gräfin Orsini.</p> + +<p>Die Campobasso fühlte den Wahnsinn fast über sich +Herr werden. Die sonderbarsten Gedanken und Entschlüsse +hetzten sie. Plötzlich lief sie die breite Treppe +wie im Irrsinn hinunter, stieg in den Wagen und rief +dem Kutscher zu: „Palazzo Orsini“.</p> + +<p>Das Übermaß ihres Unglücks trieb sie wie gegen ihren +Willen zu ihrer Kusine. Sie fand sie inmitten einer Gesellschaft +von etwa fünfzig Personen. Was Rom an Geist +und Ehrgeiz besaß und im Hause Campobasso nicht Zutritt +hatte, kam im Hause Orsini zusammen. Das Erscheinen +der Fürstin Campobasso wurde ein Ereignis; +respektvoll zog man sich zurück; aber sie geruhte, es +nicht zu bemerken; sie blickte nur auf ihre Rivalin, bewunderte +sie. Jeder Reiz ihrer Kusine war ein Dolchstoß +in ihr Herz. Nach den ersten Redensarten der Höflichkeiten +nahm die Orsini, welche ihre Kusine schweigsam +und zerstreut sah, ihre glänzende und heitere Unterhaltung +wieder auf.</p> + +<p><a id="page-17"></a><span class="pgnum">17</span>‚Wie viel besser ihre Heiterkeit zu dem Chevalier paßt, +als meine tolle und langweilige Leidenschaft!‘ sagte sich +die Campobasso. Und in einer unerklärlichen, aus Haß +und Bewunderung gemischten Verzückung fiel sie der +Gräfin um den Hals. Sie sah nur die Reize ihrer Kusine; +in der Nähe wie aus der Entfernung erschienen sie +ihr gleich anbetungswürdig. Sie verglich ihr Haar mit +dem eignen, ihre Augen, ihren Teint. Nach dieser seltsamen +Prüfung faßte sie Ekel und Abscheu vor sich +selbst. Alles an ihrer Rivalin schien ihr anbetungswürdig +und ihr überlegen zu sein.</p> + +<p>Unbeweglich und düster saß die Campobasso gleich +einer Basaltstatue inmitten dieser gestikulierenden und +lärmenden Menge. Man kam, man ging; all dieser Lärm +störte und verletzte sie. Aber wie geschah ihr, als sie +plötzlich Herrn von Sénecé melden hörte! Sie waren zu +Anfang ihres Verhältnisses übereingekommen, daß er in +Gesellschaft sehr wenig mit ihr sprechen solle, so wie es +einem ausländischen Diplomaten zukommt, der nicht +öfter als zwei- oder dreimal im Monat die Nichte des +Souveräns trifft, bei dem er beglaubigt ist.</p> + +<p>Sénecé begrüßte sie mit gewohntem Respekt und mit +Ernst; dann nahm er, wieder zu der Orsini zurückgekehrt, +den heiteren, fast intimen Ton auf, den +man im Gespräch mit einer geistvollen Frau anschlägt, +von der man gern und fast täglich empfangen wird. Die +Campobasso war niedergeschmettert: ‚Die Gräfin zeigt +mir, wie ich hätte sein sollen‘, sagte sie sich. ‚Ich sehe, +wie man sein muß, und trotzdem werde ich es niemals +können!‘ Sie sank auf die letzte Stufe des Unglücks, in +die ein menschliches Geschöpf geworfen werden kann; +sie war fast entschlossen, Gift zu nehmen. Alle Wonnen +aus Sénecés Liebe kamen dem Übermaß des Schmerzes +<a id="page-18"></a><span class="pgnum">18</span>nicht gleich, der sie während einer langen Nacht verzehrte. +Man könnte sagen, die römischen Frauen haben +eine Fähigkeit und Energie zum Leiden, die andern +Frauen unbekannt bleiben.</p> + +<p>Andern Tages kam Sénecé wieder vorbei und sah fortweisende +Zeichen. Er ging vergnügt weiter, trotzdem war +er leicht verletzt. ‚Also hat sie mir neulich meinen Abschied +gegeben? Ich muß sie weinen sehen‘, sagte sich +seine Eitelkeit. Er empfand eine leichte Spur von Liebe, +da er eine so schöne Frau und Nichte des Papstes für +immer verlieren sollte. Er kroch durch den unsauberen +Kellergang, der ihm solchen Widerwillen verursachte, +und drang gewaltsam in den großen Saal des Erdgeschosses, +wo die Fürstin ihn zu empfangen pflegte.</p> + +<p>„Sie wagen es hierher zu kommen?“ rief die Fürstin +erstaunt.</p> + +<p>‚Das Erstaunen ist nicht aufrichtig‘, dachte der junge +Franzose. ‚Sie hält sich in diesem Raum nur auf, wenn +sie mich erwartet.‘</p> + +<p>Der Chevalier ergriff ihre Hand; sie zitterte. In ihre +Augen kamen Tränen; sie erschien dem Chevalier so +schön, daß er einen Augenblick lang an Liebe dachte. +Und sie vergaß alle Eide, die sie während zweier Tage +dem Glauben geschworen hatte, warf sich in seine Arme. +‚Und dieses Glück soll künftig die Orsini genießen!‘… +Sénecé, der wie gewöhnlich die römische Seele falsch +verstand, glaubte, sie wolle sich in guter Freundschaft +von ihm trennen und wünsche den Besuch in guter Form. +‚Es ziemt sich nicht für mich als Attaché der königlichen +Gesandtschaft, die Nichte des Souveräns, bei dem +ich akkreditiert bin, zur Todfeindin, die sie sein würde, +zu haben.‘ Sehr stolz über diese glückliche Lösung begann +Sénecé, ihr vernünftig zuzureden. „Sie würden in +<a id="page-19"></a><span class="pgnum">19</span>angenehmster Harmonie leben; warum sollten sie nicht +sehr glücklich sein? Was könnte man ihm denn auch +vorwerfen? Die Liebe würde einer guten und zärtlichen +Freundschaft Platz machen. Er bitte inständig um das +Vorrecht, von Zeit zu Zeit an diesen Ort hier zurückkommen +zu dürfen; ihre Beziehungen würden immer +zarte bleiben…“ Zuerst verstand ihn die Fürstin nicht. +Als sie ihn endlich mit Entsetzen begriff, blieb sie unbeweglich +stehen, mit starrem Blick. Da unterbrach sie +ihn bei der letzten Wendung von den zarten Beziehungen +mit einer Stimme, die aus der Tiefe der Brust zu kommen +schien, sagte langsam Wort für Wort:</p> + +<p>„Das heißt, Sie finden mich hübsch genug, um mich +als Dirne in Ihrem Dienst zu behalten?“</p> + +<p>„Aber teure und liebe Freundin, ist Ihre Eigenliebe +denn verletzt?“ antwortete Sénecé, jetzt wirklich erstaunt. +„Wie kann es Ihnen in den Sinn kommen, sich +zu beklagen? Glücklicherweise ist unsere Beziehung niemals +von irgend jemand geargwöhnt worden. Ich bin +ein Ehrenmann; ich gebe Ihnen von neuem mein Wort, +nie soll ein lebendes Wesen das Glück, das ich genossen +habe, erfahren.“</p> + +<p>„Nicht einmal die Orsini?“ fragte sie in einem so +kühlen Ton, daß er den Chevalier wieder irreführte.</p> + +<p>„Habe ich Ihnen jemals von den Frauen erzählt,“ +meinte der Chevalier naiv, „die ich, bevor ich Ihr Sklave +wurde, geliebt habe?“</p> + +<p>„Trotz meiner Achtung vor Ihrem Ehrenwort will ich +doch diese Gefahr nicht auf mich nehmen“, sagte die +Fürstin in einer entschiedenen Art, welche nun den +jungen Franzosen doch etwas in Erstaunen setzte. +„Adieu, Chevalier…“ Und als er ein wenig unsicher +ging: „Komm, küsse mich!“</p> + +<p><a id="page-20"></a><span class="pgnum">20</span>Sie war sichtlich gerührt. Dann wiederholte sie in +einem bestimmten Ton: „Adieu Chevalier…“</p> + +<p>Die Fürstin ließ Ferraterra holen. „Ich will mich +rächen“, sagte sie ihm. Der Prälat war entzückt. ‚Sie +wird sich kompromittieren; sie gehört mir für immer.‘</p> + +<p>Zwei Tage später ging Sénecé, weil die Hitze drückend +war, gegen Mitternacht auf den Corso, um Luft zu +schöpfen. Ganz Rom war auf der Straße. Als er seinen +Wagen wieder besteigen wollte, konnte ihm sein Bedienter +kaum antworten: er war betrunken. Der Kutscher +war verschwunden; der Bediente meldete stammelnd, +der Kutscher sei mit einem Feind in Streit geraten.</p> + +<p>„Ah, mein Kutscher hat Feinde!“ sagte Sénecé +lachend.</p> + +<p>Beim Heimweg merkte er, kaum zwei oder drei +Straßen über den Corso hinaus, daß er verfolgt werde. +Vier oder fünf Männer hielten an, wenn er stehen blieb, +schritten weiter, wenn er weiterging. ‚Ich könnte einen +Bogen machen und durch eine andre Straße wieder auf +den Corso kommen‘, dachte Sénecé. ‚Aber dieses Gesindel +lohnt nicht die Mühe, und ich bin gut bewaffnet.‘ +Er nahm seinen blanken Dolch in die Hand.</p> + +<p>In solchen Gedanken durcheilte Sénecé zwei drei abgelegene +und immer einsamere Gassen. Er hörte die +Männer ihre Schritte beschleunigen. In diesem Augenblick +sah er auf und erblickte grade vor sich eine kleine +Kirche, die den Ordensbrüdern des Heiligen Franziskus +gehörte; ihre Fenster warfen einen befremdlichen Schein +ins Dunkel. Er stürzte zur Türe und pochte heftig mit +seinem Dolchgriff dagegen. Die Männer, die ihn verfolgten, +waren fünfzig Schritt entfernt von ihm. Nun +kamen sie auf ihn zugelaufen. Ein Mönch öffnete; +Sénecé stürzte in die Kirche; der Mönch schloß schnell +<a id="page-21"></a><span class="pgnum">21</span>die Türe zu. Im gleichen Augenblick schlugen die +Meuchelmörder mit den Füßen gegen die Türe. „Die +Gottlosen!“ sagte der Mönch. Sénecé gab ihm eine +Zechine. „Sicher wollten sie mir ans Leben“, sagte er.</p> + +<p>In dieser Kirche brannten mindestens tausend Kerzen.</p> + +<p>„Wie? Ein Gottesdienst zu dieser Stunde?“ fragte er +den Mönch.</p> + +<p>„Eccellenza, es ist ein Dispens von Seiner Eminenz +dem Kardinal-Vikar.“</p> + +<p>Die ganze enge Vorhalle dieser kleinen Kirche San +Francesco a Ripa war in ein prächtiges Mausoleum umgewandelt; +man sang die Totenmesse.</p> + +<p>„Wer ist gestorben? Ein Fürst?“ fragte Sénecé.</p> + +<p>„Ohne Zweifel,“ antwortete der Priester, „denn es ist +mit nichts gespart worden; aber dies alles, Wachs und +Silber, ist vergeudet, denn der Herr Dekan hat uns gesagt, +daß der Verblichene in Unbußfertigkeit gestorben +ist.“</p> + +<p>Sénecé trat näher. Er sah ein Wappenschild in französischer +Form und seine Neugier verdoppelte sich; er +trat ganz dicht heran und erkannte sein eigenes Wappen +mit dieser lateinischen Inschrift:</p> + +<p class="center">Nobilis homo Johannes Norbertus Senece eques decessit + Romae.</p> + +<p class="center"> „Der hohe und mächtige Herr Jean Norbert von + Sénecé, Chevalier, gestorben zu Rom.“</p> + +<p>‚Ich bin wohl der erste Mensch‘, dachte Sénecé, ‚der +die Ehre hat, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen. +Ich weiß nur vom Kaiser Karl V., der sich dies Vergnügen +geleistet hat. Aber in dieser Kirche ist für mich +nicht gut bleiben.‘</p> + +<p>Er gab dem Sakristan noch eine Zechine. „Mein +<a id="page-22"></a><span class="pgnum">22</span>Vater,“ sagte er ihm, „lassen Sie mich durch eine Hintertür +Ihres Klosters hinaus.“</p> + +<p>„Sehr gern“, sagte der Mönch.</p> + +<p>Kaum auf der Straße, begann Sénecé, in jeder Hand +eine Pistole, mit äußerster Schnelligkeit zu laufen. Bald +hörte er hinter sich Leute, die ihn verfolgten. An seinem +Haus angelangt, sah er die Tür verschlossen und einen +Mann davor. ‚Jetzt heißt es stürmen<a class="sic" id="sicA-1" href="#sic-1">“</a>, dachte der junge +Franzose und wollte den Mann mit einem Pistolenschuß +töten, als er seinen Kammerdiener erkannte.</p> + +<p>„Mach die Tür auf!“ schrie er ihn an.</p> + +<p>Sie war offen. Rasch traten sie ein und schlossen sie +wieder.</p> + +<p>„Ach, gnädiger Herr, ich habe Sie überall gesucht; es +gibt sehr traurige Neuigkeiten. Der arme Jean, Ihr +Kutscher, ist von Messerstichen durchbohrt worden. Die +Leute, die ihn getötet haben, stießen Verwünschungen +gegen Sie aus. Gnädiger Herr, man will Ihnen ans +Leben!“</p> + +<p>Während noch der Diener sprach, schlugen acht +Feuergewehrschüsse durch ein Gartenfenster. Sénecé +brach tot neben seinem Diener zusammen; sie waren von +mehr als zwanzig Kugeln durchbohrt.</p> + +<p>Zwei Jahre später wurde die Fürstin Campobasso als +das Muster höchster Frömmigkeit in Rom verehrt, und +seit geraumer Zeit war Monsignor Ferraterra Kardinal.</p> + + + + +<h2><a id="page-23"></a><span class="pgnum">23</span>DIE HERZOGIN VON PALLIANO</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-24"></a><span class="pgnum">24</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<p><a id="page-25"></a><span class="pgnum">25</span>Ich bin kein Naturforscher und Griechisch verstehe +ich nur sehr mittelmäßig; Hauptzweck meiner Reise +nach Sizilien war weder die Phänomene des Ätna zu +beobachten, noch wollte ich für mich oder andre irgendwelche +Klarheit darüber gewinnen, was die alten griechischen +Autoren über Sizilien gesagt haben; ich suchte +nichts als die Freude meiner Augen, die in diesem eigenartigen +Land wahrhaftig nicht gering ist. Man sagt von +Sizilien, daß es Afrika gleiche; für mich steht jedenfalls +fest, daß es mit Italien nur durch die verzehrenden +Leidenschaften Ähnlichkeit hat. Von den Sizilianern +kann man wohl sagen, daß es das Wort ‚unmöglich‘ +nicht für sie gibt, wenn sie von Liebe oder +von Haß entbrannt sind; und in diesem schönen Land +kommt der Haß niemals aus einem Geldinteresse.</p> + +<p>Ich bemerke, daß man in England und besonders in +Frankreich oft von italienischer Leidenschaft spricht, +von der hemmungslosen Leidenschaft, die man im Italien +des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts kannte. +In unsern Tagen ist diese schöne große Leidenschaft gestorben +und ganz tot, wenigstens in jenen Klassen, die +sich der Nachahmung französischer Sitten und Pariser +oder Londoner Moden gefallen.</p> + +<p>Ich weiß wohl, man kann sagen, daß man seit Karl V. +in Neapel, in Florenz und sogar ein wenig in Rom die +spanischen Sitten nachahmte. Aber waren diese adeligen +<a id="page-26"></a><span class="pgnum">26</span>Sitten und Bräuche nicht auf dem unendlichen Respekt +begründet, den jeder dieses Namens würdige Mensch für +die natürlichen Regungen seiner Seele haben muß? Weit +entfernt, die Energie auszuschalten, übertrieben sie diese +vielmehr, während es erste Regel der Gecken um 1760, +die den Herzog von Richelieu nachahmten, war, durch +nichts bewegt zu scheinen. Ist es nicht Grundsatz des +englischen Dandys, dem man jetzt in Neapel den Vorzug +vor dem französischen Gecken gibt, von allem gelangweilt +und allem überlegen zu scheinen?</p> + +<p>Die italienische Leidenschaft findet man schon seit +einem Jahrhundert nicht mehr in der guten Gesellschaft +Italiens.</p> + +<p>Um mir einen Begriff von dieser italienischen Leidenschaft +zu bilden, von der unsre Romanciers mit solcher +Sicherheit schreiben, war ich genötigt, die Geschichte +zu befragen; aber gewöhnlich sagt die große Geschichte, +von talentvollen Männern geschrieben und meist sehr majestätisch, +fast nichts von den Einzelheiten des Geschehens +und der Personen. Sie nimmt von Torheiten +erst Notiz, wenn diese Dummheiten von Königen oder +Fürsten begangen worden sind. Ich habe zu der Lokalgeschichte +jeder Stadt Zuflucht nehmen müssen; aber +da wurde ich wieder durch den Überreichtum an Material +erschreckt. Jede kleine italienische Stadt zeigt dir +stolz ihre Geschichte in drei oder vier gedruckten Quartbänden +und in sieben oder acht handschriftlichen Codices, +die kaum mehr zu entziffern, mit Abkürzungen +gespickt und mit sonderbar geformten Buchstaben geschrieben +sind; zudem eignen ihnen an den fesselndsten +Stellen Redewendungen, die im Ort selbst gebräuchlich, +aber zwanzig Meilen weiter schon unverständlich +sind. Denn im ganzen schönen Italien, wo die Liebe so +<a id="page-27"></a><span class="pgnum">27</span>viele tragische Ereignisse gesät hat, spricht man nur in +drei Städten, in Florenz, in Siena und in Rom, ungefähr +so wie man schreibt; in allen andren Orten ist die Schriftsprache +von der mündlichen Rede unendlich weit entfernt.</p> + +<p>Das, was man die italienische Leidenschaft nennt, das +heißt die Leidenschaft, die sich zu befriedigen und nicht +nur dem Nachbar eine prachtvolle Vorstellung von sich +selber zu geben sucht, beginnt mit der Entstehung der +Gesellschaft also im zwölften Jahrhundert und erlischt +wenigstens in der guten Gesellschaft, um 1734. Zu dieser +Zeit kommen die Bourbonen in Neapel zur Regierung, +und zwar in der Person des Don Carlos, Sohnes einer +Farnese, die in zweiter Ehe mit dem Enkelsohn Ludwigs +XIV., jenem melancholischen Philipp V. verheiratet +war, der mitten im Kugelregen seinen Gleichmut +nicht verlor, sich stets langweilte und die Musik so leidenschaftlich +liebte. Man weiß, daß ihm vierundzwanzig +Jahre hindurch der göttliche Kastrat Farinelli täglich +drei Lieblingsweisen vorsang, jeden Tag die gleichen.</p> + +<p>Ein analytischer Geist könnte aus den Einzelheiten +einer Leidenschaft feststellen, ob der Fall in Rom oder +in Neapel geschehen ist, und nichts ist, wie ich sagen +muß, abgeschmackter als jene Romane, die ihren Personen +nichts als italienische Namen geben. Sind wir denn +nicht darin einer Meinung, daß die Leidenschaften sich +ändern, so oft man hundert Meilen weiter nach Norden +kommt? Höchstens kann man sagen, daß jene Länder, +die seit langem der gleichen Regierungsform unterstehn, +in den sozialen Gewohnheiten eine Art äußerer Ähnlichkeit +aufweisen.</p> + +<p>Wie die Leidenschaften, wie die Musik, wechseln auch +die Landschaften, sobald man drei oder vier Breitengrade +<a id="page-28"></a><span class="pgnum">28</span>weiter nach Norden kommt. Eine neapolitanische Landschaft +würde in Venedig absurd erscheinen, wäre es +nicht, sogar in Italien ausgemacht, die Naturschönheiten +Neapels zu bewundern. Wir in Paris halten es darin so, +daß wir glauben, der Anblick der Wälder und der bebauten +Ebenen sei ganz der gleiche in Neapel wie in +Venedig, und wir möchten am liebsten, daß zum Beispiel +Canaletto die gleichen Farben hätte wie Salvatore +Rosa.</p> + +<p>Ist es nicht der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn eine +englische Dame, die mit allen Vorzügen ihrer Insel ausgestattet, +aber selbst auf dieser Insel dafür bekannt ist, +daß sie außerstande sei, die Liebe und den Haß zu schildern, +wenn, sage ich Mrs. Anne Radcliffe den Personen +eines ihrer berühmten Romane italienische Namen und +große Leidenschaften gibt?</p> + +<p>Ich werde nicht versuchen, der Einfachheit und der +manchesmal abstoßenden Roheit der nur zu wahren +Erzählung, die ich der Nachsicht des Lesers empfehle, +Anmut zu verleihen. Ich werde zum Beispiel die Antwort +der Herzogin von Palliano auf die Liebeserklärung +ihres Vetters Marcello Capecce ganz wörtlich übersetzen. +Diese Monographie einer Familie befindet sich, ich weiß +nicht warum, am Ende des zweiten Bandes einer handschriftlichen +Geschichte von Palermo, über die ich keine +näheren Angaben machen kann.</p> + +<p>Diese Erzählung, die ich zu meinem Bedauern sehr +kürze — ich unterdrücke eine Fülle von bezeichnenden +Umständen — enthält mehr die letzten Schicksale der +unglücklichen Familie Carafa, als die interessante Geschichte +einer bestimmten Leidenschaft. Die literarische +Eitelkeit sagt mir, daß es mir nicht unmöglich gewesen +wäre, das Interesse an manchen Situationen zu steigern, +<a id="page-29"></a><span class="pgnum">29</span>wenn ich ausführlicher gewesen wäre, wenn ich erraten +und dem Leser mit allen Einzelheiten erzählt hätte, was +die Personen empfanden. Aber bin ich, ein junger Franzose, +im Norden, in Paris geboren, denn wirklich sicher, +zu erraten, was diese italienischen Menschen des Jahres +1559 fühlten? Ich kann ja höchstens das zu erraten +hoffen, was den französischen Lesern von 1838 elegant +und spannend vorkommt.</p> + +<p>Die leidenschaftliche Art der Italiener um 1559 wollte +Taten und nicht Worte. Man wird darum in der folgenden +Erzählung sehr wenig Konversation finden. Das +ist für diese Geschichte insofern ein Nachteil, als wir uns +so sehr an die langen Gespräche unsrer Romanhelden +gewöhnt haben, für die eine Konversation genau so viel +ist wie eine Schlacht. Meine Erzählung oder vielmehr +Übersetzung zeigt eine sonderbare, durch die Spanier in +die italienischen Sitten eingeführte Eigenart. Ich bin nirgends +aus der bestimmten Haltung des Übersetzers +hinausgetreten. Die getreue Wiedergabe der Art des +Fühlens im sechzehnten Jahrhundert und auch der Erzählungsweise +des Chronisten, der allem Anschein nach +ein Edelmann aus dem Gefolge der unglücklichen Herzogin +von Palliano war, macht meines Erachtens nach +den Hauptvorzug dieser tragischen Geschichte aus — wenn +überhaupt irgendein Vorzug daran ist.</p> + +<p>Die strengste spanische Etikette herrschte am Hofe +des Herzogs von Palliano. Man muß sich erinnern, daß +jeder Kardinal und jeder römische Fürst einen Hof hielt, +und man kann sich einen Begriff davon machen, welches +Bild Rom im Jahre 1559 bot. Nicht ist auch zu +vergessen, daß es die Zeit war, wo der König Philipp II., +der für seine Intrigen die Stimmen zweier Kardinäle +brauchte, jedem von ihnen eine Rente von 200 000 Livres +<a id="page-30"></a><span class="pgnum">30</span>in geistlichen Pfründen gab. Obgleich Rom ohne +nennenswerte Arme war, bildete es den Mittelpunkt der +Welt. Paris war im Jahre 1559 eine Stadt freundlicher +Barbaren.</p> + +<hr/> + +<p>Wenn auch Gianpietro Carafa aus einer der vornehmsten +Familien des Königreichs Neapel stammte, hatte er +rauhe, ungeschliffene und heftige Umgangsformen, die +zu einem Hirten der Campagna gepaßt hätten. Er nahm +schon früh das Priestergewand und kam ganz jung nach +Rom, wo ihm durch die Gunst seines Vetters Oliviero +Carafa, des Kardinals und Erzbischofs von Neapel, geholfen +war. Alexander VI., dieser große Mann, der alles +wußte und alles konnte, machte ihn zu seinem Kämmerer, +ungefähr das gleiche, was man bei uns unter +einem Ordonanzoffizier versteht. Julius II. ernannte ihn +zum Erzbischof von Chieli; Papst Paul machte ihn zum +Kardinal und endlich am 23. Mai 1555 wurde er, nach +schlimmen Kabalen und vielen Disputen zwischen den +zum Konklave eingeschlossenen Kardinälen unter dem +Namen Paul IV. zum Papst gewählt; er war damals achtundsiebzig +Jahre alt. Selbst über die, welche ihn auf +den Thron von Sankt Peter berufen hatten, kam bald die +Angst, wenn sie die Härte und die wilde unerbittliche +Frömmigkeit des Herrn bedachten, den sie sich selbst +gesetzt hatten.</p> + +<p>Die Neuigkeit dieser unerwarteten Wahl hatte umwälzende +Wirkung in Neapel und Palermo. Binnen wenigen +Tagen traf eine große Anzahl von Mitgliedern der +illustren Familie Carafa in Rom ein, und alle erhielten +Stellen; doch zeichnete der Papst, wie ja natürlich, besonders +seine drei Neffen aus, Söhne seines Bruders, des +Grafen von Montorio.</p> + +<p><a id="page-31"></a><span class="pgnum">31</span>Don Juan, der Älteste, war schon verheiratet und +wurde zum Herzog von Palliano gemacht. Dieses Herzogtum, +dem Marc Antonio Colonna, dem es gehört +hatte, abgenommen, umfaßte eine große Zahl Dörfer +und kleiner Städte. Don Carlos, der zweite Neffe Seiner +Heiligkeit, war Malteserritter und hatte den Krieg mitgemacht; +er wurde zum Kardinallegaten von Bologna +und Premierminister ernannt. Als ein entschlossener +Mann und treu den Traditionen seiner Familie, wagte +er es, dem mächtigsten König der Welt, Philipp II., +König von Spanien und beider Indien, feind zu sein, und +gab ihm auch Beweise davon. Was den dritten Neffen +betraf, den Don Antonio Carafa, so machte der Papst +den bereits Verheirateten zum Marchese von Montobello. +Schließlich gelang es ihm, Franz, dem Dauphin +von Frankreich und Sohn Heinrichs II. eine Tochter +aus der zweiten Ehe seines Bruders zur Frau zu geben; +Paul IV. dachte, ihr als Mitgift das Königreich Neapel +zu schenken, das man Philipp II., dem König von Spanien +hätte wegnehmen müssen. Die Familie Carafa verfolgte +mit ihrem Hasse diesen mächtigen König, dem +es aber, auch durch die Fehler dieser Familie unterstützt, +endlich doch gelang, sie gänzlich auszutilgen.</p> + +<p>Seit Paul IV. den Thron von San Pietro bestiegen +hatte, der zu dieser Zeit selbst den erhabenen Herrscher +von Spanien zu einem Vasallen machte, wurde er, wie +man es bei den meisten seiner Nachfolger gesehen hat, +Beispiel aller Tugenden. Er wurde ein großer Papst +und ein großer Heiliger; er bemühte sich, die Mißbräuche +in der Kirche abzustellen und dadurch auch +das allgemeine Konzil abzuwenden, das man vom römischen +Hofe von allen Seiten verlangte, in das aber +eine kluge Politik nicht einzuwilligen riet.</p> + +<p><a id="page-32"></a><span class="pgnum">32</span>Nach der von der Gegenwart fast völlig vergessenen +Sitte jener Zeit, wo ein Souverän niemals Vertrauen in +Menschen setzte, die noch ein andres Interesse als das +seine haben konnten, wurden die Staaten Seiner Heiligkeit +in despotischer Weise von seinen drei Neffen regiert. +Der Kardinal war erster Minister und verfügtet +nach dem Willen seines Oheims. Der Herzog von Palliano +war zum General der Truppen der heiligen Kirche +gemacht worden und der Marchese von Montebello ließ +als Hauptmann der Palastwache nur Personen eintreten, +die ihm genehm waren. Bald begingen diese drei jungen +Leute die größten Ausschreitungen; sie begannen damit, +sich die Güter von Familien anzueignen, die ihrer +Herrschaft abgeneigt waren. Das Volk wußte nicht, an +wen es sich um Gerechtigkeit wenden sollte. Nicht nur +um seinen Besitz mußte es in Sorge sein, sondern — im +Vaterland der keuschen Lukrezia! — auch die Ehre der +Frauen und Töchter war nicht sicher. Der Herzog von +Palliano und seine Brüder entführten die schönsten +Frauen; es genügte, das Unglück zu haben, ihnen zu +gefallen. Betroffen sah man, daß sie auf den Adel des +Bluts gar keine Rücksicht nahmen, und mehr noch: sie +ließen sich nicht einmal durch die heilige Abgeschlossenheit +der Klöster zurückhalten. Das zur Verzweiflung getriebene +Volk wußte nicht, an wen es seine Klagen +richten sollte, so groß war das Entsetzen, das die drei +Brüder allen einflößten, die sich dem Papst nähern +wollten; selbst gegen die fremden Botschafter traten sie +unverschämt auf.</p> + +<p>Der Herzog hatte schon vor der Machtstellung seines +Oheims Violante von Cardona geheiratet, aus einer ursprünglich +spanischen Familie, die in Neapel zum ersten +Adel gehörte. Violante war durch ihre ungewöhnliche +<a id="page-33"></a><span class="pgnum">33</span>Schönheit und durch eine Anmut berühmt, welche sie +gut zu zeigen verstand, wenn sie gefallen wollte, mehr +aber noch durch ihren maßlosen Stolz. Doch um gerecht +zu sein, muß man auch sagen, daß man nicht leicht +eine größere, stärkere Seele hätte finden können als die +ihre, und dies wurde auch der Welt deutlich, als sie vor +ihrem Tode dem Kapuziner, der ihr die Beichte abnahm, +nichts gestand. Sie konnte den bewunderungswürdigen +Orlando des Messer Ariosto auswendig und +trug ihn mit unendlicher Lieblichkeit vor, wie auch die +meisten Sonette des göttlichen Petrarca und die Erzählungen +des Pecorone. Aber noch verführerischer war sie, +wenn sie sich herabließ, ihre Gesellschaft mit den sonderbaren +Einfällen zu unterhalten, die ihr der eigne Geist +eingab.</p> + +<p>Sie hatte einen Sohn, den Herzog von Cavi. Ihren +Bruder Don Ferrante, Grafen d'Aliffe, zog das große +Glück seines Schwagers nach Rom.</p> + +<p>Der Herzog von Palliano hielt glänzenden Hof. Die +jungen Leute der ersten Familien Neapels buhlten um +die Ehre, daran teilzuhaben. Rom verwöhnte zu der Zeit +mit seiner Bewunderung einen seiner Lieblinge, den Marcello +Capecce, einen jungen Kavalier, in Neapel durch +seinen Geist und nicht minder durch die göttliche Schönheit +berühmt, die ihm der Himmel geschenkt hatte.</p> + +<p>Die Favoritin der Herzogin war Diana Brancaccio, +eine nahe Verwandte ihrer Schwägerin, der Marchesa +von Montebello, die damals dreißig Jahre zählte. Man +erzählte sich in Rom, daß sie dieser Favoritin nicht ihren +sonstigen Stolz zeige, ja ihr alle ihre Geheimnisse anvertraue. +Aber diese Geheimnisse bezogen sich nur auf +die Politik; denn die Herzogin erweckte wohl Leidenschaften, +doch sie teilte keine.</p> + +<p><a id="page-34"></a><span class="pgnum">34</span>Auf den Rat des Kardinals Carafa führte der Papst +gegen den König von Spanien Krieg und der König von +Frankreich schickte dem Papst eine Armee unter dem +Befehl des Herzogs von Guise zur Unterstützung.</p> + +<p>Aber wir müssen uns an die Ereignisse am Hof des +Herzogs von Palliano halten.</p> + +<p>Capecce war seit einer Zeit wie toll; man sah ihn die +seltsamsten Dinge tun. Tatsache ist, daß sich der arme +junge Mensch leidenschaftlich in seine Herrin, die Herzogin, +verliebt hatte; doch wagte er kein Geständnis +seiner Liebe. Aber er zweifelte nicht, an sein Ziel zu +gelangen, denn er bemerkte, daß die Herzogin gegen +ihren Gemahl, der sie vernachlässigte, aufs äußerste gereizt +war. Der Herzog von Palliano war allmächtig in +Rom, und die Herzogin wußte für sicher, daß ihn fast +jeden Tag die wegen ihrer Schönheit berühmten römischen +Damen in ihrem eignen Palast aufsuchten — ein +Schimpf, an den sie sich nicht gewöhnen mochte.</p> + +<p>Unter den Kaplänen des Papstes Paul befand sich ein +ehrwürdiger Mönch, mit dem er das Brevier zu beten +pflegte. Dieser wagte es eines Tags, trotz der Gefahr +seines eignen Verderbens, vielleicht auf Veranlassung des +spanischen Gesandten, dem Papst alle Schurkereien +seiner Neffen zu enthüllen. Der fromme Papst wurde vor +Kummer krank; er wollte die Wahrheit des Berichtes +bezweifeln; aber von allen Seiten kamen die erdrückendsten +Bestätigungen. Es war am ersten Tag des Jahres +1559, als das Ereignis eintrat, das dem Papst die Gewißheit +gab und vielleicht die Entscheidung Seiner Heilichkeit +bestimmte. Es war gerade am Tag der Beschneidung +des Herrn, ein Umstand, der das Vergehen +in den Augen eines so frommen Papstes noch erschwerte, +daß Andrea Lanfranchi, der Sekretär des Herzogs von +<a id="page-35"></a><span class="pgnum">35</span>Palliano, dem Kardinal Carafa ein prächtiges Abendessen +gab. Und damit den Reizungen der Völlerei die +der Unzucht nicht fehlten, zu diesem Fest die Martuccia +kommen ließ, eine der schönsten, berühmtesten und +reichsten Kurtisanen Roms. Das Verhängnis wollte, daß +Capecce, der Günstling des Herzogs — eben jener, der +im geheimen die Herzogin liebte und für den schönsten +Mann der Hauptstadt der Welt galt —, seit einiger Zeit +mit dieser Martuccia eine galante Beziehung pflog. An +eben diesem Abend suchte er sie überall, wo er hoffen +konnte, sie zu treffen. Als er sie nirgends fand und gehört +hatte, daß im Hause Lanfranchi ein Fest stattfand, +faßte er Argwohn und erschien bei Lanfranchi um +Mitternacht, begleitet von vielen Bewaffneten. Man ließ +ihn ein, forderte ihn auf, sich zu setzen und am Fest +teilzunehmen; aber nach einigen recht gezwungenen +Worten gab er Martuccia ein Zeichen, sich zu erheben +und ihm zu folgen. Während sie ganz verwirrt und in +Vorahnung dessen, was geschehen würde, zögerte, erhob +sich Capecce, ging auf das junge Mädchen zu, faßte es +bei der Hand und versuchte, es mit sich zu ziehn. Der +Kardinal, zu dessen Ehren Martuccia gekommen war, +widersetzte sich lebhaft ihrem Fortgehn. Capecce aber +bestand darauf und versuchte, sie mit Gewalt aus dem +Saal zu ziehen.</p> + +<p>Der Kardinal, der an diesem Abend gar nicht in Amtstracht +gekleidet war, zog den Degen und verhinderte mit +all der Kraft und Kühnheit, die ganz Rom an ihm +kannte, das Fortgehen des jungen Mädchens. Marcello +rief, trunken vor Zorn, seine Leute herein; aber es waren +in der Mehrzahl Neapolitaner, und als sie zuerst den +Sekretär des Herzogs und dann auch noch den Kardinal +erkannten, den seine ungewohnte Kleidung zuerst unkenntlich +<a id="page-36"></a><span class="pgnum">36</span>gemacht hatte, steckten sie ihre Schwerter ein; +sie wollten sich nicht mehr schlagen und legten sich ins +Mittel, den Streit zu schlichten.</p> + +<p>Während dieses Streites war Martuccia, obgleich umringt +und von Marcello an der linken Hand gehalten, geschickt +genug gewesen, zu entschlüpfen. Sobald Marcello +ihre Abwesenheit merkte, lief er ihr nach und seine +ganze Bande folgte ihm.</p> + +<p>Aber aus dem Dunkel der Nacht erwuchsen die seltsamsten +Gerüchte, und am Morgen des zweiten Januar +war die Hauptstadt von Berichten über den gefährlichen +Kampf überschwemmt, der, wie man sagte, zwischen dem +Kardinal und Marcello Capecce stattgefunden habe. Der +Herzog von Palliano, kommandierender General der +päpstlichen Armee, hielt die Sache für weit schlimmer +als sie wirklich war, und da er mit seinem Bruder, dem +Kardinal-Kanzler, nicht sehr gut stand, ließ er noch in +der Nacht Lanfranchi verhaften; früh am nächsten +Morgen wurde auch Marcello gefangen gesetzt. Dann erst +kam man darauf, daß niemand das Leben verloren habe +und daß diese Festnahmen nur den Skandal vergrößerten, +der ganz auf den Kardinal zurückfiel. Man +beeilte sich, die Gefangenen wieder in Freiheit zu setzen +und die drei Brüder vereinigten ihre unbegrenzte Macht, +um die Angelegenheit niederzuschlagen. Erst hofften sie, +es würde ihnen glücken; aber am dritten Tag kam die +ganze Geschichte dem Papst zu Ohren. Er ließ seine +beiden Neffen zu sich rufen und sprach zu ihnen wie +nur ein so frommer und in seiner Frömmigkeit so tief +verletzter Fürst der Kirche sprechen konnte.</p> + +<p>Als am fünften Tage des Januar eine große Anzahl +von Kardinälen zur <i>Congregatio Sancti Officii</i> +vereinigt war, sprach der Papst als erster von dieser abscheulichen +<a id="page-37"></a><span class="pgnum">37</span>Sache; er fragte die anwesenden Kardinäle, +wie sie wagen konnten, ihn nicht davon in Kenntnis zu +setzen.</p> + +<p>„Ihr schweigt! Und doch rührt der Skandal an der +erhabenen Würde, die Ihr bekleidet. Kardinal Carafa +hat es gewagt, sich in der Öffentlichkeit in einem weltlichen +Gewand und den nackten Degen in der Hand zu +zeigen. Und zu welchem Zweck? Um sich an einer ehrlosen +Kurtisane zu erfreuen!“</p> + +<p>Man kann sich die Totenstille denken, die diesen +Worten gegen den Kardinal-Minister unter allen Anwesenden +folgte. Vor ihnen stand ein Greis von achtzig +Jahren, voll Zorn gegen den so geliebten Neffen, dem +er bisher alle Freiheit gelassen hatte. In seiner Entrüstung +sprach der Papst weiter davon, seinem Neffen +den Kardinalshut zu nehmen.</p> + +<p>Der Zorn des Papstes wurde noch durch den Gesandten +des Großherzogs von Toskana genährt, der sich +über eine neue Anmaßung des Kardinalkanzlers beklagte. +Der unlängst noch so mächtige Kardinal meldete sich +bei Seiner Heiligkeit für die gewohnte Arbeit. Der Papst +ließ ihn volle vier Stunden vor aller Augen im Vorzimmer +warten; dann schickte er ihn weg, ohne ihn zur +Audienz zuzulassen. Man kann ahnen, wie der unbändige +Stolz des Kardinals darunter litt. Er war gereizt, +aber keineswegs niedergedrückt; er überlegte, daß der +vom Alter geschwächte und wenig an die Geschäfte gewöhnte +Greis, der sein ganzes Leben hindurch sich von +der Liebe zu seiner Familie hatte leiten lassen, bald +wieder genötigt sein würde, auf seine Tatkraft zurückzugreifen. +Aber die fromme Tugend des heiligen Papstes +trug den Sieg davon; er berief die Kardinäle, und nachdem +er sie lange ohne zu sprechen angesehn hatte, brach +<a id="page-38"></a><span class="pgnum">38</span>er in Tränen aus und zögerte nicht, etwas zu tun, das +wie eine Buße war.</p> + +<p>„Die Schwäche des Alters“, sagte er, „und die Sorgfalt, +die wir für die Angelegenheiten unserer heiligen +Kirche aufwenden, in der wir, wie Ihr wißt, alle Mißbräuche +ausmerzen wollen, haben uns bewogen, unsere +weltliche Autorität unsern drei Neffen anzuvertrauen; sie +haben ihr Amt schwer mißbraucht und wir entlassen +sie für immer.“</p> + +<p>Man verlas darauf ein Breve, durch welches die Neffen +aller ihrer Würde entkleidet und in armselige Dörfer +verwiesen wurden. Der Kardinalkanzler wurde nach +Civita Lavinia verbannt; der Herzog von Palliano nach +Soriano und der Marchese nach Montebello. Durch dieses +Breve ging der Herzog auch seiner regelmäßigen Gehälter +verlustig, die sich auf 62 000 Piaster beliefen, +was im Jahre 1838 mehr als eine Million bedeutet.</p> + +<p>Es konnte nicht die Rede davon sein, diesen strengen +Befehlen nicht zu gehorchen, zumal die Carafa das ganze +Volk Roms, das sie verabscheute, zu Feinden und Aufpassern +hatte.</p> + +<p>Der Herzog von Palliano schlug nun, in Begleitung +seines Schwagers, des Grafen d'Aliffe und Leonardos +del Cardine seinen Wohnsitz in dem kleinen Dorf Soriano +auf, während die Herzogin und ihre Schwiegermutter +nach Gallese zogen, einem ärmlichen Neste, zwei +knappe Meilen von Soriano entfernt.</p> + +<p>Diese Gegend ist entzückend, aber es war doch eine +Verbannung, und man war aus Rom vertrieben, wo man +noch gestern mit aller Anmaßung geherrscht hatte.</p> + +<p>Marcello Capecce war mit den andern Höflingen +seiner Herrin in das ärmliche Dorf in die Verbannung +gefolgt. An Stelle der Huldigungen ganz Roms sah sich +<a id="page-39"></a><span class="pgnum">39</span>diese noch vor wenigen Tagen so mächtige Frau, die +ihren Rang mit dem ganzen Ungestüm ihres Stolzes genoß, +nur noch von einfachen Bauern umgeben, deren +Staunen sie nur an ihren Fall erinnerte. Sie war ohne +jeden Trost; ihr Oheim war so alt, daß ihn voraussichtlich +der Tod überrascht, bevor er seine Neffen zurückgerufen +hat; und was am schlimmsten war: die drei +Brüder verabscheuten einander. Man behauptete sogar, +daß der Herzog und der Marchese, welche die ungestümen +Leidenschaften des Kardinals nicht teilten und +über seine Ausschweifungen aufgebracht waren, so weit +gegangen wären, sie ihrem Oheim, dem Papst, zu denunzieren.</p> + +<p>Mitten im Schrecken dieser tiefen Ungnade geschah +etwas, das zum Unglück sowohl für die Herzogin wie +für Capecce selber sehr wohl zeigte, daß diesen keine +wirkliche Leidenschaft an Martuccia gefesselt hatte.</p> + +<p>Eines Tages hatte ihn die Herzogin rufen lassen, um +ihm einen Auftrag zu geben; er war allein mit ihr, was +vielleicht kaum zweimal während des ganzen Jahres vorkam. +Als Capecce sah, daß in dem Saal, wo ihn die +Herzogin empfing, niemand anwesend war, blieb er erst +unbeweglich und ohne ein Wort. Dann ging er zur Türe, +nachzusehen, ob jemand da wäre, der sie vom Nebenzimmer +hören könnte. Hierauf wagte er es:</p> + +<p>„Signora, beunruhigt Euch nicht und nehmt die seltsamen +Worte, die ich Euch zu sagen die Kühnheit haben +werde, nicht mit Zorn auf. Seit langem liebe ich Euch +mehr als das Leben. Wenn ich in zu großer Unvorsichtigkeit +gewagt habe, Eure göttliche Schönheit wie +ein Verliebter zu betrachten, dürft Ihr nicht mir die +Schuld geben, sondern der übernatürlichen Kraft, die +mich treibt und bewegt. Ich leide Qualen, ich brenne, +<a id="page-40"></a><span class="pgnum">40</span>ich bitte nicht um Linderung der Flamme, die mich verzehrt, +sondern nur, daß Euer Edelmut Mitleid mit einem +Diener habe, der voll Demut und ohne Vertrauen zu sich +selbst ist.“</p> + +<p>Die Herzogin schien überrascht, aber mehr noch beunruhigt.</p> + +<p>„Marcello, was hast du eigentlich in mir gesehn,“ +sagte sie ihm, „das dir die Verwegenheit gibt, Liebe von +mir zu fordern? Hat sich mein Leben, hat sich meine +Unterhaltung so weit vom Geziemenden entfernt, daß du +dadurch eine solche Unverschämtheit rechtfertigen kannst? +Wie konntest du die Vermessenheit haben, von +mir zu glauben, daß ich mich dir oder irgendeinem +andern Mann hingeben könnte, außer meinem Herrn und +Gemahl? Ich verzeihe dir, was du gesagt hast, weil ich +denke, daß du von Sinnen bist; aber hüte dich, wieder +in den gleichen Fehler zu verfallen, anders schwöre ich +dir, daß ich dich für die erste sowie für die zweite +Frechheit zugleich strafen lassen werde.“</p> + +<p>Die Herzogin entfernte sich außer sich vor Zorn. Capecce +hatte auch wirklich gegen alle Gebote der Klugheit +gefehlt; er hätte erraten lassen müssen, aber nichts +aussprechen. Er blieb betroffen und fürchtete sehr, daß +die Herzogin die Sache ihrem Gemahl erzählen würde.</p> + +<p>Aber es kam ganz anders, als er besorgte. In der Einsamkeit +und Langweile dieses Dorfs konnte die stolze +Herzogin nicht umhin, ihrer Freundin Diana Brancaccio +anzuvertraun, was man ihr zu sagen gewagt hatte. +Diese Frau von etlichen dreißig Jahren verzehrten die +heftigsten Leidenschaften. Sie hatte rotes Haar — der +Chronist kommt mehrmals auf diesen Umstand zurück, +der ihm alle Torheiten der Diana Brancaccio zu erklären +scheint — und sie liebte mit wilder Leidenschaft <a class="sic" id="sicA-2" href="#sic-2">Domitiano</a> +<a id="page-41"></a><span class="pgnum">41</span>Fornari, einen Edelmann vom Hofstaat des Marchese +von Montebello. Sie wollte ihn heiraten, aber +würden der Marchese und seine Frau, deren Blutsverwandte +zu sein sie die Ehre hatte, jemals zustimmen, +daß sie einen Mann heirate, der gegenwärtig ihr Bediensteter +war? Dieses Hindernis war wenigstens dem +Anschein nach unüberwindlich.</p> + +<p>Es gab nur eine Möglichkeit des Erfolgs: man mußte +alles aufbieten, um die Fürsprache des Herzogs von +Palliano, des älteren Bruders des Marchese zu erlangen, +und Diana war in bezug darauf nicht ohne Hoffnung. +Der Herzog behandelte sie mehr als Verwandte denn als +Dienerin, die sie als Hofdame war. Er war ein guter +Mensch von schlichter Gesinnung und gab lange nicht so +viel wie seine Brüder auf die Fragen der Etikette. Obgleich +der Herzog als ein richtiger junger Mann alle Vorteile +seiner hohen Stellung genoß und seiner Frau nichts +weniger als treu war, liebte er sie zärtlich und würde ihr +aller Wahrscheinlichkeit nach keine Bitte abschlagen, +würde sie nur mit einer gewissen Eindringlichkeit vorgebracht.</p> + +<p>Das Geständnis, das Capecce der Herzogin zu machen +gewagt hatte, schien der brütenden Diana ein unerwarteter +Glücksfall. Ihre Herrin war bisher zum Verzweifeln +tugendhaft gewesen; wenn sie nun eine Leidenschaft +empfände, einen Fehltritt beginge, würde sie Dianas alle +Augenblicke bedürfen, und dann konnte sie alles von +einer Frau erhoffen, deren Geheimnisse sie kannte.</p> + +<p>Weit davon, die Herzogin darauf aufmerksam zu +machen, was sie sich schulde, und auf die schreckliche +Gefahr, der sie sich inmitten eines so indiskreten Hofs +aussetzen würde, sprach Diana, von der Unbändigkeit +ihrer Leidenschaft fortgerissen, zu ihrer Herrin von +<a id="page-42"></a><span class="pgnum">42</span>Marcello Capecce, als ob sie von Domiziano Fornari +spräche. In langen Unterhaltungen einsamer Stunden +fand sie täglich Gelegenheit, die Reize und die Schönheit +des armen Marcello, der so traurig aussah, in Erinnerung +zu bringen; er gehöre doch, wie die Herzogin, den +vornehmsten Familien Neapels an, sein Auftreten sei +ebenso edel wie sein Blut, und nichts als jene Güter, +die eine Laune des Glücks jeden Tag verleihen könnten, +fehlten ihm, um in jeder Beziehung der Frau, die er +zu lieben wagte, gleichzustellen.</p> + +<p>Diana bemerkte erfreut als erste Wirkung dieser +Reden, daß sich das Vertrauen verdoppelte, das die Herzogin +ihr schenkte.</p> + +<p>Sie beeilte sich, Marcello Capecce von dem, was vorging, +zu verständigen. In der Glut dieses Sommers promenierte +die Herzogin oft in den Wäldern der Umgebung +von Gallese. Neigte sich der Tag, so erwartete +sie die kühlende Brise vom Meere her auf den Hügeln +dieser Wälder, von deren Gipfel man das Meer in der +kurzen Entfernung von kaum zwei Meilen erblickt.</p> + +<p>Ohne die strengen Regeln der höfischen Sitte außer +acht zu lassen, konnte sich Marcello in diesen Wäldern +aufhalten; er verbarg sich dort, wie man sagt, und trug +Sorge, sich den Blicken der Herzogin erst zu zeigen, +wenn sie durch die Worte der Diana Brancaccio genügend +vorbereitet war. Diese gab dann Marcello ein +Zeichen.</p> + +<p>Als Diana ihre Herrin nahe daran sah, der verhängnisvollen +Leidenschaft nachzugeben, die sie in ihrem +Herzen erweckt hatte, gab sie selbst sich der heftigen +Liebe zu Domiziano Fornari hin. Nun schien es ihr ja +sicher, ihn heiraten zu können. Aber Domiziano war ein +kluger junger Mann, von kaltem, zurückhaltendem Charakter, +<a id="page-43"></a><span class="pgnum">43</span>und die ungestüme Leidenschaft seiner feurigen +Geliebten wurde ihm bald lästig, statt ihn zu fesseln. +Diana Brancaccio war, wie gesagt, eine nahe Verwandte +der Carafa; er hielt es für sicher, erdolcht zu werden, +wenn der gefürchtete Kardinal Carafa, der, mochte er +auch jünger als der Herzog von Palliano sein, doch das +eigentliche Oberhaupt der Familie war, auch nur das +Geringste über seine Liebesbeziehung erführe.</p> + +<p>Die Herzogin hatte schon seit einiger Zeit der Leidenschaft +Capecces nachgegeben, als man eines schönen +Tages Domiziano Fornari nicht mehr in dem Dorf fand, +wohin man den Hof des Marchese von Montebello verbannt +hatte. Er blieb verschwunden. Später erfuhr man, +daß er sich in dem kleinen Hafen von Nettuno eingeschifft +habe; ohne Zweifel hatte er seinen Namen gewechselt; +nie wieder hörte man von ihm.</p> + +<p>Wer könnte die Verzweiflung Dianas schildern? Nachdem +die Herzogin ihre Anklagen gegen das Schicksal +lange mit Güte angehört hatte, gab sie ihr eines Tages +zu verstehn, daß dieser Gesprächsgegenstand doch erschöpft +zu sein scheine. Diana sah sich von ihrem Liebhaber +verschmäht; ihr Herz war den grausamsten Leidenschaften +preisgegeben; sie zog die sonderbarste Schlußfolgerung +aus dem Augenblick der Langeweile, den die +Herzogin bei der Wiederholung ihrer Klagen empfunden +hatte. Diana redete sich ein, daß die Herzogin Domiziano +Fornari veranlaßt habe, sie auf immer zu verlassen, ja +daß sie es gewesen sei, die ihm die Mittel zur Reise +gab. Dieser tolle Einfall stützte sich auf nichts als einige +Vorhaltungen, welche die Herzogin ihr früher einmal +gemacht hatte. Dem Argwohn folgte bald der Wunsch, +sich zu rächen. Sie suchte um eine Audienz beim Herzog +nach und teilte ihm mit, was zwischen seiner Frau und +<a id="page-44"></a><span class="pgnum">44</span>Marcello vorging. Der Herzog weigerte sich, dem zu +glauben. „Bedenkt,“ sagte er ihr, „daß ich der Herzogin +seit fünfzehn Jahren nicht den leisesten Vorwurf +zu machen habe. Sie hat den Versuchungen des Hofes +und den Verführungen unserer glänzenden Stellung in +Rom widerstanden. Die liebenswertsten Persönlichkeiten, +der General der französischen Armee, Herzog von Guise +selbst, haben nichts erreicht, und Ihr wollt behaupten, +daß sie einen gewöhnlichen Edelmann erhört hat?“</p> + +<p>Das Unglück wollte, daß der Herzog sich in Loriano, +dem kleinen Dorf seiner Verbannung, das nur zwei +knappe Meilen vom Wohnsitz seiner Frau entfernt lag, +sehr langweilte und daß Diana dadurch eine ganze Reihe +von Audienzen erreichen konnte, ohne daß dies der Herzogin +zur Kenntnis kam. Diana hatte erstaunliche Kräfte; +die Leidenschaft machte sie beredt. Sie gab dem Herzog +eine Fülle von Einzelheiten; die Rache war jetzt ihre +einzige Zerstreuung geworden. Sie wiederholte, daß sich +Capecce fast jede Nacht gegen elf Uhr in das Schlafgemach +der Herzogin begab und nicht vor zwei oder +drei Uhr des Morgens fortgehe. Diese Reden machten +im Anfang so wenig Eindruck auf den Herzog, daß er +sich nicht die Mühe auferlegen wollte, um Mitternacht +die zwei Meilen nach Gallese zurückzulegen +und unerwartet in das Schlafgemach seiner Frau zu +treten.</p> + +<p>Aber eines Abends befand er sich in Gallese; die Sonne +war schon untergegangen, aber doch war es noch hell, +als Diana ganz zerzaust in den Saal stürzte, wo sich der +Herzog aufhielt. Alle entfernten sich, und sie sagte ihm, +daß Marcello Capecce eben in das Schlafzimmer der +Herzogin eingetreten sei. Der Herzog, der ohne Zweifel +in diesem Augenblick schlecht gelaunt war, nahm seinen +<a id="page-45"></a><span class="pgnum">45</span>Dolch und lief zum Schlafzimmer seiner Frau, in das +er durch eine geheime Tür eintrat. Er fand dort Marcello +Capecce. Die beiden Verliebten wechselten wohl die +Farbe, als sie ihn eintreten sahen; aber im übrigen war +nichts Sträfliches am Anblick, den sie boten. Die Herzogin +lag im Bett und war damit beschäftigt, eine kleine +Auslage, die sie eben gemacht hatte, zu notieren; eine +Kammerfrau war im Zimmer und Marcello stand drei +Schritt vom Bett entfernt.</p> + +<p>Der Herzog packte in seinem Zorn Marcello bei der +Kehle, schleppte ihn in ein Nebenzimmer, wo er ihm +befahl, Degen und Dolch, mit denen er bewaffnet war, +auf die Erde zu werfen. Hierauf rief der Herzog Leute +seiner Wache herbei, von denen Marcello sofort ins Gefängnis +von Soriano abgeführt wurde.</p> + +<p>Die Herzogin ließ man in ihrem Schloß, doch unter +strenger Bewachung.</p> + +<p>Der Herzog war durchaus nicht grausam; es scheint, +daß er die Absicht hatte, die Schande zu verheimlichen, +um nicht gezwungen zu sein, zu den äußersten Mitteln +zu greifen, welche die Ehre von ihm forderte. Er wollte +glauben machen, daß Marcello wegen einer ganz andern +Angelegenheit im Gefängnis gehalten würde; er nahm +zum Vorwand, daß Marcello vor zwei oder drei Monaten +einige ungewöhnlich große Kröten zu sehr hohem +Preis gekauft hatte, und ließ das Gerücht verbreiten, +dieser junge Mann habe ihn vergiften wollen. Aber das +wirkliche Vergehen war schon zu bekannt, und sein +Bruder, der Kardinal, ließ fragen, wann er gedenke, den +Schimpf, den man gewagt hatte, ihrer Familie anzutun, +im Blute der Schuldigen abzuwaschen.</p> + +<p>Der Herzog rief den Grafen d'Aliffe, den Bruder +seiner Frau, und einen Freund des Hauses, Antonio Torando, +<a id="page-46"></a><span class="pgnum">46</span>zu sich. Sie bildeten zu dritt eine Art Gerichtshof +und leiteten die Untersuchung gegen Marcello Capecce +ein, der des Ehebruchs mit der Herzogin angeklagt +wurde.</p> + +<p>Die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge wollte, +daß der Papst Pius IV., der auf Paul IV. folgte, der +spanischen Partei angehörte. Er konnte Philipp II. nichts +abschlagen, und dieser verlangte von ihm den Tod des +Kardinals und des Herzogs von Palliano. Die beiden +Brüder wurden vor Gericht angeklagt, und die Urkunden +des Prozesses, den sie zu erdulden hatten, erzählen uns +auch alle Umstände des Todes von Marcello Capecce.</p> + +<p>Einer der zahlreichen einvernommenen Zeugen sagt +in folgender Weise aus:</p> + +<p><a class="sic" id="sicA-3" href="#sic-3">„</a>Wir waren in Soriano. Mein Herr, der Herzog hatte +eine lange Unterredung mit dem Grafen d'Aliffe. Sehr +spät am Abend stieg man in ein Vorratsgewölbe zu ebener +Erde hinunter, wo der Herzog schon die zur peinlichen +Befragung des Schuldigen notwendigen Seile hatte vorbereiten +lassen. Zugegen waren der Herzog, der Graf +d'Aliffe, der Herr Antonio Torando und ich.</p> + +<p>Als erster Zeuge wurde der Hauptmann Camillo +Grifone, der Freund und Vertraute Capecces gerufen. +Der Herzog sagte folgendes zu ihm:</p> + +<p>‚Sage die Wahrheit, mein Freund. Was weißt du von +dem, was Marcello im Schlafgemach der Herzogin tat?‘</p> + +<p>‚Ich weiß nichts; ich bin seit mehr als zwanzig Tagen +mit Marcello entzweit.‘</p> + +<p>Weil er hartnäckig darauf bestand, nichts andres zu +sagen, rief der Herr Herzog einige Mann seiner Wache +herein. Grifone wurde durch den Podesta von Soriano +an das Seil gebunden. Die Wachen zogen die Seile an +und hoben auf diese Weise den Schuldigen vier Finger +<a id="page-47"></a><span class="pgnum">47</span>vom Boden empor. Nachdem der Hauptmann eine gute +Viertelstunde so gehangen hatte, sagte er:</p> + +<p>‚Laßt mich herunter, ich werde sagen, was ich weiß.‘</p> + +<p>Als man ihn auf den Boden herabgelassen hatte, entfernten +sich die Wachen, und wir blieben mit ihm allein. +Er sagte:</p> + +<p>‚Es ist wahr, daß ich mehrere Male Marcello bis zum +Gemach der Herzogin begleitet habe, aber weiter weiß +ich nichts, weil ich in einem benachbarten Hof bis gegen +ein Uhr morgens auf ihn gewartet habe.‘</p> + +<p>Sofort rief man wieder nach den Wachen, welche ihn +auf Befehl des Herzogs von neuem so emporzogen, daß +seine Füße den Boden nicht mehr berührten. Bald rief +der Hauptmann:</p> + +<p>‚Laßt mich ab, ich will die Wahrheit sagen. Es ist +wahr,‘ fuhr er fort, ‚ich habe seit mehreren Monaten +bemerkt, daß Marcello ein Liebesverhältnis mit der Herzogin +hatte, und ich wollte Eurer Exzellenz oder Herrn +Leonardo davon Mitteilung machen. Die Herzogin +schickte jeden Morgen zu Marcello, um sich nach seinem +Befinden zu erkundigen; sie ließ ihm kleine Geschenke +zukommen, so unter andern Dingen auch sehr teure mit +großer Sorgfalt zubereitete Konfitüren; ich habe auch +bei Marcello kleine, wunderbar gearbeitete Goldketten gesehen, +die er offenbar von der Herzogin erhalten hatte.‘</p> + +<p>Nach dieser Aussage wurde der Hauptmann ins Gefängnis +zurückgeschickt. Man führte nun den Pförtner +der Herzogin vor, der sagte, daß er nichts wisse; man +band ihn an das Seil, und er wurde hochgezogen. Nach +einer halben Stunde sagte er:</p> + +<p>‚Laßt mich herab, ich werde sagen, was ich weiß.‘</p> + +<p>Als er am Boden war, behauptete er aber, nichts zu +wissen; man zog ihn von neuem hoch. Nach einer halben +<a id="page-48"></a><span class="pgnum">48</span>Stunde ließ man ihn herunter; er setzte auseinander, daß +er erst seit kurzer Zeit mit dem Dienst bei der Herzogin +betraut sei. Da es möglich war, daß dieser Mann nichts +wußte, schickte man ihn ins Gefängnis zurück. Alle diese +Dinge hatten viel Zeit in Anspruch genommen, weil man +jedesmal die Wachen wieder hinausschickte. Die Wachen +sollten glauben, daß es sich um einen Vergiftungsversuch +mit dem Gift der Kröten handle.</p> + +<p>Die Nacht war schon weit vorgeschritten, als der +Herzog Marcello Capecce holen ließ. Als die Wachen +draußen waren und man die Tür fest verschlossen hatte, +sagte er ihm:</p> + +<p>‚Was hattet Ihr im Schlafgemach der Herzogin zu +suchen, daß Ihr dort bis ein Uhr, bis zwei Uhr und +manchmal bis vier Uhr morgens bliebt?‘</p> + +<p>Marcello leugnete alles; man rief die Wache, und er +wurde aufgehängt; das Seil verrenkte ihm die Arme; er +konnte den Schmerz nicht aushalten und verlangte, herabgelassen +zu werden; man setzte ihn auf einen Schemel, +aber einmal so weit, verwirrte er sich in seiner Rede +und wußte eigentlich nicht mehr, was er sagte. Man +rief die Wachen herbei, die ihn von neuem hochzogen; +nach einer langen Zeit verlangte er, heruntergelassen zu +werden. Er sagte:</p> + +<p>‚Es ist wahr, daß ich zu dieser ungewöhnlichen Stunde +in die Gemächer der Herzogin eingetreten bin, doch hatte +ich ein Liebesverhältnis mit der Signora Diana Brancaccio, +einer der Damen Ihrer Exzellenz, welcher ich die +Ehe versprochen habe, und die mir alles gewährt hat, was +nicht gegen die Ehre war.‘</p> + +<p>Marcello wurde in sein Gefängnis zurückgeführt, wo +man ihn dem Hauptmann und Diana gegenüberstellte, +welche alles leugnete.</p> + +<p><a id="page-49"></a><span class="pgnum">49</span>Darauf führte man Marcello wieder in den unteren +Saal; als wir nahe der Tür waren, sagte er:</p> + +<p>‚Herr Herzog, Eure Exzellenz wird sich erinnern, daß +sie mir das Leben zusicherten, wenn ich die volle Wahrheit +sagen würde. Es ist nicht nötig, mich von neuem +anzubinden; ich werde alles gestehen.‘</p> + +<p>Dann näherte er sich dem Herzog und sagte ihm mit +zitternder und kaum verständlicher Stimme, daß es wahr +sei, daß er die Gunst der Herzogin genossen habe. Auf +diese Worte hin warf sich der Herzog auf Marcello und +biß ihn in die Wange, dann zog er seinen Dolch, und ich +sah, daß er den Schuldigen erstechen wollte. Ich sagte +da, daß es gut wäre, wenn Marcello eigenhändig aufschriebe, +was er soeben gestanden hätte und daß dies +Schriftstück Seiner Exzellenz zur Rechtfertigung dienen +würde. Man trat in den unteren Saal ein, wo sich alles +befand, was zum Schreiben nötig war; aber das Seil hatte +Marcello so am Arm und an der Hand verletzt, daß er +nichts weiter schreiben konnte, als diese wenigen Worte: +‚Ja, ich habe meinen Herrn verraten; ja, ich habe ihm +die Ehre genommen.‘</p> + +<p>Der Herzog las mit, während Marcello schrieb. In +diesem Augenblick stürzte er sich auf Marcello und versetzte +ihm drei Dolchstöße, die ihm das Leben nahmen. +Diana Brancaccio war da, drei Schritte entfernt, mehr +tot als lebendig; sie bereute ohne Zweifel +tausend- und +abertausendmal, was sie getan hatte.</p> + +<p>‚Weib, unwürdig einer edlen Familie anzugehören!‘ +schrie der Herzog, ‚du einzige Ursache meiner Schmach, +die du herbeigeführt hast, um deinen unehrlichen Lüsten +zu fröhnen; ich muß dir jetzt den Lohn für all deine +Verrätereien zahlen.‘</p> + +<p>Indem er diese Worte sprach, packte er sie bei den +<a id="page-50"></a><span class="pgnum">50</span>Haaren und schnitt ihr den Hals mit einem Messer ab. +Diese Unglückliche vergoß Ströme Blutes und fiel endlich +tot nieder.</p> + +<p>Der Herzog ließ die beiden Leichen in eine Kloake +nah vom Gefängnis werfen.</p> + +<p>Der junge Kardinal Alfonso Carafa, der Sohn des +Marchese von Montebello, der einzige der ganzen Familie, +den Paul IV. bei sich behalten hatte, glaubte ihm +dieses Ereignis berichten zu müssen. Der Papst antwortete +nichts als die Worte:</p> + +<p>‚Und die Herzogin? Was hat man mit ihr gemacht?‘</p> + +<p>Man glaubte in Rom allgemein, daß diese Worte den +Tod dieser unglücklichen Frau herbeiführen würden. +Aber der Herzog konnte sich nicht zu diesem großen +Opfer entschließen, sei es, weil sie schwanger war, sei +es wegen der außerordentlichen Zärtlichkeit, die er +früher für sie gefühlt hatte.</p> + +<p>Drei Monate nach der sehr edlen Tat, die der heilige +Papst Paul IV. vollbracht hatte, indem er sich von seiner +ganzen Familie lossagte, wurde er krank und nach drei +weiteren Monaten der Krankheit verschied er am +18. August 1559.</p> + +<p>Der Kardinal schrieb Briefe über Briefe an den Herzog +von Palliano und wiederholte ihm unaufhörlich, daß ihre +Ehre den Tod der Herzogin erheische. Jetzt, wo ihr +Oheim tot war und man nicht die Absichten des kommenden +Papstes wissen konnte, wollte er, daß alles in +kürzester Frist erledigt werde.</p> + +<p>Der Herzog, der ein einfacher und guter Mensch war +und in Ehrensachen viel weniger ängstlich als der Kardinal, +konnte sich nicht zu dem schrecklichen äußersten +Mittel entschließen, das man von ihm verlangte. Er sagte +sich, daß er selbst unzählige Treulosigkeiten gegen die +<a id="page-51"></a><span class="pgnum">51</span>Herzogin begangen habe und ohne sich die geringste +Mühe zu geben, sie ihr zu verbergen und daß solche Untreue +eine so stolze Frau leicht auf Vergeltungsgedanken +hätte bringen können. Selbst im Augenblick, als das +Konklave zusammentrat, schrieb der Kardinal, nachdem +er die Messe gehört und die heilige Kommunion empfangen +hatte, ihm nochmals, er fühle sich durch dieses +ewige Verschieben gepeinigt und wenn der Herzog sich +nicht endlich zu dem entschließe, was die Ehre ihres +Hauses fordere, beteuere er, daß er sich niemals mehr +seiner Angelegenheiten annehmen würde, und nie wieder +suchen würde, ihm nützlich zu sein, sei es im Konklave, +sei es bei dem künftigen Papst. Ein Grund, der dem +Ehrenpunkt fern lag, vermochte es, den Herzog zum +Entschluß zu bringen. Obwohl die Herzogin streng bewacht +wurde, fand sie, wie man sagt, die Möglichkeit, +Marc Antonio Colonna sagen zu lassen — welcher der +Hauptfeind des Herzogs war, weil er ihm sein Herzogtum +Palliano hatte abtreten müssen — sie wolle ihn +in Besitz der Festung Palliano setzen, die einem ihr +ergebenen Mann unterstellt war, wenn Marc Antonio +Mittel fände, ihr das Leben zu retten und sie zu +befreien.</p> + +<p>Am 28. August 1559 schickte der Herzog zwei Kompagnien +Soldaten nach Gallese. Am 30. kamen Don +Leonardo del Cardine, ein Verwandter des Herzogs und +Don Ferrante, Graf d'Aliffe, der Bruder der Herzogin +in Gallese an und gingen in die Gemächer der Herzogin, +um ihr den Tod zu geben. Sie verkündeten ihr, +daß sie sterben müsse und sie nahm diese Nachricht +ohne die leiseste Erregung hin. Sie wollte vorher beichten +und die heilige Messe hören. Als dann die beiden Herren +sich ihr wieder näherten, bemerkte sie, daß sie untereinander +<a id="page-52"></a><span class="pgnum">52</span>nicht einig waren. Sie fragte, ob sie einen +Befehl ihres Gatten, des Herzogs, hätten, sie zu ermorden.</p> + +<p>‚Ja, Signora‘, erwiderte Leonardo. Die Herzogin wollte +ihn sehen; Don Ferrante zeigte ihn ihr.</p> + +<hr/> + +<p>Ich finde in dem Prozeß des Herzogs von Palliano +die Aussage der Mönche, welche diesen schrecklichen +Vorgängen beiwohnten. Diese Aussagen sind weit über +die der andern Zeugen zu stellen und das kommt, scheint +mir, daher, daß die Mönche ohne jede Furcht vor Gericht +aussagten, während alle andern Zeugen mehr oder +weniger Mitschuldige ihres Herrn gewesen waren.</p> + +<p>Der Kapuzinerbruder Antonio von Pavia sagte folgendes +aus:</p> + +<p>„Nach der Messe hatte sie fromm die heilige Kommunion +genommen und während wir ihr Trost zusprachen, +trat der Graf d'Aliffe, der Bruder der Herzogin +ins Zimmer, in der Hand eine Schnur und einen +daumdicken Haselnußstab, der etwa eine halbe Elle lang +sein mochte. Er verband der Herzogin mit einem +Taschentuch die Augen und sie zog es mit großer Kaltblütigkeit +tiefer über ihre Augen hinunter, um ihn nicht +zu sehen. Der Graf legte ihr die Schnur um den Hals, +aber da sie nicht taugte, nahm sie der Graf wieder ab +und entfernte sich einige Schritte; als die Herzogin ihn +gehen hörte, hob sie das Taschentuch von den Augen +und sagte:</p> + +<p>‚Nun? Was geschieht?‘</p> + +<p>Der Graf antwortete:</p> + +<p>‚Die Schnur war nicht gut, ich werde eine andre holen, +damit Ihr nicht leiden müßt.‘</p> + +<p><a id="page-53"></a><span class="pgnum">53</span>Als er diese Worte sprach, ging er hinaus und kam +nach einigen Minuten mit einer andern Schnur ins +Zimmer zurück; er legte ihr von neuem das Taschentuch +über die Augen, schlang ihr die Schnur um den +Hals, steckte den Stab durch den Knoten, drehte ihn +herum und erdrosselte sie. Die Sache ging, was die Herzogin +betraf, ganz im Ton einer gewöhnlichen Unterhaltung +vor sich.“</p> + +<p>Ein andrer Kapuziner, Bruder Antonio von Salazar, +schließt seine Aussage mit folgenden Worten:</p> + +<p><a class="sic" id="sicA-4" href="#sic-4">„</a>Ich wollte mich zurückziehen, weil ich Bedenken +hatte wegen meines Gewissens und um sie nicht sterben +zu sehn, aber die Herzogin sagte zu mir:</p> + +<p>‚Entferne dich nicht von hier, um Gottes Barmherzigkeit +willen.‘</p> + +<p>Nun erzählt der Mönch die Umstände ihres Todes genau +so wie wir sie eben geschildert haben. Er fügt hinzu:</p> + +<p>‚Sie starb als gute Christin, immer wiederholend: Ich +glaube, ich glaube.‘“</p> + +<p>Die beiden Mönche, welche offenbar von ihrem Vorgesetzten +die nötige Genehmigung erhalten hatten, +blieben bei ihren Aussagen, daß die Herzogin immer ihre +völlige Unschuld beteuerte, sowohl in allen Unterredungen +mit ihnen, wie in jeder Beichte und besonders +auch in der Beichte, die der Messe voranging, wo sie das +heilige Abendmahl empfing. Wäre sie schuldig gewesen, +hätte sie sich durch diesen Stolz bloß in die Hölle gestürzt.</p> + +<p>In der Gegenüberstellung des Kapuzinerbruders Antonio +von Pavia mit Don Leonardo del Cardine, sagte +der Bruder:</p> + +<p>„Mein Gefährte sagte dem Grafen, daß es gut wäre, +solange zu warten, bis die Herzogin niederkäme; sie ist +<a id="page-54"></a><span class="pgnum">54</span>seit sechs Monaten schwanger,“ fügte er hinzu, „und +man sollte die Seele des armen unglücklichen Kleinen +retten, den sie in ihrem Schoß trägt; man muß ihn +taufen.“</p> + +<p>Worauf der Graf d'Aliffe antwortete:</p> + +<p>„Ihr wißt, daß ich nach Rom gehen muß, und ich +will dort nicht mit dieser Maske vor dem Gesicht erscheinen.“ +Mit dieser ungesühnten Schmach wollte er +damit sagen.</p> + +<p>Kaum war die Herzogin tot, als die beiden Kapuziner +darauf bestanden, daß man die Leiche ohne Verzug +öffne, um das Kind zu taufen; aber der Graf und +Don Leonardo hörten nicht auf ihre Bitten.</p> + +<p>Am nächsten Tag wurde die Herzogin in der Kirche +des Orts mit einigem Gepränge bestattet. Ich habe den +amtlichen Bericht darüber gelesen. Dieses Ereignis, +dessen Kunde sich sofort verbreitete, machte wenig Eindruck; +man hatte es schon seit langem erwartet; man +hatte schon mehrere Male die Nachricht von diesem +Tod in Gallese und in Rom verkündet und außerdem war +ein Mord außerhalb der Stadt und zu einer Zeit, wo der +h. Stuhl frei war, gar nichts Besonderes. Das Konklave, +welches auf den Tod Paul IV. folgte, war sehr stürmisch; +es dauerte nicht weniger als vier Monate.</p> + +<p>Am 26. Dezember 1559 war der Kardinal Carlo Carafa +genötigt, bei der Wahl eines Papstes mitzuwirken, +welcher von Spanien vorgeschlagen worden war und +folglich allen strengen Maßnahmen willig zustimmen +mußte, die Philipp II. gegen ihn, Kardinal Carafa, verlangen +würde. Der Neuerwählte nahm den Namen +Pius IV. an.</p> + +<p>Wenn der Kardinal zur Zeit, als sein Oheim starb, +nicht verbannt gewesen wäre, hätte er auf die Wahl Einfluß +<a id="page-55"></a><span class="pgnum">55</span>gehabt oder zum mindesten hätte er die Ernennung +eines Feindes verhindern können.</p> + +<p>Kurz darauf verhaftete man den Kardinal wie den +Herzog; der Befehl Philipp II. ging offenbar dahin, sie +zugrunde zu richten. Sie hatten sich gegen vierzehn +Hauptanklagepunkte zu verantworten. Man verhörte auch +alle, die über diese vierzehn Punkte hatten Aufklärung +geben können. Dieser ausgezeichnet geführte Prozeß +macht zwei Foliobände aus, die ich mit großem Interesse +gelesen habe, weil man dort auf jeder Seite Schilderungen +von Sitten trifft, welche die Historiker der +Erhabenheit der Geschichte nicht würdig fanden. Ich +habe dort sehr merkwürdige Einzelheiten über einen +Mordanschlag verfolgen können, der von der spanischen +Partei gegen den Kardinal Carafa versucht wurde, als +er noch allmächtiger Minister war.</p> + +<p>Übrigens wurde er und sein Bruder wegen Verbrechen +verurteilt, die für andere keine gewesen wären, zum Beispiel: +den Liebhaber einer untreuen Frau getötet zu +haben und diese Frau auch. Einige Jahre später heiratete +der Fürst Orsini die Schwester des Großherzogs +von Toscana; er glaubte, daß sie ihm untreu sei und ließ +sie in Toscana selbst unter Zustimmung ihres Bruders +des Großherzogs vergiften und niemals wurde ihm das +Verbrechen angerechnet. Auch mehrere Fürstinnen aus +dem Hause Medici sind so gestorben.</p> + +<p>Als der Prozeß der beiden Carafa beendet war, machte +man einen langen Auszug davon, der zu wiederholten +Malen von den Kongregationen der Kardinäle geprüft +wurde. Nachdem man einmal übereingekommen war, +den Mord, der den Ehebruch rächte, mit dem Tode zu +bestrafen — eine Art Verbrechen, mit dem das Gericht +vordem sich nie befaßt hatte — ist es nur zu klar, daß +<a id="page-56"></a><span class="pgnum">56</span>der Kardinal schuldig war, seinen Bruder zum Verbrechen +angestiftet zu haben, wie der Herzog schuldig, +weil er es ausführen ließ.</p> + +<p>Am 3. März 1561 hielt Papst Pius IV. ein Konsistorium, +das acht Stunden dauerte und bei dessen +Schluß er das Urteil über die Carafa in folgender +Weise sprach: Prout in schedula — Es möge nach dem +Gesetze geschehn.</p> + +<p>In der Nacht des folgenden Tages schickte der Fiskal +den Borgelloführer der Sbirren nach der Engelsburg, +um das Todesurteil an den beiden Brüdern, Carlo, +Kardinal Carafa und Giovanni, Herzog von Palliano, +vollstrecken zu lassen. So geschah es. Man nahm zuerst +den Herzog vor. Er wurde von der Engelsburg in +das Gefängnis von Tordinone überführt, wo alles vorbereitet +war, denn dort wurden dem Herzog, dem Grafen +d'Aliffe und Don Leonardo del Cardine der Kopf abgeschlagen.</p> + +<p>Der Herzog ertrug diese schrecklichen Augenblicke +nicht nur wie ein Mann von hohem Adel, sondern er war +auch als Christ bereit, alles aus Liebe zu Gott zu erdulden. +Er richtete schöne Worte an seine beiden Gefährten, +um sie auf den Tod vorzubereiten; dann schrieb +er an seinen Sohn.</p> + +<p>Der Bargello kehrte zur Engelsburg zurück; er kündigte +dem Kardinal Carafa den Tod an und gab ihm +nicht mehr als eine Stunde Zeit, um sich vorzubereiten. +Der Kardinal zeigte eine Seelengröße, welche die seines +Bruders noch übertraf, um so mehr als er weniger Worte +sagte; Worte sind immer eine Kraft, die man außer sich +selbst sucht. Man hörte ihn, bei der Ankündigung der +schrecklichen Neuigkeit, nur mit leiser Stimme sagen:</p> + +<p>„Ich sterben? Oh, Papst Pius! Oh, König Philipp!“ +<a id="page-57"></a><span class="pgnum">57</span>Er beichtete; er rezitierte die sieben Bußpsalmen, dann +dann setzte er sich auf einen Sessel und sagte zu dem +Henker: „Tu's!“</p> + +<p>Der Henker erwürgte ihn mit einer Seidenschnur, die +zerriß; er mußte es zweimal machen. Der Kardinal +blickte den Henker an, ohne ihn eines Wortes zu würdigen.</p> + +<hr/> + +<p>Wenige Jahre darauf ließ der heilige Papst Pius V. +den Prozeß wieder aufnehmen; er wurde ungültig erklärt; +dem Kardinal und seinem Bruder wurden alle ihre +Ehren wieder verliehen und der Generalprokurator, der +am meisten zu ihrem Tode beigetragen hatte, wurde gehenkt. +Pius V. verfügte die Unterdrückung des Prozesses; +alle Kopien, die in den Bibliotheken davon +existierten, wurden verbrannt; es wurde bei Strafe +der Exkommunikation verboten, etwas davon aufzubewahren; +aber der Papst dachte nicht daran, daß er in +seiner eigenen Bibliothek eine Abschrift des Prozesses +aufhob und nach dieser Abschrift sind alle die gemacht, +die man heute sieht.</p> + + + + +<h2><a id="page-59"></a><span class="pgnum">59</span>DIE CENCI</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-60"></a><span class="pgnum">60</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<p><a id="page-61"></a><span class="pgnum">61</span>Molières Don Juan ist ohne Zweifel galant, doch vor +allem ist er ein Mann der guten Gesellschaft. Bevor +er sich der unwiderstehlichen Leidenschaft überläßt, die +ihn zu hübschen Frauen zieht, hält er darauf, einem +bestimmten Ideal zu gleichen; er will der Mann sein, +der am Hof eines galanten und geistvollen jungen +Königs unumschränkt bewundert würde.</p> + +<p>Mozarts Don Juan ist schon weit natürlicher und viel +weniger französisch; er denkt weniger an die Meinung +der andern über ihn, denkt nicht vor allem daran, zu +scheinen, wie der Baron Foeneste d'Aubigné sagte.</p> + +<p>Wir besitzen aus Italien nur zwei Porträte des Don +Juan, so wie er diesem schönen Lande im sechzehnten +Jahrhundert zu Beginn der wiedergeborenen Zivilisation +erschienen ist.</p> + +<p>Von diesen beiden Porträten kann ich das eine durchaus +nicht bekanntgeben, denn das Jahrhundert ist zu +prüde; man muß sich an das große Wort erinnern, das +Lord Byron unzählige Male wiederholt hat: This age +of cant. Diese so langweilige Heuchelei, die niemand +täuscht, hat den ungeheuren Vorteil, daß die Dummen +etwas zu reden haben; es entrüstet sie, daß man gewagt +hat, über etwas zu sprechen; es entrüstet sie, daß man +gewagt hat, über etwas zu lachen, usw. Der Nachteil +ist, daß das Bereich der Geschichte dadurch unendlich +verengt wird. +</p> + +<p><a id="page-62"></a><span class="pgnum">62</span>Hat der Leser den guten Geschmack, es mir zu gestatten, +so werde ich ihm in aller Bescheidenheit eine +historische Aufzeichnung über den zweiten Don Juan +vorlegen, von dem es im Jahre 1887 möglich ist, zu +sprechen; er hieß Francesco Cenci.</p> + +<p>Don Juan zu ermöglichen, muß es die Heuchelei in +der Welt geben. Im Altertum wäre Don Juan eine Wirkung +ohne Ursache gewesen; die eher heitere Religion +ermahnte die Menschen zum Genuß: wie hätte sie also +jemand auszeichnen, ja verdammen können, der in einer +Lust seine einzige Aufgabe sieht? Nur die herrschende +Regierung sprach von Enthaltsamkeit; aber wohl verstanden, +sie verbot bloß Dinge, die dem Vaterland schaden +konnten, und nichts, was nur den einzelnen schädigte.</p> + +<p>Jeder, der Geschmack an Frauen fand und reich war, +konnte in Athen ein Don Juan sein, ohne daß jemand +daran etwas auszusetzen gefunden hätte. Niemand nannte +dies Leben ein Jammertal und daß es verdienstvoll sei, +zu leiden.</p> + +<p>Ich glaube nicht, daß der athenische Don Juan so +leicht hätte zum Verbrecher werden können wie der Don +Juan der modernen Welt; ein großer Teil des Vergnügens +des modernen Don Juan besteht darin, die +öffentliche Meinung herauszufordern, womit er schon +in seiner Jugend damit beginnt, daß er sich einbildet, +nur gegen die Heuchelei anzukämpfen.</p> + +<p>Gesetze zu übertreten in einer Monarchie Louis XV., +auf einen Dachdecker einen Flintenschuß abzufeuern +und ihn von seinem Dach herunterrollen zu lassen — ist +das nicht ein Beweis, daß man in der Gesellschaft +um den Fürsten lebt, daß man zum besten Ton gehört +und daß man sich sonst was aus dem Richter macht, +<a id="page-63"></a><span class="pgnum">63</span>der ja ein Bürgerlicher ist? Seinem Richter zu spotten — ist +das nicht der erste Schritt des kleinen werdenden +Don Juan?</p> + +<p>Bei uns sind die Frauen nicht mehr Mode, und das +ist der Grund für die Seltenheit der Don Juane. Aber +wenn es deren gäbe, würden sie immer mit sehr natürlichen +Vergnügungen beginnen und ihren Ruhm darin +suchen, den Ideen zu trotzen, die ihnen in der Vernunft +nicht begründet zu sein scheinen, trotzdem sie den festen +Glauben ihrer Zeitgenossen bilden. Erst viel später, wenn +er pervers zu werden beginnt, findet der Don Juan eine +erlesene Wollust darin, Meinungen zu bekämpfen, die +ihm selber richtig und vernünftig scheinen.</p> + +<p>Dieser Übergang muß bei den Alten sehr schwierig +gewesen sein; erst unter den römischen Kaisern und nach +Tiberius findet man Freigeister, welche die Verderbnis +um ihrer selbst willen lieben, das heißt: wegen des Vergnügens, +den vernünftigen Ansichten ihrer Zeitgenossen +Trotz zu bieten.</p> + +<p>Daher sehe ich in der christlichen Religion die Voraussetzungen +für die satanische Rolle des Don Juan. +Ist es doch diese Religion, welche die Welt lehrte, daß +die Seele eines armen Sklaven, eines Gladiators an Fähigkeit +und an Würde der des Cäsar selber völlig ebenbürtig +sei; daher muß man der christlichen Lehre für +das Auftauchen zarter Gefühle dankbar verpflichtet sein. +Ich zweifle übrigens nicht daran, daß früher oder später +diese Gefühle auch ohne die christliche Lehre im Busen +der Völker aufgetaucht wären — ist doch die Äneide +schon um vieles zarter, gefühlsreicher als die Ilias.</p> + +<p>Die Lehre Jesu war die der zeitgenössischen arabischen +Philosophen, und das einzig Neue, das in der Welt +infolge der vom heiligen Paul gepredigten Lehren eingeführt +<a id="page-64"></a><span class="pgnum">64</span>wurde, ist eine Armee von Priestern, die gänzlich +von den übrigen Bürgern getrennt sind und sogar diesen +entgegengesetzte Interessen haben.</p> + +<p>Die einzige Aufgabe dieser Priestergilde war, das religiöse +Empfinden zu pflegen und zu stärken; sie erfanden +bezaubernde Gaukeleien und Kulte, um die Gemüter aller +Klassen, vom ungebildeten Hirten bis zum blasierten +Höfling im Gefühle zu bewegen; sie verstanden ihre +Interessen mit den entzückenden Eindrücken der ersten +Kindheit zu verknüpfen; sie ließen nicht die kleinste Pest +oder das kleinste große Unglück vorübergehn, ohne +daraus Nutzen zu ziehn, die Furcht und das religiöse +Empfinden zu verdoppeln oder wenigstens eine schöne +Kirche zu bauen, wie die Maria della Salute in Venedig.</p> + +<p>Diese Kirche bringt das bewundernswerte Ereignis +hervor: der heilige Papst Leo widersteht ohne jede materielle +Macht dem wilden Attila und seinen barbarischen +Scharen, die China, Persien und die Gallier in +Schrecken versetzt hatten.</p> + +<p>So hat die Kirche, wie die absolute, nur durch +Chansons gemäßigte Macht, welche man die französische +Monarchie nennt, sonderbare Dinge hervorgebracht, +welche die Welt vielleicht niemals gesehn hätte, wenn +sie diese beiden Einrichtungen hätte entbehren müssen.</p> + +<p>Unter diese guten oder schlechten, immer aber sonderbaren +und seltsamen Dinge, die Aristoteles, Polybius, +Augustus und alle andern Köpfe des Altertums sehr in +Erstaunen gesetzt hätten, stelle ich ohne Zögern den modernen +Charakter des Don Juan. Er ist, wie ich meine, +ein Produkt der asketischen Institutionen, welche die +Päpste nach Luther geschaffen haben; denn Leo X. und +sein Hof folgten noch ungefähr den Prinzipien der Religion +Athens. +</p> + +<p><a id="page-65"></a><span class="pgnum">65</span>Molières Don Juan wurde zu Beginn der Regierung +Ludwig XIV., am 15. Februar 1665 aufgeführt; dieser +Fürst war damals noch nicht im geringsten fromm und +trotzdem ließ die kirchliche Zensur die Szene des Armen +im Walde streichen. Diese Zensur wollte, um sich Nachdruck +zu verschaffen, dem so wunderbar unwissenden +König einreden, daß das Wort Jansenist gleichbedeutend +mit Republikaner sei.</p> + +<p>Das Original ist von dem Spanier Tirso de Molina; +eine italienische Truppe spielte gegen 1664 eine Nachdichtung +davon in Paris und erregte Aufsehn. Das Stück +ist vielleicht die am meisten gespielte Komödie der Welt, +denn sie handelt vom Teufel und von der Liebe, von der +Furcht vor der Hölle und von einer überschwenglichen +Leidenschaft für eine Frau, von allem also, was es +Schreckliches und Liebliches in den Augen der Menschen +gibt, sofern sie nur aus dem Zustand der Wilden heraus +sind.</p> + +<p>Es ist nicht erstaunlich, daß das Bild des Don Juan +durch einen spanischen Dichter in die Literatur eingegeführt +worden ist. Die Liebe nimmt eine große Stelle +im Leben dieses Volks ein; sie ist da eine ernste Leidenschaft, +imstande, mit Gewalt alle andern sich zu unterjochen, +sogar die Eitelkeit. Ebenso ist es in Deutschland +und in Italien. Wohl überlegt ist einzig und allein Frankreich +vollkommen frei von dieser Leidenschaft, um +derentwillen andere Nationen so viele Torheiten begehn, +wie zum Beispiel ein armes Mädchen zu heiraten, unter +dem Vorwand, daß sie hübsch und daß man in sie verliebt +sei. Den Mädchen, welchen nichts als die Schönheit +fehlt, fehlt es nicht an Bewunderern in Frankreich; wir +sind unvorsichtige Leute. Anderswo sind sie darauf angewiesen, +Nonne zu werden, weshalb die Klöster in Spanien +<a id="page-66"></a><span class="pgnum">66</span>unentbehrlich sind. Die Mädchen bekommen in +diesem Lande keine Mitgift und dies Gesetz hat den +Triumph der Liebe gesichert. Hat sich die Liebe in +Frankreich nicht ins fünfte Stockwerk zurückgezogen, +das heißt, zu den Mädchen, die sich ohne Vermittlung +des Notars und der Familie verheiraten?</p> + +<p>Man soll hier nicht an den Don Juan des Lord Byron +denken, der nichts als ein Faublas ist: ein schöner, unbedeutender +junger Mann, auf den sich die unwahrscheinlichsten +Arten und Gattungen des Glücks stürzen.</p> + +<p>Es war, wie gesagt, in Italien, und zwar erst im sechzehnten +Jahrhundert, daß dieser sonderbare Charakter +zum erstenmal auftauchte. Es war in Italien, und zwar +im siebzehnten Jahrhundert, daß eine Fürstin sagte, als +sie am Abend eines sehr heißen Tages mit Entzücken ein +Eis nahm: ‚Wie schade, daß Gefrorenes zu essen nicht +eine Sünde ist!‘</p> + +<p>Diese Gefühlseinstellung bildet nach meiner Ansicht +die Charaktergrundlage des Don Juan und dazu gehört, +wie man sieht, die christliche Religion.</p> + +<p>Ein neapolitanischer Autor meint dazu: „Ist es nichts, +dem Himmel Trotz zu bieten und dabei zu glauben, daß +im gleichen Augenblick Euch der Himmel zu Staub zermalmen +kann?“ Davon, sagt man, rühre die unvergleichliche +Wollust her, eine Nonne als Geliebte zu haben, eine +von Frömmigkeit erfüllte Nonne, die weiß, daß sie Böses +tut und Gott so leidenschaftlich um Verzeihung anfleht, +wie sie leidenschaftlich sündigt.</p> + +<p>Denken wir uns einen sehr perversen Christen, zu der +Zeit in Rom geboren, als der strenge Pius V. sich anschickte, +eine Menge kleiner religiöser Übungen wieder +zu Ehren zu bringen oder neu zu erfinden, welche der +einfachen Alltagsmoral völlig fremd sind, die ja nur +<a id="page-67"></a><span class="pgnum">67</span>das Tugend nennt, was den Menschen nützlich ist. Eine +Inquisition, so unerbittlich, daß sie sich nur kurze Zeit +in Italien halten konnte und bald nach Spanien flüchten +mußte, war noch verstärkt worden und jagte aller Welt +Schrecken ein. Jahre hindurch setzte man sehr harte +Strafen auf die Unterlassung oder auf die öffentliche +Mißachtung dieser kleinen und kleinlichen religiösen +Übungen, die zum Rang heiligster religiöser +Pflichten erhoben wurden. Jener perverse Römer, von +dem wir sprachen, wird die Achseln gezuckt haben, als er +die ganze Masse der Bürger vor den schrecklichen Gesetzen +der Inquisition zittern sah.</p> + +<p>‚Gut,‘ wird er sich gesagt haben, ‚ich bin der reichste +Mann von Rom, dieser Hauptstadt der Welt, ich werde +auch der kühnste sein; ich werde mich öffentlich über +all das lustig machen, was diese Leute respektieren und +was so wenig dem gleicht, was zu respektieren ist.‘</p> + +<p>Denn ein wirklicher Don Juan muß ein Mann von +Herz sein und jenen lebhaften und klaren Verstand besitzen, +der die Motive der Handlungen der Menschen +durchschaut.</p> + +<p>Francesco Cenci also wird sich gesagt haben: ‚Durch +welche auffallenden Taten könnte ich, ein Römer, in +Rom im Jahre 1527 geboren, genau während der sechs +Monate, in denen die lutheranischen Soldaten des Connetable +von Bourbon die gräßlichsten Entweihungen an +den heiligen Dingen begingen — durch welche Taten +könnte ich meinen Mut bemerkbar machen und mir so +eindringlich wie möglich das Vergnügen bereiten, der +öffentlichen Meinung Trotz zu bieten? Womit soll ich +meine einfältigen Zeitgenossen in Erstaunen setzen? Wie +kann ich mir das so lebhafte Vergnügen verschaffen, +mich anders als die große Masse zu fühlen?‘ +</p> + +<p><a id="page-68"></a><span class="pgnum">68</span>Es konnte einem Römer, und dazu einem Römer jener +Zeit nicht in den Sinn kommen, sich auf bloße Worte +zu beschränken. Es gibt kein Land, wo prahlerische +Worte mehr verachtet werden als in Italien.</p> + +<hr/> + +<p>Der Mann, der so zu sich sprechen konnte, Francesco +Cenci, ist am 15. September 1598, unter den Augen +seiner Tochter und seiner Frau getötet worden. Nichts +Liebenswürdiges bleibt uns von diesem Don Juan zu +erinnern. Sein Charakter wurde durch nichts, vor allem +nicht durch die Manie, ein guter Gesellschafter zu sein, +gemildert und verkleinert, wie bei dem Don Juan Molières. +Er kümmerte sich um die andern Menschen nur, +wenn er ihnen seine Überlegenheit beweisen, sich ihrer +bedienen oder ihnen seinen Haß zeigen wollte. Denn +der Don Juan findet nie Gefallen an Sympathiegefühlen, +an süßen Träumereien oder an den Einbildungen eines +zärtlichen Herzens. Er braucht vor allem Freuden, welche +Triumphe sind, von andern bemerkt und nicht abstreitbar; +er braucht die Liste, die der freche Leporello vor +den Augen der unglücklichen Elvira aufrollt.</p> + +<p>Der römische Don Juan hat sich gut vor der kindlichen +Ungeschicklichkeit gehütet, den Schlüssel zu +seinem Charakter zu geben und sich einem Lakaien anzuvertrauen, +wie jener Don Juan bei Molière. Er hat +ohne einen Vertrauten gelebt und hat nichts andres gesprochen, +als was ihm für die Förderung seiner Pläne +nützlich war. Niemand überraschte ihn in Augenblicken +wirklicher Zärtlichkeit und entzückender Heiterkeit, +wegen deren man dem Don Juan von Mozart viel verzeiht. +Kurz: das Porträt, das ich hier hinsetzen werde, +ist abstoßend. +</p> + +<p><a id="page-69"></a><span class="pgnum">69</span>Aus freier Wahl hätte ich nicht diesen Charakter nachgezeichnet. +Ich hätte mich damit begnügt, ihn zu studieren; +denn er ist dem Gräßlichen näher als dem Seltsamen. +Aber Reisegefährten, denen ich nichts abschlagen +konnte, baten mich darum. Ich hatte im Jahre 1823 +das Glück, Italien zusammen mit liebenswürdigen unvergeßlichen +Menschen zu sehn. Ich war gleich ihnen +vom Bildnis der Beatrice Cenci hingerissen, das im Palazzo +Barberini in Rom hängt.</p> + +<p>Die Galerie dieses Palastes ist heute auf sieben oder +acht Bilder zusammengeschmolzen, doch sind vier +Meisterwerke darunter: zunächst das Porträt der berühmten +Fornarina, der Geliebten Raffaels, von Raffaels +eigener Hand.</p> + +<p>Das zweite wertvolle Bildnis der Galerie ist vom Guido +Reni: das Porträt der Beatrice Cenci, von dem es soviel +schlechte Stiche gibt. Der große Maler hat um den Hals +Beatrices ein Stück nichtssagenden Stoffs gelegt, und +er hat sie mit einem Turban ausgestattet: er getraute sich +wohl nicht, die Wahrheit bis zum Fürchterlichen zu +treiben, indem er das Kleid, das sie sich für die Hinrichtung +hatte machen lassen, getreu wiedergegeben +hätte, und das Haar in der ganzen Unordnung eines sechzehnjährigen +Mädchens, das sich der Verzweiflung überläßt. +Der Kopf ist zart und schön, der Blick sehr sanft +und die Augen sehr groß: sie haben den erstaunten Ausdruck +einer Person, die im Augenblick heftigen Weinens +überrascht wird. Die Haare sind blond und sehr schön. +Dieser Kopf hat nichts von dem römischen Stolz und +von dem Bewußtsein der eignen Kraft, wie man beides +so oft in dem zuversichtlichen Blick einer Römerin antrifft, +einer figlia del tevere, wie sie mit Stolz von sich +selber sagen. Unglücklicherweise sind die Halbtöne dieses +<a id="page-70"></a><span class="pgnum">70</span>Bildnisses während des langen Zeitraums, der uns von +der Katastrophe trennt, brandig geworden.</p> + +<p>Das dritte Bildnis der Galerie Barberini ist das der +Lucrezia Petroni, der Stiefmutter von Beatrice, die mit +ihr hingerichtet worden ist. Sie ist der Typus der römischen +Matrone in ihrer natürlichen Schönheit und +ihrem Stolz, der nicht, wie auf van Dycks Bildnissen, +Stolz auf die gesellschaftliche Stellung ist. Die Züge sind +groß und die Hautfarbe ist blendend weiß, die schwarzen +Brauen sind scharf gezeichnet, der Blick ist gebieterisch +und gleichzeitig von Wollust beschwert. Ihr Kopf bildet +einen schönen Kontrast mit dem so sanften, einfachen, +fast deutschen Aussehen ihrer Stieftochter.</p> + +<p>Das vierte Bildnis, glänzend durch die Wahrheit und +die Pracht seiner Farben, ist eines der Meisterwerke Tizians: +eine griechische Sklavin, die Geliebte des berühmten +Dogen Barberigo.</p> + +<p>Fast alle Fremden, die nach Rom kommen, lassen sich +alsbald nach der Galleria Barberini führen; besonders +die Frauen sind von den Porträts der Beatrice Cenci und +ihrer Stiefmutter angezogen. Ich habe die allgemeine +Neugier geteilt; dann habe ich, wie jedermann, versucht, +Einsicht in den berühmten Prozeß zu erhalten. Wer diese +Möglichkeit hat, wird, wie ich glaube, erstaunt sein, in +diesen Berichten, in denen alles, bis auf die Antworten +der Angeklagten, lateinisch ist, fast gar keine Darstellung +der Tatsachen zu finden. Vermutlich, weil im +Rom des Jahres 1599 jeder die Tatsachen kannte. Ich +habe die Erlaubnis erkauft, eine zeitgenössische Darstellung +zu kopieren, und habe geglaubt, eine Übersetzung +davon wagen zu können, ohne den Anstand zu +verletzen; zum mindesten konnte diese Übersetzung im +Jahre 1823 den Damen laut vorgelesen werden. Aber +<a id="page-71"></a><span class="pgnum">71</span>es hört, wie ich bemerken muß, der Übersetzer auf, treu +zu sein, wenn es nicht mehr möglich ist: denn anders +würde das Grauen leicht stärker sein als die Neugier.</p> + +<p>Die traurige Rolle des wahren Don Juan, der sich +keinem Ideal nachbilden will und der an die Meinung +der Welt nur denkt, um sie herauszufordern, ist hier in +ihrem ganzen Schrecken dargestellt. Das Übermaß seiner +Verbrechen zwingt zwei Unglückliche, ihn vor ihren Augen +töten zu lassen; diese beiden Frauen waren: die eine seine +Gattin und die andre seine Tochter. Der Leser wird nicht +zu entscheiden wagen, ob sie schuldig sind. Ihre Zeitgenossen +fanden, daß man sie nicht mit dem Tode hätte +strafen dürfen.</p> + +<p>Ich bin überzeugt, daß die Tragödie von Galeoto Manfredi, +der von seiner Frau getötet wurde, ein Stoff, den +der große Dichter Monti behandelt hat, und viele andre +häusliche Tragödien des fünfzehnten Jahrhunderts, die +weniger bekannt und kaum in den Sonderurkunden der +italienischen Städte eingetragen sind, mit einer ähnlichen +Szene wie der im Schloß von Petrella endete.</p> + +<p>Was folgt, ist die Übersetzung der zeitgenössischen +Darstellung, sie ist in <i>römischem Italienisch</i> verfaßt und +wurde am 14. September 1599 niedergeschrieben.</p> + +<hr/> + +<p>Das fluchwürdige Leben, das Francesco Cenci, in +Rom geboren und einer unsrer wohlhabendsten Mitbürger, +von jeher geführt hat, brachte ihn schließlich +ins Verderben. Er hat seine Söhne, starke und mutige +junge Leute, vorzeitig in den Tod gebracht, ebenso seine +Tochter Beatrice, die, obwohl sie kaum sechzehn Jahre +alt war, als sie zur Todesstrafe geführt wurde — es ist +<a id="page-72"></a><span class="pgnum">72</span>heute vier Tage her —, doch schon für eines der schönsten +Wesen in den Staaten des Papstes und in ganz +Italien galt. Man hört die Neuigkeit, daß Signor Guido +Reni, einer der Schüler der bewundernswerten Bologneser +Überlieferung, letzten Freitag das Porträt der +armen Beatrice gemacht hat, also gerade am Tage +vor ihrer Hinrichtung. Wenn dieser große Maler sich +dieser Aufgabe in der gleichen Weise entledigt hat wie +bei den andern Gemälden, die er in dieser Hauptstadt +gemalt hat, wird sich die Nachwelt einen Begriff davon +machen können, wie groß die Schönheit dieses außerordentlichen +Mädchens gewesen ist. Damit aber auch die +Erinnerung an ihr Unglück ohnegleichen und an die erstaunliche +Kraft bewahrt bleibe, mit welcher diese wahrhaft +römische Seele es zu bekämpfen wußte, habe ich +beschlossen, das niederzuschreiben, was ich über die Begebenheiten, +die sie in den Tod führten, erfahren konnte, +und auch was ich selbst am Tage ihres stolzen Untergangs +gesehen habe.</p> + +<p>Die Personen, die mir meine Informationen gegeben +haben, waren so gestellt, daß sie die geheimsten Umstände +wußten, die selbst heute noch in Rom unbekannt +sind, obwohl man seit sechs Wochen von nichts anderm +als vom Prozeß der Cenci spricht. Ich werde mit Offenheit +sprechen, sicher wie ich bin, daß aus meinem Bericht, +den ich in angesehene Archive zu hinterlegen vermag, +alle schöpfen werden. Mein einziger Kummer ist, +daß ich — aber so will es die Wahrheit — gegen die +Unschuld dieser armen Beatrice Cenci sprechen muß, +die von allen, die sie kannten, ebenso angebetet und geachtet +wurde, wie ihr schrecklicher Vater verhaßt und +verabscheut war.</p> + +<p>Dieser Mann, dem vom Himmel unleugbar erstaunlicher +<a id="page-73"></a><span class="pgnum">73</span>Scharfsinn aber auch Absonderlichkeit verliehen +wurde, war der Sohn des Monsignore Cenci, welcher es +unter Pius V. Ghislieri bis zur Stellung eines Schatzmeisters, +Finanzministers, gebracht hatte. Dieser heilige +Papst, der, wie man weiß, ganz mit seinem gerechten +Haß gegen die Ketzer und mit der Wiedereinführung +seiner bewunderungswürdigen Inquisition beschäftigt +war, hatte für die weltliche Verwaltung seines Staates +nur Verachtung, so daß sein Schatzmeister in den Jahren +vor 1572, Monsignore Cenci, es möglich machen konnte, +jenen schrecklichen Menschen, der sein Sohn und Beatrices +Vater war, ein Einkommen von 160 000 Piastern +zu hinterlassen. Außer diesem großen Vermögen hatte +Francesco Cenci einen Ruf von Kühnheit und Klugheit, +worin ihm in seinen jungen Jahren niemand in Rom +gleichkam, und dieser Ruf verschaffte ihm um so mehr +Geltung am Hofe des Papstes und beim ganzen Volke, +als die verbrecherischen Handlungen, die man ihm zuzuschreiben +begann, nur solcher Art waren, wie die Welt +sie leicht verzeiht. Viele Römer erinnern sich noch mit +bitterem Bedauern der Freiheit des Denkens und Handelns, +die man zur Zeit Leos X. genoß, der uns 1513 +genommen wurde, und auch unter dem 1549 verstorbenen +Paul III. Schon unter diesem letzten Papst begann +man von dem jungen Francesco Cenci zu sprechen +wegen gewisser sonderbarer Liebschaften, die durch +noch sonderbarere Mittel zum guten Gelingen geführt +wurden.</p> + +<p>Unter Paul III., also zu einer Zeit, wo man noch eine +gewisse Redefreiheit genoß, sagten viele, daß Francesco +Cenci ganz besonders lüstern auf absonderliche Ereignisse +sei, die ihm <i>peripezie di nuove idee</i>, neue und beunruhigende +Empfindungen verschaffen könnten. Man +<a id="page-74"></a><span class="pgnum">74</span>stützte sich dabei darauf, daß man in seinen Rechnungsbüchern +Aufzeichnungen dieser Art gefunden hat:</p> + +<p>„Für Abenteuer und peripezie von Toscanella 3500 +Piaster (im Jahre 1837 etwa 60 000 frcs.) <i>e non fu +caro</i>, und es war nicht teuer.“</p> + +<p>Man weiß vielleicht in den andern Städten Italiens +nicht, daß hier in Rom unser Schicksal und unsre Art +des Lebens je nach dem Charakter des herrschenden +Papstes wechseln. So war während dreizehn Jahren, unter +dem guten Papst Gregor XIII. Buoncompagni, alles in +Rom erlaubt; wer wollte, ließ seinen Freund erdolchen +und wurde nicht verfolgt, wenn er sich in bescheidener +Art zu benehmen wußte. Auf dieses Übermaß von Nachsicht +folgte während der fünf Jahre, die der große Sixtus +V. regierte, ein Übermaß von Strenge, und von diesem +wurde, wie vom Kaiser Augustus gesagt: er hätte niemals +kommen dürfen oder immer bleiben müssen. Damals +wurden Unglückliche für zehn Jahre lang vergessene +Mordtaten oder Vergiftungen hingerichtet, die sie zu +ihrem Unglück früher einmal dem Kardinal Montalto, +dem späteren Sixtus V. gebeichtet hatten.</p> + +<p>Besonders viel wurde unter Gregor XIII. von Francesco +Cenci gesprochen. Er hatte eine sehr reiche und +in jeder Hinsicht zu einem so angesehenen Herrn +passende Frau geheiratet, welche starb, nachdem sie ihm +sieben Kinder geschenkt hatte. Kurz nach ihrem Tode +heiratete er in zweiter Ehe Lucrezia Petroni, eine Frau +von seltner Schönheit und vor allem berühmt durch die +blendende Weiße ihrer Hautfarbe, aber sie war ein wenig +zu beleibt, welcher Fehler unter Römerinnen so häufig +ist. Von Lucrezia hatte er keine Kinder.</p> + +<p>Das kleinste Laster, das man Francesco Cenci vorwerfen +konnte, war sein Hang zu infamer Liebe, das +<a id="page-75"></a><span class="pgnum">75</span>größte war, daß er nicht an Gott glaubte. Sein ganzes +Leben lang sah man ihn nicht in eine Kirche eintreten.</p> + +<p>Dreimal wegen seiner schändlichen Liebschaften ins +Gefängnis gebracht, machte er sich durch Geldspenden +an die Günstlinge der zwölf Päpste, unter denen er der +Reihe nach gelebt hat, immer wieder frei. Auf diese +Weise verschenkte er 200 000 Piaster, das sind jetzt etwa +5 000 000 fr.</p> + +<p>Ich habe Francesco Cenci erst gesehen, als er schon +ergrautes Haar hatte, unter der Regierung des Papstes +Buoncompagni, wo alles erlaubt war, was man zu tun +wagte. Er war ein Mann von etwa fünf Fuß vier Zoll, +sehr gut gebaut, obgleich zu mager; man hielt ihn für +außerordentlich stark, vielleicht hatte er selbst dies Gerücht +verbreitet; er hatte große ausdrucksvolle Augen, +doch fiel das obere Augenlid ein wenig zu sehr herab, +eine zu große und zu weit vorspringende Nase, schmale +Lippen und ein Lächeln voll Anmut. Dies Lächeln wurde +schrecklich, wenn er den Blick auf einen seiner Feinde +heftete; wenn er nur etwas bewegt oder gereizt war, +zitterte er heftig und in einer Weise, die ihm lästig +wurde. Ich habe ihn in meiner Jugend, unter dem Papst +Buoncompagni von Rom nach Neapel reiten sehen, ohne +Zweifel wegen irgendeiner Liebesgeschichte; er ritt durch +die Wälder von San Germano und La Faggiola, ohne sich +um die Briganten zu kümmern und legte, wie man sagt, +den Weg in weniger als zwanzig Stunden zurück. Er +reiste stets allein und ohne jemanden vorher zu benachrichtigen; +wenn sein erstes Pferd erschöpft war, kaufte +oder raubte er ein andres. Wenn man ihm Schwierigkeiten +machte, fand er jedoch keine Schwierigkeit darin, +einen Dolchstoß auszuteilen. Aber es ist die volle Wahrheit, +daß in meiner Jugend, als er also etwa achtundvierzig +<a id="page-76"></a><span class="pgnum">76</span>oder fünfzig Jahre alt war, niemand kühn genug +war, ihm Widerstand zu leisten. Sein größtes Vergnügen +war, seine Feinde herauszufordern.</p> + +<p>Er war auf allen Straßen der Staaten seiner Heiligkeit +wohlbekannt; er zahlte freigebig, aber war auch fähig, +wenn ihn jemand beleidigt hatte, zwei oder drei Jahre +danach einen seiner Meuchelmörder zu schicken, um den +Beleidiger zu töten.</p> + +<p>Die einzige tugendhafte Handlung, die er während +seines langen Lebens vollbracht hat, bestand darin, im +Hofe seines ausgedehnten Palastes am Tiber, eine dem +heiligen Thomas geweihte Kirche zu erbauen, und auch +zu dieser schönen Handlung wurde er nur durch den +seltsamen Wunsch getrieben, die Gräber aller seiner +Kinder vor Augen zu haben, welche er ausnehmend und +in ganz unnatürlicher Weise haßte, schon seit ihrer zartesten +Kindheit nämlich, wo sie ihn noch in keiner Weise +beleidigt haben konnten.</p> + +<p>„Dorthin will ich sie alle bringen“, sagte er mit einem +bittern Lächeln zu den Arbeitern, die er beim Bau seiner +Kirche beschäftigte. Er schickte die drei älteren, Giacomo, +Cristofo und Rocco zum Studium auf die Universität +Salamanca in Spanien. Als sie erst dort in diesem +fernen Land waren, machte es ihm ein boshaftes Vergnügen, +ihnen gar kein Geld zukommen zu lassen, so +daß diese unglücklichen jungen Leute, nach zahlreichen +Briefen an ihren Vater, die alle unbeantwortet blieben, +zu der elenden Notwendigkeit gezwungen waren, kleine +Geldbeträge auszuborgen, um in ihre Heimat zurückzukehren, +oder sich längs des Weges durchzubetteln.</p> + +<p>In Rom fanden sie ihren Vater strenger, härter und +rauher als je: trotz seines unendlichen Reichtums wollte +er sie weder kleiden, noch ihnen das zum einfachsten +<a id="page-77"></a><span class="pgnum">77</span>Leben nötige Geld geben. Diese Unglücklichen waren +gezwungen, den Papst um Hilfe zu bitten, welcher Francesco +Cenci dazu zwang, ihnen eine kleine Rente auszusetzen. +Mit dieser sehr geringen Unterstützung trennten +sie sich von ihm.</p> + +<p>Bald nachher wurde Francesco zum dritten und +letztenmal wegen seiner infamen Liebessachen ins Gefängnis +gebracht, worauf die drei Brüder eine Audienz +bei unserm zur Zeit herrschenden heiligen Vater dem +Papst erwirkten, und ihn gemeinsam baten, ihren Vater +Francesco Cenci sterben zu lassen, der, wie sie sagten, +ihr Haus entehre. Clemens VIII. hatte große Lust dazu, +aber er wollte seiner ersten Eingebung nicht nachgeben, +um diese entarteten Kinder nicht zufriedenzustellen, und +jagte sie schmählich aus seiner Gegenwart.</p> + +<p>Der Vater befreite sich aus dem Gefängnis, wie wir +schon früher erzählten, indem er denen, die ihm helfen +konnten, große Summen Geldes gab. Man begreift, daß +der sonderbare Schritt seiner drei ältesten Söhne den +Haß, den er gegen seine Kinder hatte, noch verstärkte. +Er verfluchte sie jeden Augenblick, die großen wie die +kleinen, und alle Tage überhäufte er seine beiden jungen +Töchter, die mit ihm im Palast wohnten, mit Stockschlägen.</p> + +<p>Die Ältere gab sich so lange Mühe, bis es ihr trotz +strenger Überwachung gelang, dem Papst eine Bittschrift +zukommen zu lassen; sie beschwor darin Seine Heiligkeit, +sie zu verheiraten oder sie in einem Kloster unterzubringen. +Clemens VIII. hatte Mitleid mit ihrem Unglück, +er verheiratete sie mit Carlo Gabrielli, aus der +vornehmsten Familie von Gubbio; Seine Heiligkeit verpflichtete +auch den Vater, ihr eine große Mitgift zu +geben. +</p> + +<p><a id="page-78"></a><span class="pgnum">78</span>Nach diesem unvorhergesehenen Schlag geriet Francesco +Cenci in furchtbare Wut, und um zu verhindern, +daß Beatrice, wenn sie größer wurde, auf den Einfall +käme, dem Beispiel ihrer Schwester zu folgen, sperrte +er sie im Innern des Palastes ein; dort war es niemand +erlaubt, Beatrice zu sehen, die damals kaum vierzehn Jahr +alt war und schon im vollen Glanz einer entzückenden +Schönheit stand. Sie war so fröhlich, so unschuldig +und hatte ein so heiteres Gemüt, wie ich das noch bei +niemand andrem gesehen habe. Francesco Cenci brachte +ihr selbst das Essen. Es ist wahrscheinlich, daß der Unmensch +sich damals in sie verliebte oder wenigstens +Verliebtheit heuchelte, um seine unglückliche Tochter +noch mehr zu quälen. Er sprach oft zu ihr von dem +schändlichen Streich, den ihm ihre ältere Schwester gespielt +habe, und brachte sich durch den Klang seiner +eigenen Worte so in Zorn, daß er Beatrice mit Schlägen +überschüttete.</p> + +<p>Mittlerweile wurde sein Sohn Rocco Cenci von einem +Fleischhauer umgebracht und Cristofo Cenci wurde im +Jahre darauf von Paolo Corso de Massa getötet. Bei +dieser Gelegenheit zeigte sich seine schwarze Gottlosigkeit, +denn beim Leichenbegängnis seiner beiden Söhne +wollte er nicht einmal einen bajocco für Wachskerzen +ausgeben. Als er das Schicksal seines Sohnes Cristofo +erfuhr, rief er aus: er könne erst ein wenig Freude genießen, +wenn alle seine Kinder begraben seien und er +wolle beim Tode des Letzten zum Wahrzeichen des +Glücks seinen Palast anzünden. Rom war über diesen +Ausspruch verwundert, doch hielt man bei einem Mann, +der seinen Ehrgeiz darin suchte, die ganze Welt und +selbst den Papst herauszufordern, alles für möglich.</p> + +<p>Hier nun wird es völlig unmöglich, dem römischen +<a id="page-79"></a><span class="pgnum">79</span>Erzähler in dem sehr dunklen Bericht der sonderbaren +Dinge zu folgen, durch welche Francesco Cenci seine +Zeitgenossen zu erstaunen vermochte. Seine Frau und +seine arme Tochter wurden allem Anschein nach die +Opfer seiner abscheulichen Einfälle.</p> + +<p>Als alles dies ihm nicht genug schien, versuchte er +mit Drohungen und mit Anwendung von Gewalt seine +eigne Tochter Beatrice, die schon groß und schön war, +zu schänden. Er schämte sich nicht, sich nackt in ihr +Bett zu legen. Er ging ganz unbekleidet mit ihr in den +Sälen seines Palastes umher, dann nahm er sie ins Bett +seiner Frau; damit die arme Lucrezia beim Schein der +Lampe sehen könne, was er mit Beatrice treibe.</p> + +<p>Er redete dem armen Mädchen eine gräßliche Ketzerei +ein, die ich kaum wiederzugeben wage, nämlich: wenn +ein Vater seine eigne Tochter umarme, würden die Kinder, +die daraus geboren werden, Heilige; ja, daß alle von +der Kirche verehrten großen Heiligen solcherart zur +Welt gebracht worden seien, sodaß ihr Großvater mütterlicherseits +zugleich ihr Vater war.</p> + +<p>Wenn Beatrice seinen abscheulichen Wünschen widerstand, +überfiel er sie mit den grausamsten Schlägen, so +daß dieses arme Mädchen solch unglückliches Leben +nicht länger aushalten konnte und den Einfall hatte, dem +Beispiel, das ihre Schwester ihr gegeben hatte, zu folgen. +Sie richtete eine sehr eingehende Bittschrift an unsern +Heiligen Vater, den Papst, aber es ist anzunehmen, daß +Francesco Cenci Maßnahmen getroffen hatte, denn es +scheint, daß diese Schrift nie in die Hände Seiner Heiligkeit +gelangt ist; wenigstens war es unmöglich, sie im +Sekretariat der Memoriali aufzufinden, als Beatrice im +Gefängnis war und ihr Verteidiger das Schriftstück +dringend suchte; es hätte wohl in irgendeiner Weise die +<a id="page-80"></a><span class="pgnum">80</span>unerhörten Ausschweifungen im Schloß von Petrella bezeugen +können. Wäre es nicht für jedermann augenscheinlich +gewesen, daß Beatrice Cenci sich im Fall der +berechtigten Notwehr befunden hatte? Dies Memoriale +sprach auch im Namen Lucrezias, der Stiefmutter Beatrices.</p> + +<p>Francesco Cenci kam dieser Versuch zur Kenntnis und +man kann sich denken, mit welcher Wut er die schlechte +Behandlung der beiden unglücklichen Frauen verdoppelte.</p> + +<p>Das Leben wurde ihnen gradezu unerträglich, und +damals war es — da sie wohl sahen, daß sie von der +Gerechtigkeit des Papstes nichts erhoffen konnten, denn +die Höflinge waren durch die reichen Geschenke Francescos +gewonnen — daß ihnen der Gedanke kam, zum +äußersten Mittel zu greifen, das sie ins Verderben gebracht +hat, aber das wenigstens den Vorteil hatte, ihre +Leiden in dieser Welt zu beenden.</p> + +<p>Man muß wissen, daß der berühmte Monsignore +Guerra oft in den Palast der Cenci ging; er war hoch +gewachsen und ein sehr schöner Mann und hatte die +eigene Gabe vom Schicksal erhalten, daß er alles, was +er tun wollte, mit einer ganz besondern Anmut vollbrachte. +Man hat vermutet, daß er Beatrice liebte und +die Absicht hatte, die Mantellata zu lassen, um Beatrice +zu heiraten; aber obgleich er mit äußerster Sorgfalt seine +Gefühle zu verbergen suchte, wurde er von Francesco +Cenci verabscheut, der ihm vorwarf, mit seinen Kindern +gemeinsames Spiel zu machen. Sobald Monsignore +Guerra erfuhr, daß Signore Cenci von seinem Palast abwesend +sei, stieg er in die Gemächer der Damen, verbrachte +mehrere Stunden der Unterhaltung mit ihnen +und hörte ihre Klagen über die unglaubliche Behandlung +<a id="page-81"></a><span class="pgnum">81</span>an, der alle beide ausgesetzt waren. Es scheint, daß +Beatrice als erste wagte, dem Monsignore Guerra von +dem Plan, den sie gefaßt hatten, zu sprechen. Mit der +Zeit gewannen sie ihn dafür und auf Beatrices lebhaftes +und wiederholtes Drängen willigte er ein, diesen +Plan Giacomo Cenci mitzuteilen, ohne dessen Zustimmung +man nichts unternehmen konnte, da er der +älteste Bruder und nach Francesco das Haupt der Familie +war.</p> + +<p>Es gelang außerordentlich leicht, ihn in die Verschwörung +zu ziehen: er wurde von seinem Vater äußerst +schlecht behandelt und bekam nicht die geringste Unterstützung, +was ihm um so empfindlicher erschien, als +er verheiratet und Vater von sechs Kindern war. Man +wählte für die Zusammenkünfte, wo man beriet, wie +man Francesco Cenci ermorden könnte, die Wohnung +des Monsignore Guerra. Die Sache ging in angemessenen +Formen vor sich, und man holte bei jeder Einzelheit +die Meinung der Stiefmutter und des jungen Mädchens +ein. Als endlich eine Entscheidung getroffen war, wählte +man Untergebene Francesco Cencis, die ihn tödlich +haßten. Der eine hieß Marzio, war ein Mann von +Herz und den unglücklichen Kindern Francescos sehr +anhänglich; er willigte ein, an dem Vatermord teilzunehmen, +um sich ihnen angenehm zu machen. Olimpio, +der zweite, war vom Fürsten Colonna zum Kastellan +der Festung La Petrella im Königreich Neapel ernannt +worden, aber durch seinen allmächtigen Einfluß auf +den Fürsten hatte ihn Francesco Cenci davonjagen lassen.</p> + +<p>Man verabredete alles mit den beiden Männern. Da +Francesco Cenci angekündigt hatte, daß er, um der +schlechten Luft in Rom zu entgehen, den folgenden +Sommer auf dem Kastell La Petrella verbringen würde, +<a id="page-82"></a><span class="pgnum">82</span>war man auf den Gedanken gekommen, ein Dutzend +neapolitanischer Banditen anzuwerben; Olimpio erbot +sich, sie herbeizuschaffen. Man entschied sich dafür, +sie in den Wäldern um La Petrella zu verbergen, damit +man sie unverzüglich benachrichtigen könne; wenn +Francesco Cenci sich auf den Weg mache, sollten sie +ihn dann von der Straße weg entführen und seiner Familie +Botschaft schicken, daß sie ihn gegen ein hohes +Lösegeld frei lassen würden. Dann würden die Kinder +genötigt sein, nach Rom zurückzukehren, um die von +den Briganten geforderte Summe zustande zu bringen; +sie sollten aber vorgeben, sie nicht in solcher Schnelligkeit +aufbringen zu können und die Briganten würden, +wenn sie kein Geld anlangen sähen, ihrer Drohung gemäß +Francesco Cenci ermorden.</p> + +<p>Auf diese Weise sollte niemand die wirklichen Urheber +dieses Todes verdächtigen können.</p> + +<p>Aber als Francesco Cenci Anfang des Sommers von +Rom nach Petrella reiste, benachrichtigte der Spion, der +die Abreise melden sollte, zu spät die in den Wäldern +verstreuten Banditen, und sie hatten nicht mehr Zeit, +zur Landstraße hinunterzugelangen. Cenci kam ohne +Hindernis nach Petrella, und die Briganten, die keine +Lust hatten, noch länger auf eine zweifelhafte Beute +zu warten, gingen nun anderswo auf eigne Rechnung +zu rauben aus.</p> + +<p>Was den vorsichtigen und argwöhnischen alten Francesco +Cenci betraf, so wagte er sich niemals aus seinem +Kastell heraus. Und weil sich seine schlechte Laune mit +den zunehmenden Altersgebrechen, die ihm unerträglich +waren, steigerte, verdoppelte er die grausame Behandlung, +die er die armen Frauen erdulden ließ. Er behauptete, +daß sie sich über seine Gebrechlichkeit freuten. +</p> + +<p><a id="page-83"></a><span class="pgnum">83</span>Beatrice, welche durch die schrecklichen Dinge, die +sie erleiden mußte, zum Äußersten getrieben wurde, +ließ Marzio und Olimpio an die Mauer des Kastells +rufen. Nachts, während ihr Vater schlief, sprach +sie aus einem niedrigen Fenster mit ihnen und warf +ihnen Briefe zu, die an Monsignore Guerra gerichtet +waren. Mittels dieser Briefe wurde verabredet, +daß Monsignore Guerra tausend Piaster an Marzio und +Olimpio versprechen sollte, wenn sie Francesco Cenci +ermorden würden. Ein Drittel der Summe sollte ihnen +in Rom durch Monsignore Guerra im voraus gezahlt +werden, und die beiden andern Drittel von Lucrezia +und Beatrice, sobald sie nach vollbrachter Tat über +Cencis Geldschrank verfügen könnten.</p> + +<p>Außerdem wurde noch vereinbart, daß die Sache am +Tage Mariä Geburt geschehen solle, und die beiden +Männer wurden durch List in die Festung eingelassen. +Aber Lucrezia ließ sich durch den Respekt, den man +einem Fest der Madonna schuldet, zurückhalten und bestimmte +Beatrice, den Mord einen Tag hinauszuschieben, +um nicht eine doppelte Sünde zu begehen.</p> + +<p>Es war also am 9. September 1598 abends; Mutter +und Tochter hatten mit großem Geschick Francesco +Cenci Mohnsaft gegeben und dieser Mann, der so schwer +zu täuschen war, fiel in tiefen Schlaf.</p> + +<p>Gegen Mitternacht ließ Beatrice selbst Marzio und +Olimpio in die Festung ein; darauf führten sie Lucrezia +und Beatrice in das Zimmer des alten Mannes, +welcher fest schlief. Dort verließ man sie, damit sie das +vollbringen sollten, was ausgemacht war, und die beiden +Frauen warteten im Nebenzimmer. Plötzlich sahen sie +die zwei Männer bleich und ganz außer sich zurückkommen. +</p> + +<p><a id="page-84"></a><span class="pgnum">84</span>„Was gibt es?“ riefen die Frauen. „Daß es eine +Schande und Schmach ist, einen armen schlafenden +Greis zu töten!“ antworteten die Männer. „Das Mitleid +hat uns gehindert zu handeln.“</p> + +<p>Als sie diese Entschuldigung hörte, wurde Beatrice von +Empörung ergriffen und begann sie zu beschimpfen, +indem sie sagte: „Also Ihr Männer, die Ihr für solche +Tat wohl vorbereitet seid, habt nicht den Mut, einen +schlafenden Mann zu töten! Wie viel weniger würdet +Ihr wagen, ihm ins Gesicht zu sehen, wenn er wach +ist! Und, um es so zu Ende zu führen, habt Ihr gewagt, +Geld zu nehmen! Nun wohl, da Eure Feigheit +es will, werde ich selbst meinen Vater töten; +und was Euch betrifft, sollt Ihr dann nicht mehr +lange leben!“</p> + +<p>Durch diese wenigen zündenden Worte wieder angefeuert +und auch, weil sie eine Verminderung des festgesetzten +Preises fürchteten, traten die Männer von +neuem ins Zimmer ein und die Frauen folgten ihnen. +Der eine nahm einen großen Nagel, setzte ihn senkrecht +aufs Auge des schlafenden Alten, der andere trieb diesen +Nagel mit einem Hammer in den Kopf. In der gleichen +Weise ließ man einen großen Nagel in den Hals eindringen, +so daß diese arme, von so vielen frischen +Sünden belastete Seele vom Teufel geholt wurde; der +Körper sträubte sich, allein vergeblich.</p> + +<p>Als die Sache abgetan war, gab das junge Mädchen +Olimpio eine dicke goldgefüllte Börse, Marzio gab sie +einen Tuchmantel ihres Vaters, der mit goldener Tresse +besetzt war und schickte die beiden fort.</p> + +<p>Als die Frauen allein geblieben waren, begannen sie +den großen in den Kopf gedrungenen Nagel, sowie den +im Halse zu entfernen; dann schleiften sie den Körper, +<a id="page-85"></a><span class="pgnum">85</span>nachdem sie ihn in ein Leintuch eingewickelt hatten, +durch eine lange Reihe von Zimmern bis zu einer +Galerie, die auf einen verödeten Garten führte. Von +dort warfen sie den Körper auf einen großen Holunderbaum, +der an diesem einsamen Ort wuchs, hinab. Da +am Ende dieser kleinen Galerie die Abtritte lagen, +hofften sie, wenn man am nächsten Morgen den Körper +des Alten in den Ästen des Holunders finden würde, +auf die Vermutung, er sei am Wege zum Abtritt ausgeglitten +und hinuntergestürzt.</p> + +<p>Es geschah genau so, wie sie es vorausgesehen hatten. +Am Morgen, als man den Leichnam fand, erhob sich +großer Lärm in dem Kastell; die Frauen selber verabsäumten +nicht, laut zu schluchzen und über den unglücklichen +Tod des Vaters und Gatten zu klagen. Allein, wenn +die junge Beatrice auch den Mut der beleidigten Tugend +besaß, die nötige Klugheit für das Leben hatte sie noch +nicht: schon am frühen Morgen hatte sie der Frau, +die in der Festung die Wäsche besorgte, ein blutbeflecktes +Leintuch gegeben, wobei sie ihr sagte, sie +möge sich nicht über eine solche Menge Blut wundern, +denn sie habe während der ganzen Nacht an großem +Blutverlust gelitten, und so ging für den Augenblick +alles gut.</p> + +<p>Man gab Francesco Cenci ein ehrenvolles Begräbnis, +und die Frauen kehrten nach Rom zurück, um die +langersehnte Ruhe zu genießen. Sie glaubten an die +Dauer ihres Glückes, weil sie nicht wußten, was in +Neapel vor sich ging.</p> + +<p>Die Gerechtigkeit Gottes, der nicht wollte, daß ein +so fürchterlicher Vatermord unbestraft bleibe, veranlaßte, +daß der oberste Richter, als man in dieser Hauptstadt +erfuhr, was im Kastell Petrella vor sich gegangen +<a id="page-86"></a><span class="pgnum">86</span>war, sofort Mißtrauen empfand und einen königlichen +Kommissär sandte, um den Leichnam zu untersuchen +und alle verdächtigen Personen festzunehmen.</p> + +<p>Der königliche Kommissär ließ alle, die in der +Festung wohnten, verhaften. Alle diese wurden in Ketten +nach Neapel geführt, aber nichts erschien in ihren +Aussagen verdächtig, außer, daß die Wäscherin aussagte, +sie hätte von Beatrice ein blutiges Tuch oder +deren mehrere erhalten. Man fragte sie, ob Beatrice eine +Erklärung für die großen Blutflecken gegeben habe; sie +antwortete, daß Beatrice von einem natürlichen Unwohlsein +gesprochen habe. Man fragte sie dann, ob so große +Flecken von einem solchen Unwohlsein herrühren +konnten; sie meinte, nein, weil die Flecken auf dem +Tuch von einem zu lebhaften Rot waren.</p> + +<p>Man schickte diese Aussage sofort an die Justizbehörde +in Rom, aber trotzdem vergingen mehrere Monate, +bevor man bei uns daran dachte, die Kinder des +Francesco Cenci verhaften zu lassen. Lucrezia, Beatrice +und Giacomo hätten sich tausendmal in Sicherheit +bringen können, sei es, daß sie unter dem Vorwand +einer Pilgerfahrt nach Florenz gingen, sei es, daß sie +sich nach Civita Vecchia einschifften; aber Gott versagte +ihnen diese rettende Eingebung.</p> + +<p>Monsignor Guerra hatte von den Vorgängen in +Neapel Mitteilung erhalten und rüstete sofort Leute aus, +die er beauftragte, Marzio und Olimpio zu töten; aber +nur Olimpio konnte in Terni ermordet werden. Die neapolitanische +Justiz hatte Marzio verhaften lassen, der +nach Neapel geführt wurde, wo er sofort alles gestand.</p> + +<p>Diese schreckliche Aussage wurde gleich der Justiz +in Rom geschickt, welche nun beschloß, Giacomo und +Bernardo, die beiden einzigen überlebenden Söhne Francescos, +<a id="page-87"></a><span class="pgnum">87</span>wie auch seine Witwe Lucrezia verhaften und +in das Gefängnis von Corte Savella bringen zu lassen. +Beatrice wurde im Palast ihres Vaters von einem großen +Trupp Sbirren bewacht. Marzio wurde aus Neapel +herbeigeschafft und auch in das Gefängnis Savella gebracht; +dort stellte man ihn den beiden Frauen gegenüber, +die mit Standhaftigkeit leugneten; besonders Beatrice +wollte durchaus nicht den Mantel mit den Tressen +wiedererkennen, den sie Marzio gegeben hatte. Dieser +Brigant war plötzlich voller Enthusiasmus für die bewundernswürdige +Schönheit und die erstaunliche Beredsamkeit, +mit der das junge Mädchen dem Richter +antwortete, und leugnete alles, was er in Neapel gestanden +hatte. Man folterte ihn, aber er gestand nichts +und zog vor, in Qualen zu sterben: eine gerechte Huldigung +der Schönheit Beatrices.</p> + +<p>Nach dem Tode dieses Mannes und da die Rolle des +Mantels nicht erwiesen war, fanden die Richter keine +hinreichenden Gründe, um die beiden Söhne Cenci oder +die beiden Frauen auf die Folter zu legen. Man führte +sie alle vier auf das Kastell St. Angelo, wo sie mehrere +Monate ganz ruhig verlebten.</p> + +<p>Alles schien beendet und niemand in Rom zweifelte +daran, daß dieses schöne, mutige Mädchen, das so lebhafte +Teilnahme erregt hatte, bald in Freiheit gesetzt +würde, als unglücklicherweise die Justiz den Briganten +festnehmen konnte, der Olimpio in Terni getötet hatte; +nach Rom überführt, gestand dieser Mann alles.</p> + +<p>Monsignor Guerra, der durch das Geständnis des Briganten +so seltsam kompromittiert war, wurde geladen, +ohne Verzug vor Gericht zu erscheinen; das Gefängnis +und vielleicht der Tod waren ihm sicher. Aber dieser +bewundernswerte Mann, dem vom Geschick verliehen +<a id="page-88"></a><span class="pgnum">88</span>war, alles gut zu machen, gelang es, sich in einer Weise +zu retten, die ans Wunder grenzt. Er galt für den +schönsten Mann am päpstlichen Hof und war in Rom +zu bekannt, als daß er hoffen konnte, sich zu retten; +übrigens hielt man gute Wacht an den Toren und wahrscheinlich +stand auch vom Augenblick der Vorladung +an sein Haus unter Aufsicht. Man muß wissen, daß +er sehr groß war, von weißester Hautfarbe, einen +schönen blonden Bart hatte und wundervolles Haar von +der gleichen Farbe.</p> + +<p>Mit unerklärlicher Geschwindigkeit wußte er einen +Kohlenhändler zu gewinnen, nahm seine Kleider, ließ +sich Haar und Bart rasieren, färbte sich das Gesicht, +kaufte zwei Esel und zog hinkend durch die Straßen +Roms, um seine Kohlen zu verkaufen. Er nahm in bewunderungswürdiger +Weise ein ungeschliffenes und +stumpfsinniges Benehmen an und lief überall, den +Mund voll Brot und Zwiebeln, herum, seine Kohlen ausschreiend, +während hunderte von Sbirren ihn nicht nur +in Rom, sondern auch auf den Landstraßen suchten. +Endlich, als seine Erscheinung der Mehrzahl der Sbirren +wohl bekannt war, wagte er sich aus Rom hinaus, seine +zwei mit Kohlen beladenen Esel immer vor sich hertreibend. +Er begegnete mehreren Abteilungen Sbirren, +welche nicht daran dachten, ihn anzuhalten. Seither hat +man nur noch einen Brief von ihm erhalten; seine +Mutter hat ihm Geld nach Marseille geschickt, und man +vermutet, daß er als Soldat in Frankreich den Krieg +mitmacht.</p> + +<p>Das Geständnis des Mörders von Terni und diese +Flucht des Monsignor Guerra, die in Rom erstaunliches +Aufsehen machte, mehrten den Verdacht und die Indizien +gegen die Cenci in solcher Weise, daß sie aus +<a id="page-89"></a><span class="pgnum">89</span>dem Kastell St. Angelo fortgeschafft und wieder ins +Gefängnis Savella gebracht wurden.</p> + +<p>Als die beiden Brüder auf die Folter gespannt +wurden, waren sie weit davon entfernt, der Seelengröße +des Briganten nachzueifern; sie waren so kleinmütig, +daß sie alles gestanden. Signora Lucrezia Petroni war +so an die Weichheit und an die Annehmlichkeiten des +großen Luxus gewöhnt und außerdem war sie so dick, +daß sie die Tortur des Seils nicht ausgehalten hätte; +sie sagte alles aus, was sie wußte. Aber nicht war es +so mit der jungen, lebhaften und mutigen Beatrice +Cenci. Weder gute Worte noch Drohungen des Richters +Moscati erreichten etwas bei ihr. Sie ertrug die Torturen +des Seils ohne ein Zeichen der Aufregung und +mit vollendetem Mut. Niemals konnte sie der Richter +zu einer Antwort bringen, die sie auch nur im mindesten +kompromittierte, und weit mehr noch: es gelang +ihr durch ihre geistvolle Lebendigkeit, den berühmten +Richter Ulysse Moscati gänzlich in Verwirrung zu +bringen. Er war dermaßen erstaunt über die Art +dieses jungen Mädchens, daß er es für Pflicht hielt, +Seiner Heiligkeit dem glücklich regierenden Papst Clemens +VIII. davon Bericht zu erstatten.</p> + +<p>Seine Heiligkeit wollte die Akten des Prozesses selbst +einsehen. Er befürchtete, daß der durch seine profunde +Wissenschaft wie durch den überragenden Scharfsinn +seines Geistes so berühmte junge Ulysse Moscati von +der Schönheit Beatrices getroffen worden sei und sie +bei den Vernehmungen schone. Daraus folgte, daß Seine +Heiligkeit ihn von der Leitung dieses Prozesses enthob +und diesen einem anderen strengeren Richter gab. Wirklich +hatte dieser Barbar den Mut, ohne Mitleid einen +so schönen Körper ad torturam capillorum zu martern, +<a id="page-90"></a><span class="pgnum">90</span>d.h. man folterte Beatrice Cenci, indem man sie an +den Haaren aufhing.</p> + +<p>Während sie am Seil hochgezogen war, ließ dieser +neue Richter ihre Stiefmutter und ihre Brüder vor Beatrice +erscheinen. Sobald Giacomo und Signora Lucrezia +sie so sahen, riefen sie ihr zu:</p> + +<p>„Die Sünde ist begangen, man muß nun die Buße +auf sich nehmen und sich nicht den Körper mit zweckloser +Hartnäckigkeit zerreißen lassen.“</p> + +<p>„Also Ihr wollt unser Haus mit Schande bedecken“, +antwortete das junge Mädchen, „und in Schmach +sterben? Ihr befindet Euch in einem großen Irrtum; +aber da Ihr es wünscht, sei es.“</p> + +<p>Und sich zu den Sbirren wendend, fuhr sie fort: +„Bindet mich los, und man lese mir die Aussage meiner +Mutter vor; ich werde dem zustimmen, dem zugestimmt +werden muß und das leugnen, was geleugnet +werden muß.“</p> + +<p>So geschah es; sie gestand die ganze Wahrheit. Sofort +nahm man allen die Ketten ab und weil es fünf +Monate war, seit sie die Brüder nicht gesehen hatte, +wollte sie mit ihnen speisen; sie verbrachten alle vier +einen sehr heiteren Tag.</p> + +<p>Aber am folgenden Tag wurden sie von neuem getrennt; +die beiden Brüder wurden in das Gefängnis von +Tordinona geführt und die beiden Frauen blieben im +Gefängnis Savella. Unser Heiliger Vater, der Papst, der +den authentischen Akt mit den Geständnissen aller gesehen +hatte, befahl, daß sie ohne Aufschub an den +Schweif ungezähmter Pferde gebunden und so zu Tode +geschleift werden sollten.</p> + +<p>Ganz Rom erschauerte, als es diese strenge Entscheidung +erfuhr. Viele Kardinäle und Fürsten warfen sich +<a id="page-91"></a><span class="pgnum">91</span>dem Papst zu Füßen, indem sie ihn anflehten, den +Unglücklichen zu erlauben, ihre Verteidigungsschrift +einzureichen.</p> + +<p>„Und sie, haben sie ihrem alten Vater Zeit gegeben, +die seine zu überreichen?“ antwortete unwillig der Papst.</p> + +<p>Schließlich genehmigte er aus besonderer Gnade +einen Aufschub von fünfundzwanzig Tagen. Sogleich +begannen die ersten Advokaten Roms in dieser Sache, +welche die ganze Stadt mit Aufregung und Mitleid erfüllt +hatte, zu schreiben. Am fünfundzwanzigsten Tag +erschienen sie alle zusammen vor Seiner Heiligkeit. Nicolo +d'Angelis sprach als erster; aber er hatte kaum +zwei Zeilen seiner Verteidigungsschrift gelesen, als Clemens +VIII. ihn unterbrach:</p> + +<p>„Also, es finden sich in Rom Menschen, die ihren +Vater ermorden und danach Advokaten, welche diese +Menschen verteidigen!“ Alle schwiegen, als Farinacci +wagte, das Wort zu ergreifen.</p> + +<p>„Heiligster Vater,“ sagte er, „wir sind nicht hier, um +das Verbrechen zu verteidigen, sondern um zu beweisen, +wenn wir es können, daß einer oder mehrere dieser +Menschen am Verbrechen unschuldig sind.“</p> + +<p>Der Papst gab ihm das Zeichen, zu sprechen, und +er sprach drei lange Stunden; danach nahm der Papst +alle ihre Schriftstücke an sich und schickte sie fort. +Als sie gingen, war Altiere der Letzte; er hatte Furcht, +sich kompromittiert zu haben und warf sich vor dem +Papst auf die Knie, indem er sagte:</p> + +<p>„Es blieb mir nichts übrig, als in dieser Sache zu +erscheinen, denn ich bin Anwalt der Armen.“</p> + +<p>Worauf der Papst antwortete:</p> + +<p>„Wir wundern uns nicht über Euch, sondern über +die anderen.“ +</p> + +<p><a id="page-92"></a><span class="pgnum">92</span>Der Papst wollte sich nicht niederlegen, sondern verbrachte +die ganze Nacht damit, die Verteidigungsschriften +der Advokaten zu lesen; er ließ sich bei dieser Arbeit von +dem Kardinal von San Marcello helfen. Seine Heiligkeit +schien dermaßen gerührt, daß man etwas Hoffnung für +das Leben dieser Unglücklichen schöpfen konnte. Um die +Söhne zu retten, suchten die Advokaten die ganze Schuld +auf Beatrice zu wälzen. Da im Prozeß bewiesen worden +war, daß ihr Vater mehrmals in einer verbrecherischen +Absicht Gewalt angewendet hatte, hofften die Advokaten, +daß ihr der Mord vergeben würde, da sie sich +im Zustand der berechtigten Notwehr befand; und wenn +es so geschah, daß dem Haupturheber des Verbrechens +das Leben geschenkt wurde, wie wäre es möglich, ihre +Brüder, die durch sie verleitet waren, mit dem Tode +zu bestrafen?</p> + +<p>Nach dieser in seinen Pflichten als Richter verbrachten +Nacht, befahl Clemens VIII., daß die Angeklagten +ins Gefängnis zurückgeführt und in geheimer +Haft gehalten würden. Es war erwiesen, daß Beatrice den +Monsignor Guerra liebte, aber niemals die Regeln der +strengsten Tugend überschritten hatte: man konnte ihr +also bei wahrer Gerechtigkeit nicht die Verbrechen eines +Ungeheuers anrechnen und sie strafen, weil sie von +ihrem Verteidigungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Was +hätte man getan, wenn sie eingewilligt hätte? Mußte +es sein, daß die menschliche Rechtsprechung das Mißgeschick +eines so liebenswürdigen, so bemitleidenswerten +und schon so unglücklichen Wesens noch vergrößerte? +Hatte sie nicht nach einem so traurigen Leben, <a class="sic" id="sicA-5" href="#sic-5">daß</a> sie +schon, bevor sie 16 Jahr alt war, mit allen Arten des +Unglücks überhäuft hatte, das Recht auf weniger +schreckliche Tage? Jedermann in Rom schien ihre Verteidigung +<a id="page-93"></a><span class="pgnum">93</span>übernommen zu haben. Wäre ihr nicht verziehen +worden, wenn sie Francesco Cenci erdolcht hätte, +als er zum ersten Mal das Verbrechen versuchte?</p> + +<p>Papst Clemens VIII. war milde und voll Erbarmen. +Wir begannen zu hoffen, er würde, — ein wenig beschämt +über die Grille, die ihn das Beweisverfahren +der Advokaten hatte unterbrechen lassen, — jener verzeihen, +die Gewalt mit Gewalt vergolten hatte, und +wahrhaftig nicht als vorschnelle Erwiderung des Verbrechens, +sondern erst, als man es von neuem an ihr +versuchen wollte. Ganz Rom war in ängstlicher Spannung; +da erhielt der Papst die Nachricht des gewaltsamen +Todes der Marchesa Constanza Santa Croce. Ihr +Sohn Paolo Santa Croce hatte diese sechzig Jahre alte +Dame mit Dolchstichen getötet, weil sie sich nicht verpflichten +wollte, ihn zum Erben aller ihrer Güter einzusetzen. +Der Bericht fügte hinzu, daß Santa Croce +die Flucht ergriffen habe und daß man keine Hoffnung +hätte, ihn festzunehmen. Der Papst erinnerte sich +an den Brudermord der Massini, der vor kurzer Zeit +begangen worden war. Aufs Tiefste betrübt über diese +Häufung von Morden an Nahverwandten, glaubte Seine +Heiligkeit, es sei nicht gestattet, zu verzeihen. Als der +Papst den verhängnisvollen Bericht über Santa Croce +erhielt, befand er sich, es war am 6. September, im +Palast von Monte Cavallo, um am folgenden Tage ganz +in der Nähe der Kirche Santa Maria degli Angeli zu +sein, wo er einen deutschen Kardinal zum Bischof +weihen sollte.</p> + +<p>Am Freitag, zur zweiundzwanzigsten Stunde, das ist +vier Uhr nachmittags, ließ er Ferrante Taverna, den +Gouverneur von Rom, rufen und sagte diesem wörtlich: +„Wir geben die Sache der Cenci an Euch, damit +<a id="page-94"></a><span class="pgnum">94</span>das Recht durch Eure Fürsorge und ohne jeden Aufschub +geschehe.“</p> + +<p>Der Gouverneur kam, sehr bewegt von dem Auftrag, +den er erhalten hatte, in seinen Palast zurück; er fertigte +sogleich das Todesurteil aus und berief die Kongregation, +um über die Art der Vollstreckung zu beraten.</p> + +<p>Samstag früh, am 11. September 1599, begaben sich +die ersten Signori Roms, Mitglieder der Brüderschaft +der Confortatori, in die beiden Gefängnisse, nach Corte +Savella, wo Beatrice und ihre Stiefmutter waren und +nach Tordinona, wo sich Giacomo und Bernardo Cenci +befanden. Während der ganzen Nacht vom Freitag zum +Sonnabend taten die römischen Herren, die erfahren +hatten, was vorging, nichts anderes, als vom Palazzo +Monte Cavalli zu denen der ersten Kardinäle zu eilen, +um wenigstens zu erreichen, daß die Frauen im Innern +des Gefängnisses hingerichtet würden und nicht auf +schmählichem Schafott, und daß man den jungen Bernardo +Cenci begnadigte, da er kaum fünfzehn Jahr +alt und gewiß nicht ins Verbrechen eingeweiht gewesen +sei. Der edle Kardinal Sforza hat sich vor allen in dieser +verhängnisvollen Nacht durch seinen Eifer ausgezeichnet; +aber ein so mächtiger Fürst er auch war, +konnte er doch nichts ausrichten. — Das Verbrechen +von Santa Croce war ein niedriges Verbrechen, es war +wegen des Geldes begangen; doch das Verbrechen Beatrices +war begangen, um die Ehre zu retten.</p> + +<p>Während die mächtigsten Kardinäle so viele unnütze +Schritte taten, hatte unser großer Rechtsgelehrter Farinacci +die Kühnheit, zum Papst vorzudringen und, bei +seiner Heiligkeit angelangt, besaß dieser erstaunliche +Mann die Geschicklichkeit, ihn bei seiner Gewissenhaftigkeit +<a id="page-95"></a><span class="pgnum">95</span>zu packen und schließlich gelang es ihm, +Bernardo Cenci das Leben zu retten.</p> + +<p>Als der Papst dies große Wort aussprach, konnte es +vier Uhr morgens sein (vom Sonnabend, dem 11. September). +Die ganze Nacht war auf dem Platz bei der +Engelsbrücke an den Vorbereitungen dieser grausamen +Tragödie gearbeitet worden. Indessen waren alle notwendigen +Abschriften des Todesurteils erst um fünf +Uhr morgens beendet, so daß man den armen Unglücklichen, +die ruhig schliefen, erst um sechs Uhr früh die +verhängnisvolle Nachricht ankündigen konnte.</p> + +<p>Das junge Mädchen vermochte zuerst nicht einmal +die Kraft zu finden, sich anzukleiden. Sie stieß in einem +fort durchdringende Schreie aus und überließ sich ganz +haltlos der schrecklichsten Verzweiflung. „Wie ist es +möglich, oh! Gott!“ schrie sie, „daß ich so unvorbereitet +sterben muß?“</p> + +<p>Lucrezia dagegen benahm sich ganz gefaßt; erst +kniete sie nieder und betete, dann forderte sie gelassen +ihre Tochter auf, sich mit ihr in die Kapelle zu begeben, +um sich mit ihr auf den großen Übergang vom +Leben zum Tode vorzubereiten.</p> + +<p>Dies Wort gab Beatrice ihre ganze Ruhe wieder; +soviel Maßlosigkeit und Aufwallung sie zuerst gezeigt +hatte, so gefaßt und verständig war sie nun, seit ihre +Stiefmutter ihre große Seele zu sich selbst zurückgerufen +hatte. Von diesem Augenblick an war sie ein +Spiegel der Standhaftigkeit, den ganz Rom bewundert +hat.</p> + +<p>Sie verlangte einen Notar, um ihr Testament zu +machen, was ihr bewilligt wurde. Sie bestimmte, daß +ihr Leichnam nach San Pietro in Montorio gebracht +werde und hinterließ den Nonnen der Wundmale des +<a id="page-96"></a><span class="pgnum">96</span>Heiligen Franziskus 300 000 Francs, welche Summe +dazu dienen sollte, fünfzig arme Mädchen auszustatten. +Dieses Beispiel bewegte auch die Signora Lucrezia dazu, +daß sie ihr Testament machte und die Anordnung traf, +ihren Leichnam nach San Giorgio zu überführen; sie +hinterließ 500 000 Francs Almosen für diese Kirche +und machte noch andere fromme Legate.</p> + +<p>Um acht Uhr beichteten sie, hörten darauf die Messe +und nahmen das Heilige Abendmahl. Aber bevor sie zur +Messe gingen, erwog Beatrice, daß es nicht passend sei, +auf dem Schafott, vor den Augen des ganzen Volks +mit den reichen Gewändern zu erscheinen, die sie trugen. +Sie bestellte zwei Kleider, das eine für sich, das andere +für ihre Mutter. Die Gewänder wurden wie Nonnenkutten +gearbeitet, ohne Aufputz an Brust und Schultern, +nur gefältelt mit weiten Ärmeln. Das Kleid der +Stiefmutter war aus schwarzer Baumwolle, das des +jungen Mädchens aus blauem Taft mit einer dicken +Schnur, welche den Gürtel bildete.</p> + +<p>Als man die Kleider brachte, erhob sich Signora Beatrice, +die auf den Knien lag und sagte der Signora +Lucrezia: „Frau Mutter, die Stunde unsres Leidens +nähert sich, es wird gut sein, daß wir uns bereiten; +legen wir diese neuen Gewänder an und leisten wir uns +zum letztenmal gegenseitig den Dienst, uns <a class="sic" id="sicA-6" href="#sic-6">anzukleiden.</a></p> + +<p>Man hatte auf dem Platz vor der Engelsbrücke ein +Schafott errichtet. Um die dreizehnte Stunde (acht Uhr +morgens) brachte die Brüderschaft der Barmherzigkeit +ihr großes Kruzifix zur Tür des Gefängnisses. Giacomo +Cenci schritt als erster aus dem Kerker; er kniete +fromm auf der Schwelle nieder, betete und küßte die +heiligen Wunden des Gekreuzigten. Ihm folgte sein +junger Bruder Bernardo Cenci, der gleich ihm gebundene +<a id="page-97"></a><span class="pgnum">97</span>Hände und ein kleines Brett vor den Augen +hatte. Die Menge war ungeheuer und es entstand ein +Tumult, weil eine Vase aus einem Fenster fast auf den +Kopf eines der Bußbrüder fiel, der eine brennende +Fackel zur Seite des Banners trug.</p> + +<p>Alles sah auf die beiden Brüder, als unversehens der +Fiskal von Rom hervortrat und sagte: „Signor Bernardo, +unser Heiliger Vater schenkt Euch das Leben, +fügt Euch darein, Eure Verwandten zu begleiten und +bittet Gott um Gnade für sie.“</p> + +<p>Sogleich nahmen ihm seine beiden Begleiter das +kleine Brett fort, das er vor den Augen trug. Der Henker +machte Giacomo Cenci für den Karren bereit und hatte +ihm schon sein Gewand ausgezogen, um ihn mit der +Zange zwicken zu können. Als der Henker zu Bernardo +kam, beglaubigte er die Unterzeichnung der Begnadigung, +band ihn los, nahm ihm die Handschellen +ab und weil er wegen der Marter mit der Zange ohne +Rock war, setzte ihn der Henker auf den Karren und +hüllte ihn in einen prächtigen Tuchmantel mit goldenen +Tressen. Man sagte, daß es der Mantel sei, den Beatrice +nach der Tat in der Festung La Petrella Marcio +gegeben hatte. Die ungeheure Menge in den Straßen an +den Fenstern und auf den Dächern kam plötzlich in +Bewegung; man hörte ein dumpfes, tiefes Murmeln, +man begann weiterzusagen, daß dieses Kind begnadigt +sei.</p> + +<p>Die Psalmgesänge begannen und die Prozession bewegte +sich langsam über die Piazza Navona nach dem +Gefängnis Savella. An der Türe des Gefängnisses angelangt, +hält man an. Die beiden Frauen traten heraus, +verrichteten ihr Gebet zu Füßen des Heiligen Kruzifixes, +und folgten dann zu Fuß, eine hinter der andern, +<a id="page-98"></a><span class="pgnum">98</span>Sie waren so gekleidet, wie schon erzählt worden ist, +und hatten das Haupt mit einem großen Schleier bedeckt, +der fast bis zum Gürtel hing.</p> + +<p>Signora Lucrezia trug, wie es für eine Witwe üblich +war, einen schwarzen Schleier und Pantoffeln aus +schwarzem Samt, ohne Absätze.</p> + +<p>Der Schleier des jungen Mädchens war aus blauem +Taft wie ihr Kleid, sie trug ein silbriges Gewebe um +die Schultern, ein Unterkleid aus violettem Tuch und +Pantoffeln aus weißem Samt, die mit karmesinroten +Schnüren zierlich verschnürt waren. Sie hatte eine eigenartige +Anmut, als sie in diesem Kostüm dahinschritt, +und in aller Augen traten Tränen, als man sie bemerkte, +die langsam in den letzten Reihen der Prozession +dahinschritt.</p> + +<p>Beide Frauen hatten die Hände frei, aber die Arme +am Körper festgebunden, und zwar so, daß jede von +ihnen ein Kruzifix tragen konnte; sie hielten es dicht +an die Augen. Die Ärmel ihrer Kleider waren sehr weit, +so daß man ihre Arme sehen konnte, nach der Sitte +des Landes mit einem an den Handgelenken geschlossenen +Hemd bedeckt.</p> + +<p>Signora Lucrezia, die weniger starken Herzens war, +weinte fast ohne aufzuhören; dagegen zeigte die junge +Beatrice großen Mut; sie richtete den Blick auf jede +der Kirchen, an denen die Prozession vorüberkam, +kniete einen Augenblick nieder und sagte mit fester +Stimme: Adoramus te, Christe!</p> + +<p>Während dieser Zeit wurde der arme Giacomo Cenci +auf seinem Karren mit Zangen gezwickt und zeigte +großen Mut.</p> + +<p>Die Prozession konnte kaum den unteren Teil des +Platzes an der Engelsbrücke überschreiten, so zahlreich +<a id="page-99"></a><span class="pgnum">99</span>waren die Wagen und die Volksmassen. Man führte +sogleich die Frauen in die Kapelle, welche man errichtet +hatte, und brachte auch Giacomo dahin.</p> + +<p>Der junge Bernardo wurde in seinem reichverzierten +Mantel geradenwegs aufs Schafott geführt; da glaubten +alle, daß er sterben solle und daß er nicht begnadigt +worden sei.</p> + +<p>Das arme Kind hatte solche Angst, daß es beim +zweiten Schritt auf dem Schafott ohnmächtig hinfiel. +Man brachte ihn mit frischem Wasser wieder zu sich, +und setzte ihn gegenüber dem Fallbeil nieder.</p> + +<p>Der Henker ging, um Signora Lucrezia zu holen; +ihre Hände waren auf dem Rücken gebunden und sie +hatte nicht mehr den Schleier um die Schultern. Sie +erschien mit dem Banner geleitet auf dem Richtplatz, +den Kopf in den Taftschleier gehüllt; dort befahl sie +ihre Seele Gott und küßte die heiligen Wundmale. Man +sagte ihr, daß sie ihre Pantoffeln auf dem Pflaster +zurücklassen müsse; da sie sehr stark war, machte es +ihr Mühe, aufs Schaffot zu steigen. Als sie oben war +und man ihr den schwarzen Taftschleier fortnahm, war +es ihr sehr schmerzlich, daß man sie mit entblößter +Brust und Schultern sehen sollte; sie blickte an sich +herunter, sah dann das Beil an und hob langsam zum +Zeichen der Ergebung die Schultern; Tränen traten in +ihre Augen, sie sagte: „O mein Gott! … Und Ihr, +meine Brüder, betet für meine Seele.“</p> + +<p>Da sie nicht wußte, wie sie sich zu verhalten habe, +fragte sie Alexander, den ersten Henker danach. Er +sagte, sie solle sich rittlings auf den Balken des +Schafotts setzen. Aber diese Stellung beleidigte ihr +Schamgefühl und sie brauchte viel Zeit dazu. Die +Einzelheiten, die jetzt folgen, sind für ein italienisches +<a id="page-100"></a><span class="pgnum">100</span>Publikum, das alles mit peinlichster Genauigkeit wissen +will, erträglich; aber dem nicht-italienischen Leser möge +genügen, daß die arme Frau durch ihr Schamgefühl +eine Verletzung an der Brust davontrug; der Henker +zeigte das Haupt dem Volke und umhüllte es dann mit +dem schwarzen Taftschleier.</p> + +<p>Während man das Schafott für das junge Mädchen +herrichtete, stürzte ein Gerüst, das von Neugierigen +überfüllt war, ein, und viele Menschen wurden dabei +getötet. So erschienen sie noch früher als Beatrice vor +Gott.</p> + +<p>Als Beatrice das Banner zur Kapelle zurückkehren +sah, um sie zu holen, fragte sie lebhaft:</p> + +<p>„Ist meine Frau Mutter schon tot?“</p> + +<p>Man bejahte und sie warf sich vor dem Kruzifix +auf die Knie und betete mit Inbrunst für ihre Seele. +Dann sprach sie lange mit lauter Stimme zum Kruzifix:</p> + +<p>„Herr, du bist für mich zurückgekehrt, und ich will +Dir aus freiem Willen folgen, denn ich verzweifle nicht +an Deinem Erbarmen für meine unermeßliche Sünde.“</p> + +<p>Sie wiederholte dann noch mehrere Psalmen und Gebete +zum Lobe Gottes. Als endlich der Henker mit +einem Strick vor ihr erschien, sagte sie:</p> + +<p>„Binde diesen Körper, der gestraft werden muß und +erlöse diese Seele, damit sie zur Unsterblichkeit und +zur ewigen Herrlichkeit gelange.“</p> + +<p>Dann erhob sie sich, sprach das Gebet und ließ ihre +Pantoffeln am Fuß der Treppe stehen; auf dem +Schafott schwang sie schnell das Bein über den Balken, +legte den Hals unter das Fallbeil und ordnete alles ganz +allein, um sich nicht von dem Henker berühren zu +lassen. Durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen vermied +sie, dem Publikum Hals und Schultern zu zeigen, +<a id="page-101"></a><span class="pgnum">101</span>als ihr der Taftschleier abgenommen wurde. Es brauchte +lange, bis der Streich gefällt wurde, weil ein Hindernis +eingetreten war. Während dieser Zeit rief sie mit lauter +Stimme Jesus Christus und die Heilige Jungfrau an. +Ein zeitgenössischer Autor erzählt, daß Clemens VIII. +sehr besorgt um das Seelenheil Beatrices war; da er +wußte, daß sie sich unschuldig verurteilt fühlte, +fürchtete er eine Regung des Aufruhrs. Im Augenblick, +als sie ihren Kopf unter das Beil gelegt hatte, gab man +von der Engelsburg, von wo man das Schafott gut sehen +konnte, einen Kanonenschuß ab. Der Papst, der im Gebet +auf Monte Cavallo war, gab, sobald er dies Signal +hörte, dem jungen Mädchen die päpstliche Absolution +major in articulo mortis. Daher der Aufenthalt in +diesem schrecklichen Augenblick, von dem der Chronist +spricht. Der Körper machte im verhängnisvollen Augenblick +eine heftige Bewegung. Der arme Bernardo Cenci, +der immer noch auf dem Schafott saß, fiel von neuem +in Ohnmacht und seine Tröster brauchten eine gute +halbe Stunde, um ihn wiederzubeleben. Dann erschien +Giacomo Cenci auf dem Schafott; aber auch hier muß +man über zu schreckliche Einzelheiten hinweggehen. +Giacomo Cenci wurde mit der Keule zu Tode geschlagen.</p> + +<p>Sofort führte man Bernardo in das Gefängnis zurück, +er hatte starkes Fieber und man ließ ihn zur Ader.</p> + +<p>Was die armen Frauen betrifft, wurde jede in ihren +Sarg gebettet und einige Schritte vom Schafott entfernt +bei der Statue des Heiligen Paulus aufgestellt, +welche die erste auf der rechten Seite der Engelsbrücke +ist. Sie blieben dort bis viereinviertel Uhr nach Mittag. +Um jeden Sarg standen vier brennende Kerzen aus +weißem Wachs. +</p> + +<p><a id="page-102"></a><span class="pgnum">102</span>Dann wurden sie mit dem, was von Giacomo Cenci +noch geblieben war, zum Palast des Konsuls von Florenz +gebracht. Um neuneinviertel Uhr abends wurde der +Leichnam des jungen Mädchens, wieder mit Kleidern +angetan und verschwenderisch mit Blumen bekränzt, +nach San Pietro in Montorio gebracht. Sie war von +hinreißender Schönheit, man konnte glauben, sie +schliefe. Sie wurde vor dem großen Altar mit der Verklärung +Christi des Raffael von Urbino beigesetzt. Sie +wurde von fünfzig großen brennenden Wachskerzen geleitet +und von allen Franziskanermönchen Roms.</p> + +<p>Lucrezia Petroni wurde um zehn Uhr abends nach +der Kirche von San Giorgio überführt. Während dieser +Tragödie war die Volksmenge unzählig; so weit der +Blick schweifen konnte, sah man die Straßen von +Wagen und Menschen, ebenso die Gerüste, die Fenster +und die Dächer von Neugierigen bedeckt. Die Sonne +hatte an diesem Tag eine solche Kraft, daß viele Leute +die Besinnung verloren. Unzählige bekamen Fieber; und +als alles um die neunzehnte Stunde (3/4 2 Uhr) beendet +war und die Massen sich zerstreuten, wurden viele Leute +erdrückt, andere durch Pferde zermalmt. Die Zahl der +Toten war sehr beträchlich.</p> + +<p>Signora Lucrezia Petroni war eher klein als groß +und, obschon fünfzig Jahre alt, sah sie noch sehr gut +aus. Sie hatte sehr schöne Züge, eine kleine Nase, +schwarze Augen, eine sehr weiße Gesichtshaut mit +schönen Farben; sie hatte wenig und kastanienbraunes +Haar.</p> + +<p>Beatrice Cenci, die in Ewigkeit Mitleid erwecken wird, +war gerade sechzehn Jahre alt; sie war klein, hatte eine +leibliche Fülle und Grübchen auf den Wangen, so daß +man, als sie tot, von Blumen bekränzt, dalag, hätte +<a id="page-103"></a><span class="pgnum">103</span>glauben können, daß sie schlafe, ja sogar, daß sie im +Schlafe lache, wie es ihr oft im Leben geschah. Sie +hatte einen kleinen Mund und blondes von selbst gelocktes +Haar. Auf dem Weg zum Tode fiel ihr dies +blonde lockige Haar über die Augen, was ihr einen +besonderen Reiz verlieh und Mitleid erweckte.</p> + +<p>Giacomo Cenci war klein, dick, mit weißer Haut und +schwarzem Bart, er war fast sechsundzwanzig Jahre +alt, als er starb.</p> + +<p>Bernardo Cenci ähnelte völlig seiner Schwester, und +da er die Haare lang wie sie trug, hielten ihn viele Leute, +als er das Schafott bestieg, für Beatrice.</p> + +<p>Die Sonne war so glühend gewesen, daß mehrere Zuschauer +dieser Tragödie noch in der Nacht starben, +unter ihnen Ubaldo Ubaldini, ein selten schöner Jüngling, +der sich bisher immer vollkommener Gesundheit +erfreut hatte. Er war der Bruder des in Rom sehr bekannten +Signor Renzi. So stiegen die Schatten der Cenci +wohlgeleitet hinunter.</p> + +<p>Gestern, am Dienstag, dem 14. September 1599, +machten die Büßer von San Marcello gelegentlich des +Festes des heiligen Kreuzes von ihrem Vorrecht Gebrauch, +um Bernardo Cenci aus seinem Gefängnis zu +befreien, der sich dafür verpflichtete, binnen eines +Jahres 400 000 Francs für die allerheiligste Dreifaltigkeit +von Pontus Sixtus zu stiften.</p> + +<p>Von anderer Hand ist hier hinzugefügt:</p> + +<p>Von ihm stammen Francesco und Bernardo Cenci ab, +die heute noch leben.</p> + +<p>Der berühmte Farinacci, der durch seine Hartnäckigkeit +das Leben des jungen Cenci rettete, hat sein Plaidoyer +veröffentlicht. Er gibt nur einen Auszug aus dem +Plaidoyer Nr. 66, das er Clemens VIII. zu Gunsten der +<a id="page-104"></a><span class="pgnum">104</span>Cenci vortrug. Dies Plaidoyer, in lateinischer Sprache +verfaßt, würde sechs große Seiten ausfüllen, und leider +kann ich es hier nicht unterbringen; es zeichnet die +Art des Denkens von 1599; und es scheint mir sehr +vernünftig. Viele Jahre nach 1599 fügte Farinacci, als +er sein Plaidoyer herausgab, folgende Bemerkung dem +hinzu, was er zu Gunsten der Cenci gesagt hatte: Omnes +fuerunt ultimo supplicio effecti, excepto Bernardo qui +ad triremes cum bonorum confiscatione condemnatus +fuit, ac etiam ad interessendum aliorum morti prout +interfuit.</p> + +<p>Das weitere dieser lateinischen Anmerkung ist +rührend, aber ich vermute, daß der Leser einer so langen +Erzählung schon müde ist. +</p> + + + + +<h2><a id="page-105"></a><span class="pgnum">105</span>ZU VIEL GUNST SCHADET</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-106"></a><span class="pgnum">106</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<p><a id="page-107"></a><span class="pgnum">107</span>In einer Stadt Toskanas, die ich nicht nennen werde, +gab es im Jahre 1589 und gibt es noch heute ein +düsteres und weitläufiges Kloster. Seine schwarzen wohl +fünfzig Fuß hohen Mauern verfinstern ein ganzes +Straßenviertel. Drei Straßen werden von diesen Mauern +begrenzt; an der vierten Seite breitet sich der Garten des +Klosters aus, der bis zum Stadtwall reicht. Diesen Garten +umgibt eine weniger hohe Mauer. Die Abtei, der wir +den Namen Santa Riparata geben wollen, nimmt nur +die Töchter des höchsten Adels auf. Am 20. Oktober +1587 waren alle Glocken des Klosters in Bewegung; +die Kirche war für die Gläubigen offen und mit prachtvollen +Wandteppichen aus rotem mit reichen Goldfransen +verziertem Damast ausgeschlagen. Die fromme +Schwester Virgilia, die Geliebte des neuen Großherzogs +von Toskana, Ferdinand I., war am Abend vorher zur +Äbtissin von Santa Riparata erhoben worden, und der +Bischof der Stadt, von seinem ganzen Klerus gefolgt, +war zur feierlichen Einsetzung gekommen. Die ganze +Stadt war in Aufregung und das Gedränge in den Gassen +um Santa Riparata so groß, daß es unmöglich war, +dort durchzukommen.</p> + +<p>Der Kardinal Fernando Medici, der auf seinen Bruder +Francesco gefolgt war, jedoch ohne deshalb auf den +Kardinalshut Verzicht zu leisten, war sechsunddreißig +Jahre alt und seit fünfundzwanzig Jahren Kardinal; +<a id="page-108"></a><span class="pgnum">108</span>er war im Alter von elf Jahren zu dieser hohen Würde +erwählt worden. Die Regierung Francescos, der heute +noch durch seine Liebe zu Bianca Capello berühmt ist, +war durch alle Torheiten, zu welchen die Vergnügungssucht +einen wenig charakterstarken Fürsten hinreißen +kann, gekennzeichnet. Auch Ferdinand hatte sich einige +Schwächen dieser Art vorzuwerfen. Seine Liebe zu der +Laien-Schwester Virgilia war in ganz Toskana berühmt; +doch besonders durch die Unschuld dieser ihrer Beziehungen +wie man beifügen muß; ebenso wie man sagen +muß, daß der düstere, heftige und leidenschaftliche +Großherzog Francesco das Aufsehen, das seine Liebschaften +erregten, wenig genug beachtete. Im ganzen +Land sprach man nur von der großen Tugend der +Schwester Virgilia. Die Ordensregeln, die sie als Laienschwester +zu erfüllen hatte, erlaubten es ihr, etwa drei +Viertel des Jahres bei der Familie zu verbringen; sie +sah dann täglich den Kardinal Medici, wenn er in Florenz +war. Zwei Dinge setzten diese der Wollust hingegebene +Stadt an dieser Liebschaft eines reichen jungen Fürsten +in Erstaunen, dem durch das Beispiel seines Bruders +alles gestattet war: die junge schüchterne, nichts weniger +als geistvolle Schwester Virgilia war durchaus nicht +hübsch und der junge Kardinal hatte sie nie anders als +in Gegenwart von zwei oder drei alten Damen aus der +edlen Familie Respuccio gesehen, der diese sonderbare +Geliebte eines jungen Prinzen von Geblüt angehörte.</p> + +<p>Großherzog Francesco starb am 19. Oktober 1587 +gegen Abend. Am 20. Oktober noch vor dem Mittag +begaben sich die Adeligen des Hofs und die reichsten +Kaufleute — denn man muß sich erinnern, daß die +Medici ursprünglich Kaufleute gewesen waren; ihre Verwandten +und die einflußreichsten Persönlichkeiten des +<a id="page-109"></a><span class="pgnum">109</span>Hofs trieben noch immer Handel, wodurch diese Höflinge +verhindert wurden, ganz so albern zu sein, wie +ihresgleichen an den anderen zeitgenössischen Höfen — die +ersten Hofherren und die reichsten Kaufleute begaben +sich also am Morgen des 20. Oktober in das bescheidene +Haus der Laienschwester Virgilia, die über diesen +Andrang sehr erstaunt war.</p> + +<p>Der neue Großherzog wollte weise und verständig dem +Glück seiner Untertanen nützlich sein; er wollte vor +allem jede Intrige von seinem Hof verbannen. Zur Macht +gelangt fand er, daß die Leitung des reichsten Frauen-Klosters +seines Staates, das allen vornehmen Töchtern, +die von ihren Eltern dem Glanz der Familie geopfert +wurden, als Zuflucht diente, unbesetzt war; er zögerte +nicht, der Frau, die er liebte, die Äbtissinwürde zu verleihen.</p> + +<p>Das Kloster von Santa Riparata gehörte zum Orden +des heiligen Benedikt, dessen Regeln den Nonnen nicht +gestatten, die Klausur zu verlassen. Zum großen Erstaunen +des guten Volks von Florenz sah der Fürst-Kardinal +die neue Äbtissin nicht mehr, aber in seiner +Herzenszartheit, die von allen Frauen seines Hofs +bemerkt und, wie man wohl sagen kann, allgemein getadelt +wurde, gestattete er sich überhaupt niemals, eine +Frau unter vier Augen zu sehn. Als diese Lebensführung +offenbar war, verfolgte die Dienstbeflissenheit der Höflinge +die Schwester Virgilia bis in ihr Kloster, und sie +glaubten zu bemerken, daß sie trotz ihrer ungewöhnlichen +Bescheidenheit gar nicht unempfindlich gegen diese +Aufmerksamkeit war, der einzigen, die seine außerordentliche +Tugend dem neuen Herrscher gestattete.</p> + +<p>Das Konvent von Santa Riparata mußte oft Angelegenheiten +behandeln, die sehr zarter Natur waren: diese +<a id="page-110"></a><span class="pgnum">110</span>jungen Mädchen aus den reichsten Familien von Florenz +ließen sich nicht aus der so glänzenden Welt verbannen, +aus dieser so reichen Stadt, die damals der Hauptsitz des +europäischen Handels war, ohne einen Teil ihres Herzens +bei dem zurückzulassen, was man sie zu verlassen zwang; +oft erhoben sie laut Einspruch gegen die Ungerechtigkeit +ihrer Eltern; manchmal suchten sie Tröstungen in +der Liebe, und der Haß wie die Rivalität, die im Kloster +herrschten, setzten die vornehme Gesellschaft von Florenz +in Aufregung. Dieser Stand der Dinge war der Grund, +daß die Äbtissin von Santa Riparata häufig genug +Audienzen beim regierenden Großherzog erhielt. Um die +Vorschriften des Heiligen Benedikt so wenig wie möglich +zu übertreten, schickte der Großherzog der Äbtissin +einen seiner Gala-Wagen, in dem zwei ihrer Hofdamen +Platz nahmen, welche die Äbtissin bis in den Audienzsaal +des weitläufigen großherzoglichen Schlosses in der +Via larga, begleiteten. Diese beiden Damen, die Beweise +der Klausur, wie man sie nannte, nahmen auf Lehnsesseln +dicht an der Türe Platz, während die Äbtissin +allein vorschritt, um mit dem Fürsten zu sprechen, der +sie am äußersten Ende des Saales erwartete, so daß die +‚Beweise der Klausur‘ nichts von dem, was während +dieser Audienz gesagt wurde, hören konnten.</p> + +<p>Wieder andre Male begab sich der Fürst in die Kirche +von Santa Riparata, wo man ihm das Chorgitter öffnete, +damit die Äbtissin Seine Hoheit sprechen könne.</p> + +<p>Diese beiden Arten der Audienz paßten dem Großherzog +keineswegs; sie hätten vielleicht einem Gefühl +neue Kraft verleihen können, welches er vermindern +wollte. Indessen ließ eine der Klosterangelegenheiten +delikatester Natur nicht lange auf sich warten: Die +Liebesverhältnisse der Schwester Felizia degli Almieri +<a id="page-111"></a><span class="pgnum">111</span>störten den Frieden. Die Familie degli Almieri war eine +der reichsten und mächtigsten in Florenz. Da zwei von +den drei Brüdern, für deren Eitelkeit man die junge +Felizia geopfert hatte, schon gestorben waren und der +dritte keine Kinder hatte, bildete sich diese Familie ein, +einer Strafe des Himmels ausgesetzt zu sein. Die Mutter +und der überlebende Bruder gaben Felizia, trotz ihres +Gelübdes der Armut, die Güter, deren man sie beraubt +hatte, um der Eitelkeit der Brüder zu frönen, in Form +von Geschenken zurück.</p> + +<p>Das Kloster von Santa Riparata zählte damals dreiundvierzig +Nonnen und jede von ihnen hatte ihre Kammerfrau. +Das waren junge, dem armen Adel entnommene +Mädchen, die an einer zweiten Tafel speisten und jeden +Monat vom Schatzmeister des Klosters einen Scudo für +ihre Auslagen erhielten. Aber nach einem sonderbaren +und für den Frieden des Klosters nicht sehr günstigen +Brauch, konnte man nur bis zum Alter von dreißig +Jahren Kammerfrau bleiben; an diesem Lebensabschnitt +angelangt, verheirateten sich diese Mädchen oder wurden +in Klöster niederen Ranges untergebracht.</p> + +<p>Die sehr vornehmen Damen von Santa Riparata +durften bis zu fünf Kammerfrauen haben und die +Schwester Felizia degli Almieri verlangte deren acht. +Alle jene Damen des Klosters, welche man für galant +hielt, und das waren fünfzehn oder sechzehn, unterstützten +die Forderungen Felizias, während die sechsundzwanzig +andren sich höchst entrüstet darüber zeigten +und davon sprachen, einen Appell an den Fürsten zu +richten.</p> + +<p>Die neue Äbtissin, die gute Schwester Virgilia, hatte +lange nicht genug Geist, um diese ernste Angelegenheit +zu entscheiden; es schien, daß beide Parteien von ihr verlangten, +<a id="page-112"></a><span class="pgnum">112</span>die Sache zur Entscheidung dem Fürsten zu +unterbreiten.</p> + +<p>Schon begannen bei Hof alle Freunde der Familie degli +Almieri zu sagen, wie befremdlich es sei, daß man ein +Mädchen von so hoher Geburt, noch dazu es ehemals so +barbarisch von seiner Familie geopfert, nun wieder verhindern +wolle, von seinem Reichtum Gebrauch zu +machen wie es wünsche, besonders wo dieser Gebrauch +so unschuldig wäre. Von der anderen Seite verfehlten +die Familien der älteren oder weniger begüterten Nonnen +nicht, zu antworten, es sei zum mindesten sonderbar, daß +eine Nonne, die das Gelübde der Armut abgelegt habe, +sich nicht mit fünf Kammerfrauen zufrieden geben +könne.</p> + +<p>Der Großherzog wollte einen Klatsch, der die ganze +Stadt in Aufregung versetzen konnte, kurz beendigen. +Seine Minister drängten ihn, der Äbtissin von Santa +Riparata eine Audienz zu gewähren, und da dieses Mädchen +in seiner himmlischen Tugend und seinem bewundernswürdigem +Charakter seinen ganz in die Dinge des +Himmels vertieften Geist wahrscheinlich nicht zu der +Kleinlichkeit eines so elenden Klatsches herablassen +würde, müßte der Großherzog ihr eine Entschließung +eröffnen, die sie nur auszuführen hätte. ‚Aber wie könnte +ich diese Entschließung fassen,‘ sagte sich der verständige +Fürst, ‚wenn ich doch durchaus nichts von den Gründen +weiß, welche die beiden Parteien geltend machen +können?‘ Übrigens wollte er sich auch nicht die mächtige +Familie degli Almieri ohne hinreichende Gründe zum +Feinde machen.</p> + +<p>Der intime Freund des Fürsten war Graf Buondelmonte, +der ein Jahr jünger als er war. Sie kannten sich +schon von der Wiege her, da sie die gleiche Amme gehabt +<a id="page-113"></a><span class="pgnum">113</span>hatten, eine reiche schöne Bäuerin von Casentino. Graf +Buondelmonte, reich, vornehm und einer der schönsten +Männer der Stadt, war durch die außerordentliche +Gleichgültigkeit und Kälte seines Charakters bekannt. +Er hatte unverzüglich abgelehnt, Premierminister zu +werden, was ihm Großherzog Ferdinand schon am Tage +seiner Ankunft in Florenz angetragen hatte.</p> + +<p>‚Ich an Eurer Stelle, Fürst,‘ hatte ihm der Graf gesagt, +‚würde sogleich abdanken; urteilt also selbst, ob ich der +Minister des Fürsten sein und den Haß der halben Bevölkerung +einer Stadt gegen mich entfesseln möchte, in +der ich mein Leben verbringen will!‘</p> + +<p>Mitten in den Unannehmlichkeiten am Hofe, welche +dem Herzog durch die Mißhelligkeiten im Kloster von +Santa Riparata erwachsen waren, fiel ihm ein, daß er die +Freundschaft des Grafen anrufen könnte. Dieser brachte +sein Leben auf seinen Gütern zu, deren Pflege er mit +viel Aufmerksamkeit leitete. Täglich widmete er der Jagd +oder dem Fischen zwei Stunden, je nach der Jahreszeit. +Niemals hatte man eine Geliebte bei ihm gesehn. +Er wurde durch den Brief des Fürsten, der ihn nach +Florenz rief, sehr verstimmt; er wurde es noch viel mehr, +nachdem der Fürst ihm gesagt hatte, daß er ihn zum +Vorsteher des Damenstifts von Santa Riparata ernennen +wolle.</p> + +<p>„Wißt,“ sagte ihm der Graf, „daß ich beinahe vorzöge, +Premierminister Eurer Hoheit zu sein. Der Frieden des +Gemüts ist meine Leidenschaft, und was glaubt Ihr +wohl soll aus mir inmitten all dieser wütenden Schäflein +werden?“</p> + +<p>„Was meinen Blick auf Euch gelenkt hat, mein +Freund, ist, daß man weiß, eine Frau hat niemals auch +nur die Gänze eines Tags hindurch Eure Seele zu beherrschen +<a id="page-114"></a><span class="pgnum">114</span>vermocht; ich bin weit entfernt davon, ebenso +glücklich zu sein; es fehlte nicht viel, daß ich die +gleichen Torheiten fortgesetzt hätte, die mein Bruder für +Bianca Capello begangen hat.“</p> + +<p>Jetzt begann der Fürst ihm vertrauliche Mitteilungen +zu machen, mit deren Hilfe er seinen Freund zu verführen +gedachte. „Glaubt mir,“ sagte er ihm, „wenn ich +dieses so sanfte Mädchen wiedersehe, das ich zur Äbtissin +von Santa Riparata gemacht habe, kann ich nicht mehr +für mich einstehn.“</p> + +<p>„Und was wäre dabei?“ sagte der Graf, „Wenn es +Euch als ein Glück erscheint, eine Geliebte zu haben, +warum solltet Ihr dann keine nehmen? Wenn ich keine +habe, ist es, weil mich jede Frau durch ihre Klatscherei +und durch die Kleinlichkeit ihres Charakters langweilt, +schon nach dreitägiger Bekanntschaft.“</p> + +<p>„Ich,“ sagte der Großherzog, „ich bin Kardinal. Es +ist wahr, daß der Papst mir die Erlaubnis erteilt hat, +auf den Hut zu verzichten und mich in Anbetracht der +Krone, welche mir unvermutet zukam, zu verheiraten; +aber ich verlange gar nicht danach, in der Hölle zu +brennen, und wenn ich mich verheirate, werde ich eine +Frau nehmen, welche ich nicht liebe und von der ich +Nachfolger für meine Krone verlangen werde, und nicht +die üblichen Süßigkeiten der Ehe.“</p> + +<p>„Darauf habe ich nichts zu sagen,“ entgegnete der +Graf, „ich kann nicht glauben, daß der Allmächtige +Gott seinen Blick auf solche Kleinigkeiten herabsenkt. +Macht aus Euren Untertanen glückliche und ehrliche +Leute, wenn Ihr es könnt und habt im übrigen sechsunddreißig +Geliebte.“</p> + +<p>„Ich will nicht einmal eine haben,“ entgegnete der +Fürst lachend; „doch ich wäre dem sehr ausgesetzt, +<a id="page-115"></a><span class="pgnum">115</span>wenn ich die Äbtissin von Santa Riparata wiedersähe. +Das ist das vortrefflichste Mädchen der Welt und das +unfähigste, nicht nur ein Kloster voll junger widerwillig +der Welt entrissener Mädchen zu leiten, sondern +selbst die verständigste Vereinigung alter und frommer +Frauen.“</p> + +<p>Der Fürst hatte eine so tiefe Furcht, Schwester Virgilia +wiederzusehn, daß der Graf davon gerührt wurde. +‚Wenn er diesen vertrackten Eid bricht, den er geleistet +hat, als der Papst ihm gestattete zu heiraten,<a class="sic" id="sicA-7" href="#sic-7">“</a> sagte er +sich, <a class="sic" id="sicA-8" href="#sic-8">„</a>ist er auch fähig, für den Rest seines Lebens ein +verstörtes Herz davonzutragen.‘ Am nächsten Morgen +begab er sich ins Kloster von Santa Riparata, wo er mit +der ganzen Neugier und allen Ehren, die dem Abgesandten +des Fürsten gebühren, empfangen wurde. +Ferdinand hatte einen seiner Minister ins Kloster gesandt, +um der Äbtissin und den Nonnen die Erklärung zu überbringen, +daß Staatsgeschäfte ihn verhinderten, sich mit +ihrem Kloster zu beschäftigen und daß er seine Machtvollkommenheit +für immer dem Grafen Buondelmonte +übertragen habe, dessen Entschließungen unwiderruflich +seien.</p> + +<p>Nachdem er mit der guten Äbtissin gesprochen hatte, +war der Graf von dem schlechten Geschmack des Fürsten +skandalisiert: sie hatte nicht einmal gesunden Menschenverstand +und war nichts weniger als hübsch. Der Graf +fand die Nonnen, welche Felizia degli Almieri verhindern +wollten, zwei neue Kammerfrauen zu nehmen, sehr +garstig. Er hatte Felizia ins Sprechzimmer rufen lassen. +Sie ließ mit Dreistigkeit antworten, daß sie keine Zeit +hätte, zu kommen, was den Grafen amüsierte, den bis +dahin seine Mission recht gelangweilt hatte und der seine +Gefälligkeit gegen den Fürsten bereute. +</p> + +<p><a id="page-116"></a><span class="pgnum">116</span>Er sagte, daß er es ebenso liebe, mit den Kammerfrauen +zu sprechen wie mit Felizia selber und ließ +die fünf Kammerfrauen ins Sprechzimmer rufen. Nur +drei stellten sich ein und erklärten im Namen ihrer +Herrin, daß sie sich der Gesellschaft der zwei andren +nicht berauben könnte, worauf der Graf von seinen +Rechten als Vertreter des Fürsten Gebrauch machte und +zwei seiner Leute ins Kloster eindringen hieß, die ihm +die beiden widerstrebenden Kammerfrauen herbeibrachten; +und er amüsierte sich eine Stunde hindurch +über das Geschwätz dieser fünf hübschen jungen +Mädchen. Die den größten Teil der Zeit über alle auf +einmal sprachen. Erst hierbei, durch das was sie, ihnen +selbst unbewußt, ihm verrieten, wurde dem Stellvertreter +des Fürsten ein wenig klar, was im Kloster vorging. Nur +fünf oder sechs Nonnen waren bejahrt, zwanzig etwa +waren fromm, obgleich sie jung waren, aber die andern, +jung und hübsch, hatten Liebhaber in der Stadt. In +Wahrheit, sie konnten sie nur sehr selten sehen; aber wie +machten sie es überhaupt möglich? Das wollte der Graf +nicht die Kammerfrauen Felizias fragen, aber er versprach +sich, es bald zu wissen, indem er Beobachter +rings um das Kloster aufstellte.</p> + +<p>Er erfuhr zu seinem großen Erstaunen, daß es intime +Freundschaften unter den Nonnen gab und vor allem dies +die Ursache des Hasses und der inneren Zwistigkeiten +war. So hatte zum Beispiel Felizia als intime Freundin +Rodelinde di P**; Celia, nach Felizia die Schönste des +Klosters, hatte die junge Fabiana zur Freundin. Jede +dieser Damen hatte ihre adlige Kammerfrau, welche +mehr oder weniger in Gunst stand. Zum Beispiel hatte +Martona, die adlige Kammerfrau der Äbtissin, deren +Gunst dadurch erworben, daß sie sich noch frömmer +<a id="page-117"></a><span class="pgnum">117</span>als sie zeigte. Sie betete auf den Knien täglich fünf bis +sechs Stunden zu Seiten der Äbtissin, aber diese Zeit +wurde ihr sehr lang, wie die Kammerfrauen sagten.</p> + +<p>Der Graf erfuhr außerdem, daß Roderigo und Lancelotto +die Namen zweier Liebhaber dieser Damen waren, +anscheinend von Felizia und Rodelinde; aber er wollte +keine direkte Frage stellen.</p> + +<p>Die Stunde, die er mit den Frauen verbrachte, erschien +ihm nicht im geringsten lang, aber Felizia erschien sie +endlos; sie fühlte sich durch diesen Stellvertreter des +Fürsten in ihrer Würde beleidigt, der sie zu gleicher Zeit +des Dienstes ihrer fünf Kammerfrauen beraubte. Sie +konnte nicht an sich halten, und da sie von weitem den +Lärm aus dem Sprechzimmer hörte, drang sie dort ein, +obwohl ihre Würde ihr sagte, daß diese Art, aus einer +ungeduldigen Laune heraus nun doch zu erscheinen, +lächerlich aussehen konnte, nachdem sie die offizielle +Einladung des Abgesandten des Fürsten ausgeschlagen +habe. ‚Aber ich werde das Gackern dieses kleinen Herrn +wohl parieren‘, sagte sich die herrische Felizia.</p> + +<p>Sie brach also in das Sprechzimmer ein, grüßte den +Abgesandten des Fürsten sehr nachlässig und befahl +einer ihrer Frauen ihr zu folgen.</p> + +<p>„Signora, wenn dies Mädchen Euch gehorcht, werde +ich meine Leute ins Kloster eintreten lassen und sie +werden es sofort wieder zurückführen.“</p> + +<p>„Ich werde sie bei der Hand nehmen; werden Eure +Leute wagen, Gewalt anzuwenden?“</p> + +<p>„Meine Leute werden in dieses Sprechzimmer sie +und Euch führen, Signora.“</p> + +<p>„Und mich?“</p> + +<p>„Und Euch selbst; und wenn es mir beliebt, werde +ich Euch aus diesem Kloster fortführen lassen und +<a id="page-118"></a><span class="pgnum">118</span>Ihr werdet in irgendeinem armen kleinen, auf dem +Gipfel irgendeines Berges des Apennin gelegenen Klosters +fortfahren an Eurem Heil zu arbeiten. Ich vermag +dies und noch ganz andere Dinge zu tun.“</p> + +<p>Der Graf bemerkte, daß die fünf Kammerfrauen erbleichten; +auch die Wangen Felizias färbten sich in +einer leichten Blässe, die sie noch schöner machte.</p> + +<p>‚Dies ist sicherlich,‘ sagte sich der Graf, ‚die schönste +Person, der ich in meinem Leben begegnet bin, man muß +die Szene länger dauern lassen.‘ Sie dauerte in der Tat +gegen dreiviertel Stunden. Felizia zeigte dabei einen Geist +und vor allem ein so stolzes Wesen, daß der Stellvertreter +des Fürsten sich sehr damit unterhielt. Gegen Ende der +Unterredung hatte sich der Ton sehr gemildert und +Felizia erschien dem Grafen minder schön. ‚Man muß +ihr ihren Zorn wiedergeben‘, dachte er. Er erinnerte sie +daran, daß sie das Gelübde des Gehorsams abgelegt habe +und daß, wenn sie in Zukunft auch nur einen Schatten +von Widerstand gegen die fürstlichen Befehle zeige, +die er dem Kloster übermittle, er es für ihr Seelenheil +nützlich halten werde, sie auf sechs Monate in das langweiligste +Kloster des Apennin zu schicken.</p> + +<p>Daraufhin wurde Felizia prächtig vor Zorn. Sie +sagte ihm, daß die heiligen Märtyrer mehr als dies durch +die Barbarei der römischen Imperatoren gelitten hätten.</p> + +<p>„Ich bin nicht Imperator, Signora, und ebensowenig +brachten die Märtyrer die ganze Gesellschaft in Aufruhr, +um zwei Kammerfrauen mehr zu bekommen, wenn sie +ohnedies fünf so liebenswürdige wie diese Fräuleins +hatten.“ Er <a class="sic" id="sicA-9" href="#sic-9">größte</a> sie sehr kalt und ging fort, ohne +ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, und sie blieb wütend +zurück.</p> + +<p>Der Graf blieb in Florenz und kehrte gar nicht mehr +<a id="page-119"></a><span class="pgnum">119</span>auf seine Güter zurück; er war neugierig, zu erfahren, +was eigentlich im Kloster von Santa Riparata vor sich +ging. Einige Kundschafter, die ihm die Polizei des +Fürsten beistellte, in der Nähe des Klosters und rings +um die unermeßlich großen Gärten postiert, die es +beim Tor, das nach Fiesole führt, besitzt, hatten ihm +bald alles, was er zu wissen wünschte, mitteilen können: +Roderigo L**, einer der reichsten und lüderlichsten +Jungen der Stadt, war Felizias Liebhaber, und ihre +vertraute Freundin, die sanfte Rodelinde, war die Geliebte +Lancelotto P***s, eines jungen Mannes, der sich +in den Kriegen, die Florenz gegen Pisa führte, sehr ausgezeichnet +hatte. Diese jungen Leute hatten große +Schwierigkeiten zu überwinden, um in das Kloster einzudringen. +Die Strenge war verdoppelt worden, oder vielmehr, +die alte Freiheit war seit der Thronbesteigung +des Großherzogs Ferdinand vollkommen unterdrückt +worden. Die Äbtissin Virgilia wollte die Ordensregel in +ihrer ganzen Strenge durchführen lassen, aber ihre +Einsicht und ihr Charakter entsprachen diesen guten +Absichten nicht, und die Kundschafter des Grafen berichteten +ihm, daß kaum ein Monat verginge, ohne daß +es Roderigo, Lancelotto und noch zwei oder drei junge +Leute, welche Beziehungen im Kloster hatten, dahin +brachten, ihre Geliebten zu sehen. Die Unermeßlichkeit +der Gärten des Klosters hatte den Bischof genötigt, nur +die Existenz von zwei Türen zu dulden, die auf den +weiten Raum hinter der Schutzmauer im Norden der +Stadt führten. Die pflichtlosen Nonnen — und diese +bildeten weitaus die Mehrheit im Kloster — kannten +diese Einzelheiten nicht mit solcher Gewißheit wie +der Graf; aber sie vermuteten sie und nutzten die +Existenz solchen Mißbrauchs, um den Maßnahmen +<a id="page-120"></a><span class="pgnum">120</span>der Äbtissin nicht zu gehorchen, wenn es ihnen nicht +paßte.</p> + +<p>Es war dem Grafen klar, daß es nicht leicht sein +würde, die Ordnung in diesem Kloster wiederherzustellen, +so lang eine solch schwache Frau wie die Äbtissin +Virgilia es leitete. Er sprach in diesem Sinne zum Großherzog, +der ihn zur äußersten Strenge aufforderte, aber +gleichzeitig nicht im geringsten gewillt zu sein schien, +seiner ehemaligen Freundin den Kummer anzutun, sie +wegen Unfähigkeit in ein andres Kloster zu versetzen.</p> + +<p>Der Graf kehrte nach Santa Riparata zurück, ganz entschlossen, +äußerste Strenge anzuwenden, um sich so +bald wie möglich der Last zu entledigen, die er unvorsichtiger +Weise auf sich genommen hatte. Felizia ihrerseits +war noch gereizt über die Art, wie der Graf zu +ihr gesprochen hatte, und fest entschlossen, die nächste +Zusammenkunft auszunützen, den Ton wieder zu finden, +der für den hohen Adel ihrer Familie und für die Stellung +passend war, die sie in der Gesellschaft einnahm. +Bei seiner Ankunft im Kloster ließ der Graf unverzüglich +Felizia rufen, um sich des heikelsten Teils +seiner Arbeit gleich zu entledigen. Felizia kam, schon +vom lebhaftesten Zorn bewegt, in das Sprechzimmer, +aber der Graf fand sie sehr schön; er war feiner Kenner +in diesen Dingen. ‚Bevor wir dieses prachtvolle Antlitz +verstören,‘ sagte er sich, ‚lassen wir uns Zeit, es gut anzuschauen.‘ +Felizia bewunderte unwillkürlich den verständigen +kalten Ton dieses schönen Mannes, der in +seinem vollständig schwarzen Kostüm, das er für die +Funktion im Kloster schicklich fand, wirklich bemerkenswert +aussah. ‚Ich glaubte, weil er über fünfunddreißig +Jahre ist,‘ sagte sich Felizia, ‚daß er ein lächerlicher +Alter sein würde, wie unsere Beichtväter, aber ich +<a id="page-121"></a><span class="pgnum">121</span>finde statt dessen einen Mann, der wirklich dieses Namens +würdig ist. Er trägt freilich nicht die auffallenden Kleider, +die einen großen Teil der Verdienste Roderigos und +vieler junger Leute, die ich gekannt habe, ausmachten; +in der Menge der Goldstickerei und des Samtes ist er +ihnen sehr untergeordnet; aber wenn er wollte, könnte +er in einem Augenblick über diese Art des Verdienstes +verfügen, während die andern, denke ich, recht viel Mühe +hätten, die kluge, verständige und wirklich interessante +Unterhaltung des Grafen Buondelmonte nachzuahmen.‘ +Felizia legte sich nicht genau Rechenschaft ab, was es +war, das diesem großen, in schwarzem Sammet gekleideten +Mann, mit dem sie sich schon seit einer Stunde +von den verschiedensten Dingen unterhielt, einen eigenartigen +Ausdruck gab.</p> + +<p>Obgleich er mit Sorgfalt alles vermied, was sie hätte +reizen können, war der Graf weit davon entfernt, ihr +in allem nachzugeben, so wie es nacheinander die Männer +getan hatten, welche diesem schönen stolzen Mädchen +näher getreten waren, von dem bekannt war, daß es +Liebhaber habe. Weil der Graf gar keine Absichten hatte, +war er einfach und natürlich mit ihr, nur hatte er bis +dahin vermieden, die Dinge, die ihren Zorn erregen +konnten, näher zu besprechen. Trotzdem war es notwendig, +zu den Forderungen der stolzen Nonne zu +kommen; man hatte bereits von der Unordnung im +Kloster gesprochen.</p> + +<p>„In der Tat, Signora, was hier alles in Aufruhr versetzt, +ist die in gewisser Hinsicht ja vielleicht gerechtfertigte +Forderung, zwei Kammerfrauen mehr als die +andern zu haben, welche eine der bemerkenswertesten +Persönlichkeiten des Klosters stellt.“</p> + +<p>„Was hier alles in Aufruhr versetzt, ist die Charakterschwäche +<a id="page-122"></a><span class="pgnum">122</span>der Äbtissin, welche uns mit einer gänzlich +neuen Strenge behandeln will, von der man niemals einen +Begriff gehabt hat. Es kann ja sein, daß es Klöster +gibt, wo die Mädchen wirklich fromm sind, die Zurückgezogenheit +lieben und davon geträumt haben, wirklich +die Gelübde der Armut, des Gehorsams und dergleichen +zu erfüllen, die man ihnen mit siebzehn Jahren +abverlangt hat; was uns betrifft, haben uns unsre +Familien hier untergebracht, um den ganzen Reichtum +des Hauses unsren Brüdern zu lassen. Wir haben keine +andre Berufung, als die Unmöglichkeit, zu entfliehn und +anderswo als im Kloster zu leben, da unsre Väter uns +nicht mehr in ihren Palästen aufnehmen wollen. +Übrigens, als wir diese in den Augen der Vernunft so +nichtigen Gelübde abgelegt haben, waren wir alle ein +oder mehrere Jahre Pensionärinnen im Kloster gewesen +und jede von uns nahm an, den gleichen Grad von Freiheit +genießen zu dürfen, den wir damals an den Nonnen +sahen. Und ich versichere Ihnen, Herr Vikar des Fürsten, +die Türe der Mauer war bis Tagesanbruch offen und +alle diese Damen sahen ihre Freunde unbehindert im +Garten. Niemand dachte daran, diese Art des Lebens +zu tadeln und wir alle glaubten, wenn wir erst Nonnen +wären, ebensoviel Freiheit und ein ebenso glückliches +Leben zu genießen, wie diejenigen unsrer Schwestern, +denen der Geiz unsrer Eltern erlaubt hatte, zu heiraten. +(In der ersten Unterhaltung hatte sie ihm ihr Verhältnis +zu Roderigo und ihre andern Liebschaften — es waren +drei — gestanden.) Es ist wahr, alles ist verändert, seit +wir einen Fürsten haben, der fünfundzwanzig Jahre +seines Lebens Kardinal war. Herr Vikar, Ihr könnt in +dieses Kloster Soldaten oder sogar Dienerschaft, wie Ihr +es neulich getan habt, eintreten lassen. Sie werden uns +<a id="page-123"></a><span class="pgnum">123</span>Gewalt antun, wie Eure Diener meinen Frauen Gewalt +angetan haben, und das aus dem würdigen und einzigen +Grund, weil sie die Stärkeren waren. Aber Euer Stolz +darf nicht glauben das geringste Recht über uns zu +haben. Wir sind mit Gewalt in dieses Kloster gebracht +worden, man hat uns Eide und Gelübde im Alter von +sechzehn Jahren mit Gewalt abgezwungen und endlich +ist auch die langweilige Art des Lebens, der Ihr uns +unterwerfen wollt, nicht im geringsten die, welche wir +an den Nonnen dieses Klosters sahen, zur Zeit als wir die +Gelübde ablegten. Selbst wenn man diese Gelübde als +gesetzmäßig anerkennen wollte, haben wir doch höchstens +versprochen, so zu leben wie sie, und Ihr wollt +uns leben lassen, wie sie niemals gelebt haben. Ich muß +Euch gestehen, Herr Vikar, daß ich Wert auf die +Achtung meiner Mitbürger lege. In den Zeiten der +Republik hätte man diese unwürdige Unterdrückung nie +geduldet, die an jungen Mädchen begangen wird, die +nie andres Unrecht getan haben, als daß sie in wohlhabenden +Familien geboren sind und Brüder haben. Ich habe +die Gelegenheit gewünscht, diese Dinge in der Öffentlichkeit +oder wenigstens zu einem verständigen Menschen +zu sagen. Was die Zahl meiner Frauen betrifft, liegt +mir sehr wenig dran. Zwei und nicht fünf oder sieben +würden mir reichlich genügen; ich könnte darauf +bestehn, sieben zu verlangen, bis man sich die Mühe gegeben +hat, den unwürdigen Betrug, dessen Opfer wir +sind, abzustellen, wovon ich Ihnen jetzt einiges mitgeteilt +habe; doch weil Euer Anzug aus schwarzem Sammet +Euch sehr gut steht, Herr Vikar des Fürsten, erkläre ich +Euch, daß ich für dies Jahr auf das Recht verzichte, +so viele Dienerinnen zu haben, wie ich bezahlen könnte.“</p> + +<p>Graf Buondelmonte ward sehr ergötzt durch diese +<a id="page-124"></a><span class="pgnum">124</span>Aufständigkeit; er ließ sie andauern, indem er die +lächerlichsten Einwände machte, die ihm nur einfallen +mochten. Felizia antwortete mit entzückendem Feuer und +Geist. Der Graf sah in ihren Augen das ganze Staunen, +das dieses junge Mädchen von zwanzig Jahren empfand, +als sie solche Albernheiten aus dem Mund eines scheinbar +verständigen Mannes hörte.</p> + +<p>Der Graf verabschiedete sich von Felizia und ließ die +Äbtissin rufen, der er weise Ratschläge gab; er berichtete +dem Fürsten, daß die Unruhen im Kloster von Santa +Riparata beigelegt wären, erhielt viel Lobsprüche für +seine tiefe Weisheit und kehrte endlich auf seine +Ländereien zurück. Aber öfters sagte er sich: ‚Es gibt +also ein junges Mädchen, das wohl für das schönste +Frauenzimmer der Stadt gelten würde, wenn es in der +Welt lebte, und das nicht ganz wie eine Puppe urteilt.‘</p> + +<p>Doch im Kloster fanden große Ereignisse statt. Nicht +alle Nonnen urteilten klar und scharf wie Felizia; aber +fast alle jungen langweilten sich tödlich. Ihr einziger +Trost war es, Karikaturen zu zeichnen und satirische +Sonette auf einen Fürsten zu machen, der fünfundzwanzig +Jahre lang Kardinal war und als er auf den Thron +gelangte, nichts besseres zu tun wußte, als seine Geliebte +nicht mehr zu sehen und sie in ihrer Eigenschaft als +Äbtissin zu beauftragen, arme junge Mädchen zu ärgern, +die der Geiz ihrer Eltern ins Kloster verstoßen hatte.</p> + +<p>Wie wir schon gesagt haben, war die sanfte Rodelinde +die vertraute Freundin Felizias. Ihre Freundschaft +schien sich zu verdoppeln, seit Felizia ihr gestanden +hatte, daß seit ihren Unterhaltungen mit dem Grafen +Buondelmonte, diesem ältern Mann, der schon über +sechsunddreißig Jahre zählte, ihr Geliebter Roderigo, +um es kurz zu sagen, ihr sehr langweilig erschien. +<a id="page-125"></a><span class="pgnum">125</span>Felizia hatte sich in diesen ernsten Grafen verliebt; die +endlosen Gespräche, die sie mit ihrer Freundin Rodelinde +über diesen Gegenstand führte, zogen sich manchmal bis +zwei Uhr, drei Uhr des Morgens hin. Nun sollte nach +der Ordensregel des heiligen Benedikt, welche die +Äbtissin in ihrer ganzen Strenge wieder einführen wollte, +sich eine Stunde nach Sonnenuntergang jede Nonne in +ihre Gemächer zurückziehn beim Ton einer bestimmten +Glocke, welche die Retraite genannt wurde. Die gute +Äbtissin, im Wunsche, ein gutes Beispiel zu geben, +verfehlte nicht, sich beim Ton der Glocke in ihrem +Zimmer einzuschließen und war des frommen Glaubens, +daß alle Nonnen ihrem Beispiel folgten. Zu den hübschesten +und reichsten dieser Damen gehörten die neunzehnjährige +Fabiana, die vielleicht das leichtsinnigste +Mädchen des ganzen Klosters war und ihre vertraute +Freundin Celia; die eine wie die andre waren sehr in +Zorn auf Felizia, welche sie, wie sie sagten, verachtete. +Tatsache ist, daß Felizia, seit sie einen so interessanten +Unterhaltungsstoff mit Rodelinde hatte, die Anwesenheit +der andren Nonnen mit schlecht verhehlter oder vielmehr +mit unverhüllter Ungeduld vertrug. Sie war die +schönste, sie war die reichste, sie hatte unbestreitbar +mehr Geist als die andern. Es hätte nicht einmal so +viel gebraucht, um in einem Kloster, wo alles sich langweilte, +einen großen Haß zu entzünden. In ihrem großen +Leichtsinn erzählte Fabiana der Äbtissin, daß Felizia +und Rodelinde manchmal bis zwei Uhr morgens im +Garten blieben. Die Äbtissin hatte beim Grafen erwirkt, +daß ein Soldat des Fürsten vor der Türe des Gartens, +die auf die weite Fläche hinter der Nordmauer führte, +Schildwache stand. Sie hatte ungeheure Schlösser an +dieser Türe anbringen lassen und jeden Abend brachte +<a id="page-126"></a><span class="pgnum">126</span>als Abschluß des Tagewerks der jüngste Gärtner, der +ein sechzigjähriger Greis war, den Schlüssel dieser +Türe der Äbtissin. Sogleich schickte die Äbtissin eine +alte, den Nonnen verhaßte Pförtnerin, um das zweite +Schloß der Türe zu schließen. Trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln +war es ein großes Verbrechen in ihren +Augen, bis zwei Uhr morgens im Garten zu bleiben. +Sie ließ Felizia rufen und behandelte dieses stolze +Mädchen, das jetzt die Erbin der ganzen Familie +geworden war, in einer so hochfahrenden Weise, wie +sie es sich vielleicht nicht erlaubt hätte, wäre sie nicht +der Gunst des Fürsten sicher gewesen. Felizia war umso +mehr verletzt durch die Bitterkeit dieser Vorwürfe, als +sie ihren Geliebten Roderigo nur ein einziges Mal hatte +kommen lassen, seit sie den Grafen kannte; und auch +da nur, um sich über ihn lustig zu machen. In ihrer +Entrüstung wurde sie beredsam, und wenn die gute +Äbtissin sich auch weigerte, ihr die Angeberin zu nennen, +gab sie doch Einzelheiten preis, mit deren Hilfe Felizia +leicht erraten konnte, daß sie Fabiana diese Unannehmlichkeit +verdanke.</p> + +<p>Sogleich beschloß Felizia sich zu rächen. Dieser +Entschluß gab ihrer von Unglück gestärkten Seele die +ganze Kraft zurück.</p> + +<p>„Wissen Sie, Mutter“, sagte sie zur Äbtissin, „daß +ich einigen Mitleids würdig bin? Ich habe den Frieden +der Seele völlig verloren. Nicht ohne tiefe Weisheit hat +unser Gründer, der heilige Benedikt, vorgeschrieben, +daß niemals ein Mann unter sechzig Jahren in unseren +Klöstern eingelassen werden sollte. Der Herr Graf +Buondelmonte, der großherzogliche Vertreter für die +Verwaltung dieses Klosters, mußte lange Unterredungen +mit mir haben, um mich von meinem törichten Einfall +<a id="page-127"></a><span class="pgnum">127</span>abzubringen, die Zahl meiner Kammerfrauen zu vermehren. +Er besitzt Weisheit, er vereint einen bewundernswürdigen +Geist mit einer unendlichen Klugheit. +Ich bin mehr als es einer Dienerin Gottes und des +heiligen Benedikt geziemt von diesen großen Eigenschaften +des Grafen, unsres Statthalters getroffen +worden. Der Himmel hat meine große Eitelkeit bestrafen +wollen: ich bin sterblich verliebt in den Grafen; +auf die Gefahr, meine Freundin Rodelinde zu entrüsten, +habe ich ihr diese Leidenschaft gestanden, die ebenso +verbrecherisch wie unfreiwillig ist; und weil sie mir +Ratschläge gibt und mich tröstet, weil es ihr sogar +manchesmal gelingt, mir Kräfte gegen die Versuchung +des Bösen zu verleihen, ist sie zuweilen sehr lange bei +mir geblieben. Aber immer geschah es auf meinen +Wunsch: ich fühlte zu gut, daß ich, sobald Rodelinde +mich verlassen haben würde, an den Grafen denken +müßte.“</p> + +<p>Die Äbtissin verfehlte nicht, eine lange Ermahnung +an das verirrte Schaf zu richten und Felizia trug Sorge, +Betrachtungen anzustellen, welche diese Sittenpredigt +noch verlängerten.</p> + +<p>Von nun an wurde die Langweile Felizias und Rodelindes +durch den Plan einer Rache verjagt, der ihre +ganze Zeit ausfüllte.</p> + +<p>„Da Fabiana und Celia sich in hinterlistiger Absicht +von der großen Hitze, die herrscht, im Garten erfrischt +haben, ist es notwendig, daß die erste Zusammenkunft, +die sie ihren Liebhabern gewähren, einen entsetzlichen +Skandal verursache, der in dem Geist der ernsten +Klosterdamen den auslöscht, welchen meine späten +Spaziergänge im Garten verursacht haben. Am Abend +des ersten Stelldicheins, das Fabiana und Celia Lorenzo +<a id="page-128"></a><span class="pgnum">128</span>und Pierantonio gewähren, müssen sich Roderigo und +Lancelotto zuvor hinter den behauenen Steinen, die sich +auf dem Platz vor der Türe unsres Gartens befinden, +verbergen. Roderigo und Lancelotto sollen nicht die +Liebhaber dieser Damen töten, aber sie sollen ihnen fünf +oder sechs kleine Stiche mit ihren Degen verabreichen, +so daß sie ganz mit Blut bedeckt sind. In diesem Zustand +wird ihr Anblick ihre Geliebten beunruhigen, und +diese Damen werden an ganz andere Dinge denken, als +mit ihnen Liebenswürdigkeiten auszutauschen.“</p> + +<p>Das Beste, was den beiden Freundinnen einfiel, um +diesen heimtückischen Überfall zu veranstalten, war, +daß Livia, die Kammerfrau Rodelindes, bei der Äbtissin +um einen Monat Urlaub ansuchen sollte. Dieses +sehr geschickte Mädchen wurde mit Briefen für Roderigo +und Lancelotto ausgestattet. Sie überbrachte +ihnen auch eine Summe Geldes, mit deren Hilfe sie +Lorenzo und Pierantonio mit Spionen umgeben sollten.</p> + +<p>‚Nun‘, dachte sie, ‚werden die Ereignisse, welche +unsre — Rodelindes und meine — Rache herbeiführt, +den liebenswürdigen Grafen wieder ins Kloster bringen. +So werde ich den Fehler wieder gut machen, der mir +unterlief, als ich zu rasch auf die Mädchen verzichtete, +die ich in meinen Dienst nehmen wollte. Ich wurde, +ohne es zu wissen, durch die Versuchung verführt, +einem Manne, der selbst so verständig ist, verständig +zu erscheinen. Ich bedachte nicht, daß ich ihm +dadurch jede Gelegenheit, wiederzukehren, nahm, +um sein Amt als Vikar in unsrem Kloster auszuüben. +Daher kommt es, daß ich mich jetzt so sehr +langweile. Diese kleine Puppe von einem Roderigo, die +mich manchmal belustigte, erscheint mir jetzt vollkommen +lächerlich, und durch meine Schuld habe ich +<a id="page-129"></a><span class="pgnum">129</span>diesen liebenswürdigen Grafen nicht wiedergesehen. Es +ist nun an uns, an Rodelinde und mir, dahin zu wirken, +daß unsre Rache eine solche Unordnung herbeiführt, +daß seine Anwesenheit im Kloster oft notwendig wird. +Unsre arme Äbtissin ist so wenig fähig, etwas geheimzuhalten, +daß sie ihn wahrscheinlich auffordert, +die Zusammenkünfte mit mir, die ich bei ihm erlangen +werde, nach Möglichkeit einzuschränken und in +welchem Fall diese ehemalige Geliebte des Großherzogs +sich, wie ich nicht zweifle, die Mühe auflädt, diesem +so sonderbaren und kalten Mann meine Erklärung zu +übermitteln. Das wird eine komische Szene sein, die +ihn vielleicht belustigt; denn, wenn ich mich nicht sehr +täusche, läßt er sich nicht von allen Dummheiten zum +Narren halten, die man uns predigt, um uns zu demütigen; +nur hat er noch keine Frau gefunden, die +seiner würdig wäre; und ich werde diese Frau sein oder +das Leben dabei lassen.‘</p> + +<p>Livia kam täglich, um Felizia und Rodelinde über +die Vorbereitungen zum Angriff gegen die Geliebten +Celias und Fabianas Bericht zu erstatten. Die Vorbereitungen +dauerten nicht weniger als sechs Wochen. +Es handelte sich darum, die Nacht zu erraten, welche +Lorenzo und Pierantonio wählen würden, um ins Kloster +zu kommen, und seit dem neuen Regiment, das sich +mit viel Strenge ankündigte, verdoppelte sich die Vorsicht +bei Unternehmungen dieser Art. Überdies stieß +Livia bei Roderigo auf große Schwierigkeiten. Er hatte +die Lauheit Felizias wohl bemerkt, und verweigerte +schließlich rund heraus, sie an Fabiana und Celia zu +rächen, wenn sie nicht einwilligte, ihn mit eigener +Stimme zu einer schöneren Zusammenkunft zu bestellen. +Aber Felizia, die ganz mit dem Grafen Buondelmonte +<a id="page-130"></a><span class="pgnum">130</span>beschäftigt war, wollte niemals darauf eingehen. +„Ich begreife wohl,“ schrieb sie ihm in ihrer unvorsichtigen +Offenheit, „daß man sich in die Verdammnis +stürzt, um ein Glück zu genießen, aber sich zu verdammen, +um einen ehemaligen Liebhaber, dessen Herrschaft +beendet ist, wiederzusehen, ist etwas, das ich nie +begreifen werde. Immerhin könnte ich wohl einwilligen, +Euch noch einmal nachts zu empfangen, um Euch Vernunft +hören zu lassen, aber es ist ja kein Verbrechen, +was ich von Euch verlange. So könnt Ihr nicht übertriebene +Forderungen stellen und Bezahlung begehren, +als ob man von Euch verlangen würde, einen Unverschämten +zu töten. Begeht nicht den Irrtum, den Liebhabern +unsrer Feindinnen so ernste Wunden zuzufügen, +daß sie verhindert wären, in den Garten zu +kommen und all den Damen, die wir Sorge tragen +werden, dort zu versammeln, als Schauspiel zu dienen. +Ihr würdet dadurch unsrer Rache jeden Reiz nehmen +und ich würde in Euch nur einen Leichtsinnigen sehen, +der unwürdig ist, mir das geringste Vertrauen einzuflößen. +Wißt nur, daß es besonders wegen dieses +wesentlichen Fehlers ist, daß Ihr aufgehört habt, meine +Freundschaft zu verdienen.“</p> + +<p>Diese Nacht der Rache, die mit soviel Sorgfalt vorbereitet +war, kam endlich heran. Roderigo und Lancelotto, +von mehreren ihrer Leute unterstützt, belauerten +während des ganzen Tages die Handlungen Lorenzos +und Pierantonios. Durch deren Indiskretion erlangten +sie die Gewißheit, daß die beiden in der folgenden +Nacht das Ersteigen der Mauer von Santa Riparata versuchen +würden. Ein reicher Kaufmann, dessen Haus +neben der Wachstube lag, welche die Schildwache vor +der Gartentüre der Nonnen beistellte, verheiratete an +<a id="page-131"></a><span class="pgnum">131</span>diesem Abend seine Tochter. Lorenzo und Pierantonio, +als Domestiken eines reichen Hauses verkleidet, benutzten +diesen Umstand, um gegen zehn Uhr abends +der Wache ein Fäßchen Wein im Namen ihres Herrn +darzubringen. Die Soldaten taten dem Geschmack Ehre +an. Die Nacht war sehr dunkel, das Übersteigen der +Klostermauer sollte gegen Mitternacht stattfinden; um +elf Uhr abends sahen Roderigo und Lancelotto, die nahe +der Tür versteckt waren, mit Vergnügen, wie die Schildwache +der vorigen Stunde von einem halbbetrunkenen +Soldaten abgelöst wurde, der nicht verfehlte, nach +einigen Minuten einzuschlafen.</p> + +<p>Im Inneren des Klosters hatten Felizia und Rodelinde +gesehen, daß ihre Feindinnen Fabiana und Celia +sich im Garten unter den nahe der Umfassungsmauer +stehenden Bäumen versteckten. Ein wenig vor Mitternacht +wagte Felizia, die Äbtissin zu wecken. Sie hatte +nicht wenig Mühe, bis zu ihr zu gelangen; sie hatte +deren noch mehr, um ihr die Möglichkeit des Vergehens, +das sie ihr anzeigte, verständlich zu machen.</p> + +<p>Und schließlich, nach einem Zeitverluste von mehr +als einer halben Stunde, während deren letzten Minuten +Felizia schon fürchtete, für eine Verleumderin +gelten zu müssen, erklärte die Äbtissin: wenn selbst die +Tatsache wahr sei, dürfte man einem Verbrechen nicht +auch noch eine Verletzung der Regel des heiligen Benedikt +hinzufügen. Und die Regel verbot ja durchaus, +nach Sonnenuntergang den Garten zu betreten. Zum +Glück erinnerte sich Felizia, daß man durch das +Klosterinnere, ohne einen Fuß in den Garten zu setzen, +auf das flache Dach eines kleinen niedrigen Gewächshauses +gelangen konnte, das ganz in der Nähe der von +der Schildwache bewachten Türe lag. Während Felizia +<a id="page-132"></a><span class="pgnum">132</span>damit beschäftigt war, die Äbtissin zu überzeugen, versuchte +Rodelinde ihre alte Tante zu wecken, die sehr +fromm und Unterpriorin des Klosters war.</p> + +<p>Obwohl die Äbtissin sich bis auf die Terrasse der +Orangerie mitziehen ließ, war sie weit entfernt davon, +alles zu glauben, was Felizia ihr erzählte. Man kann +sich nicht vorstellen, wie groß ihr Staunen, ihre Entrüstung, +ihre Bestürzung war, als sie, neun oder zehn +Fuß tiefer, zwei Nonnen bemerkte, welche sich zu dieser +unerlaubten Stunde außerhalb ihrer Gemächer befanden; +denn die vollkommen dunkle Nacht erlaubte +ihr nicht gleich, Fabiana und Celia zu erkennen.</p> + +<p>„Gottlose Mädchen,“ schrie sie mit einer Stimme, die +gebieterisch sein sollte, „unvorsichtige Unglückliche! +Dient Ihr so der göttlichen Majestät? Bedenkt, daß +der große heilige Benedikt, Euer Beschützer, Euch von +der Höhe des Himmels betrachtet und schaudert, da er +Euch gegen sein Gesetz freveln sieht. Kehrt in Euch +ein und, da die Nachtglocke seit langem geläutet hat, +eilt in Eure Gemächer zurück und betet, in Erwartung +der Buße, die ich Euch morgen früh auferlegen werde.“</p> + +<p>Wer könnte die Bestürzung und den Kummer Celias +und Fabianas schildern, als sie über ihren Köpfen, und +so aus der Nähe die gebietende Stimme der gereizten +Äbtissin hörten? Sie hörten auf zu sprechen und verhielten +sich unbeweglich, als eine ganz andre Überraschung +sowohl sie wie die Äbtissin traf. Diese Damen +hörten kaum acht oder zehn Schritt entfernt auf der +andern Seite der Tür den heftigen Lärm eines Degengefechts. +Bald schlugen Schreie verwundeter Kämpfer +herüber; einzelne von Schmerzen entpreßt. Welches +Leid empfanden Celia und Fabiana, als sie die Stimmen +Lorenzos und Pierantonios erkannten! Sie hatten Nachschlüssel +<a id="page-133"></a><span class="pgnum">133</span>zur Gartentür, sie stürzten sich auf die +Schlösser, und obgleich die Türe ungeheuer war, hatten +sie doch die Kraft, sie in ihren Angeln zu drehen. +Celia, welche die stärkere und ältere war, wagte als +erste aus dem Garten zu treten. Sie kehrte einige Augenblicke +später zurück, ihren Geliebten, Lorenzo, mit ihren +Armen stützend, der gefährlich verwundet zu sein schien +und sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Er +ächzte bei jedem Schritt wie ein Sterbender, und wirklich, +als er kaum zehn Schritt im Garten getan hatte, +fiel er trotz der Anstrengungen Celias zu Boden und +verschied alsbald. Celia, alle Vorsicht vergessend, rief +ihn mit lauter Stimme an und warf sich schluchzend +über seinen Körper, als er nicht mehr antwortete.</p> + +<p>All das geschah ungefähr zwanzig Schritt von dem +Dach der kleinen Orangerie entfernt. Felizia begriff +sehr wohl, daß Lorenzo tot oder sterbend war und es +würde schwer sein, ihre Verzweiflung zu schildern. ‚Ich +bin die Ursache von all dem,‘ sagte sie sich, ‚Roderigo +hat sich hinreißen lassen und wird Lorenzo zu Tode +getroffen haben. Er ist von Natur grausam, und seine +Eitelkeit verzeiht niemals die Wunden, die man ihr +schlägt: in mehreren Maskenzügen wurden die Pferde +Lorenzos und die Livreen seiner Leute schöner gefunden +als seine eigenen.‘ Felizia stützte die vor Entsetzen +fast ohnmächtige Äbtissin.</p> + +<p>Einige Augenblicke später kehrte die unglückliche +Fabiana, ihren Liebhaber Pierantonio stützend, in den +Garten zurück; auch er war von tödlichen Stichen getroffen. +Auch er war am Verscheiden, aber inmitten +des allgemeinen Schweigens, das diese Szene des Entsetzens +um sich gebreitet hatte, hörte man, wie er zu +Fabiana sagte: „Es ist Don Cesare, der Malteser. Ich +<a id="page-134"></a><span class="pgnum">134</span>habe ihn wohl erkannt; aber wenngleich er mich verwundet +hat, trägt auch er meine Zeichen.“</p> + +<p>Don Cesare war der Vorgänger Pierantonios bei Fabiana +gewesen. Diese junge Nonne schien jede Angst +um ihren Ruf verloren zu haben: sie rief mit lauter +Stimme die Madonna und ihre Schutzheilige zu Hilfe, +sie rief auch ihre Kammerfrau, es kümmerte sie nicht, +das ganze Kloster zu wecken; das kam daher, daß sie +Pierantonio wirklich liebte. Sie wollte ihn pflegen, sein +Blut stillen, seine Wunden verbinden. Diese wahrhafte +Leidenschaft erregte das Mitleid vieler Nonnen. Man +näherte sich dem Verwundeten, man eilte fort, um +Binden zu holen. Er saß unter einem Lorbeerbaum und +lehnte sich an ihn. Fabiana lag vor ihm auf den Knien +und mühte sich um ihn. Er sprach noch gut und erzählte +von neuem, daß es der Malteserritter Don Cesare +war, der ihn verwundet hatte, — als er mit einem Male +die Arme streckte und verschied.</p> + +<p>Celia unterbrach die Verzweiflungsausbrüche Fabianas. +Einmal des Todes Pierantonios gewiß, schien +sie ihn vergessen zu haben und erinnerte sich nur noch +der Gefahr, die sie und ihre teure Fabiana umgab. +Diese war ohnmächtig auf dem Leichnam ihres Geliebten +zusammengebrochen. Celia richtete sie halb auf +und schüttelte sie heftig, um sie wieder zu sich zu +bringen.</p> + +<p>„Dein Tod und der meine sind gewiß, wenn du dich +dieser Schwäche hingibst,“ sagte sie ihr mit leiser +Stimme, indem sie den Mund an ihr Ohr preßte, um +nicht von der Äbtissin gehört zu werden, die sie wohl +unterschied, wie sie, an das Geländer des Daches gelehnt, +kaum zehn oder zwölf Fuß über dem Garten +stand: „Wach auf,“ sagte sie ihr, „denk an dein Heil +<a id="page-135"></a><span class="pgnum">135</span>und an deine Sicherheit! Du wirst viele Jahre in einein +dunklen, ekelhaften Loch gefangen sein, wenn du dich +jetzt noch länger deinem Schmerz überläßt.“</p> + +<p>In diesem Augenblick näherte sich die Äbtissin, +welche in den Garten hinabsteigen wollte, auf den Arm +Felizias gestützt, den beiden unglücklichen Nonnen.</p> + +<p>„Was Euch betrifft, Signora,“ sagte ihr Celia so +stolz und fest, daß es selbst der Äbtissin Eindruck +machte, „wenn Ihr den Frieden liebt und die Ehre +des Klosters Euch teuer ist, so werdet Ihr zu schweigen +wissen und nicht aus all dem einen Klatsch beim Großherzog +machen. Auch Ihr habt geliebt, man glaubt +allgemein, daß Ihr ehrbar gewesen seid und das verleiht +Euch eine Überlegenheit über uns; aber wenn Ihr +ein Wort von dieser Angelegenheit dem Großherzog +sagt, wird sie bald das einzige Gespräch der Stadt bilden +und man wird sagen: die Äbtissin von Santa Riparata, +die in den früheren Jahren ihres Lebens die Liebe +kannte, hat nicht genug Festigkeit, um die Nonnen ihres +Klosters zu leiten. Ihr werdet uns verderben, Signora, +aber Ihr werdet Euch selbst noch sicherer als uns verderben. +Gesteht, Signora,“ sagte sie der Äbtissin, welche +Seufzer und verwirrte Ausrufe und leise Schreie des +Staunens ausstieß, „daß Ihr selbst in diesem Augenblick +nicht wißt, was für Euer Heil und für das des +Klosters zu tun ist!“</p> + +<p>Und weil die Äbtissin verwirrt und stumm blieb, +fügte Celia hinzu: „Vor allem müßt Ihr schweigen +und sodann ist das Wichtigste, diese beiden Leichen +sogleich von hier weit weg zu bringen, welche unser +Verderben bedeuten, unsres und Eures, wenn man sie +entdeckt.“</p> + +<p>Die arme Äbtissin seufzte tief und war so verstört, +<a id="page-136"></a><span class="pgnum">136</span>daß sie nicht einmal zu antworten vermochte. Sie hatte +nicht mehr Felizia neben sich, denn diese hatte sich +klüglich entfernt, nachdem sie die Vorsteherin zu den +beiden unglücklichen Nonnen hingeführt hatte, von +denen sie unter keinen Umständen erkannt werden +wollte.</p> + +<p>„Meine Töchter, tut alles, was Euch notwendig, alles, +was Euch passend erscheint,“ sagte endlich die unglückliche +Äbtissin mit einer Stimme, die vor Schauder +über die Lage, in der sie sich befand, ganz gebrochen +war. „Ich werde unsre Schande verhehlen, aber wisset, +daß die Augen der göttlichen Gerechtigkeit immer offen +sind für unsre Sünden.“</p> + +<p>Celia schenkte den Worten der Äbtissin gar keine +Aufmerksamkeit.</p> + +<p>„Wisset Schweigen zu bewahren, Signora, das ist +alles, was man von Euch verlangt,“ wiederholte sie +mehrere Male, indem sie sie unterbrach. Dann wandte +sie sich an Martona, die Vertraute der Äbtissin, welche +eben hinzutrat: „Helft mir, liebe Freundin! Es gilt die +Ehre des ganzen Klosters, es gilt die Ehre und das +Leben der Äbtissin, denn wenn sie spricht, verdirbt sie +nicht nur uns; unsre edlen Familien werden uns nicht +ungerächt verkommen lassen.“ Fabiana schluchzte auf +den Knien, an einen Olivenbaum gelehnt, und war +außerstande, Celia und Martona zu helfen.</p> + +<p>„Zieh dich in deine Gemächer zurück“, sagte ihr +Celia. „Denk vor allem daran, die Blutspuren, die +sich vielleicht an deinen Kleidern finden können, verschwinden +zu lassen. In einer Stunde werde ich mit +dir weinen.“</p> + +<p>Felizia war in Verzweiflung. Obgleich dieses Jahrhundert +zu nahe den wahren Gefahren lebte, als daß +<a id="page-137"></a><span class="pgnum">137</span>es sich durch eine übermäßige Zartheit hätte auszeichnen +können, vermochte sie sich doch nicht zu verhehlen, +daß sie es war, die diese ganze Geschichte angezettelt +hatte. Auf dem Dache der Orangerie konnte +sie nur schlecht verstehen, was Pierantonio sagte, überdies +sah sie, daß die Türe ganz offen stand: sie litt +Todesangst, daß Roderigos Unvorsichtigkeit und die unbestimmte +Hoffnung auf ein Stelldichein ihn dazu verführen +könnten, sich zu zeigen; denn seit er nicht mehr +geliebt wurde, war er, trotz all seiner natürlichen Leichtfertigkeit, +ein leidenschaftlicher Liebhaber geworden.</p> + +<p>Die vor Grauen erstarrte Äbtissin war unbeweglich +geblieben und widersetzte sich auch den Bitten Felizias, +welche sie beschwor, in den Garten hinabzusteigen; +aber endlich umschlang Felizia, die durch ihre Gewissensvorwürfe +der Tollheit nahe war, mit beiden +Armen die Äbtissin, und zwang sie fast mit Gewalt, +die sieben oder acht Stufen hinabzusteigen, die von +der Dachterrasse der Orangerie in den Garten führten. +Felizia beeilte sich, die Äbtissin der Sorge der erstbesten +Nonnen, die sie trafen, zu übergeben. Sie eilte +zum Tor, zitternd vor Furcht, dort Roderigo zu +treffen<a href="#FN-1" id="FNA-1"><sup>1</sup></a>; sie fand nichts, als das blöde Gesicht der +endlich durch so viel Lärm aus tiefer Betrunkenheit +erwachten Schildwache, welche, die Flinte in der Hand, +diese schwarzen Figuren betrachtete, die sich im Garten +bewegten. Felizias Absicht war, die Türe zu schließen, +aber sie bemerkte, daß der Soldat sie starr anblickte.</p> + +<p>‚Wenn ich das Tor schließe,‘ sagte sie sich, beschwert +von ihren Gedanken und fast verletzt davon, daß sie +<a id="page-138"></a><span class="pgnum">138</span>sonst niemand sah, ‚wird er sich an mein Gesicht erinnern +und wird mich kompromittieren können.‘</p> + +<p>Dieser Gedanke gab ihr Klarheit. Sie glitt in einen +dunklen Teil des Gartens zurück, und suchte von dort +aus zu sehen, wo Rodelinde war; endlich entdeckte sie +sie bleich und halbtot an einen Olivenbaum gelehnt, +packte sie an der Hand und alle beide liefen in aller +Hast in ihre Gemächer zurück.</p> + +<p>Celia trug mit Hilfe Martonas zuerst den Leichnam +ihres Geliebten und dann den Pierantonios in die Straße +der Goldarbeiter, die zehn Minuten Wegs von dem Tor +des Gartens entfernt lag. Celia und ihre Gefährtin +waren so glücklich, von niemand erkannt zu werden. +Durch eine ganz besondere Fügung, ohne die all ihre +weise Umsicht vergebens gewesen wäre, hatte sich der +Soldat, der Wachposten vor dem Gartentor war, auf +einen etwas entfernten Stein gesetzt und schien von +neuem zu schlafen. Davon hatte sich Celia zuerst vergewissert, +ehe sie es unternahm, die Leichen hinauszuschaffen. +Bei der Rückkehr von dem zweiten Gang +erschraken aber Celia und ihre Begleiterin heftig. Die +Nacht war schon etwas weniger finster geworden, es +mochte zwei Uhr des Morgens sein; sie sahen ganz +deutlich drei Soldaten vor der Türe des Gartens stehen, +und, was noch weit schlimmer war: diese Tür schien +geschlossen zu sein.</p> + +<p>„Das ist die erste Dummheit unsrer Äbtissin“, sagte +Celia zu Martona. „Sie wird sich erinnert haben, daß +die Regel des heiligen Benedikt will, daß die Türe des +Gartens verschlossen sei. Wir werden zu unsren Eltern +flüchten müssen, und bei der Strenge dieses düstren +Fürsten, den wir haben, ist es wohl möglich, daß ich +bei dieser Sache das Leben lasse. Du, Martona, bist in +<a id="page-139"></a><span class="pgnum">139</span>nichts schuldig; du hast auf meinen Befehl geholfen, +die Leichen fortzubringen, deren Anwesenheit im Garten +das Kloster entehren konnte. Knien wir hinter diesen +Steinen nieder.“</p> + +<p>Zwei Soldaten kamen an ihnen vorbei und gingen von +dem Gartentor in ihre Wachstube zurück. Celia bemerkte +zu ihrer Freude, daß sie fast vollständig betrunken +waren. Sie unterhielten sich, aber der, welcher auf Wache +gewesen war, man konnte ihn an seiner hohen Gestalt +leicht erkennen, erzählte seinem Kameraden gar nichts +von den Ereignissen dieser Nacht; und tatsächlich sagte +er im Prozeß, welcher später geführt wurde, nur aus, +daß prächtig gekleidete Bewaffnete sich wenige Schritte +von ihm entfernt geschlagen hatten. In der tiefen +Dunkelheit hätte er sieben oder acht Mann unterscheiden +können; aber er hätte sich wohl gehütet, sich in ihren +Streit zu mischen; darauf wären sie alle in den Garten +des Klosters eingetreten.</p> + +<p>Als die beiden Soldaten vorüber waren, näherten sich +Celia und ihre Gefährtin der Türe des Gartens und +fanden sie zu ihrer großen Freude nur angelehnt. Diese +weise Vorsicht war das Werk Felizias. Als sie die +Äbtissin verlassen hatte, um nicht von Celia und Fabiana +erkannt zu werden, war sie zu der Gartentür gelaufen, +die ganz offen stand<a href="#FN-2" id="FNA-2"><sup>2</sup></a>. Sie hatte tödliche Angst, +daß Roderigo, der ihr in diesem Augenblick Abscheu +einflößte, die Gelegenheit ausnützen und in den Garten +eintreten könnte, um sie zu sehen. Da sie seine Unvorsichtigkeit +und Verwegenheit kannte und befürchtete, +daß er sie bloßstellen möchte, um sich wegen +des Nachlassens ihrer Gefühle, das ihm nicht unbekannt +<a id="page-140"></a><span class="pgnum">140</span>war, zu rächen, hatte sich Felizia bei der Tür am Boden +hinter den Bäumen verborgen. Sie hatte alles gehört, +was Celia zu der Äbtissin und nachher zu Martona gesagt +hatte, und sie war es, welche die Türe des Gartens +zugelehnt hatte, als sie wenige Augenblicke, nachdem +Celia und Martona den zweiten Leichnam fortgebracht +hatten, die Soldaten kommen hörte, die den Wachposten +ablösten.</p> + +<p>Felizia sah, wie Celia die Türe mit ihrem Nachschlüssel +wieder schloß und sich darauf entfernte. Dann +erst verließ sie den Garten. „Also das ist diese Rache,“ +sagte sie sich, „von der ich mir soviel Vergnügen versprochen +hatte.“ Sie verbrachte den Rest der Nacht mit +Rodelinde und versuchten die Ereignisse zu enträtseln, die +eine so tragische Wendung herbeigeführt haben mochten.</p> + +<p>Zum Glück kehrte ihre Kammerfrau schon ganz früh +am nächsten Morgen zurück und brachte ihr einen +langen Brief Roderigos. Er und Lancelotto hatten sich +aus Bravour nicht von bezahlten Mördern helfen lassen +wollen, wie es damals in Florenz allgemein üblich war.</p> + +<p>Nur sie beide hatten Lorenzo und Pierantonio angegriffen. +Der Zweikampf hatte sehr lange gedauert, weil +Roderigo und Lancelotto, dem erhaltenen Befehl getreu, +sich standhaft zurückgehalten hatten, um ihren +Gegnern nur leichte Wunden zuzufügen, und sie hatten +ihnen wirklich nur Degenstöße gegen die Arme beigebracht +und waren vollkommen sicher, daß sie an +diesen Wunden nicht sterben konnten. Aber als sie sich +gerade zurückziehen wollten, hatten sie zu ihrem großen +Erstaunen einen wütenden Raufbold sich auf Pierantonio +stürzen gesehen. An den Schreien, die er beim +Angriff ausstieß, hatten sie deutlich den Malteserritter +Don Cesare erkannt. Als sie sich nun zu dritt gegen +<a id="page-141"></a><span class="pgnum">141</span>zwei noch dazu verwundete Männer sahen, beeilten sie +sich, zu fliehen und am nächsten Morgen gab es großes +Staunen in Florenz, als man die Leichen dieser beiden +jungen Männer entdeckte, welche unter der reichen und +eleganten Jugend der Stadt den ersten Rang einnahmen. +Dieser Rang bewirkte, daß man von ihrem Ende Notiz +nahm, denn unter der lockeren Herrschaft Francesco, +auf welchen der strenge Ferdinand gefolgt war, hatte +Toskana einer Provinz Spaniens geglichen und man +zählte jedes Jahr mehr als hundert Morde in der +Stadt. Die Erörterungen, welche die vornehme Gesellschaft +bewegten, der Lorenzo und Pierantonio angehört +hatten, drehten sich um die Frage, ob sie einander im +Zweikampf erschlagen hätten oder als Opfer irgendeiner +Rache gefallen seien.</p> + +<p>Am Morgen nach diesem großen Ereignis war alles +im Kloster ruhig. Die große Mehrzahl der Nonnen hatte +keine Ahnung von dem, was vorgefallen war. Seit Tagesanbruch +und noch bevor die Gärtner kamen, hatte Martona +die Erde an den Stellen, wo sie mit Blut befleckt +war, umgegraben, um die Spuren von dem, was geschehen +war, zu zerstören. Dieses Mädchen, das selbst +einen Liebhaber hatte, führte mit viel Intelligenz und +besonders ohne irgend etwas der Äbtissin zu sagen die +Befehle Celias aus. Die machte ihr ein hübsches Diamantkreuz +zum Geschenk. Martona, welche ein sehr einfaches +Mädchen war, bedankte sich dafür und sagte:</p> + +<p>„Es gibt eine Sache, die ich allen Diamanten der +Welt vorziehen würde. Seit diese neue Äbtissin ins +Kloster gekommen ist, habe ich, obgleich ich mich, um +ihre Gunst zu erlangen, zu jedem Dienst erniedrigt habe, +niemals von ihr erreichen können, daß sie mir auch +nur die kleinste Erleichterung gewährt hätte, um Giuliano +<a id="page-142"></a><span class="pgnum">142</span>R**, der mein Freund ist, zu sehen. Diese +Äbtissin wird unser aller Unglück sein. Schließlich +sind es schon mehr als vier Monate, seit ich Giuliano +gesehen habe, und es wird damit enden, daß er +mich vergißt. Die vertraute Freundin der gnädigen +Signora Fabiana gehört doch zu den acht Schwestern-Pförtnerinnen; +ein Dienst verlangt den andern. Könnte +Signora Fabiana nicht eines Tages, wenn sie Wache +an der Türe haben wird, mir erlauben, fortzugehen, um +Giuliano zu sehen oder ihm erlauben, zu kommen?“</p> + +<p>„Ich werde mein möglichstes tun,“ sagte Celia, „aber +die große Schwierigkeit, die Fabiana mir einwerfen +wird, ist, daß die Äbtissin Eure Abwesenheit bemerken +wird. Ihr habt sie zu sehr daran gewöhnt, Euch unaufhörlich +in der Nähe zu haben. Versucht, Euch hie +und da zu entfernen. Ich bin sicher, wenn Ihr Euch +an jede andere angeschlossen hättet als an die Frau +Äbtissin, würde es Fabiana gar keine Schwierigkeit +machen, Euren Wunsch zu erfüllen.“</p> + +<p>Nicht ohne Plan sprach Celia so.</p> + +<p>„Du verbringst dein Leben damit, deinen Geliebten +zu beweinen“, sagte sie zu Fabiana, „und denkst nicht +an die entsetzliche Gefahr, die uns droht. Unsere Äbtissin +ist so unfähig zu schweigen, daß früher oder +später das, was geschehen ist, unsrem strengen Großherzog +zur Kenntnis kommen wird. Er hat die Ideen +eines Mannes, der fünfundzwanzig Jahre Kardinal war, +auf den Thron mitgebracht. Unser Verbrechen ist eins +der größten, das man in den Augen der Religion begehen +kann; mit einem Wort: das Leben der Äbtissin +ist unser Tod.“</p> + +<p>„Was willst du sagen?“ fragte Fabiana, sich die +Tränen trocknend. +</p> + +<p><a id="page-143"></a><span class="pgnum">143</span>„Ich will sagen, daß du von deiner Freundin, +Vittoria Ammanati ein wenig von dem berühmten Gift +von Perugia erlangen mußt, daß ihre Mutter, die ja +selbst von ihrem Gatten vergiftet worden ist, ihr sterbend +gab. Ihre Krankheit hatte mehrere Monate gedauert +und wenige hatten an Gift geglaubt; genau so +wird es bei unsrer Äbtissin sein.“</p> + +<p>„Dein Gedanke entsetzt mich,“ rief die sanfte Fabiana.</p> + +<p>„Ich zweifle nicht an deinem Entsetzen, und ich +würde es teilen, wenn ich mir nicht sagte: das Leben +der Äbtissin ist der Tod Fabianas und Celias. Bedenke +doch: sie ist vollkommen unfähig, zu schweigen; ein +Wort von ihr genügt, um den Kardinal-Großherzog zu +überzeugen, der nichts so verabscheut wie jene Verbrechen, +die durch die alte Freiheit, die in unsern armen +Klöstern herrschte, verursacht wurden. Deine Cousine +steht in nahen Beziehungen zu Martona, die einem +Zweig ihrer Familie angehört, der durch den Zusammenbruch +von 1584 ruiniert wurde. Martona ist +sterblich verliebt in einen schönen Seidenweber, namens +Giuliano: es ist notwendig, daß deine Cousine ihr als +ein Schlafmittel, geeignet, die unbequeme Aufmerksamkeit +der Äbtissin zu beseitigen, dieses Gift aus Perugia +gibt, das den Tod in sechs Monaten herbeiführt.“</p> + +<p>Als Graf Buondelmonte wieder Gelegenheit fand, bei +Hof zu erscheinen, beglückwünschte ihn Großherzog +Ferdinand zu der mustergültigen Ruhe, die in dem +Kloster von Sante Riparata herrschte. Dieser Ausspruch +des Fürsten veranlaßte den Grafen, sich sein +Werk anzusehen. Man kann sich sein Erstaunen vorstellen, +als die Äbtissin ihm von dem Doppelmord erzählte, +dessen Ende sie mit angesehen hatte. Der Graf +<a id="page-144"></a><span class="pgnum">144</span>merkte wohl, daß die Äbtissin Virgilia ganz unfähig +war, ihm die geringste Auskunft über den Grund dieses +Doppelverbrechens zu geben. ‚Außer Felizia‘, sagte er +sich, ‚mit ihrem klaren Kopf, dessen Logik mich vor +sechs Monaten bei meinem ersten Besuch so in Verlegenheit +brachte, gibt es hier niemand, der mir Aufschluß +über die fragliche Angelegenheit geben könnte. +Aber wird sie sprechen wollen, eingenommen wie sie +ist gegen die Ungerechtigkeit der Gesellschaft und der +Familien in der Frage der Nonnen?‘</p> + +<p>Die Ankunft des großherzoglichen Vertreters im +Kloster hatte Felizia mit maßloser Freude erfüllt. Endlich +sah sie diesen unvergleichlichen Mann wieder, der +die einzige Ursache all ihrer Handlungen seit sechs Monaten +war! Durch eine entgegengesetzte Wirkung hatte +die Ankunft des Grafen Celia und ihre Freundin, die +junge Fabiana, in den tiefsten Schrecken versetzt.</p> + +<p>„Deine Bedenken werden uns zugrunde gerichtet +haben,“ sagte Celia zu Fabiana. „Die Äbtissin ist zu +schwach, als daß sie nicht gesprochen haben sollte. +Und jetzt ist unser Leben in den Händen des Grafen. +Zwei Auswege bleiben uns: die Flucht ergreifen! Aber +wovon werden wir leben? Der Geiz unsrer Väter wird +den Verdacht des Verbrechens, der über uns schwebt, +als Ausflucht benutzen, um uns das Brot zu verweigern. +Ehemals, als Toskana nur eine Provinz Spaniens war, +konnten sich die unglücklichen verfolgten Toskaner +nach Frankreich flüchten. Aber der Großherzog-Kardinal +will das spanische Joch abwerfen. Unmöglich +für uns, eine Zuflucht zu finden; dahin haben uns +deine kindischen Bedenken geführt, meine arme Freundin. +Wir werden deshalb nicht weniger genötigt sein, +das Verbrechen zu begehen, denn Martona und die Äbtissin +<a id="page-145"></a><span class="pgnum">145</span>sind die einzigen gefährlichen Zeugen dessen, was +in jener verhängnisvollen Nacht geschehen ist. Die Tante +Rodelindes wird nichts sagen; sie wird nicht die Ehre +ihrer Verwandten, die ihr so teuer ist, bloßstellen +wollen. Martona, die das angebliche Schlafmittel der +Äbtissin verabreicht hat, wird sich wohl hüten, zu +sprechen, sobald wir ihr gesagt haben, daß dieses +Schlafmittel ein Gift war. Außerdem ist sie ein gutes +Mädchen und leidenschaftlich in ihren Giuliano verliebt.“</p> + +<p>Es währte zu lang, wollte man die geistvolle Unterhaltung +wiedergeben, die Felizia mit dem Grafen führte. +Ihr war immer der Fehler gegenwärtig, den sie begangen +hatte, als sie zu schnell in der Angelegenheit +der beiden Kammerfrauen nachgab. Die Folge dieses +Übermaßes von Gutherzigkeit war, daß der Graf sechs +Monate hatte verstreichen lassen, ohne im Kloster zu +erscheinen. Felizia gab sich das Versprechen, nicht +wieder in den gleichen Irrtum zu verfallen. Der Graf +hatte sie mit allergrößter Artigkeit bitten lassen, ihm +eine Unterredung im Sprechzimmer zu gewähren. Diese +Einladung brachte Felizia außer sich. Es war nötig, +daß sie sich erinnerte, was sie ihrer Würde als Frau +schuldig sei, um die Unterredung auf den nächsten Tag +zu verschieben. Aber als sie in dieses Sprechzimmer +eintrat, wo der Graf allein war, fühlte sich Felizia von +einer ihr ganz fremden Schüchternheit ergriffen, obwohl +sie durch ein Gitter ungeheurer Eisenstäbe von +ihm getrennt war. Ihr Erstaunen war außerordentlich; +sie bereute den Einfall tief, der ihr einstmals so geschickt +und gefällig erschienen war. Wir sprechen von +dem Geständnis ihrer Leidenschaft für den Grafen, das +sie damals der Äbtissin gemacht hatte, damit diese es +<a id="page-146"></a><span class="pgnum">146</span>dem Grafen wiedererzähle. Damals war sie weit davon +entfernt, ihn so zu lieben wie jetzt. Es war ihr vergnüglich +erschienen, das Herz des ernsten Vertreters anzugreifen, +den der Herzog dem Kloster gegeben hatte. Jetzt +waren ihre Gefühle ganz anders. Ihm zu gefallen, war +notwendig für ihr Glück; wenn ihr dies nicht gelänge, +würde sie unglücklich sein, und wie würde ein so ernster +Mann die seltsame Eröffnung aufnehmen, die ihm die +Äbtissin machen würde? Es könnte leicht geschehen, +daß er sie indezent fände, und dieser Gedanke war +eine Marter für Felizia. Es war nötig zu sprechen. Der +Graf saß ernst vor ihr und sagte ihr Höflichkeiten über +ihren starken Geist. „Hat es ihm die Äbtissin schon +erzählt?“ Die ganze Aufmerksamkeit der jungen Nonne +vereinigte sich auf diese große Frage. Zu ihrem Glück +glaubte sie zu erkennen, was in der Tat die Wahrheit +war: daß die Äbtissin, vom Anblick der beiden Leichen +jener verhängnisvollen Nacht noch ganz entsetzt, eine +so nichtige Einzelheit wie die törichte Liebe der jungen +Nonne ganz vergessen hatte.</p> + +<p>Der Graf bemerkte die außerordentliche Verwirrung +dieses schönen Mädchens sehr wohl und wußte nicht, +wem er sie zuschreiben sollte. ‚Wäre sie schuldig?‘ sagte +er sich. Diese Idee beunruhigte ihn, den so Vernünftigen. +Dieser Verdacht bewog ihn, den Antworten +der jungen Nonne außerordentliche und ernste Aufmerksamkeit +zu schenken. Das war eine Ehre, die er +schon seit langem nicht den Worten einer Frau erwiesen +hatte. Er bewunderte Felizias Geschick. Sie traf +die Kunst, in einer für den Grafen schmeichelhaften +Weise auf alles zu antworten, was er über den verhängnisvollen +Kampf an der Türe des Klosters sagte, +aber sie hütete sich wohl, ihm entscheidende Antworten +<a id="page-147"></a><span class="pgnum">147</span>zu geben. Nach einer Unterhaltung, die anderthalb +Stunden gewährt hatte, während deren der Graf +sich nicht einen Augenblick langweilte, beurlaubte er +sich von der jungen Nonne und bat sie mit Wärme, +ihm in einigen Tagen noch eine Unterredung zu gewähren. +Dies Wort erfüllte Felizias Herz mit himmlischer +Seligkeit.</p> + +<p>Der Graf ging sehr nachdenklich aus der Abtei von +Santa Riparata. ‚Es wäre ohne Zweifel meine Pflicht,‘ +sagte er sich, ‚dem Fürsten von den seltsamen Dingen, +die ich erfahren habe, in Kenntnis zu setzen. Der ganze +Staat hat sich mit dem Tod dieser beiden bedauernswerten, +so reichen und glänzenden jungen Leute beschäftigt. +Andrerseits hat uns der Fürst-Kardinal jetzt +einen so schrecklichen Bischof gegeben, daß man die +ganzen Greuel der spanischen Inquisition auf das unglückliche +Kloster hetzen würde, wenn man auch nur +ein Wort verlauten ließe von dem, was geschehen ist. +Es wäre nicht nur eines dieser armen jungen Mädchen, +das dieser fürchterliche Bischof umbringen lassen +würde, sondern vielleicht fünf oder sechs; und wer wäre +an ihrem Tode schuldig, wenn nicht ich, der nur einen +ganz kleinen Vertrauensmißbrauch zu begehen hat, damit +nichts geschieht? Wenn der Fürst erfährt, was vorgefallen +ist und mir Vorwürfe macht, werde ich ihm +sagen: Euer entsetzlicher Bischof hat mir Angst eingeflößt.‘</p> + +<p>Der Graf wagte nicht, sich alle die Gründe, die ihn +zum Schweigen brachten, genau einzugestehen. Er war +unsicher, ob nicht die schöne Felizia schuldig war, und +sein ganzes Wesen wurde von Schreck gepackt bei der +Vorstellung, das Leben eines armen, von ihren Eltern +und von der Gesellschaft so grausam behandelten +<a id="page-148"></a><span class="pgnum">148</span>jungen Mädchens in Gefahr bringen. ‚Sie würde die +Zierde von Florenz sein,‘ sagte er sich, ‚wenn man sie +verheiratet hätte.‘</p> + +<p>Der Graf hatte die vornehmsten Herrn und die reichsten +Kaufleute von Florenz zu einer prächtigen Jagdpartie +in den zur Hälfte ihm gehörenden Maremmen +von Siena eingeladen. Er entschuldigte sich bei ihnen; +die Jagd fand ohne ihn statt, und Felizia war sehr erstaunt, +als sie schon am übernächsten Morgen nach ihrer +ersten Unterhaltung die Pferde des Grafen im äußeren +Klosterhof stampfen hörte. Als der Vertreter des Großherzogs +den Entschluß gefaßt hatte, dem Fürsten nichts +von dem mitzuteilen, was geschehen war, hatte er gleichwohl +gefühlt, daß er die Verpflichtung auf sich nehmen +müsse, in Zukunft über die Ruhe des Klosters zu wachen. +Nun war es, um das zu erreichen, vor allem zu wissen +nötig, welchen Anteil die beiden Nonnen, deren Liebhaber +ermordet worden waren, an ihrem Tod gehabt +hatten. Nach einer langen Unterredung mit der Äbtissin +ließ der Graf acht oder zehn Nonnen rufen, unter denen +sich auch Fabiana und Celia befanden. Er fand zu seinem +großen Erstaunen, was auch die Äbtissin ihm gesagt +hatte, daß acht von diesen Nonnen gar nichts von den +Vorgängen jener verhängnisvollen Nacht wußten. Der +Graf stellte an keine direkte Fragen, außer an Celia und +an Fabiana: sie leugneten, Celia mit der ganzen Festigkeit +einer Seele, die über alles Unglück erhaben ist, die +junge Fabiana wie ein armes Mädchen in Verzweiflung +darüber, daß man es in barbarischer Weise an die +Quelle aller seiner Schmerzen erinnert. Sie war entsetzlich +abgemagert und hatte das Aussehen einer Schwindsüchtigen; +sie konnte sich über den Tod des jungen +Lorenzo B** nicht trösten. ‚Ich bin es, die ihn getötet +<a id="page-149"></a><span class="pgnum">149</span>hat,‘ sagte sie Celia in den langen Gesprächen, die sie +mit ihr führte; ‚ich hätte die Eigenliebe des wilden Don +Cesare, seines Vorgängers, besser schonen müssen, als +ich mit ihm brach.‘</p> + +<p>Kaum in das Sprechzimmer eingetreten, bemerkte +Felizia, daß die Äbtissin die Schwäche gehabt hatte, dem +Stellvertreter des Großherzogs von ihrer Liebe zu ihm +zu sprechen; die Haltung des gelassenen Buondelmonte +war dadurch ganz verändert. Das war zuerst ein Anlaß +des Errötens und der Verlegenheit für Felizia. Ohne +es zu wollen, war sie entzückend, während der langen +Unterredung, die sie mit dem Grafen hatte; aber sie +gestand nichts. Die Äbtissin wußte nichts genaues über +das, was sie gesehen und allem Anschein nach falsch +gesehen hatte. Celia und Fabiana gestanden nichts. Der +Graf war sehr verlegen. ‚Wenn ich die Kammerfrauen +und die Dienerinnen verhöre, heißt das, dem Bischof in +dieser Sache Zutritt verschaffen. Sie werden zu ihrem +Beichtvater davon sprechen und dann haben wir die +Inquisition im Kloster.‘</p> + +<p>Der Graf war sehr beunruhigt und kam alle Tage +nach Santa Riparata. Er hatte sich entschlossen, alle +Nonnen zu verhören, dann alle Hofkammerfrauen und +endlich das ganze Gesinde. Er deckte die Wahrheit über +einen vor drei Jahren verübten Kindesmord auf, dessen +Anzeige ihm der Offizial des geistlichen Gerichtshofs, +dessen Präsident der Bischof war, übermittelt hatte. +Doch zu seinem großen Erstaunen sah er, daß die Geschichte +der beiden jungen Leute, die sterbend den +Garten der Abtei betreten hatten, nur der Äbtissin, Celia, +Fabiana, Felizia und ihrer Freundin Rodelinde bekannt +war. Die Tante dieser Letzteren wußte sich so gut zu +verstellen, daß sie dem Argwohn entschlüpfte. Der +<a id="page-150"></a><span class="pgnum">150</span>Schrecken, den der neue Bischof Monsignore einflößte, +war derart groß, daß, mit Ausnahme der Äbtissin und +Felizias, die offensichtlich lügenhaften Aussagen aller +andren Nonnen immer in den gleichen Worten gegeben +wurden. Der Graf hatte zum Schluß jeder seiner +Sitzungen im Kloster eine lange Unterhaltung mit Felizia, +welche sie glücklich machte; aber um sie zu verlängern, +befleißigte sie sich, den Grafen jeden Tag nur einen +ganz kleinen Teil von dem mitzuteilen, was sie über +den Tod der beiden jungen Edelleute wußte. Im Gegensatz +dazu war sie von äußerstem Freimut in den Dingen, +die sie persönlich betrafen. Sie hatte drei Liebhaber +gehabt; sie erzählte dem Grafen, der fast ihr Freund +geworden war, die ganze Geschichte dieser Liebschaften. +Die völlige Offenheit dieses schönen und geistvollen +Mädchens fesselte den Grafen, dem es nicht schwer +fiel, sie mit äußerster Aufrichtigkeit zu beantworten.</p> + +<p>„Ich kann Euch nicht mit so interessanten Geschichten, +wie Eure es sind, erwidern,“ sagte er Felizia, +„und ich weiß nicht, ob ich es wagen soll, Euch zu +sagen, daß mir alle Eures Geschlechts, die ich in der +Welt getroffen habe, stets mehr Verachtung für ihren +Geist, als Bewunderung für ihre Schönheit eingeflößt +haben.“</p> + +<p>Die häufigen Besuche des Grafen hatten Celia die +Ruhe genommen. Fabiana, mehr und mehr von ihrem +Schmerz benommen, hatte aufgehört, den Ratschlägen +ihrer Freundin ihre Abwehr entgegenzusetzen. Als die +Reihe an sie kam, die Tür des Klosters zu bewachen, +öffnete sie, wandte den Kopf, und der junge Seidenweber +Giuliano, Martonas Freund, konnte ins Kloster +eintreten. Er verbrachte dort volle acht Tage, bis Fabiana +von neuem Dienst hatte und die Türe offen lassen +<a id="page-151"></a><span class="pgnum">151</span>konnte. Es scheint, daß Martona gegen Ende des langen +Aufenthalts ihres Geliebten, gerührt von Giulianos +Klagen, der sich allein in ihrem Zimmer eingeschlossen +tödlich langweilte, der Äbtissin, welche sie Tag und +Nacht um sich haben wollte, die einschläfernde Essenz +verabreichte.</p> + +<p>Als Giulia, eine sehr fromme junge Nonne, eines Abends +durch die großen Schlafräume ging, hörte sie in Martonas +Zimmer sprechen. Sie näherte sich leise, blickte +durch das Schlüsselloch und sah einen schönen jungen +Mann unter Scherzen mit Martona zur Nacht speisen. +Giulia tat einige Schläge gegen die Türe; als ihr aber +einfiel, daß Martona sehr wohl öffnen, sie mit diesem +jungen Mann einschließen und sie, Giulia, der Äbtissin +anzeigen könnte, wurde sie von großer Bestürzung erfaßt, +denn Martona verbrachte ihr ganzes Leben mit +der Äbtissin und man würde ihr gewiß glauben. In +ihrer Einbildung sah sie sich schon in diesem einsamen +und dunklen Korridor, wo noch keine Lampen angezündet +waren, von Martona verfolgt, die sehr viel stärker +war als sie selbst. Giulia ergriff ganz bestürzt die Flucht, +aber sie hörte noch Martona die Türe öffnen und bildete +sich ein, von ihr erkannt worden zu sein; so lief sie zur +Äbtissin, um ihr alles zu sagen und diese eilte in furchtbarer +Entrüstung auf Martonas Zimmer, wo sie jedoch +Giuliano nicht mehr vorfand, der sich in den Garten geflüchtet +hatte. Aber in der gleichen Nacht, da die Äbtissin +aus Vorsicht und im Interesse von Martonas Ruf, diese +zu sich nahm und ihr ankündigte, daß sie, damit die +Bosheit nicht wieder einen Mann dahinter vermuten +könne, am nächsten Morgen in Begleitung des Beichtvaters, +an die Türe ihrer Zelle Siegel anlegen werde, +mischte Martona, die in diesem Augenblick damit beschäftig +<a id="page-152"></a><span class="pgnum">152</span>war, der Äbtissin das aus einer Schokolade +bestehende Nachtmahl, zu bereiten, eine ungeheure +Menge des vorgeblichen Schlafpulvers hinein.</p> + +<p>Am nächsten Morgen befand sich die Äbtissin Virgilia +in einem so seltsamen Zustand nervöser Erregung und +fand, als sie in den Spiegel sah, ihr Gesicht so verändert, +daß sie dachte, sie würde sterben. Die erste Wirkung +des Giftes von Perugia ist, daß es die Personen, die davon +genossen, fast verrückt macht. Virgilia erinnerte sich, +daß eines der Vorrechte der Äbtissinnen des adligen +Klosters von Santa Riparata war, in ihren letzten Augenblicken +den Beistand Seiner bischöflichen Gnaden zu +genießen. Sie schrieb dem Prälaten, der bald im Kloster +erschien. Sie erzählte ihm nicht nur von ihrer Krankheit, +sondern auch von der Geschichte der beiden +Leichen. Der Bischof tadelte streng, daß sie ihm von +einem so eigentümlichen und so verbrecherischen +Vorfall nicht Kenntnis gegeben habe. Die Äbtissin antwortete, +daß der Stellvertreter des Herzogs, der Graf +Buondelmonte, ihr nachdrücklich geraten hätte, den +Skandal zu vermeiden.</p> + +<p>„Und wie kann dieser Weltliche die Kühnheit haben, +die genaue Erfüllung Eurer Pflichten Skandal zu +nennen?“</p> + +<p>Als sie den Bischof im Kloster erscheinen sah, sagte +Celia zu Fabiana: „Wir sind verloren. Dieser fanatische +Prälat, der um jeden Preis die Reform des Konzils von +Trient in den Klostern seiner Diözese einführen will, +wird sich ganz anders zu uns verhalten, als der Graf +Buondelmonte.“</p> + +<p>Fabiana warf sich weinend in Celias Arme: „Der +Tod macht mir nichts, aber ich werde doppelt verzweifelt +sterben, weil ich dich ins Verderben gestürzt +<a id="page-153"></a><span class="pgnum">153</span>habe, ohne damit das Leben dieser unglücklichen Äbtissin +zu retten.“</p> + +<p>Sogleich begab sich Fabiana in die Zelle der Nonne, +welche an diesem Abend die Torwache hatte. Ohne sich +auf die Einzelheiten einzulassen, sagte sie ihr, daß es +Ehre und Leben Martonas zu retten gelte, welche +die Unvorsichtigkeit begangen habe, einen Mann in +ihrer Zelle zu empfangen. Nach vielen Schwierigkeiten +willigte die Nonne ein, etwas nach elf Uhr +abends die Tür offen zu lassen und sich einen Augenblick +zu entfernen.</p> + +<p>Während dieser Zeit hatte Celia Martona sagen lassen, +sie möge sich in den Chor begeben. Das war ein Saal +wie eine zweite Kirche, die nur durch ein Gitter von +der dem Volke zugänglichen getrennt war; sie hatte +mehr als vierzig Fuß Höhe. Martona hatte sich in der +Mitte des Chors niedergekniet, so daß niemand hören +konnte, wenn sie leise sprach. Celia begab sich an ihre +Seite.</p> + +<p>„Hier“ — sagte sie ihr — „ist eine Börse, die alles +Geld enthält, das Fabiana und ich finden konnten. Heute +abend oder morgen abend werde ich es ermöglichen, daß +die Türe des Klosters einen Augenblick offen bleibt. +Laß Giuliano entschlüpfen und du rette dich bald danach. +Sei gewiß, daß die Äbtissin dem schrecklichen +Bischof alles gesagt hat und daß sein Gerichtshof dich +ohne Zweifel zu fünfzehn Jahren Kerker oder zum Tode +verurteilen wird.“</p> + +<p>Martona machte eine Bewegung, um sich Celia zu +Füßen zu werfen.</p> + +<p>„Was tust du, Unvorsichtige?“ rief diese, und es +gelang ihr, die Bewegung aufzuhalten. „Bedenke, daß +man Giuliano und dich in jedem Augenblick verhaften +<a id="page-154"></a><span class="pgnum">154</span>kann. Halte dich von jetzt an, bis zum Augenblick +deiner Flucht, so versteckt wie möglich, und gib +vor allem acht auf die Personen, die in das Sprechzimmer +der Frau Äbtissin eintreten.“</p> + +<p>Als der Graf am nächsten Morgen im Kloster eintraf, +fand er vieles verändert vor. Martona, die Vertraute der +Äbtissin war während der Nacht verschwunden; die +Äbtissin war so geschwächt, daß sie genötigt war, sich in +einem Lehnstuhl ins Sprechzimmer tragen zu lassen, um +den Vikar des Fürsten zu empfangen. Sie gestand ihm, +daß sie dem Bischof alles gesagt habe.</p> + +<p>„In diesem Fall werden wir Blut oder Gift haben“, +rief dieser aus.</p> + +<p>Die erste Sorge des Vertreters des Fürsten war, das +Wohl der jungen Felizia zu sichern. Graf Buondelmonte, +der menschlich fühlte, konnte den Gedanken nicht ertragen, +daß dieses schöne junge, ihm so zärtlich gesinnte +Mädchen verdammt sein sollte, keinen andern Gemahl +als einen verpesteten Kerker zu haben oder sogar Gift +zu trinken. ‚Wie schade wäre es,‘ dachte er sich, ‚wenn +Felizia wegen der gefährlichen Einfalt unsrer Äbtissin +und wegen des Fanatismus dieses schrecklichen Bischofs +ein Leben verlieren müßte, welches das Glück eines +rechtschaffenen Mannes ausmachen könnte! Man muß +um jeden Preis ein so gräßliches Los zu verhindern +trachten.‘ Und er sann nach, wie er sie unter irgendeiner +Verkleidung entfliehen lassen könnte.</p> + +<p>Da erinnerte er sich an eine Einzelheit: die Nonnen +des Klosters trugen unter ihrem Schleier ein Kleid +aus grüner Seide, welches eng anliegend am Körper +und gerade nur unter die Knie reichend, wenig von +dem glänzenden Kostüm der Waffenherolde abwich, +die bei den großen Zeremonien vor dem Fürsten einherschritten. +<a id="page-155"></a><span class="pgnum">155</span>‚Es wird genügen,‘ sagte sich der Graf, +‚daß Felizia ihren Schleier über dem Kopf zusammenrafft +und ihn wie ein Barett faltet; wenn sie dann ihr +langes fließendes Gewand wie einen Mantel um die +Schultern wirft, wird sie ganz das Ansehen eines großherzoglichen +Herolds haben. Man hat mir erzählt, daß +eine Nonne in solcher Verkleidung ausging, um ihren +Geliebten zu besuchen. Felizia wird ebenfalls keine +Schwierigkeit haben, besonders weil sie von mir begleitet +ist und die Wache wird ihr die Ehrenbezeugung +erweisen.‘</p> + +<p>Er ließ sofort Felizia rufen und teilte ihr seinen Plan +mit. Sie antwortete ihm, daß sie ihr Leben in seine +Hände gäbe: „Wisset,“ sagte sie, „daß es weniger Glück +für mich ist, es zu behalten, als es Euch zu verdanken +und zu wissen, daß Ihr Euch die Mühe genommen habt, +für mich zu sorgen.“ Ein feuriger Blick, der diese +Worte begleitete, verriet die Gefühle dieses leidenschaftlichen +Mädchens. Es war nicht Zeit für langes Reden. +Felizia beeilte sich, den Anweisungen des Grafen zu +folgen, und als sie passend verkleidet war, begab sie sich +auf dem gleichen Weg zur Terrasse der Orangerie, wie +in der Nacht, als Lorenzo und Pierantonio getötet +wurden. Sie stieg in den Garten, wohin der Graf ihr +vorausgegangen war und fand ihn nahe der Tür, die +auf die weite Ebene hinter den Stadtmauern führte. Man +hatte grade die Wache abgelöst und dieser Umstand begünstigte +noch die Flucht, denn die vorige Wache hätte +sich wundern können, einen Waffenherold, den sie nicht +eingelassen hatte, aus dem Kloster fortgehen zu sehn. +Der Graf und Felizia befanden sich in der Straße der +Goldarbeiter, dort führte er sie zu einem Mann, der ihm +sehr ergeben war, weil er ihn einstens vor den Galeeren +<a id="page-156"></a><span class="pgnum">156</span>gerettet hatte. Sie wechselte ihre Kleider, nahm die der +Tochter ihres Wirts und ritt gegen Mitternacht, von zwei +Dienern des Grafen begleitet, zu einem seiner Pächter, +der sie bis an die Grenzen Bolognas begleiten sollte, +wo die Buondelmonte Freunde hatten. Dort befand sie +sich endlich in Sicherheit.</p> + +<p>Dann bemühte sich Graf <a class="sic" id="sicA-10" href="#sic-10">Buondelonte</a>, auch die +sanfte Rodelinde zu retten, und es fiel ihm nicht zu +schwer, weil er sich Celias Nachschlüssel bedienen +konnte, die man ihr weggenommen hatte.</p> + +<p>Schon am nächsten Morgen kehrte der Bischof ins +Kloster zurück und führte, wie der Graf vorher geahnt +hatte, die ganzen Schrecken der Inquisition mit sich. +Er leitete den Prozeß gegen die Nonnen in den +strengsten Formen ein. Dieses Verfahren dauerte nicht +lange und der Prälat lud die schuldigen Schwestern in +dem Saal vor sich, wo gewöhnlich die Wahl der Äbtissin +stattfand. Der Spruch wurde verkündet: Celia +und Fabiana wurden verurteilt, durch Gift zu sterben; +andre, der Nonnenkleider verlustig zu gehen und bis ans +Ende ihrer Tage in ein Gefängnis geworfen zu werden, +und die endlich, die am wenigsten schuldig gefunden +wurden, sollten eine Gefangenschaft von zehn Jahren +erdulden.</p> + +<p>Kaum war diese Vorlesung beendet, als eine der zu +lebenslänglichem Kerker verurteilten Nonnen zum +Fenster lief, es öffnete und sich in den Garten stürzte; +eine andre durchstieß sich die Brust mit einem Dolch. +Schreckliche Schreie ertönten und verbreiteten Entsetzen +im ganzen Kloster.</p> + +<p>Der Bischof hatte sich zurückgezogen, als die +Ruhe wiederhergestellt war, und der Geistliche, dem +er seine Macht übertragen hatte, schritt an den schmerzlichsten +<a id="page-157"></a><span class="pgnum">157</span>Teil seiner Aufgabe, jenen, der Celia und Fabiana +betraf. Er machte ihnen in rauhester Weise Vorstellungen +über den Ernst der Unruhen, die sie veranlaßt +hatten und schloß, indem er ihnen sagte, sie müßten +dieses Leben verlassen, um den Zorn des Himmels zu +besänftigen.</p> + +<p>„Aber“, fügte er hinzu, „Eure Vorgesetzten und Eure +Richter, welche den Adel Eurer Familien und die Würde +dieses Orts in Betracht gezogen haben, wollten Euch +von der vollen Strenge der geistlichen <a class="sic" id="sicA-11" href="#sic-11">Diszipin</a> befreien +und Euch die Schande eines öffentlichen Urteilsvollzugs +ersparen; sie haben also, nach den Grundsätzen +der Barmherzigkeit Jesu Christi, beschlossen, +Euch Eure Tage in der Umfassung dieses geweihten Orts +beenden zu lassen — und durch den Schierlingstrank.“</p> + +<p>Während dieser Rede sah ihn Celia starr mit verächtlicher +Ruhe an. Als er aufgehört hatte, zu sprechen, +fragte sie ihn kurz, wo der Giftbecher sei. „Priester +eines Gottes der Barmherzigkeit,“ antwortete er, „habe +ich nur das Urteil über die Schuldigen zu sprechen: +die Ausführung ist den Laienbrüdern anvertraut, wendet +Euch an diese.“</p> + +<p>Ein Leibwächter des Geistlichen brachte zwei mit +diesem Gift gefüllte Becher, er reichte sie Celia, die einen +davon nahm und zu Fabiana sagte: „Bringen wir diese +Todesblume diesem Hanswurst der Seelen“ — und sie +schlang es hinunter bis auf den letzten Tropfen. Die +schwächere Fabiana gab sich Tränen und Klagen hin; +Celia machte ihr Vorwürfe über ihre Anhänglichkeit an +ein so unglückliches Leben und über ihre Feigheit, die, +wie sie sagte, der dieser Männer gleichkam, die sich +nicht schämten, von aller Welt verlassene Frauen zu ermorden.<a class="sic" id="sicA-12" href="#sic-12">“</a> +Endlich trocknete Fabiana ihre Tränen, faßte +<a id="page-158"></a><span class="pgnum">158</span>sich wie im Augenblick einer großen Krise und +würgte das Gebräu hinunter; es Tropfen für Tropfen +schlürfend.</p> + +<p>Indessen trugen Livia und eine andre Dienerin den +leblosen Körper der Nonne vom Garten herein, die sich +aus dem Fenster gestürzt hatte. Als Celia sie bemerkte, +entschlüpften ihr die Worte: „Wie ist sie glücklich, +nicht mehr zu leben!“ Dann sprach sie den beiden +Dienerinnen ihren Dank für die Ergebenheit aus, die +sie ihr gezeigt hatten; sie gab Livia einen Diamantring, +den sie am Finger trug, zum Geschenk, und +forderte sie auf, den Erlös mit ihrer Gefährtin zu +teilen.</p> + +<p>Das Gift begann auf seine Opfer zu wirken: Fabiana +wälzte sich auf der Erde in den Ängsten des +Todes; Celia bemerkte, daß der Delegat des Bischofs +und seine Leute fühllose Zeugen dieses Schauspiels +blieben: „Geht fort!“ rief sie aus, „laßt uns fern +von Euren Augen sterben! Gerechter Gott, verlängert +nicht unsre Marter!“ Endlich wurde ihre Natur durch +den Schmerz besiegt, und auch sie konnte sich nicht +mehr aufrecht halten und fiel zu Boden. In den +Krämpfen ihrer Agonie löste sich ihr reiches schwarzes +Haar und fiel ihr über Schultern und Brust, welche +durch ihre wilden Bewegungen entblößt waren. Alle, +sogar der Delegat, waren von Mitleid ergriffen, vielleicht +auch von Bedauern, an der Vernichtung eines +so vollkommenen Wesens Teil gehabt zu haben; +sie konnten den Anblick nicht länger ertragen und +gingen in einen Nebenraum. „Nie vielleicht“, sagte +der Bevollmächtigte des Bischofs, „gab es eine +unbeugsamere Seele in einer schöneren Hülle. Wie +schade!“ +</p> + +<p><a id="page-159"></a><span class="pgnum">159</span>Mittlerweile war Felizia in Bologna in aller Sicherheit +untergebracht worden. Graf Buondelmonte säumte +nicht, ihre seine Tröstungen zu bringen und man sagt, +daß dieser Herr in der Folge die Reise von Florenz +nach Bologna häufig unternahm.</p> + + + + +<h2><a id="page-161"></a><span class="pgnum">161</span>VITTORIA ACCORAMBONI</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-162"></a><span class="pgnum">162</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<p><a id="page-163"></a><span class="pgnum">163</span>Für mich wie für den Leser bedaure ich, daß dies kein +Roman, sondern die treue Übersetzung eines sehr +traurigen Berichtes ist, der im Dezember 1585 in Padua +aufgeschrieben worden ist.</p> + +<p>Ich befand mich vor einigen Jahren in Mantua, um +Skizzen und kleine Bilder zu suchen, die im Einklang +mit meinem beschränkten Vermögen stünden; ich +suchte Maler, die vor dem Jahre 1600 gearbeitet hatten, +denn etwa um diese Zeit ist die italienische Originalität +vollends ausgestorben, die schon durch die Besetzung +von Florenz im Jahre 1530 sehr gelitten hatte.</p> + +<p>An Stelle von Gemälden bot mir ein alter, sehr reicher +und geiziger Patrizier alte, von der Zeit vergilbte Manuskripte +sehr teuer zum Kauf an; ich bat um die Erlaubnis, +sie durchfliegen zu dürfen; er stimmte bei und +fügte hinzu, er rechne darin auf meine Anständigkeit, +daß ich mich an die pikanten Anekdoten, die ich lesen +sollte, nicht erinnern würde, wenn ich die Manuskripte +nicht kaufte.</p> + +<p>Unter dieser Bedingung, die mir paßte, habe ich sehr +zum Schaden meiner Augen an dreihundert oder vierhundert +Bände durchflogen, worin vor zwei oder drei +Jahrhunderten Erzählungen von tragischen Abenteuern +angehäuft worden sind, von Herausforderungsschreiben +zu Zweikämpfen, Friedensverträgen zwischen vornehmen +Nachbarn, Aufzeichnungen über Dinge aller Art usf. +<a id="page-164"></a><span class="pgnum">164</span>Der alte Eigentümer forderte für diese Manuskripte +einen ungeheuren Preis.</p> + +<p>Nach langem Unterreden erwarb ich gegen eine sehr +große Summe das Recht, gewisse kleine Geschichten, +die mir gefielen und die Lebensgewohnheiten Italiens +um 1500 zeigten, zu kopieren. Ich besitze zweiundzwanzig +Foliobände davon, und was der Leser hier lesen +wird, wenn er überhaupt Geduld dazu hat, ist eine dieser +getreu übersetzten Geschichten. Ich kenne die Geschichte +des sechzehnten Jahrhunderts in Italien, und +ich glaube, daß das Folgende vollkommen wahr ist. +Ich habe mir Mühe gegeben, damit die Übersetzung +dieses ernsten, geraden, düsteren, altitalienischen Stils, +der voll Anspielungen auf Dinge und Vorstellungen ist, +welche die Welt unter dem Pontifikat Sixtus V. beschäftigt +haben, nicht etwa die moderne schöne Literatur +widerspiegelt und die Ideen unseres vorurteilslosen +Jahrhunderts.</p> + +<p>Der unbekannte Autor des Manuskripts ist eine vorsichtige +Persönlichkeit; er beurteilt niemals eine Tatsache, +er bereitet nie auf sie vor, sein einziges Bestreben +ist, wahrheitsgemäß zu berichten. Wenn er dabei bisweilen, +ihm unbewußt, malerisch wird, kommt das +daher, daß im Jahre 1585 noch nicht alle Handlungen +der Menschen von einer Eitelkeitsaureole verschleiert +waren; man glaubte damals, nur dann auf den Nachbar +wirken zu können, wenn man sich mit größter Klarheit +ausdrückte. Um 1585 dachte außer den Hofnarren +oder den Poeten niemand daran, liebenswürdige +Redewendungen zu gebrauchen. Man sagte noch nicht +im Augenblick, wo man Postpferde holen ließ, um die +Flucht zu ergreifen: ich werde zu Füßen Eurer Majestät +sterben; dies war vielleicht die einzige Art von +<a id="page-165"></a><span class="pgnum">165</span>Verrat, die nicht üblich war. Man sprach wenig und +jeder hörte mit äußerster Aufmerksamkeit auf das, was +ihm gesagt wurde.</p> + +<p>Also, gütiger Leser, suche hier nicht eine beziehungsreiche, +leichte Schreibweise, die von frischen +Anspielungen auf die Art des modernen Empfindens +glänzt, erwarte nicht etwa die spannenden Erregungen +eines Romans der George Sand; diese große Schriftstellerin +hätte ein Meisterwerk aus dem Leben und dem +Unglück der Vittoria Accoramboni gemacht. Die wahrheitsgetreue +Erzählung, die ich darbiete, kann nur die +bescheidenen Vorzüge der Historie haben. Wenn man +aber zufällig bei einbrechender Nacht allein im Postwagen +sitzt und sich anschickt, über die große Kunst +der Ergründung des menschlichen Herzens nachzudenken, +wird man die Begebenheiten dieser Erzählung +als Grundlage seiner Beurteilung annehmen können. Der +Verfasser sagt alles, erklärt alles, überläßt nichts der +Einbildungskraft des Lesers; er schrieb die Geschichte +zwölf Tage nach dem Tod der Heldin.</p> + +<hr/> + +<p>Vittoria Accoramboni stammte aus altadeligem Geschlecht +einer kleinen Stadt des Herzogtums Urbino, +die Agubio heißt. Schon von Kindheit an fiel sie allen +durch ihre seltene, ungewöhnliche Schönheit auf. Aber +diese Schönheit war ihr geringster Reiz. Nichts fehlte +ihr, was ein Mädchen von vornehmer Geburt bewundernswert +macht, aber nichts war so bemerkenswert, +ja, man kann sagen: keine unter so vielen außerordentlichen +Eigenschaften grenzte so ans Wunderbare, +wie eine ganz eigne reizende Anmut, welche ihr beim +ersten Anblick Herz und Willen eines jeden gewann. +<a id="page-166"></a><span class="pgnum">166</span>Und diese Natürlichkeit, die dem geringsten ihrer Worte +Macht verlieh, war nicht durch den leisesten Anflug +von Künstelei getrübt; von Anfang an faßte man Zutrauen +zu dem vornehmen Mädchen, dem eine so ungewöhnliche +Schönheit verliehen war. Mit äußerster +Kraftanstrengung hätte man diesem Zauber vielleicht +widerstehen können, solange man sie nur gesehen hätte; +aber wenn man sie sprechen hörte und besonders, wenn +man in eine Unterhaltung mit ihr geriet, war es ganz +unmöglich, sich <a class="sic" id="sicA-13" href="#sic-13">einen</a> so ungewöhnlichen Reiz zu entziehen.</p> + +<p>Viele junge Kavaliere aus Rom, wo ihr Vater wohnte +und man seinen Palast noch heute auf der Piazza Rusticucci +nahe Sankt Peter sehen kann, warben um ihre +Hand. Es gab viel Eifersucht und Nebenbuhlerschaft; +aber schließlich gaben Vittorias Eltern Felice Peretti +den Vorzug, dem Neffen des Kardinals Montalto, der +später der glücklich herrschende Papst Sixtus V. geworden +ist.</p> + +<p>Felice war der Sohn Camilla Perettis, einer Schwester +des Kardinals und hieß früher Francesco Mignucci. Er +nahm den Namen Felice Peretti erst an, als er von +seinem Oheim in aller Form adoptiert wurde.</p> + +<p>Als Vittoria in das Haus Peretti einzog, brachte sie, +ohne daran zu denken, jenes Überstrahlende mit, das +man schicksalhaft nennen kann; so daß man sagen +möchte: um sie nicht anbeten zu müssen, dürfte man +sie nie gesehen haben. Die Liebe, die ihr Mann für sie +fühlte, ging bis zum Wahnsinn; ihre Schwiegermutter +und der Kardinal Montalto selbst schienen auf Erden +keine andre Beschäftigung zu haben, als die Wünsche +Vittorias zu erraten, um sie sogleich zu erfüllen. Ganz +Rom staunte, wie dieser Kardinal, der ebenso durch die +<a id="page-167"></a><span class="pgnum">167</span>Geringfügigkeit seines Vermögens, wie durch seinen Abscheu +vor jedem Luxus bekannt war, jetzt ständig +Freude daran fand, allen Wünschen Vittorias zuvorzukommen. +Jung, im Glanz ihrer Schönheit und von +allen angebetet, unterließ sie es nicht, bisweilen recht +kostspielige Einfälle zu haben. Vittoria empfing von +ihren neuen Verwandten die kostbarsten Schmucksachen, +Perlen und überhaupt alles, was bei den Goldarbeitern +Roms, die damals sehr gut versorgt waren, +als Seltenheit galt.</p> + +<p>Aus Liebe zu dieser liebenswürdigen Nichte behandelte +der wegen seiner Strenge so bekannte Kardinal +Montalto die Brüder Vittorias, als ob sie seine eignen +Neffen wären. Ottavio Accoramboni wurde, kaum +dreißig Jahr alt, durch die Vermittlung des Kardinals +Montalto vom Herzog von Urbino zum Bischof +von Fossombrone vorgeschlagen und vom Papst +Gregor XIII. dazu ernannt; Marcello Accoramboni, ein +Jüngling von ungestümem Mut, mehrerer Verbrechen +angeklagt und eifrig von der Corte verfolgt, war mit +größter Mühe den Verfolgungen entgangen, die leicht +zu seinem Tode hätte führen können. Durch die Protektion +des Kardinals gestützt, konnte er eine gewisse +Ruhe wieder erlangen.</p> + +<p>Ein dritter Bruder Vittorias, Giulio Accoramboni, +wurde vom Kardinal Alessandro Sforza zu den ersten +Ehrenposten seines Hofs zugelassen, kaum, daß der Kardinal +darum ersucht hatte.</p> + +<p>Mit einem Wort, wenn die Menschen ihr Glück nicht +an der unendlichen Unersättlichkeit ihrer Wünsche +messen würden, sondern am wirklichen Genusse aller +Vorteile, die sie schon besitzen, so hätte den Accoramboni +die Heirat Vittorias mit dem Neffen des Kardinals +<a id="page-168"></a><span class="pgnum">168</span>Montalto als Gipfel menschlicher Glückseligkeit erscheinen +müssen. Aber dies unsinnige Verlangen nach +unermeßlichen und unvorstellbaren Vorteilen treibt +selbst Menschen, die auf der Höhe des Glücks stehen, +in seltsame und gefährliche Bahnen.</p> + +<p>Es ist wohl wahr: wenn irgendeiner der Verwandten +Vittorias, in dem Wunsch, zu größerem Reichtum zu +gelangen, dazu beigetragen hätte, sie von ihrem Gatten +zu befreien, — wie ja in Rom vielfach Verdacht gehegt +wurde —, so hätte er bald nachher erkennen müssen, +wieviel weiser es gewesen wäre, sich mit den mäßigen +Vorteilen eines angenehmen Glücks zu begnügen, +welches ja so bald danach zu all dem aufgestiegen wäre, +was menschlicher Ehrgeiz nur wünschen kann.</p> + +<p>Während nun Vittoria gleich einer Königin in ihrem +Hause lebte, wurde Felice Peretti eines Abends, gerade +als er mit seiner Frau zu Bett gegangen war, ein Brief +durch eine gewisse Caterina zugestellt, die aus Bologna +stammte und Vittorias Kammerfrau war. Dieser Brief +war von einem Bruder Caterinas, Domenico d'Aquaviva, +mit dem Spitznamen il Mancino, der Linkshändige, +überbracht worden. Dieser Mann war wegen +verschiedener Verbrechen aus Rom verbannt, aber auf +Bitten Caterinas hatte ihm Felice die mächtige Protektion +seines Oheims des Kardinals verschafft, und +der Mancino kam oft in Felices Haus, der großes Vertrauen +in ihn setzte.</p> + +<p>Der Brief, von dem wir sprechen, war im Namen +Marcello Accorambonis geschrieben, welcher von allen +Brüdern Vittorias Felice am liebsten war. Er lebte gewöhnlich +versteckt außerhalb Roms, aber trotzdem +wagte er sich manchmal in die Stadt und fand dann +eine Zuflucht in Felices Haus. +</p> + +<p><a id="page-169"></a><span class="pgnum">169</span>In dem zu so ungewöhnlicher Stunde zugestellten +Brief rief Marcello seinen Schwager Felice Peretti um +Beistand an, er beschwor ihn, ihm zu Hilfe zu kommen +und fügte hinzu, daß er ihn in einer Angelegenheit +von großer Dringlichkeit beim Palazzo Montecavallo erwarte.</p> + +<p>Felice teilte seiner Frau von dem seltsamen Brief mit, +den er erhalten hatte; dann kleidete er sich an und +nahm keine andre Waffe als sein Schwert. Von einem +einzigen Diener begleitet, der eine brennende Fackel +trug, war er schon im Fortgehen, als er seine Mutter +Camilla und alle Frauen des Hauses, auch Vittoria unter +ihnen, auf seinem Weg fand; alle baten ihn inständigst, +nicht zu dieser vorgerückten Stunde fortzugehen. Da +er ihren Bitten nicht nachgab, fielen sie auf die Knie +und beschworen ihn weinend, auf sie zu hören.</p> + +<p>Die Frauen, und besonders Camilla, waren durch die +Erzählung seltsamer Dinge in Schrecken gesetzt, die sich +alle Tage ereigneten und in dieser Zeit des Pontifikats +Gregors XIII., die voller Unruhen und unerhörter Attentate +war, ungestraft blieben. Noch ein Gedanke beunruhigte +sie: Wenn Marcello Accoramboni es wagte, +nach Rom zu kommen, war es nicht seine Gewohnheit, +Felice rufen zu lassen, und gar zu solcher nächtlicher +Stunde schien ihnen ein derartiger Schritt gegen jeden +Anstand zu sein.</p> + +<p>In dem vollen Feuer seiner Jugend wollte Felice nicht +auf diese ängstlichen Vernunftgründe hören; als er noch +dazu erfuhr, daß der Brief vom Mancino gebracht +worden war, den er sehr gern hatte und dem er Gutes +erwiesen hatte, konnte ihn nichts halten, und er verließ +das Haus.</p> + +<p>Ihm voraus ging, wie schon gesagt wurde, ein einziger +<a id="page-170"></a><span class="pgnum">170</span>Diener mit einer brennenden Fackel. Aber der +arme junge Felice hatte kaum einige Schritte des Aufstiegs +zum Monte Cavallo gemacht, als er von drei +Flintenschüssen getroffen zusammenbrach. Als die +Mörder ihn auf der Erde sahen, warfen sie sich auf ihn +und durchbohrten ihn nach Gefallen mit Dolchstichen, +bis er ihnen völlig tot zu sein schien. Augenblicklich +wurde diese verhängnisvolle Nachricht zu Felices Mutter +und Frau gebracht, und durch diese gelangte sie zu +seinem Oheim, dem Kardinal.</p> + +<p>Der Kardinal ließ sich, ohne eine Miene zu verändern, +ohne die kleinste Bewegung zu verraten, sofort wieder +ankleiden, dann empfahl er sich selbst und diese arme, +so unvorbereitet dahingeraffte Seele seinem Gott. Er +begab sich zu seiner Nichte und durch eine das tiefste +Gleichgewicht zeigende Miene und bewundernswerte +Würde wußte er dem Klagen und Weinen der Frauen, +das im ganzen Haus zu widerhallen begann, etwas Einhalt +zu tun. Seine Macht über diese Frauen war von +solcher Wirksamkeit, daß man von diesem Augenblick +an, und selbst, als der Leichnam aus dem Hause getragen +wurde, nichts hörte noch sah, was im geringsten +von dem abgewichen wäre, was in den korrektesten +Familien bei einem längst vorhergesehenen Todesfall +stattfindet. Was den Kardinal Montalto selbst betrifft, +konnte niemand an ihm die geringsten Zeichen auch +nur des einfachsten Schmerzes wahrnehmen; nichts +wurde in der Ordnung und äußeren Erscheinung seines +Lebens verändert. Rom hatte sich bald davon überzeugt; +jenes Rom, welches mit seiner gewohnten Neugier die +geringsten Bewegungen eines so tief verletzten Mannes +beobachtete.</p> + +<p>Zufällig wurde gerade am Tage nach der Ermordung +<a id="page-171"></a><span class="pgnum">171</span>Felices das Konsistorium der Kardinäle im +Vatikan zusammengerufen. Es gab keinen in der ganzen +Stadt, der nicht glaubte, wenigstens an diesem ersten +Tage würde sich Kardinal Montalto diesem öffentlichen +Auftreten entziehen. Wo er gerade vor den Augen so +vieler und so neugieriger Zeugen erscheinen sollte! Man +würde die leisesten Regungen der natürlichen Schwachheit +beobachten können, während es doch für eine Persönlichkeit, +die von einem hervorragenden Posten aus +nach einem noch höheren strebt, angemessener wäre, +sie zu verheimlichen. Denn jedermann wird zugeben, +daß es nicht passend ist, wenn der, dessen Ehrgeiz es +ist, sich über alle anderen zu erheben, ebenso menschlich +zeigt wie alle andren.</p> + +<p>Aber die solche Gedanken hatten, täuschten sich +doppelt; denn erstens erschien der Kardinal seiner Gewohnheit +gemäß als einer der ersten im Saal des Konsistoriums +und sodann war es auch den Scharfsichtigsten +unmöglich, irgendein Zeichen menschlicher Empfindlichkeit +an ihm zu entdecken. Im Gegenteil setzte er jedermann +durch seine Antworten in Erstaunen, als einige +seiner Kollegen aus Anlaß eines so grausamen Ereignisses +versuchten, ihm einige tröstende Worte zu sagen. Die +Standhaftigkeit und die augenscheinliche Ruhe seiner +Seele inmitten eines so fürchterlichen Unglücks wurden +bald zum Gespräch der Stadt.</p> + +<p>Es ist wohl wahr, daß einige Männer in diesem Konsistorium, +die mehr Erfahrung in höfischer Art hatten, +diese scheinbare Unempfindlichkeit nicht einem Mangel +an Gefühl, sondern einer großen Verstellungsgabe zuschrieben, +und diese Auffassung wurde bald nachher +von den meisten Angehörigen des Hofes geteilt; denn +es war nutzbringend, sich von einer Beleidigung nicht +<a id="page-172"></a><span class="pgnum">172</span>zu tief verletzt zu zeigen, deren Urheber zweifellos hochgestellt +war, und später vielleicht den Weg zur allerhöchsten +Würde verhindern könnte.</p> + +<p>Was immer auch die Ursache dieser augenscheinlich +vollständigen Unempfindlichkeit sein mochte, war es +doch sicher, daß sie ganz Rom und den Hof Gregors +XIII. mit einer gewissen Bestürzung erfüllte. Aber, +um auf das Konsistorium zurückzukommen: als alle +Kardinäle versammelt waren und der Papst selbst in +den Saal trat, wandte er sogleich die Augen zum Kardinal +Montalto, und man sah Seine Heiligkeit Tränen +vergießen; was den Kardinal betrifft, so verloren seine +Züge nicht ihre gewohnte Unbeweglichkeit.</p> + +<p>Das Staunen verdoppelte sich, als im gleichen Konsistorium +die Reihe an den Kardinal Montalto kam, sich +vor dem Thron Seiner Heiligkeit niederzuknien, um +über die Angelegenheiten, mit denen er betraut war, Bericht +abzulegen, und der Papst, bevor er ihm zu beginnen +gestattete, nicht sein Schluchzen zurückhalten +konnte. Als Seine Heiligkeit wieder fähig war, zu +sprechen, suchte sie den Kardinal zu trösten und versprach +ihm dabei, daß dieses ungeheuerliche Attentat +streng und schnell gesühnt werden solle. Aber nachdem +der Kardinal Seiner Heiligkeit demütigst gedankt hatte, +bat er ihn inständigst, keine Nachforschungen über das, +was geschehen war, anzubefehlen, da er, was ihn beträfe, +aus vollem Herzen dem Urheber verzeihe, wer +es auch sein möge. Und unmittelbar nach dieser in sehr +wenigen Worten vorgetragenen Bitte, ging der Kardinal +zu den einzelnen Angelegenheiten über, mit denen er betraut +war; als ob nichts Außergewöhnliches geschehen +wäre.</p> + +<p>Die Blicke aller beim Konsistorium anwesenden Kardinäle +<a id="page-173"></a><span class="pgnum">173</span>waren auf den Papst und auf Montalto geheftet, +und obgleich es sicher sehr schwer sein mag, das geübte +Auge eines Hofmanns irrezuführen, wagte doch niemand +zu behaupten, daß die Miene des Kardinals Montalto +die leiseste Bewegung verraten habe, als er die +Tränen Seiner Heiligkeit so aus der Nähe sah, die — um +die Wahrheit zu sagen — wirklich ganz außer sich +geraten war. Diese erstaunliche Fühllosigkeit des Kardinals +Montalto verleugnete sich auch nicht während +der ganzen Zeit, die er mit Seiner Heiligkeit zu arbeiten +hatte. Es ging so weit, daß der Papst selbst dadurch +betroffen wurde und nach Schluß des Konsistoriums +nicht umhin konnte, dem Kardinal von San +Sisto, seinem Lieblingsneffen, zu sagen: Veramente +costui è un gran frate! Wahrlich, der ist ein großer +Mönch!</p> + +<p>Das Benehmen des Kardinals Montalto war auch während +aller folgenden Tage völlig gleichmäßig. Wie es +Sitte war, empfing er die Beileidsbesuche der Kardinäle, +der Prälaten und der römischen Fürsten, und +keinem gegenüber, in welchen Beziehungen er auch zu +ihm stehen mochte, ließ er sich zu irgendeiner Äußerung +des Schmerzes oder der Klage hinreißen. Nach einer +kurzen Darlegung über die Unbeständigkeit der menschlichen +Dinge, die er mit Sentenzen und Zitaten aus der +Heiligen Schrift oder den Kirchenvätern belegte, +wechselte er kurz das Gespräch und kam auf die +Neuigkeiten der Stadt oder auf persönliche Angelegenheiten +dessen zu sprechen, mit dem er sich unterhielt, +genau, als ob er seinen Trostspender hätte trösten +wollen.</p> + +<p>Rom war besonders neugierig, was während des Besuchs +geschehen würde, den ihm Fürst Paolo Giordano +<a id="page-174"></a><span class="pgnum">174</span>Orsini, Herzog von Bracciano, abstatten mußte, welchem +das Gerücht den Tod von Felice Peretti zuschrieb. Das +Volk dachte, daß Kardinal Montalto nicht so in der +Nähe des Fürsten sein könne und unter vier Augen mit +ihm sprechen, ohne irgendwie seine Gefühle zu verraten.</p> + +<p>Als der Fürst den Kardinal besuchte, war eine ungeheure +Menschenmenge auf der Straße und am Eingang; +zahlreiche Höflinge erfüllten alle Räume des +Hauses, so groß war die Neugier, das Aussehen der +beiden zu beobachten. Aber weder an dem einen noch +an dem andern vermochte jemand etwas besonderes +wahrzunehmen. Der Kardinal Montalto hielt sich genau +an das, was der höfische Anstand vorschrieb; er gab +seinem Gesicht einen sehr bemerkenswerten Ausdruck +von Aufgeräumtheit und die Art, wie er das Wort an +den Fürsten richtete, war von Gefälligkeit erfüllt.</p> + +<p>Einen Augenblick später, als der Fürst seinen Wagen +bestieg und sich mit den Intimen seines Hofs allein +befand, konnte er sich nicht mehr zurückhalten, lachend +zu sagen: „In fatto è vero che costui è un gran frate! Es +ist wirklich wahr, jener ist ein großer <a class="sic" id="sicA-14" href="#sic-14">Mönch!</a> Als ob +er die Wahrheit des Wortes bestätigen wollte, das dem +Papst vor einigen Tagen entschlüpft war.</p> + +<p>Die Klugen dachten, daß die bei dieser Gelegenheit +vom Kardinal Montalto gezeigte Haltung ihm den Weg +zum Thron ebnen müsse; denn viele Leute faßten über +ihn die Meinung, daß er, sei es von Natur oder durch +Tugend, niemandem schaden könne oder wolle, wenn er +auch allen Grund habe, gereizt zu sein.</p> + +<p>Felice Peretti hatte nichts Schriftliches, was sich auf +seine Frau bezog, hinterlassen; sie mußte demzufolge +in das Haus ihrer Eltern zurückkehren. Der Kardinal +<a id="page-175"></a><span class="pgnum">175</span>Montalto ließ ihr vor ihrem Scheiden die Gewänder, +die Schmucksachen und überhaupt alle Geschenke aushändigen, +die sie erhalten hatte, während sie die Frau +seines Neffen war.</p> + +<p>Am dritten Tage nach dem Tode Felice Perettis ließ +sich Vittoria, von ihrer Mutter begleitet, im Palast des +Fürsten Orsini nieder. Manche sagten, die Frauen +wurden zu diesem Schritt durch die Sorge um ihre +persönliche Sicherheit getrieben, denn die Corte<a href="#FN-3" id="FNA-3"><sup>3</sup></a> schien +sie mit der Anklage zu bedrohen, dem Mord, der begangen +worden war, zugestimmt oder zumindest vor der +Ausführung von ihm Kenntnis gehabt zu haben; andre +glaubten — und das, was später geschah, schien diese +Ansicht zu bestätigen — daß sie den Schritt getan hatten, +um die Heirat zu betreiben, da der Fürst Vittoria zugesichert +haben sollte, sie zu heiraten, wenn sie keinen +Gatten mehr habe.</p> + +<p>Immerhin hat man weder damals, noch später den +Urheber des Mordes an Felice feststellen können, obwohl +jeder auf jeden Verdacht hatte. Die meisten schrieben +indessen diesen Todesfall dem Fürsten Orsini zu. Man +sagte allgemein, daß er von einer leidenschaftlichen +Neigung für Vittoria ergriffen war; er hatte davon unzweideutige +Anzeichen gegeben und die Heirat, welche +folgte, war ein starker Beweis, denn die Frau stand so +weit unter ihm, daß nur die Tyrannei leidenschaftlicher +Liebe sie zur Gleichheit der Ehe erheben konnte. Das +Volk wurde von der Auffassung auch nicht durch einen, +an den Gouverneur von Rom gerichteten Brief abgebracht, +den man wenige Tage nach der Tat verbreitete. +Dieser Brief war im Namen Cesare Palantieris geschrieben, +<a id="page-176"></a><span class="pgnum">176</span>eines ungestümen jungen Mannes, der aus der Stadt +verbannt war.</p> + +<p>In diesem Brief sagte Palantieri, es sei nicht nötig, +daß seine hochgeborene Gnaden sich die Mühe mache, +anderswo den Urheber des Mordes an Felice Peretti zu +suchen, da er selbst es gewesen sei, der ihn habe töten +lassen und zwar infolge gewisser Differenzen, die vor +einiger Zeit zwischen ihnen stattgefunden hätten.</p> + +<p>Viele waren der Meinung, daß dieser Mord nicht ohne +die Zustimmung des Hauses Accoramboni geschehen +sein konnte; man beschuldigte die Brüder Vittorias, daß +sie der Ehrgeiz, mit einem so reichen und mächtigen +Fürsten in Beziehungen zu treten, verführt habe. Man +beschuldigte besonders Marcello wegen der Verdachtsgründe, +die durch den Brief gegeben waren, der den unglücklichen +Felice nachts aus dem Haus rief. Man sprach +auch von Vittoria selbst schlecht, als man sie ihre Zustimmung +geben sah, so bald nach dem Tode ihres +Gemahls den Palast der Orsini als zukünftige Gattin zu +bewohnen. Man behauptete, daß es wenig wahrscheinlich +sei, sich plötzlich so nahe, wie bei einem Messerstich, +nebeneinander zu finden, wenn man sich vorher nicht, +wenigstens durch einige Zeit, Waffen von größerer +Reichweite bedient habe. Die Nachforschung über diesen +Mord wurde von Monsignore Portici, Statthalter von +Rom, nach den Befehlen Gregors XIII. geleitet. Man +ersieht daraus bloß, daß Domenico, Mancino genannt, +durch die Corte verhaftet, Geständnisse macht und +ohne erst auf die Folter gespannt werden zu müssen, +im zweiten Verhör, am vierundzwanzigsten Februar +1582, aussagt:</p> + +<p>„Daß Vittorias Mutter an allem schuld sei, und daß +sie durch die Kammerfrau aus Bologna unterstützt +<a id="page-177"></a><span class="pgnum">177</span>worden sei, welche gleich nach dem Mord Zuflucht in +der Feste von Bracciano fand, in die als dem Fürsten +Orsini gehörend die Corte nicht einzudringen wagte, +und daß die Vollbringer des Verbrechens Macchione de +Gubbio und Paolo Barca di Bracciano waren, lancie +spezzate eines Herrn, dessen Namen man aus triftigen +Gründen nicht nannte.“</p> + +<p>Mit diesen triftigen Gründen vereinten sich, wie ich +glaube, die Bitten des Kardinals Montalto, der nachdrücklich +ersuchte, daß die Nachforschungen nicht +weiter getrieben werden mögen, und wirklich war nicht +mehr die Rede von einem Prozeß. Der Mancino wurde +aus dem Gefängnis mit dem Befehl entlassen, bei Todesstrafe +unverzüglich in seinen Heimatsort zurückzukehren +und ihn nie ohne eine besondere Erlaubnis zu verlassen. +Die Freilassung dieses Mannes fand 1583, am Tage des +San Luigi statt, und da dieser Tag auch der Geburtstag +des Kardinal Montalto war, bestärkte mich dieser Umstand +mehr und mehr in der Annahme, daß auf seine +Bitte hin diese Angelegenheit so beendet wurde. Unter +einer so schwachen Regierung, wie es die Gregors XIII. +war, konnte ein derartiger Prozeß sehr unangenehme +Folgen haben.</p> + +<p>Die Bemühungen der Corte wurden hiermit eingestellt; +trotzdem wollte Papst Gregor XIII. nicht einwilligen, +daß Fürst Paolo Orsini, Herzog von Bracciano, +die Witwe Accoramboni heirate. Nachdem Seine Heiligkeit +der letzteren eine Art Gefangenschaft auferlegt +hatte, erließ er für den Fürsten und die Witwe die Vorschrift, +daß sie ohne seine oder seiner Nachfolger ausdrückliche +Erlaubnis einander nicht heiraten dürften.</p> + +<p>Gregor XIII. starb zu Beginn des Jahres 1585 und +da die von Fürst Orsini konsultierten Rechtsgelehrten +<a id="page-178"></a><span class="pgnum">178</span>geantwortet hatten, daß sie die Vorschrift durch den +Tod des Herrschers, der sie verfügt hätte, für annulliert +erachteten, entschloß er sich, Vittoria vor der Ernennung +des neuen Papstes zu heiraten. Aber die Ehe ließ sich +nicht so schnell schließen, wie der Fürst es wünschte; +teils weil er die Zustimmung von Vittorias Brüdern +haben wollte und es sich ereignete, daß Ottavio Accoramboni, +der Bischof von Fossombrone, niemals die seine +zu geben gedachte; teils auch, weil man nicht glaubte, +daß die Wahl des Nachfolgers Gregors XIII. so rasch +stattfinden würde. Tatsache ist, daß die Ehe erst am +gleichen Tag geschlossen worden ist, als der Kardinal +Montalto, den diese Angelegenheit so interessierte, zum +Papst gewählt wurde, nämlich am vierundzwanzigsten +April 1585, sei es, daß dies nur Zufall war, sei es, daß +der Fürst zeigen wollte, er fürchte die Corte nicht ärger +unter dem neuen Papst, als er sie unter Gregor XIII. gefürchtet +hatte.</p> + +<p>Diese Heirat beleidigte die Seele Sixtus V. tief (dies +war der Name, den Kardinal Montalto gewählt hatte); +er hatte schon die Denkweise aufgegeben, die für einen +Mönch passend ist, und seine Seele zu der Höhe des +Ranges erhoben, in den ihn Gott jetzt gestellt hatte.</p> + +<p>Der Papst zeigte aber trotzdem kein Zeichen von Zorn. +Allein als sich der Fürst Orsini am gleichen Tage mit +der Menge der römischen Edelleute zum Fußkusse eingefunden +hatte, mit der geheimen Absicht, in den Zügen +des heiligen Vaters zu lesen, was er von diesem bisher +so wenig deutlichen Mann zu erwarten oder zu fürchten +habe, bemerkte er, daß zum Scherzen nicht mehr die +Zeit sei. Der neue Papst hatte den Fürsten in einer eigentümlichen +Weise angesehn, und hatte kein einziges Wort +auf die Huldigung, die dieser an ihn richtete, geantwortet; +<a id="page-179"></a><span class="pgnum">179</span>daher faßte der Fürst den Entschluß, sofort zu +ergründen, welche Absicht Seine Heiligkeit in bezug auf +seine Person habe.</p> + +<p>Durch Vermittlung des Kardinals Ferdinand von +Medici, eines Bruders seiner ersten Frau und des spanischen +katholischen Botschafters suchte er um eine +Privataudienz beim Papste an und erhielt sie. Hier richtete +er an Seine Heiligkeit eine wohleinstudierte Rede; +ohne der vergangenen Dinge Erwähnung zu tun, sprach +er seine Freude anläßlich der neuen Würde aus und bot +Seiner Heiligkeit als treuster Vasall und Diener sein +ganzes Vermögen und seine ganze Macht an.</p> + +<p>Der Papst<a href="#FN-4" id="FNA-4"><sup>4</sup></a> hörte ihn mit außerordentlichem Ernst +an und antwortete schließlich, niemand wünsche mehr +als er, daß in Zukunft das Leben und die Taten des +Paolo Giordano Orsini des Geschlechts der Orsini und +eines wahrhaft christlichen Ritters würdig seien, daß +sein eigenes Gewissen ihm am besten sagen werde, wie +er früher zum Heiligen Stuhl und zu dessen Personifizierung +dem Papst gestanden sei; daß er indessen sicher +sein könne — so gern ihm auch alles vergeben sei, was +er gegen Felice Peretti und gegen Felice Kardinal +Montalto habe unternehmen können — niemals würde +ihm verziehen werden, was er etwa in Zukunft gegen +den Papst Sixtus V. unternehmen möchte; daher fordere +er ihn hiermit auf, sofort alle Verbannten und Missetäter +zu vertreiben, denen er bis heute Unterschlupf geboten +habe.</p> + +<p>Sixtus V. besaß eine besondere Fähigkeit, sich beim +Sprechen jedweden Tones, den er wollte, bedienen zu +<a id="page-180"></a><span class="pgnum">180</span>können; aber wenn er gereizt und drohend war, hätte +man sagen können, daß seine Augen Blitze schleuderten. +Sicher ist, daß Fürst Paolo Orsini, der immer gewöhnt +war, daß die Päpste ihn fürchteten, durch die Sprechweise +des Papstes, wie er eine ähnliche nicht in einem +Zeitraum von dreizehn Jahren gehört hatte, so ernstlich +zum Nachdenken angeregt wurde, daß er vom Palast +Seiner Heiligkeit schleunigst zum Kardinal Medici eilte, +um ihm zu erzählen, was vorgefallen war. Dann beschloß +er, auf den Rat des Kardinals, ohne den geringsten Aufschub +alle vom Gericht verfolgten Personen auszuweisen, +denen er in seinem Palast und in seinen Staaten Unterkunft +gewährt hatte, und er überlegte auch, wie er selbst +schnell irgendeinen ehrenvollen Vorwand finden könnte, +sogleich die Länder zu verlassen, die unter der Macht +eines so entschlossenen Papstes standen.</p> + +<p>Man muß wissen, daß Fürst Paolo Orsini außerordentlich +umfangreich geworden war; seine Beine waren dicker +als der Körper eines durchschnittlichen Menschen und +das eine dieser ungeheuren Beine war von der Krankheit +befallen, die man la lupa nennt, weil man ihr eine +große Menge frischen Fleisches zuführen muß, welches +man auf die leidende Stelle legt, sonst würden die +bösen Säfte — wenn sie nicht totes Fleisch zu verzehren +bekämen — sich auf das umliegende gesunde +Fleisch werfen.</p> + +<p>Der Fürst nahm dieses Übel als Vorwand, um sich +in die berühmten Bäder von Albano, nahe Padua, im +Bereich der Republik Venedig, zu begeben; er reiste +mit seiner jungen Gattin Mitte Juni dorthin. Albano war +für ihn ein ganz sicherer Hafen, denn seit vielen Jahren +war das Haus Orsini mit der Republik Venedig durch +gegenseitige Dienste verbunden. +</p> + +<p><a id="page-181"></a><span class="pgnum">181</span>In diesem sicheren Lande angekommen, dachte der +Fürst Orsini nur daran, die Annehmlichkeiten eines +wechselnden Aufenthalts zu genießen, und er mietete +zu diesem Zweck drei prachtvolle Paläste: den einen +in Venedig, den Palazzo Dandolo in der via della Zecca; +den zweiten in Padua, das war der Palazzo Foscarini +auf der prächtigen Arena genannten Piazza; den dritten +wählte er in Salò, an dem reizenden Ufer des Gardasees: +dieser hatte einst der Familie Sforza-Pallavicini +gehört.</p> + +<p>Die Herren der Republik Venedig vernahmen mit +Freude, daß ein solcher Fürst in ihren Staat kommen +wollte und boten ihm sofort eine sehr noble Condotta +an: das bedeutet eine beträchtliche jährliche +Rente, die von dem Fürsten dazu gebraucht werden +müßte, ein Korps von zweitausend bis dreitausend Mann +aufzustellen, dessen Kommando er zu übernehmen +hatte. Der Fürst wies das Anerbieten sehr schnell ab; +er ließ den Senatoren antworten: obwohl er sich durch +natürliche und von seiner Familie ererbte Neigung in +seinem Herzen zum Dienst der erhabenen Regierung geneigt +fühle, erschiene es ihm doch, da er gegenwärtig +an den katholischen König gebunden sei, nicht passend, +eine andere Verpflichtung zu übernehmen. Eine so entschlossene +Antwort brachte etwas Lauheit in die Stimmung +der Senatoren. Zuerst hatten sie beabsichtigt, ihm +bei seiner Ankunft in Venedig im Namen des ganzen +Volks einen sehr ehrenvollen Empfang zu bereiten; auf +seine Antwort hin beschlossen sie, ihn einfach wie einen +Privatmann ankommen zu lassen.</p> + +<p>Fürst Orsini, der von allem unterrichtet war, faßte +den Entschluß, überhaupt nicht nach Venedig zu gehen. +Er war schon in der Nähe Paduas, machte aber nun +<a id="page-182"></a><span class="pgnum">182</span>einen Bogen und begab sich mit seinem ganzen Gefolge +nach Salò, in das für ihn vorbereitete Haus +am Ufer des Gardasees. Er verbrachte dort den ganzen +Sommer unter prächtigen und abwechslungsreichen +Zerstreuungen.</p> + +<p>Der Zeitpunkt eines Aufenthaltswechsels war gekommen +und der Fürst unternahm einige kleine Reisen, +nach denen es ihm schien, daß er Anstrengungen nicht +mehr so wie früher vertragen könne; er hatte Befürchtungen +für seine Gesundheit und dachte schließlich daran, +einige Tage in Venedig zu verbringen. Doch wurde +er durch seine Gattin Vittoria davon abgebracht, die ihn +veranlaßte, den Aufenthalt in Salò zu verlängern.</p> + +<p>Viele haben gedacht, daß Vittoria Accoramboni die +Gefahr bemerkt habe, der das Leben des Fürsten, ihres +Gemahls, ausgesetzt war und daß sie ihn nur veranlaßte +in Salò zu bleiben, in der Absicht, ihn später aus Italien +fortzubringen, etwa in irgendeine freie Stadt der +Schweiz. Durch dieses Mittel hätte sie, im Falle der +Fürst starb, sowohl ihre Person, als auch ihr privates +Vermögen in Sicherheit gebracht.</p> + +<p>Ob solche Voraussetzung begründet war oder nicht, +Tatsache ist, daß nichts von dem geschah; denn der +Fürst wurde am zehnten November in Salò von einem +neuen Unwohlsein befallen und hatte gleich die Vorahnung +von dem, was geschehen sollte.</p> + +<p>Er hatte Mitleid mit seiner unglücklichen Frau: er +sah sie in der schönsten Blüte ihrer Jugend, arm an +Gütern wie an Ansehen, zurückbleiben, von den regierenden +Fürsten Italiens gehaßt, von den Orsini wenig +geliebt und ohne Hoffnung auf eine neue Ehe nach +seinem Tode. Wie ein großer Herr von Treu und Ehre +machte er aus eigenem Antrieb ein Testament, in dem +<a id="page-183"></a><span class="pgnum">183</span>er das Vermögen der Unglücklichen sicherstellen wollte. +Er vermachte ihr an Geld und Juwelen die bedeutende +Summe von 100 000 Piastern, außerdem alle Pferde, +Karossen und Möbel, deren er sich auf dieser Reise bediente. +Den Rest seines Vermögens hinterließ er zur +Gänze seinem einzigen Sohn, Virginio Orsini, den ihm +seine erste Frau, die Schwester Franz I. Großherzogs +von Toskana, geboren hatte und die er, mit Einwilligung +ihrer Brüder, wegen Untreue hatte ermorden lassen.</p> + +<p>Aber wie unsicher die menschliche Voraussicht ist! +Die Verfügungen, welche Paolo Orsini traf, um diese +unglückliche junge Frau vollkommen sicher zu stellen, +brachten sie in Verderben und Untergang.</p> + +<p>Nachdem er sein Testament unterzeichnet hatte, fühlte +sich der Fürst am zwölften November ein wenig besser. +Am Morgen des dreizehnten ließ man <a class="sic" id="sicA-15" href="#sic-15">ihm zu</a> Ader, und +die Ärzte, die ihre Hoffnung in eine strenge Diät setzten, +trafen die genauesten Anordnungen, damit er keine +Nahrung zu sich nähme.</p> + +<p>Aber sie hatten kaum das Zimmer verlassen, als der +Fürst verlangte, daß man ihm das Essen serviere und +er aß und trank wie gewöhnlich. Kaum war die Mahlzeit +beendet, verlor er das Bewußtsein und zwei Stunden vor +Sonnenuntergang war er tot.</p> + +<p>Nach diesem plötzlichen Tod begab sich Vittoria, von +ihrem Bruder Marcello und dem ganzen Hofstaat des +verblichenen Fürsten begleitet, nach Padua, in den bei +der Arena gelegenen Palazzo Foscarini, den der Fürst +damals gemietet hatte.</p> + +<p>Kurz nach ihrer Ankunft wurde sie von ihrem Bruder +Flaminio aufgesucht, der beim Kardinal Farnese in +vollster Gunst stand. Sie tat gerade damals Schritte, um +die Auszahlung des Legats, das ihr Gatte ihr vermacht +<a id="page-184"></a><span class="pgnum">184</span>hatte, zu erwirken. Dieses Legat bestand aus 10 000 Piastern +in bar, die ihr im Laufe von zwei Jahren ausgezahlt +werden sollten, und zwar unabhängig von ihrer +Mitgift und der Gegengabe und allen Juwelen und +Möbeln, die in ihrem Besitz waren. Fürst Orsini hatte in +seinem Testament verfügt, daß man ihr in Rom oder +in einer anderen Stadt, die sie wählte, einen Palast im +Werte von 10 000 Piastern und ein Landhaus im Werte +von 6000 kaufen solle; außerdem hatte er noch vorgeschrieben, +daß für ihren Tisch und für ihren ganzen +Hausstand gesorgt werden müsse, wie es einer Frau ihres +Ranges gebühre. Der Dienst sollte aus vierzig Leuten +bestehen und einer Anzahl Pferden.</p> + +<p>Signora Vittoria setzte große Hoffnung in die Gunst +der Fürsten von Ferrara, von Florenz und von Urbino +und der Kardinäle Farnese und Medici, welche von dem +verstorbenen Fürsten zu seinen Testamentsvollstreckern +ernannt worden waren. Es ist zu bemerken, daß das +Testament nach Padua gesandt und den Kapazitäten +Parrizoli und Menochio vorgelegt worden war, den ersten +Professoren dieser Universität und noch heute berühmten +Rechtsgelehrten.</p> + +<p>Fürst Luigi Orsini kam nach Padua, um sich dessen +zu entledigen, was er in bezug auf den verstorbenen +Fürsten und seine Witwe zu tun hatte und dann als Statthalter +der Insel sich nach Korfu zu begeben, wozu er +von der erhabenen Republik ausersehen worden war.</p> + +<p>Zuerst entstand eine Schwierigkeit zwischen Signora +Vittoria und dem Fürsten Luigi wegen der Pferde des +verstorbenen Herzogs, von denen der Fürst meinte, daß +sie, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch folgend, nicht +eigentlich Gebrauchsgegenstände seien; aber die Herzogin +bewies, daß sie wie eigentliche Gebrauchsgegenstände +<a id="page-185"></a><span class="pgnum">185</span>anzusehen wären und es wurde beschlossen, daß sie bis +zu späterer Entscheidung in ihrer Benützung bleiben +sollten; sie stellte als Bürgen den Signor Soardi di +Bergamo, Condottiere der Signoria von Venedig, einen +sehr reichen und zu den angesehendsten seines Vaterlands +zählenden Edelmann.</p> + +<p>Es kam noch eine Schwierigkeit hinzu, die eine +gewisse Menge Silbergeschirr betraf, das der verstorbene +Herzog dem Fürsten Luigi als Zahlung für einen Geldbetrag +ausgesetzt hatte, der ihm von diesem geliehen +worden war. Alles wurde durch Rechtsspruch entschieden, +denn der durchlauchtigste Herzog von Ferrara +verwandte sich dafür, daß die letzten Anordnungen des +verstorbenen Fürsten Orsini genau durchgeführt würden.</p> + +<p>Diese zweite Angelegenheit wurde am dreiundzwanzigsten +Dezember, der auf einen Sonntag fiel, entschieden.</p> + +<p>In der folgenden Nacht drangen vierzig Männer in +das Haus der Accoramboni. Sie waren in Leinengewänder +von ungewöhnlichem Schnitt gekleidet, die so angelegt +waren, daß man sie nicht erkennen konnte, wenn nicht +an der Stimme; und sobald sie sich untereinander riefen, +gebrauchten sie gewisse verabredete Ausdrücke.</p> + +<p>Sie suchten zuerst nach der Herzogin, und als sie +diese gefunden hatten, sagte ihr einer von ihnen: „Jetzt +heißt es sterben.“</p> + +<p>Und ohne ihr einen Augenblick zu gewähren, während +sie noch bat, sich ihrem Gott empfehlen zu dürfen, +durchbohrte er sie mit einem dünnen Dolch gerade +unter der linken Brust. Der Grausame bewegte den Dolch +in allen Richtungen und fragte die Unglückliche mehrmals +dabei, ob er ihr Herz schon berühre; endlich gab +sie den letzten Seufzer von sich. Währenddessen suchten +die anderen nach den Brüdern der Herzogin, von denen +<a id="page-186"></a><span class="pgnum">186</span>einer, Marcello, sein Leben rettete, weil man ihn nicht im +Hause fand, der andre aber von hundert Stichen durchbohrt +wurde. Die Mörder ließen die Toten auf der Erde, +das ganze Haus in Tränen und Klagen zurück, und als +sie sich der Kassette bemächtigt hatten, welche die +Juwelen und das Geld enthielt, verschwanden sie.</p> + +<p>Diese Neuigkeit gelangte schnell zu den Behörden von +Padua, sie ließen die Leichen agnoszieren und erbaten +von Venedig Verhaltungsmaßregeln.</p> + +<p>Während des ganzen Montags war ein ungeheurer Zustrom +zum Palast und zur Kirche der Eremiten, um +die Leichen zu sehen. Die Neugierigen waren von Mitleid +bewegt, besonders als sie die Herzogin so schön sahen: +sie weinten über ihr Unglück et dentibus fremebant, und +knirschten mit den Zähnen gegen die Mörder, wie der +Chronist sagt; aber man kannte noch nicht ihre Namen.</p> + +<p>Da die Corte auf schwere Indizien hin Verdacht gefaßt +hatte, daß die Tat auf Anstiftung oder wenigstens +mit Zustimmung des Fürsten Luigi verübt worden sei, +ließ sie ihn vorladen und als er ins Gericht zu dem +sehr illustren Hauptmann mit einem Gefolge von +vierzig Bewaffneten eintreten wollte, versperrte man +ihm die Tür und sagte ihm, daß er nur mit drei oder vier +Leuten hineingehen dürfe. Aber im Augenblick, als diese +eintraten, drängten die andern nach, schoben die Wachen +beiseite und traten alle ein.</p> + +<p>Als Fürst Luigi vor dem sehr illustren Kapitän stand, +beklagte er sich über eine solche Beleidigung und +betonte, daß noch kein souveräner Fürst eine solche +Behandlung erfahren habe. Der sehr illustre Hauptmann +fragte, ob er irgend etwas vom Tod der Signora Vittoria +und von dem, was in der vorangegangenen Nacht geschehen +war, wisse; er erklärte, daß er es wisse und daß +<a id="page-187"></a><span class="pgnum">187</span>er befohlen habe, den Behörden Anzeige zu machen. Man +wollte seine Antwort schriftlich niederlegen; er erwiderte, +daß Männer seines Ranges nicht an diese Förmlichkeit +gebunden seien und daß sie auch nicht verhört +werden dürfen.</p> + +<p>Fürst Luigi bat um die Erlaubnis, einen Kurier nach +Florenz mit einem Brief an den Fürsten Virginio senden +zu dürfen, dem er von dem Verfahren Mitteilung machen +wolle und von dem Verbrechen, das stattgefunden habe. +Er zeigte einen fingierten Brief, der nicht der richtige +war und erreichte, was er verlangte.</p> + +<p>Aber der abgesandte Bote wurde vor der Stadt angehalten +und sorgfältig untersucht; man fand den Brief, +den Fürst Luigi gezeigt hatte und einen zweiten, in +den Schuhen des Kuriers versteckten; er hatte folgenden +Wortlaut:</p> + +<p class="letterfirst">„Dem Herrn Virginio Orsini</p> +<p class="lettersecond">Sehr illustrer Herr,</p> + +<p>Wir haben zur Ausführung gebracht, was zwischen +uns vereinbart wurde, und auf solche Art, daß wir den +sehr illustren Tondini (scheinbar der Name des Vorsitzenden +der Corte, der den Fürsten einvernommen hatte) +gefoppt haben, und zwar so gut, daß man mich hier für +den untadeligsten Menschen von der Welt hält. Ich habe +die Sache persönlich gemacht, versäumt daher nicht, +sofort die Leute zu schicken, von denen Ihr wißt.“</p> + +<p>Der Brief machte Eindruck auf die Behörden; sie +beeilten sich, ihn nach Venedig zu schicken; auf ihren +Befehl wurden die Tore der Stadt geschlossen und die +Mauern Tag und Nacht mit Soldaten besetzt. Man veröffentlichte +einen Erlaß, der jedem die strengsten +Strafen androhte, welcher die Mörder kenne und das +was er wisse, nicht der Behörde anzeige. +</p> + +<p><a id="page-188"></a><span class="pgnum">188</span>Diejenigen der Mörder, welche gegen einen der ihren +Zeugnis ablegten, sollten nicht bestraft werden, man +würde ihnen sogar eine Summe Geldes auszahlen. Aber +um die siebente Stunde nach dem Ave Maria des +Weihnachtsabends (am vierundzwanzigsten Dezember +gegen Mitternacht) langte Aloisio Bragadino von Venedig +mit weitgehender Vollmacht von Seiten des Senats an +und mit dem Befehl, den Fürsten Luigi und sein Gefolge +lebend oder tot, was es auch kosten möge, zu verhaften.</p> + +<p>Der Signor Avogador Bragadino, die Hauptleute und +der Bürgermeister vereinigten sich in der Festung.</p> + +<p>Unter Androhung des Galgens wurde befohlen, daß +die ganze Mannschaft, Fußtruppen und Berittene, gut +bewaffnet das Haus des Fürsten Luigi einschließen +solle, das anstoßend an die Kirche Sant Agostino nahe +der Festung auf der Arena lag.</p> + +<p>Als es Tag geworden war, es war der Weihnachtstag, +wurde ein Edikt in der Stadt veröffentlicht, welches die +Söhne San Marcos aufforderte, bewaffnet zum Hause +des Signor Luigi zu eilen; die keine Waffen besaßen, +sollten zur Festung kommen, wo man ihnen so viele +geben würde, als sie wollten; dieses Edikt versprach +eine Belohnung von zweitausend Dukaten demjenigen, +der den Signor Luigi lebend oder tot der Corte einlieferte +und fünfhundert Dukaten für jeden seiner Leute. Außerdem +wurde ein Befehl erlassen, niemand dürfe sich +waffenlos dem Hause des Fürsten nähern, damit er +denen, die sich schlagen wollten, nicht im Wege sei, +falls der Fürst es für günstig hielte, einen Ausfall zu +versuchen.</p> + +<p>Zu gleicher Zeit brachte man Wallbüchsen, Mörser +und schwere Artillerie auf die alten Mauern, dem Hause +des Fürsten gegenüber; ebenfalls auf die neuen Mauern, +<a id="page-189"></a><span class="pgnum">189</span>von denen man die Rückseite dieses Hauses erblickte. +Auf dieser Seite hatte man auch die Reiterei so aufgestellt, +daß sie Bewegungsfreiheit hatte, falls man ihrer +bedurfte. Längs der Ufer der Brenta war man damit beschäftigt, +Bänke, Schränke, Wagen und andre Gegenstände, +die sich zur Deckung eigneten, aufzuhäufen. Man +wollte auf diese Weise Unternehmungen der Belagerten +erschweren, wenn sie etwa in geschlossener Ordnung +gegen das Volk vorgehen würden. Diese Brustwehr sollte +auch dazu dienen, die Artilleristen und die Soldaten gegen +die Flintenschüsse der Belagerten zu schützen.</p> + +<p>Endlich setzte man noch Barken auf den Fluß, dem +Hause des Fürsten gegenüber und zu dessen beiden +Seiten; welche von Bewaffneten mit Musketen besetzt +waren, die den Feind bei einem Ausbruchsversuch beunruhigen +sollten; gleichzeitig wurden in allen Straßen +Barrikaden errichtet.</p> + +<p>Während dieser Vorbereitungen traf ein Schreiben ein, +das in sehr gemäßigtem Ton gehalten war. In diesem beklagte +sich der Fürst, weil man ihn für schuldig halte +und als Feind, ja sogar als Rebell behandle, bevor man +die Angelegenheit geprüft habe. Dieser Brief war +von Liveroto verfaßt worden.</p> + +<p>Am 27. Dezember wurden drei Edelleute, die hervorragendsten +der Stadt, von den Behörden zu Fürst Luigi +gesandt, welcher bei sich im Hause vierzig Männer, lauter +alte kampfgewohnte Soldaten hatte. Man fand sie damit +beschäftigt, sich hinter einer Brustwehr aus Balken und +mit Wasser getränkten Matten zur Verteidigung einzurichten, +und ihre Flinten vorzubereiten.</p> + +<p>Die drei Edelleute erklärten dem Fürsten, daß die +Behörden entschlossen seien, sich seiner Person zu bemächtigen; +sie forderten ihn auf, sich zu ergeben und +<a id="page-190"></a><span class="pgnum">190</span>fügten hinzu, daß er durch diesen Schritt, bevor es +noch zum Angriff gekommen sei, einige Barmherzigkeit +erhoffen könne. Worauf Fürst Luigi antwortete: daß +vor allem die Wachen rings um sein Haus entfernt +werden sollten, dann würde er sich von zwei oder drei +der Seinen begleitet, zu den Behörden begeben, um über +die Sache zu verhandeln; aber nur unter der ausdrücklichen +Bedingung, daß es ihm immer freistände, sich +in sein Haus zurückzubegeben.</p> + +<p>Die Abgesandten übernahmen diese, von seiner Hand +geschriebenen Vorschläge und kehrten zu den Behörden +zurück, welche diese Bedingungen zurückwiesen; hauptsächlich +nach dem Rat des sehr illustren Pio Enea und +anderer anwesender vornehmer Herren. Die Abgesandten +kehrten zum Fürsten zurück und kündigten ihm an: +wenn er sich nicht einfach und ohne jeden Vorbehalt +ergebe, werde man sein Haus durch Artillerie wegfegen +lassen; worauf er antwortete, daß er den Tod diesem +Akte der Unterwerfung vorzöge.</p> + +<p>Die Behörden gaben das Signal zum Angriff und obwohl +man das Haus fast mit einer einzigen Salve hätte +zerstören können, zog man es vor, zuerst mit einer gewissen +Vorsicht vorzugehen, um zu sehen, ob die Belagerten +sich nicht doch ergeben wollten.</p> + +<p>Dieser Ausweg glückte und man hat dadurch San +Marco viel Geld erspart, das der Wiederaufbau der zerstörten +Teile des angegriffenen Palastes gekostet haben +würde; indessen wurde er nicht allgemein gebilligt. +Hätten die Leute des Signor Luigi ohne Zögern ihren +Entschluß gefaßt und einen Sturm aus dem Hause gewagt, +so wäre die Entscheidung höchst unsicher gewesen. +Es waren alte Soldaten, es fehlte ihnen weder an Munition, +noch an Waffen, noch an Mut, sie hatten das größte +<a id="page-191"></a><span class="pgnum">191</span>Interesse zu siegen, denn war es nicht, selbst den +schlimmsten Fall angenommen, besser für sie, durch +einen Flintenschuß zu sterben, als durch die Hand des +Henkers? Übrigens, mit wem hatten sie es denn zu +tun? Mit armseligen Belagerern, wenig erfahren in den +Waffen; und in diesem Fall hätten die edlen Herren +ihre Klugheit und natürliche Milde bereut.</p> + +<p>Man begann also die Kolonnaden an der Vorderseite +des Palastes zu beschießen, dann — immer ein wenig +höher zielend — zerstörte man die Mauerfront dahinter. +Während dieser Zeit unterhielten die Leute aus dem +Innern ein starkes Gewehrfeuer, doch ohne andre +Wirkung, als daß ein Mann aus dem Volk an der +Schulter verwundet wurde.</p> + +<p>Signor Luigi schrie mit großem Ungestüm: Kampf! +Kampf! Krieg! Krieg! Er war eifrig beschäftigt, +Kugeln aus dem Zinn der Schüsseln und aus dem Blei +der Fensterrahmen gießen zu lassen. Er drohte einen +Ausfall zu machen, doch die Belagerer griffen zu neuen +Maßnahmen und man ließ Artillerie schwersten Kalibers +vorrücken.</p> + +<p>Beim ersten Schuß stürzte ein großes Stück des +Hauses zusammen und ein gewisser Pandolfo Leopratti +aus Camerino geriet unter die Trümmer. Das war ein +Mann von großem Mut und ein Bandit von Ruf. Er war +aus den Staaten der Heiligen Kirche verbannt und der +illustre Signor Vitelli hatte auf seinen Kopf einen Preis +von vierhundert Piastern gesetzt, aus Anlaß der Ermordung +von Vincenzo Vitelli, der in seinem Wagen angegriffen +und durch Flintenschüsse und Dolchstiche +ermordet worden war, die ihm Fürst Luigi Orsini durch +den Arm des genannten Pandolfo und seiner Genossen +verabreichen ließ. Ganz betäubt von seinem Sturz konnte +<a id="page-192"></a><span class="pgnum">192</span>Pandolfo keine Bewegung machen; ein Bediensteter der +Herren Caidi Lista näherte sich ihm, eine Pistole in +der Hand und schnitt ihm tapfer den Kopf ab, den er +eiligst nach der Festung brachte und den Behörden +ablieferte.</p> + +<p>Kurz darauf brachte ein anderer Artillerietreffer ein +Stück Mauerwerk des Hauses zu Fall und zugleich damit +stürzte Graf Montemelino aus Perugia und starb unter +den Trümmern, ganz von dem Geschoß zerschmettert.</p> + +<p>Darauf sah man eine Persönlichkeit, genannt Oberst +Lorenzo, von edlem Geschlecht aus Camerino, aus dem +Haus treten, einen sehr reichen Herrn, der bei verschiedenen +Gelegenheiten Proben seines Werts gegeben hatte +und vom Fürsten sehr geschätzt wurde. Er beschloß, +nicht gänzlich ungerächt zu sterben, er wollte sein Gewehr +abfeuern, aber während er das Rad drehte, geschah +es, vielleicht mit dem Willen Gottes, daß sein Gewehr +nicht Feuer gab und in diesem Augenblick ging ihm eine +Kugel durch den Leib. Der Schuß war von einem armen +Teufel getan, einem Repetitor der Schüler von San +Michele. Und als dieser sich nun näherte, um dem +Oberst, wegen der ausgesetzten Belohnung, den Kopf +abzuschneiden, kamen ihm andre zuvor, die schneller +und vor allem stärker waren als er, nahmen die Börse, +den Gürtel, die Flinte, das Geld und die Ringe des Obersten +und schnitten das Haupt ab.</p> + +<p>Diejenigen, in welche Fürst Luigi das größte Vertrauen +gesetzt hatte, waren tot; er blieb sehr bestürzt, und +man konnte beobachten, daß er keine Bewegung mehr +machte.</p> + +<p>Signor Filenfi, sein Haushofmeister und Sekretär, +machte vom Balkon aus Zeichen mit einem weißen +Taschentuch, daß er sich ergeben wolle. Er kam heraus +<a id="page-193"></a><span class="pgnum">193</span>und wurde nach der Festung geführt: „unter dem Arm“, +wie es Kriegsgebrauch sein soll; durch Anselmo Suardo, +Leutnant der Polizei. Er wurde sogleich verhört und +sagte, daß er keine Schuld an den Geschehnissen +habe, weil er erst am Weihnachtsabend von Venedig gekommen +sei, wo er sich mehrere Tage in <a class="sic" id="sicA-16" href="#sic-16">Angelegeheiten</a> +des Fürsten aufgehalten habe.</p> + +<p>Man fragte ihn, wieviel Leute der Fürst bei sich habe; +er antwortete: „zwanzig oder dreißig Mann.“</p> + +<p>Man fragte nach ihren Namen, er sagte, daß acht oder +zehn von ihnen, als Standespersonen gleich ihm an der +Tafel des Fürsten speisten und daß er deren Namen +wisse, doch besäße er von den anderen, die ein unstetes +Leben führten und erst seit kurzem beim Fürsten eingetreten +wären, keine nähere Kenntnis.</p> + +<p>Er nannte dreizehn Personen, darunter den Bruder von +Liveroto.</p> + +<p>Kurz darauf begann die Artillerie auf den Stadtmauern +zu spielen. Die Soldaten besetzten die Häuser, +die an den Palast des Fürsten grenzten, um die Flucht +seiner Leute zu verhindern. Der Fürst, der in gleicher +Gefahr gewesen war, wie jene, deren Tod wir erzählt +haben, sagte denen, die ihn umgaben, sie möchten ausharren, +bis sie ein Schreiben von seiner Hand und ein +bestimmtes Zeichen gesehen hätten; danach ergab er sich +dem schon erwähnten Anselmo Suardo. Und weil man +ihn wegen der Menschenmassen und der in den Straßen +errichteten Barrikaden nicht wie es vorgeschrieben war, +im Wagen abführen konnte, wurde beschlossen, daß er +zu Fuß ginge.</p> + +<p>Er ging, umgeben von den Leuten des Marcello Accoramboni; +ihm zu Seiten waren die Herren Condottieri, +der Leutnant Suardo, andre Spitzen und Edelleute der +<a id="page-194"></a><span class="pgnum">194</span>Stadt, alle wohl mit Waffen versehen. Daran schloß +gut eine Kompagnie Bewaffneter und Stadtsoldaten. +Fürst Luigi ging braun gekleidet, sein Stilett an der Seite +und seinen Mantel unter dem Arm, ihn in elegantester +Weise tragend; er sagte mit einem Lächeln voller Verachtung: +„Wenn ich gekämpft hätte!“ Er wollte beinahe +zu verstehen geben, daß er den Sieg davongetragen +hätte. Vor die Signoria geführt, grüßte er und sagte, +auf Signor Anselmo weisend:</p> + +<p>„Meine Herren, ich bin der Gefangene dieses Edelmannes +und bin sehr ungehalten über das, was ohne +mein Darzutun geschehen ist.“</p> + +<p>Als ihm auf Befehl des Kapitäns das Stilett, das er an +der Seite trug, abgenommen wurde, lehnte er sich an +die Fensterbrüstung und begann sich mit einer kleinen +Schere, welche dort lag, die Nägel zu schneiden.</p> + +<p>Man fragte ihn, welche Personen er in seinem Hause +hätte; er nannte unter den andren den Obersten Liveroto +und den Grafen Montemelino, von denen schon +die Rede war, und sagte, daß er für den einen von +ihnen zehntausend Piaster und für den andern sogar +sein Blut hingäbe, könnte er sie freikaufen. Er forderte, +an einem Ort in Gewahrsam gehalten zu werden, wie +es einem Manne seiner Stellung zukomme. Als man sich +darüber geeinigt hatte, schrieb er seinen Leuten eigenhändig +und befahl ihnen, sich zu ergeben; seinen Ring +legte er als Zeichen bei. Er sagte dann Signor Anselmo, +daß er ihm seinen Degen und seine Flinte schenke und +bat ihn, wenn diese Waffen in seinem Hause gefunden +würden, sich ihrer ihm zu Ehren zu bedienen, da es +Waffen eines Edelmanns seien und nicht die eines gewöhnlichen +Soldaten.</p> + +<p>Die Soldaten drangen in sein Haus, durchsuchten es +<a id="page-195"></a><span class="pgnum">195</span>mit Sorgfalt, und auf der Stelle ließ man die Leute +des Fürsten antreten, von denen noch vierunddreißig +am Leben waren, dann wurden sie, zwei und zwei, in +das Gefängnis des Palastes geführt. Die Toten wurden +den Hunden zur Beute gelassen und man beeilte sich, +von all dem in Venedig Rechenschaft abzulegen.</p> + +<p>Man bemerkte, daß viele Soldaten des Fürsten Luigi, +Komplizen der Tat, nicht zu finden waren; man verbot, +ihnen Schutz zu gewähren, und Zuwiderhandelnden +sollten die Häuser zerstört und ihre Güter konfisziert +werden; wer sie denunzieren würde, sollte fünfzig +Piaster erhalten. Auf diese Weise fand man ihrer +mehrere.</p> + +<p>Man schickte eine Fregatte von Venedig nach Kandia +aus, mit dem Befehl für Signor Latino Orsini, daß er +unverzüglich wegen einer Angelegenheit von höchster +Wichtigkeit zurückkehren möge; und man glaubt, daß +er seine Stellung verlieren wird.</p> + +<p>Gestern früh, am Tage des heiligen Stephan, erwartete +alle Welt den Fürsten Luigi sterben zu sehen +oder zu hören, daß er im Gefängnis erwürgt worden +sei; und man war allgemein überrascht, daß es anders +geschah, weil er doch kein Vogel wäre, den man lang +im Käfig halten dürfte. Aber in der folgenden Nacht +fand der Prozeß statt und am Tage von San Giovanni, +ein wenig vor Sonnenaufgang, erfuhr man, daß der +Herr erdrosselt worden und in sehr guter Haltung gestorben +sei. Sein Leichnam wurde ohne Verzug in die +Kathedrale gebracht, vom Klerus dieser Kirche und von +den Jesuitenvätern geleitet. Er blieb den ganzen Tag +über auf einem Tisch in der Mitte der Kirche aufgebahrt, +um dem Volk als Schauspiel zu dienen und +den Unerfahrenen zur Lehre. +</p> + +<p><a id="page-196"></a><span class="pgnum">196</span>Am nächsten Morgen wurde die Leiche nach Venedig +überführt, wie der Fürst es in seinem Testament angeordnet +hatte; und dort wurde er begraben.</p> + +<p>Am Samstag hängte man zwei seiner Leute; der erste +und vornehmere war Furio Savorgnano, der andre war +ein gemeiner Mann.</p> + +<p>Am Montag, dem vorletzten Tag des Jahrs, hängte +man noch dreizehn, von denen mehrere sehr vornehm +waren; zwei weitere, der eine war der Kapitän Splendiano +und der andre der Graf Paganello, wurden auf +den Richtplatz geführt und dabei leicht mit Zangen gezwickt; +auf der Richtstätte angelangt, wurden sie niedergeschlagen, +man brach ihnen den Schädel und schnitt +sie noch fast lebendig in Stücke. Es waren Edelleute, +und bevor sie auf den schlechten Weg gerieten, sehr +reich. Man sagt, daß es Graf Paganello war, der Vittoria +Accoramboni so grausam getötet habe, wie wir es berichtet +haben. Andre hielten dem entgegen, daß Fürst +Luigi in seinem aufgefangenen Brief bezeugt, daß er +die Tat mit eigner Hand ausgeführt habe. Vielleicht +war es nur Ruhmsucht wie damals in Rom, als er Vitelli +ermorden ließ, oder geschah wohl auch, um sich die +Gunst des Fürsten Virginio noch mehr zu sichern.</p> + +<p>Bevor Graf Paganello den tödlichen Stoß erhielt, +wurde er mit einem Messer wiederholt unter der linken +Brust durchbohrt, um sein Herz zu treffen, so wie er es +der armen Frau gemacht hatte. Dabei geschah es, daß +das Blut wie ein Strom aus der Brust floß. Er lebte so +noch länger als eine halbe Stunde, zum großen Staunen +aller. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, von +sehr kräftiger Natur.</p> + +<p>Die Galgen sind noch gerichtet, um die neunzehn +<a class="sic" id="sicA-17" href="#sic-17">Übriggebiebenen</a> am ersten Tag, der kein Festtag sein +<a id="page-197"></a><span class="pgnum">197</span>wird, ins Jenseits zu befördern. Aber weil der Henker +außerordentlich ermüdet ist und das Volk wie in Betäubung, +weil es so viele Tote gesehen hat, verschiebt man +die Hinrichtung während dieser zwei Tage. Man denkt +nicht daran, irgend jemand leben zu lassen. Von den +Leuten, die zum Fürsten gehörten, wird wohl niemand +davonkommen, höchstens Signor Filenfi, sein Haushofmeister, +der sich die größte Mühe von der Welt gibt, +denn die Sache ist ja wirklich für ihn wichtig, um zu +beweisen, daß er nichts mit der Tat zu tun hatte.</p> + +<p>Selbst von den Ältesten dieser Stadt Padua erinnert +sich niemand, daß man je durch ein gerechteres Urteil +so vielen Menschen auf einmal ans Leben gegangen ist. +Und diese Herren von Venedig haben sich damit einen +guten Namen und Ruf bei den zivilisierten Völkern erworben.</p> + +<hr/> + +<p>Von anderer Hand hinzugefügt:</p> + +<p>Der Sekretär und Haushofmeister Francesco Filenfi +wurde zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Der +Mundschenk Onorio Adami von Fermo, ebenso wie zwei +andere zu einem Jahr Gefängnis, sieben andre wurden +zur Galeere mit Ketten an den Füßen verurteilt und +schließlich freigelassen.</p> + + + + +<h2><a id="page-199"></a><span class="pgnum">199</span>DIE ÄBTISSIN VON CASTRO</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-200"></a><span class="pgnum">200</span>ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL</p> + + +<h3><a id="page-201"></a><span class="pgnum">201</span>I.</h3> + +<p>Die italienischen Briganten des sechzehnten Jahrhunderts +hat uns das Melodrama so oft gezeigt, und soviele +Leute haben von ihnen gesprochen, ohne sie zu +kennen, daß wir uns heute eine ganz falsche Vorstellung +von ihnen machen. Man kann im allgemeinen sagen, +daß diese Briganten den Widerstand gegen die unmenschlichen +Regierungen ausdrückten, welche in +Italien auf die Republiken des Mittelalters gefolgt +waren. Der neue Tyrann, gewöhnlich schon der reichste +Bürger der Republik, bevor er sie stürzte, schmückte, +um das Volk zu gewinnen, die Stadt mit prächtigen +Kirchen und mit schönen Gemälden. Von solcher Art +waren die Polentini von Ravenna, die Manfredi von +Faenza, die Riario von Imola, die Visconti von Mailand +die Bentivoglio von Bologna und endlich die Medici +von Florenz, die am wenigsten kriegerischen und +heuchlerischsten von allen. Unter den Historikern +dieser kleinen Staaten ist keiner, der es gewagt hätte, +von den unzähligen Vergiftungen und Morden zu +erzählen, welche von der quälenden Angst dieser +kleinen Tyrannen veranlaßt worden sind; jene würdigen +Historiker waren in ihrem Sold. Man erwäge, +daß jeder dieser Tyrannen jeden dieser Republikaner, +von denen er sich persönlich gehaßt wußte, persönlich +kannte, — Cosimo, Großherzog von Toskana z.B. +<a id="page-202"></a><span class="pgnum">202</span>kannte Sforza —, und daß mehrere dieser Tyrannen +ermordet worden sind: dann wird man den tiefen Haß, +das dauernde Mißtrauen verstehen, woraus den Italienern +des sechzehnten Jahrhunderts soviel Geist und Mut erwuchs +und ihren Künstlern soviel Genie. Man wird +sehen, daß diese heftigen Leidenschaften das Entstehen +jenes lächerlichen Vorurteils verhinderten, das zur Zeit +Madame de Sévignés Ehre genannt wurde und vor +allem darin besteht, sein Leben für den Herrn zu opfern, +als dessen Untertan man geboren ist, oder um +den Damen zu gefallen. Im sechzehnten Jahrhundert +konnten sich in Frankreich die Tatkraft eines Mannes +und sein wahres Verdienst nur durch Tapferkeit auf +dem Schlachtfeld oder im Zweikampf zeigen; aber da +auch Frauen die Tapferkeit und vor allem die Tollkühnheit +lieben, sind sie darin die höchsten Richter geworden. +Von da an entstand der Geist der Galanterie, +der die allmähliche Vernichtung aller Leidenschaften, +ja selbst der Liebe vorbereitete; zugunsten der Eitelkeit, +dieses grausamen Tyrannen, dem wir alle gehorchen. +Die Könige förderten die Eitelkeit, und mit +Recht: deshalb die Herrschaft der Ordenssterne.</p> + +<p>In Italien zeichnete sich ein Mann durch alle Arten +von Leistung aus, ebenso durch starke Degenstöße, wie +durch Entdeckungen aus alten Handschriften: man sehe +Petrarca, den Abgott seiner Zeit; und eine Frau des +sechzehnten Jahrhunderts vermochte einen Mann, der +im Griechischen erfahren war, ebenso und heftiger +zu lieben, als einen durch kriegerische Tapferkeit Berühmten. +Damals erlebte man die Leidenschaften und +nicht Gewohnheit der Galanterie. Das ist der große Unterschied +zwischen Italien und Frankreich, und das ist es, +weshalb Italien die Raffael, Giorgione, Tizian, Correggio +<a id="page-203"></a><span class="pgnum">203</span>gebar, während Frankreich alle jene tapfren +Truppenführer des sechzehnten Jahrhunderts hervorbrachte, +die heute so unbekannt sind, obgleich doch +jeder von ihnen eine so große Anzahl Feinde getötet hat. +Ich bitte für diese groben Wahrheiten um Verzeihung.</p> + +<p>Wie dem aber auch sei, die grausamen und notwendigen +Racheakte der kleinen italienischen Tyrannen +des Mittelalters versöhnten das Herz des Volks mit +den Briganten. Man haßte die Briganten, wenn sie +Pferde, Getreide, Geld, mit einem Wort alles, was +ihnen zum Leben notwendig war, stahlen, aber im Grund +war das Gefühl des Volks für sie, und die Dorfmädchen +zogen allen andren jungen Leuten den vor, der sich +einmal in seinem Leben genötigt gesehen hatte: „d'andar +alla macchia“, das heißt: in die Wälder zu fliehen +und wegen einer zu unvorsichtigen Tat bei den Räubern +Zuflucht zu suchen.</p> + +<p>Noch heute fürchtet man sich sicherlich allgemein, +den Briganten zu begegnen, aber wenn sie in Ketten +gelegt werden, bedauert sie jedermann. Das kommt daher, +daß dieses so bewegliche, spöttische Volk, das über +alles lacht, was unter der Zensur seiner Herrn veröffentlicht +wird, jene kleine romantischen Geschichten, die mit +Wärme das Leben der Briganten schildern, zu seiner +ständigen Lektüre gewählt hat. Was es Heroisches in +diesen Schilderungen gibt, entzückt den künstlerischen +Nerv, der immer in den unteren Klassen lebt, und außerdem +ist es so ermüdet von dem offiziellen Lob, das gewissen +Leuten gespendet wird, daß alles, was nicht in +dieser Art ist, ihm unmittelbar zu Herzen geht. Man muß +wissen, daß das niedere Volk in Italien unter gewissen +Dingen leidet, die dem Fremden niemals auffallen, +wenn er auch zehn Jahre im Lande lebte. Vor fünfzehn +<a id="page-204"></a><span class="pgnum">204</span>Jahren zum Beispiel, bevor noch die Weisheit +der Regierungen die Briganten unterdrückt hatte<a href="#FN-5" id="FNA-5"><sup>5</sup></a>, +konnte man nicht selten sehen, wie ihre Heldentaten die +Schändlichkeiten der Statthalter in den kleinen Städten +bestraften. Diese Statthalter hatten unumschränkte Regierungsgewalt, +aber ihr Gehalt überstieg nicht die +Summe von zwanzig Talern im Monat, und so waren sie +natürlich zu Diensten der angesehensten Familie des +Landes, welche durch dieses einfache Mittel ihre Feinde +unterdrückte. Wenn es den Briganten auch nicht immer +glückte, diese kleinen despotischen Statthalter zu bestrafen, +hielten sie sie wenigstens zum Besten und boten +ihnen Trotz, was in den Augen dieses spirituellen Volks +nicht gering gilt. Ein satyrisches Sonett tröstet es in +allen Leiden und niemals vergißt es eine Beleidigung. +Dies ist wieder einer der Hauptunterschiede zwischen +dem Italiener und dem Franzosen.</p> + +<p>Hatte im sechzehnten Jahrhundert der Gouverneur +eines Orts einen armen Einwohner, der sich den Haß +einer einflußreichen Familie zugezogen hatte, zum Tode +verurteilt, so geschah es oft, daß Briganten das Gefängnis +angriffen, um den Bedrängten zu befreien. +Anderseits hatte die mächtige Familie nicht viel Zutrauen +zu den acht oder zehn Soldaten der Regierung, +die beauftragt waren, das Gefängnis zu bewachen, und +sie warb auf eigene Kosten einen Trupp Gelegenheitssoldaten +an. Diese Soldaten wurden bravi genannt; sie +biwakierten in der Umgebung des Gefängnisses und +<a id="page-205"></a><span class="pgnum">205</span>übernahmen es, den armen Teufel, dessen Tod man erkauft +hatte, bis zum Richtplatz zu begleiten. Wenn diese +mächtige Familie einen jungen Mann zu den ihren +zählte, so stellte er sich an die Spitze dieser militärischen +Improvisation.</p> + +<p>Ich muß zugestehen, daß dieser Zustand durchaus +gegen die Moral ist; heute hat man das Duell +und die Langeweile, und die Richter verkaufen sich +nicht; aber diese Sitten des sechzehnten Jahrhunderts +waren höchst geeignet, Männer hervorzubringen, die +dieses Namens würdig waren.</p> + +<p>Viele Geschichtsschreiber, heute noch gedankenlos +von der Literatur der Akademien gelobt, hatten versucht, +diesen Stand der Dinge, der um 1550 so +große Charaktere hervorbrachte, zu verheimlichen. Zu +ihrer Zeit wurden ihre vorsichtigen Lügen mit allen +den Ehrungen entlohnt, welche die Medici von Florenz, +die Este von Ferrara, die Vizekönige von Neapel und +andre zu vergeben hatten. Ein armer Historiker, namens +Gianone, hat einen Zipfel des Schleiers lüpfen wollen; +aber weil er nur einen sehr kleinen Teil der Wahrheit +sich zu sagen getraute und noch dazu in zweifelhafter +und dunkler Form, ist er sehr langweilig geblieben, was +ihn nicht davor bewahrt hat, am 7. März 1758 mit +zweiundachtzig Jahren im Gefängnis zu sterben.</p> + +<p>Wenn man die Geschichte Italiens kennenlernen will, +darf man nicht die allgemein beliebten Autoren lesen, +denn nirgends war der Preis der Lüge besser bekannt, +nirgends wurde sie besser bezahlt.</p> + +<p>Die ersten Berichte, die man in Italien nach der barbarischen +Zeit des neunten Jahrhunderts verfaßt hat, +erwähnen schon die Briganten und sprechen von ihnen, +als ob sie seit undenklichen Zeiten existiert hätten. +<a id="page-206"></a><span class="pgnum">206</span>Man lese die Sammlung Muratori. Als zum Unglück für +das öffentliche Wohl, die Gerechtigkeit und eine gute +Verwaltung, aber zum Glück für die Künste die Republiken +des Mittelalters unterdrückt wurden, flüchteten +die tatkräftigsten Republikaner, die die Freiheit +mehr als die Mehrzahl ihrer Mitbürger liebten, in die +Wälder. Natürlich begann das Volk, das durch die +Baglioni, Malatesta, Bentivoglio, Medici usf. bedrückt +wurde, deren Feinde zu lieben und zu ehren. Die Grausamkeiten +der kleinen Tyrannen, welche auf die ersten +Usurpatoren folgten, z.B. die Grausamkeiten des Cosimo, +ersten Großherzogs von Florenz, der sogar die nach +Venedig und Paris geflüchteten Republikaner ermorden +ließ, vermehrten die Reihen dieser Briganten immer neu. +Etwa zur Zeit, als unsre Heldin lebte, also um das +Jahr 1550, leiteten Alfonso Piccolomini, Herzog von +Monte Mariano, und Marco Sciarra mit Erfolg bewaffnete +Banden, welche in der Umgebung von Albano die +damals sehr tapfren Soldaten des Papstes hart bedrängten. +Die Unternehmungen dieser berühmten Anführer, +welche noch heute das Volk bewundert, dehnen +sich vom Po und von den Sümpfen bei Ravenna bis zu +den Wäldern aus, die damals den Vesuv bedeckten. Der +Wald von Faggiola, fünf Meilen von Rom, auf der +Straße nach Neapel gelegen, war berühmt als das Hauptquartier +des Sciarra, der unter Gregors XIII. Pontifikat +oft einige tausend Soldaten beisammen hatte. Die +Geschichte dieses berühmten Briganten würde in den +Augen der gegenwärtigen Generation unglaubwürdig erscheinen, +weil man niemals die Motive seiner Handlungen +verstehen würde. Er wurde erst im Jahre 1592 +besiegt. Als seine Sache verzweifelt stand, unterhandelte +er mit der Republik Venedig und trat mit seinen +<a id="page-207"></a><span class="pgnum">207</span>treuesten oder, wenn man will, schuldigsten Soldaten in +ihren Dienst. Auf die Beschwerden Roms hin ließ Venedig, +obgleich es einen Vertrag mit Sciarra unterzeichnet +hatte, ihn ermorden und schickte seine tapferen +Soldaten zur Verteidigung der Insel Kandia gegen die +Türken. Denn die <a class="sic" id="sicA-18" href="#sic-18">venezianische</a> Weisheit wußte sehr +wohl, daß eine mörderische Pest in Kandia wütete, und +binnen einigen Tagen waren die fünfhundert Soldaten, +die Sciarra in den Dienst der Republik gestellt hatte, +auf siebenundsechzig Mann zusammengeschmolzen.</p> + +<p>Dieser Wald von Faggiola, dessen gigantische Bäume +einen alten Vulkan bedeckten, war der letzte Schauplatz +der Heldentaten Marco Sciarras. Alle Reisenden +werden bestätigen, daß dies der herrlichste Ort der +wunderbaren römischen Campagna ist, deren düsteres +Aussehen wie für eine Tragödie geschaffen scheint. Er +krönt mit seinem dunklen Laub die Gipfel des Monte +Albano.</p> + +<p>Einem vulkanischen Ausbruch, Jahrtausende vor +der Gründung Roms, verdanken wir dieses prachtvolle +Gebirge. Zu einer Zeit, die weit vor jeder Geschichte +liegt, erhob es sich aus der weiten Ebene, die +ehemals zwischen Apennin und Meer gebreitet war. Der +Monte Cave, vom düsteren Laub der Faggiola umkränzt, +ist sein höchster Gipfel; man sieht ihn von überall, +von Terracina und von Ostia wie von Rom und Tivoli, +und es ist dieses Albanergebirge, das jetzt von Palästen +übersät den berühmten Horizont Roms gegen Süden +abschließt. Auf dem Gipfel des Monte Cave hat ein +Kloster der schwarzen Brüder den Tempel des Jupiter +Feretrinus ersetzt, zu dem die latinischen Völker kamen, +um gemeinsam zu opfern und das Band einer Art religiösen +Vertrages fester zu schließen. Unter dem Schutz +<a id="page-208"></a><span class="pgnum">208</span>prächtiger Kastanien gelangt der Wanderer in einigen +Stunden zu den ungeheuren Blöcken, welche die Ruinen +des Jupitertempels bilden; aber aus diesem tiefen +Schatten, der so köstlich in solchem Klima ist, sieht +der Reisende selbst heute noch mit Unruhe in das Innere +das Waldes; er hat Furcht vor den Briganten. Auf dem +Gipfel des Monte Cave angelangt, zündet man in den +Ruinen des Tempels Feuer an, um die Speisen zu bereiten. +Von diesem Punkt, der die ganze römische Campagna +beherrscht, sieht man im Westen das Meer, das +nur zwei Schritt weit zu sein scheint, obgleich es drei +oder vier Meilen entfernt ist; man unterscheidet die +kleinsten Boote, und mit einem ganz schwachen Glas +kann man die Menschen zählen, die bei Neapel auf das +Dampfschiff steigen. Nach allen Seiten breitet sich der +Blick über eine herrliche Ebene aus, die gegen Osten +vom Apenin, im Süden von Palestrina und nordwärts +von San Pietro und den andren großen Bauwerken Roms +begrenzt ist. Da der Monte Cave nicht sehr hoch ist, +unterscheidet das Auge die geringsten Kleinigkeiten +dieses erhabenen Landes, das keine geschichtliche Verherrlichung +brauchte, während dennoch jedes Gehölz, +jeder Mauerüberrest, den man in der Ebene oder auf +den Abhängen der Berge erblickt, eine jener durch +Vaterlandsliebe und Tapferkeit bewundernswerten +Schlachten ins Gedächtnis ruft, von denen Titus Livius +spricht.</p> + +<p>Um zu den riesigen Felsblöcken, den Überresten des +Jupiter Feretrinus-Tempels zu gelangen, welche die +Mauer des Klosters der schwarzen Mönche bilden, kann +man noch heute die Via triumphalis verfolgen, auf der +einst die ersten Könige Roms eingezogen sind. Sie ist +mit ganz regelmäßig behauenen Steinen gepflastert, +<a id="page-209"></a><span class="pgnum">209</span>und man findet mitten im Wald von Faggiola lange +Fragmente davon.</p> + +<p>Am Rande des erloschenen Kraters, der jetzt mit +durchsichtig klarem Wasser gefüllt zu dem hübschen, +fünf bis sechs Meilen im Umfang zählenden See von +Albano geworden ist, lag tief eingebettet in den Lavafels +‚Alba, die Mutter Roms‘, schon zur Zeit der ersten +Könige von der römischen Politik zerstört. Jedoch seine +Ruinen sind noch vorhanden. Einige Jahrhunderte +später erhob sich Albano, die heutige Stadt, eine +Viertelmeile von Alba am Hang des Berges, der dem +Meere zu liegt; aber Albano ist vom See durch eine +Felswand geschieden, welche den See der Stadt und die +Stadt dem See verbirgt. Von der Ebene aus heben sich +ihre weißen Gebäude vom tiefen Grün des Waldes ab, +der so berühmt und den Briganten so teuer ist und der +von allen Seiten das vulkanische Gebirge umkränzt.</p> + +<p>Albano, das heute fünftausend bis sechstausend Einwohner +zählt, hatte im Jahre 1540 höchstens dreitausend, +als zu den ersten Geschlechtern die mächtige +Familie Campireali gehörte, deren unglückliches Schicksal +wir erzählen werden.</p> + +<p>Ich berichte diese Geschichte nach zwei umfangreichen +Manuskripten, das eine römisch und das andre +aus Florenz. Zu meiner großen Gefahr habe ich gewagt, +ihren Duktus wiederzugeben, der fast der gleiche +ist wie der unsrer alten Legenden. Aber der feine und +gemessene Stil der heutigen Zeit würde, wie mir scheint, +zu wenig im Einklang mit den Geschehnissen stehen +und gar mit den Betrachtungen der Chronisten. Sie +schrieben um das Jahr 1598. Ich erbitte die Nachsicht +des Lesers für sie wie auch für mich. +</p> + + + +<h3><a id="page-210"></a><span class="pgnum">210</span>II.</h3> + + +<p>„Nach so vielen tragischen Geschichten“, sagt der +Schreiber der florentinischen Handschrift, „werde ich +mit der schließen, welche mir am schmerzlichsten zu +erzählen ist. Ich werde von Helena von Campireali +sprechen, der allzubekannten Äbtissin des Klosters der +Heimsuchung in Castro, deren Prozeß und Tod solches +Aufsehen in der ersten Gesellschaft Roms, ja ganz +Italiens erregt hat. Schon um 1555 beherrschten die +Briganten die Umgebung Roms, und die Regierungsbeamten +hatten sich den mächtigen Familien verkauft.“ +Im Jahre 1572, welches das des Prozesses war, bestieg +Gregor XIII. Buoncompagni den Stuhl von San Pietro. +Dieser heilige Papst vereinte alle apostolischen Tugenden, +aber man konnte seiner weltlichen Leitung ein +wenig Schwäche vorwerfen: er verstand weder ehrenfeste +Richter zu wählen, noch die Briganten zu unterdrücken; +er jammerte über die Verbrechen und wußte +sie nicht zu bestrafen. Es schien ihm, daß er sich +mit einer entsetzlichen Verantwortung beladen würde, +wenn er die Todesstrafe verhängte. Die Folge dieser Art, +die Dinge zu sehen, war, daß die Straßen, die nach der +ewigen Stadt führten, von zahllosen Briganten bevölkert +wurden. Um mit einiger Sicherheit zu reisen, +mußte man Freund der Räuber sein. Der Wald von +Faggiola, zu beiden Seiten der von Neapel über Albano +führenden Landstraße, war seit langem das Hauptquartier +einer Seiner Heiligkeit feindlichen Räuberschaft, +und Rom war öfters gezwungen, wie von Macht +zu Macht, mit Marco Sciarra, einem der Könige des +Waldes, zu unterhandeln. Die Stärke dieser Briganten +lag darin, daß sie von ihren Nachbarn, den Bauern +geliebt und geschützt wurden. +</p> + +<p><a id="page-211"></a><span class="pgnum">211</span>„In dem hübschen Städtchen Albano, so nahe dem +Hauptquartier der Briganten, wurde Helena di Campireali +im Jahre 1542 geboren. Ihr Vater galt für den +reichsten Patrizier des Landes und in dieser Eigenschaft +hatte er Vittoria Carafa geheiratet, welche große Liegenschaften +im Königreich Neapel besaß. Ich könnte einige +Greise anführen, die noch leben und Vittoria Carafa und +ihre Tochter gut gekannt haben. Vittoria war ein Muster +von Klugheit und Geist, aber trotz all ihrer Begabung +vermochte sie nicht dem Untergang ihrer Familie vorzubeugen. +Es ist sonderbar: die entsetzlichen Schicksalsschläge, +welche den traurigen Stoff meiner Erzählung +bilden, können, wie mir scheint, keiner der handelnden +Personen, die ich dem Leser vorstellen werde, im einzelnen +zur Last gelegt werden: ich sehe Unglückliche, +jedoch kann ich keine Schuldigen finden. Die ungewöhnliche +Schönheit und die zärtliche Seele der jungen +Helena bildeten eine große Gefahr für sie und eine Entschuldigung +für ihren Geliebten Giulio Branciforte; wie +ebenso der vollkommene Mangel an Geist des Monsignore +Cittadini, Bischof von Castro, ihn bis zu einem +gewissen Grad entschuldigen kann. Er verdankte seinen +raschen Emporstieg auf der Leiter der geistlichen +Ehren sowohl der Rechtlichkeit seiner Führung, wie +besonders aber seinem edlen Äußern und einem Antlitz, +das so regelmäßig schön war, wie man es selten findet. +Ich finde geschrieben, daß man ihn nicht sehen konnte, +ohne ihn zu lieben.</p> + +<p>Da ich niemandem schmeicheln will, werde ich nicht +verschweigen, daß ein heiliger Mönch des Klosters +Monte Cave, der oft in seiner Zelle, gleich dem heiligen +Paulus, einige Fuß über dem Erdboden schwebend überrascht +worden ist, ohne daß ihn etwas andres als die +<a id="page-212"></a><span class="pgnum">212</span>göttliche Gnade in dieser ungewöhnlichen Stellung hätte +halten können, dem Herrn von Campireali prophezeit +hatte, daß seine Familie mit ihm aussterben und er nur +zwei Kinder haben würde, denen beiden ein gewaltsamer +Tod bevorstand. Auf Grund dieser Weissagung konnte +er im Lande selbst keine Frau finden und ging nach +Neapel, um sein Heil zu versuchen, wo er das Glück +hatte, großen Reichtum und eine Frau zu finden, deren +Genie fähig gewesen wäre, seine böse Bestimmung zu +ändern, wenn so etwas überhaupt möglich gewesen +wäre. Dieser Signor Campireali galt für einen sehr ehrenhaften +Mann und war sehr wohltätig, aber er besaß gar +keinen Geist; deshalb zog er sich nach und nach ganz +aus Rom zurück und brachte schließlich fast das ganze +Jahr in seinem Palast in Albano zu. Er widmete sich +der Pflege seiner Ländereien, die in der reichen Ebene +lagen, welche sich zwischen der Stadt und dem Meer +ausbreitet. Durch den Rat seiner Frau bewogen, ließ +er seinem Sohn Fabio, einem auf seine Geburt sehr +stolzen Jüngling, und seiner Tochter Helena, deren +wunderbare Schönheit man noch auf einem Bildnis der +Galerie Farnese sehen kann, die vortrefflichste Erziehung +geben. Bevor ich begonnen hatte ihre Geschichte +zu schreiben, bin ich in den Palazzo Farnese gegangen, +um die sterbliche Hülle zu betrachten, die der Himmel +dieser Frau verlieh, deren verhängnisvolles Schicksal +einst so viel Aufsehen machte und noch heute im Gedächtnis +des Volkes fortlebt.</p> + +<p>Die Form ihres Kopfes ist ein längliches Oval, die +Stirne ist sehr hoch, die Haare sind dunkelblond. Der +Ausdruck ihres Gesichts ist eher heiter; sie hatte große, +sehr ausdrucksvolle Augen, und ihre kastanienfarbenen +Augenbrauen bildeten einen vollendet geschwungenen +<a id="page-213"></a><span class="pgnum">213</span>Bogen. Die Lippen sind ganz schmal und es sieht aus, +als wären die Konturen ihres Mundes von dem berühmten +Correggio gezogen. Inmitten der Bildnisse, die +sie in der Galerie Farnese umgeben, sieht sie wie eine +Königin aus; es ist selten, daß Majestät mit Heiterkeit +vereint ist.</p> + +<p>Nachdem sie acht volle Jahre im Kloster der Heimsuchung +in der Stadt Castro zugebracht hatte, wohin +man damals die Töchter der meisten römischen Fürsten +schickte, kehrte Helena zu ihren Eltern zurück; aber +sie verließ das Kloster nicht, ohne für den Hochaltar +der Kirche einen prächtigen Kelch gestiftet zu haben. +Kaum war sie nach Albano zurückgekehrt, ließ ihr +Vater um erheblichen Gehalt den berühmten, damals +schon sehr alten Dichter Cecchino kommen, der Helenas +Gedächtnis mit den schönsten Versen des göttlichen +Virgil erfüllte und seiner großen Schüler Petrarca, +Ariost und Dante.“</p> + +<p>Hier fühlt sich der Erzähler gezwungen, eine lange +Auseinandersetzung über die verschiedenen Ehrenbezeugungen +zu übergehen, welche das sechzehnte Jahrhundert +diesen großen Dichtern darbrachte. Es scheint, +daß Helena Latein verstand. Die Verse, welche man sie +lehrte, sprachen von Liebe, und zwar von einer Liebe, +welche uns recht lächerlich vorkäme, wenn wir ihr +heute begegneten; ich meine die leidenschaftliche Liebe, +welche der größten Opfer bedarf, welche nur von +Geheimnis umgeben bestehen kann und der stets das +schrecklichste Unheil nah ist.</p> + +<p>Dies war die Liebe, welche Giulio Branciforte der +kaum siebzehnjährigen Helena einzuflößen verstand. Er +war einer ihrer Nachbarn und sehr arm; er bewohnte +ein armseliges kleines Haus am Berg, eine Viertelmeile +<a id="page-214"></a><span class="pgnum">214</span>von der Stadt, inmitten der Ruinen von Alba, am Rande +des grünbewachsenen, hundertfünfzig Fuß tiefen +Trichters, der den See einschließt. Dieses Haus, welches +im tiefen, prachtvollen Schatten des Waldes von +Faggiola lag, ist zerstört worden, als man das Kloster +von Palazzuola baute. Dieser arme junge Mann hatte +nichts für sich als seine lebhaft leichte Art und die +wirkliche Unbekümmertheit, mit der er sein trauriges +Los trug. Was man noch zu seinen Gunsten sagen +konnte, ist, daß sein Gesicht ausdrucksvoll war, ohne +schön zu sein. Aber es hieß von ihm, daß er sich unter +dem Befehl des Fürsten Colonna und als einer von +dessen bravi in zwei oder drei höchst gefährlichen +Unternehmen tapfer geschlagen hätte.</p> + +<p>Trotz seiner Armut und trotzdem ihm die Schönheit +fehlte, besaß er doch nicht wenig in den Augen aller +jungen Mädchen von Albano: ein tapfres Herz, das zu +gewinnen ihrer aller größter Ehrgeiz war. Überall gut +aufgenommen, hatte Giulio Branciforte bis zum Augenblick, +als Helena aus dem Kloster von Castro zurückkam, +nur flüchtige Liebschaften gehabt.</p> + +<p>Als bald darauf der große Dichter Cecchino aus Rom +in den Palazzo Campireali einzog, um dieses junge +Mädchen in den schönen Wissenschaften zu unterrichten, +richtete Giulio, der ihn kannte, ein Gedicht in +lateinischen Versen an ihn, über das Glück, daß er in +so ehrwürdigem Alter so schöne Augen an die seinen +gefesselt sehen durfte und eine so reine Seele vollkommen +glücklich machte, wenn er ihre Gedanken zu +billigen geruhte. Die Eifersucht und der Ärger der +jungen Mädchen, denen Giulio vor Helenas Rückkehr +Aufmerksamkeiten erwiesen hatte, machten bald alle +Vorsicht, mit der er seine wachsende Leidenschaft zu +<a id="page-215"></a><span class="pgnum">215</span>verbergen suchte, nutzlos; und ich muß gestehen, daß +diese Liebschaft eines jungen Mannes von zweiundzwanzig +und eines jungen Mädchens von siebzehn Jahren +in einer Weise geführt wurde, welche die Klugheit nicht +billigen kann. Bevor noch drei Monate verstrichen +waren, bemerkte Herr von Campireali, daß Giulio Branciforte +zu oft an den Fenstern seines Schlosses vorbeiging, +das man übrigens noch auf halber Höhe der +Straße, die gegen den See führt, sehen kann.</p> + +<p>Die Freimütigkeit und Gradheit, die natürlichen +Folgen der Freiheit, wie sie die Republiken gewähren, +und die Gewohnheit, ungebunden und leidenschaftlich +zu handeln, die einer Zeit entsprach, die noch nicht von +den Sitten der Monarchie eingeengt war, zeigten sich +unverhohlen im ersten Schritt des Herrn Campireali. +Am gleichen Tag, da er sich durch das häufige Erscheinen +des jungen Branciforte verletzt fühlte, fuhr +er ihn hart mit diesen Worten an: „Wie wagst du +es, unaufhörlich an meinem Hause vorbeizugehen +und unverschämt nach den Fenstern meiner Tochter +hinaufzuschauen, du, der nicht einmal Gewänder hat +um sich zu bekleiden? Wenn ich nicht fürchten müßte, +daß mein Schritt von den Nachbarn mißdeutet würde, +schickte ich dir drei Goldzechinen, damit du dir in +Rom einen besseren Mantel kaufen könntest. Wenigstens +würden meine und meiner Tochter Augen nicht mehr +so oft durch den Anblick deiner Lumpen beleidigt sein.“</p> + +<p>Ohne Zweifel übertrieb Helenas Vater, denn die Gewänder +des jungen Branciforte bestanden nicht aus +Lumpen; sie waren nur aus sehr einfachem Stoff; allein, +wenn sie auch sehr sauber und gut gebürstet waren, muß +man doch gestehen, daß ihr Aussehen auf langen Gebrauch +schließen ließ. Giulios Seele wurde durch die Vorwürfe +<a id="page-216"></a><span class="pgnum">216</span>des Herrn von Campireali so tief erschüttert, daß +er sich nicht mehr bei Tage vor seinem Hause zeigte.</p> + +<p>Wie wir schon sagten, waren die beiden Bögen, Überreste +eines alten Aquädukts, welche dem vom Vater +Brancifortes erbauten und seinem Sohn hinterlassenen +Hauses als Hauptmauer dienten, nur fünfhundert oder +sechshundert Schritt von Albano entfernt. Um von +diesem hohen Punkt nach der neuen Stadt hinabzusteigen, +mußte Giulio am Palast der Campireali +vorbeigehen. Helena bemerkte bald das Ausbleiben dieses +eigentümlichen jungen Mannes, der, wie ihre Freundinnen +sagten, jede andre Beziehung aufgegeben hatte, +um sich ganz dem Glück ihres Anblicks zu widmen.</p> + +<p>An einem Sommerabend gegen Mitternacht stand das +Fenster Helenas offen; das junge Mädchen genoß die +Brise des Meeres, die man auf dem Hügel von Albano +gut spüren kann, obwohl diese Stadt durch eine Ebene +von drei Meilen Breite vom Meer getrennt ist. Die Nacht +war finster und die Stille tief, man hätte ein Blatt +fallen hören. Helena lehnte an ihrem Fenster und dachte +vielleicht an Giulio, als sie ein Etwas, das dem lautlosen +Flügel eines Nachtvogels glich, sanft an ihrem +Fenster vorbeistreichen sah. Sie zog sich erschreckt +zurück. Der Gedanke, daß dieses Ding ihr von irgendeinem +Vorübergehenden dargebracht sein könnte, kam +ihr nicht. Das zweite Stockwerk des Palastes, wo sich +ihr Zimmer befand, lag mehr als fünfzig Fuß über der +Erde. Aber plötzlich glaubte sie in diesem sonderbaren +Ding einen Blumenstrauß zu erkennen, der inmitten des +tiefen Schweigens vor dem Fenster, an dem sie lehnte, +hin und her strich; ihr Herz schlug heftig. Der Strauß +schien ihr auf der Spitze von zwei oder drei Rohrstöcken +befestigt zu sein, einer Art großer Binsen, die dem +<a id="page-217"></a><span class="pgnum">217</span>Rohr der römischen Campagna sehr ähnlich sind und +Stiele von zwanzig bis dreißig Fuß Höhe treiben. +Die Schwäche des Rohrs und die ziemlich starke Brise +machten es Giulio einigermaßen schwer, seinen Strauß +genau vor das Fenster, an dem er Helena vermutete, +zu halten. Außerdem war die Nacht so finster, daß +man auf solche Höhe von der Straße aus nichts erkennen +konnte. Unbeweglich an ihrem Fenster war +Helena tief erregt. War es nicht ein Geständnis, den +Strauß zu nehmen? Sie hatte übrigens keins von den +Gefühlen, die ein Abenteuer dieser Art heute in einem +jungen Mädchen der besten Gesellschaft erwecken +würde, das durch schöngeistige Erziehung auf das +Leben vorbereitet ist. Da ihr Vater und ihr Bruder Fabio +zu Hause waren, war ihr erster Gedanke, daß der +geringste Lärm einen Büchsenschuß auf Giulio zur +Folge haben würde, und die Gefahr, der dieser arme +junge Mensch ausgesetzt war, erregte ihr Mitleid. Ihr +zweiter Gedanke war, daß er, obgleich sie ihn noch +wenig genug kannte, das Wesen sei, das sie dennoch +nach ihrer Familie am meisten auf der Welt liebte. +Schließlich nahm sie nach einigen Minuten des Zauderns +den Strauß, und als sie die Blumen in dem tiefen Dunkel +berührte, spürte sie, daß ein Brief am Stengel einer +Blume befestigt war; sie lief auf die große Stiege, um +diesen Brief beim Licht der Lampe zu lesen, welche +vor dem Bild der Madonna brannte. ‚Törichte!‘ schalt +sie sich nach den ersten Zeilen, die sie vor Glück erröten +ließen, ‚wenn man mich sieht, bin ich verloren +und meine Familie wird ohne Erbarmen diesen armen +jungen Menschen verfolgen,‘ Sie kehrte in ihr Zimmer +zurück und zündete die Lampe an. Dieser Augenblick +war köstlich für Giulio, welcher — beschämt über +<a id="page-218"></a><span class="pgnum">218</span>seinen Schritt, und als wollte er sich selbst in der +dunklen Nacht noch verbergen — sich dicht an den ungeheuren +Stamm einer jener Eichen gedrängt hatte, die +grün und bizarr geformt, noch heute dem Palast Campireali +gegenüber stehen. In seinem Brief erzählte Giulio +mit vollkommner Einfachheit die beschämende Zurechtweisung, +die er von Helenas Vater erhalten hatte. „Ich +bin allerdings arm,“ fuhr er fort, „und Ihr könnt Euch +schwerlich das ganze Ausmaß meiner Armut vorstellen. +Ich habe nichts als mein Haus, das Ihr vielleicht +unter den Ruinen des Aquädukts von Alba bemerkt +haben werdet; rings um das Haus liegt ein Garten, den +ich selbst bebaue und dessen Früchte mich ernähren. +Ich besitze auch noch einen Weinberg, der um dreißig +Scudi im Jahr verpachtet ist. Ich weiß wirklich nicht, +warum ich Euch liebe; sicherlich kann ich Euch nicht +bitten, mein Elend zu teilen. Und doch hat das Leben, +wenn Ihr mich nicht liebt, keinen Wert mehr für mich; +es ist überflüssig, zu sagen, daß ich es tausendmal für +Euch hingeben würde. Und doch war dieses Leben vor +Eurer Rückkehr aus dem Kloster gar nicht unglücklich: +im Gegenteil, es war von den glänzendsten Träumen +erfüllt. So kann ich sagen, daß der Anblick des Glücks +mich unglücklich gemacht hat. Sicher hätte ehemals +kein Mensch auf der Welt wagen dürfen, mir solche +Worte zu sagen, wie die, mit denen Euer Vater mich +entehrte; mein Dolch hätte mir auf der Stelle Genugtuung +verschafft. Damals, mit meinem Mut und +meinen Waffen, hielt ich mich aller Welt für ebenbürtig, +nichts ging mir ab. Jetzt hat sich alles geändert: +ich kenne die Furcht. Es ist schon zu viel des +Schreibens; vielleicht verachtet Ihr mich. Wenn Ihr dagegen, +trotz der armseligen Gewänder, die mich bedecken, +<a id="page-219"></a><span class="pgnum">219</span>etwas Mitleid mit mir fühlt, werdet Ihr bemerken, +daß ich jeden Abend, wenn es am Kapuzinerkloster +auf dem Gipfel des Hügels Mitternacht läutet, +unter der großen Eiche versteckt bin, dem Fenster +gegenüber, welches ich unausgesetzt betrachte, weil ich +vermute, daß dort Euer Zimmer ist. Wenn Ihr mich +nicht so wie Euer Vater verachtet, werft mir eine der +Blumen des Straußes herab; aber gebt acht, daß sie +nicht auf ein Gesimse oder auf einen Balkon Eures +Hauses falle.“</p> + +<p>Dieser Brief wurde mehrmals gelesen; nach und nach +füllten sich Helenas Augen mit Tränen; sie betrachtete +gerührt den prächtigen Strauß, dessen Blumen mit einem +sehr feinen Seidenfaden gebunden waren. Sie versuchte +eine der Blumen abzureißen, aber es gelang ihr nicht; +dann ergriff sie Reue. Unter den jungen Mädchen Roms +glaubte man, daß durch das Abreißen einer Blume oder +durch irgendwelche Verstümmelung eines aus Liebe +gegebenen Straußes diese Liebe selbst getötet würde. +Sie fürchtete, daß Giulio ungeduldig werden möchte und +lief zum Fenster; aber als sie dort war, fiel ihr plötzlich +ein, daß sie zu sichtbar sei, da die Lampe das Zimmer +mit Licht erfüllte. Helena wußte nicht mehr, welches +Zeichen sie sich erlauben sollte; es schien ihr, daß es +keins gab, das nicht viel zu viel sagte.</p> + +<p>Beschämt lief sie wieder in ihr Zimmer zurück. Aber +die Zeit verstrich und plötzlich kam ihr ein Gedanke, +der sie in unaussprechliche Verwirrung stürzte: Giulio +würde glauben, daß sie, wie ihr Vater, seine Armut +verachtete! Sie erblickte ein kleines kostbares Marmorstück, +das auf ihrem Tisch lag, band es in ihr Taschentuch +und warf dies Taschentuch an den Fuß der Eiche +hinunter, die gegenüber ihrem Fenster stand. Dann +<a id="page-220"></a><span class="pgnum">220</span>machte sie ihm Zeichen, daß er sich entfernen möge und +hörte, daß Giulio gehorchte, denn im Weggehen suchte +er nicht mehr den Schall seiner Schritte zu dämpfen. Als +er die Höhe des Felsengürtels erreicht hatte, welcher den +See von den letzten Häusern von Albano trennt, hörte sie +ihn Worte der Liebe singen; sie winkte ihm Abschied, +diesmal weniger schüchtern, dann begab sie sich an +seinen Brief, um ihn wiederzulesen.</p> + +<p>Am nächsten Tag und auch an den folgenden, gab es +Briefe und ähnliche Zusammenkünfte; aber wie in +einem italienischen Dorf alles bemerkt wird, noch dazu +Helena weitaus die reichste Partie des Landes war, wurde +Herr von Campireali aufmerksam gemacht, daß man +jeden Abend nach Mitternacht im Zimmer seiner Tochter +Licht sehe, und was noch viel merkwürdiger sei, daß +das Fenster offen wäre und Helena dahinter stünde, +als kenne sie gar keine Furcht vor den Zanzare, +jenen unangenehmen Stechmücken, welche die schönen +Abende in der römischen Campagna ganz verderben. +Jetzt muß ich wieder um die Nachsicht des Lesers +ersuchen. Wenn man Lust hat, die Gebräuche fremder +Länder zu kennen, muß man sich auf ganz abgeschmackte, +von den unsrigen ganz verschiedene Anschauungen +gefaßt machen.</p> + +<p>Herr von Campireali brachte seine Flinte und die +seines Sohnes in Ordnung. Abends, als es 3/4 12 Uhr +schlug, verständigte er Fabio, und alle beide schlichen, +so leise wie möglich, auf einen großen steinernen Balkon, +der sich im ersten Stock des Palastes gerade unter Helenas +Fenster befand. Die starken Pfeiler der Steinbalustrade +deckten sie bis zum Gürtel gegen Flintenschüsse, +die man von außen gegen sie abfeuern könnte. Es schlug +Mitternacht; Vater und Sohn hörten unter den Bäumen, +<a id="page-221"></a><span class="pgnum">221</span>die ihrem Palast gegenüber am Rand der Straße standen, +ein leichtes Geräusch; aber zu ihrem Erstaunen +erschien kein Licht an Helenas Fenster. Dieses Mädchen +das bisher so arglos war und in der Lebhaftigkeit seiner +Bewegungen ein Kind zu sein schien, hatte einen anderen +Charakter bekommen, seit es liebte. Sie wußte, daß die +geringste Unvorsichtigkeit das Leben ihres Geliebten gefährdete; +wenn ein Herr vom Ansehen ihres Vaters +einen so armen Menschen wie Giulio Branciforte tötete, +würde er jeder Strafe ledig gehen, so er nur für drei +Monate nach Neapel verschwindet. Während dieser Zeit +würden seine Freunde in Rom die Angelegenheit ordnen +und alles wäre mit der Stiftung einer Silberlampe und +einiger hundert Taler für den Altar der Madonna, die +gerade in Mode war, erledigt. Morgens beim Frühstück +hatte Helena in den Zügen ihres Vaters erkannt, daß er +sehr aufgebracht war, und aus der Art, wie er sie ansah, +wenn er sich unbemerkt glaubte, schloß sie, daß dieser +Zorn zum großen Teil ihr galt. Alsbald machte sie sich +daran, ein wenig Staub auf die Schäfte der fünf prächtigen +Flinten, die über dem Bett ihres Vaters hingen, +zu streuen. Sie bedeckte auch seine Degen und Dolche +mit einer leichten Staubschicht. Den ganzen Tag trug +sie eine tolle Ausgelassenheit zur Schau: sie durcheilte +unaufhörlich das Haus von oben bis unten und alle +Augenblicke näherte sie sich den Fenstern, fest entschlossen, +Giulio ein abmahnendes Zeichen zu geben, +wenn sie das Glück hätte, ihn zu bemerken. Aber +der arme Junge war durch den Verweis des reichen +Campireali so tief gedemütigt worden, daß er sich +niemals bei Tage in Albano zeigte; nur Sonntags +führte ihn die Pflicht zur Messe. Helenas Mutter, die +sie anbetete und ihr nichts abzuschlagen wußte, ging +<a id="page-222"></a><span class="pgnum">222</span>dreimal an diesem Tage mit ihr fort, aber es war vergeblich; +Helena sah nichts von Giulio. Sie war in Verzweiflung. +Wie wurde ihr erst, als sie am Abend die +Waffen ihres Vaters wieder musterte und sah, daß zwei +Flinten geladen und fast alle Dolche und Degen in der +Hand erprobt worden waren! Sie wurde von ihrer tödlichen +Unruhe nur durch die außerordentliche Anspannung +abgelenkt, die sie beobachten mußte, um nicht +verdächtig zu erscheinen. Als sie sich um zehn Uhr +abends endlich zurückziehen konnte, verschloß sie ihr +Zimmer, welches auf das Vorzimmer ihrer Mutter +hinausging; dann kauerte sie sich dicht beim Fenster +auf den Boden nieder, um nicht von draußen bemerkt +zu werden. Man stelle sich die Angst vor, mit welcher +sie die Stunden schlagen hörte: es war nicht mehr +die Rede von den Vorwürfen, welche sie sich oft +machte, sich Giulio zu schnell gegeben zu haben, was +sie in Giulios Augen vielleicht weniger liebenswürdig +erscheinen lassen könnte. Dieser Tag brachte die Sache +des jungen Mannes weiter, als sechs Monate Treue und +Beteuerungen. ‚Wozu lügen?‘ sagte sich Helena, ‚liebe +ich ihn nicht mit ganzer Seele?‘</p> + +<p>Um halb zwölf Uhr sah sie ganz deutlich ihren Vater +und ihren Bruder auf dem großen Steinbalkon unter +ihrem Fenster Stellung fassen. Zwei Minuten, nachdem +es am Kapuzinerkloster Mitternacht geschlagen hatte, +hörte sie gleichfalls sehr gut die Schritte ihres Geliebten, +der bei der großen Eiche anhielt; sie bemerkte +mit Freude, daß ihr Vater und ihr Bruder nichts gehört +zu haben schienen: es erforderte die Angst der +Liebe, um ein so leichtes Geräusch zu unterscheiden. +‚Jetzt‘, sagte sie sich, ‚werden sie mich töten, aber um +keinen Preis dürfen sie den Brief von heute Abend +<a id="page-223"></a><span class="pgnum">223</span>bekommen; sie würden diesen armen Giulio auf ewig +verfolgen,‘ Sie machte das Zeichen des Kreuzes und +indem sie sich mit einer Hand am Eisenbalkon ihres +Fensters festhielt, beugte sie sich so weit wie möglich +zur Straße hinaus. Nicht eine Viertelminute war verstrichen, +als der Strauß, der wie gewöhnlich an dem +langen Rohr befestigt war, ihren Arm berührte. Sie ergriff +den Strauß, allein als sie ihn schnell von der +äußersten Spitze des Rohrs, auf der er befestigt war, +abreißen wollte, geschah es, daß dieses Rohr gegen den +Steinbalkon anschlug. Im gleichen Augenblick lösten +sich zwei Flintenschüsse, auf die völlige Stille folgte. +Ihr Bruder Fabio, ungewiß in der Dunkelheit vermutend, +es sei, was heftig gegen den Balkon schlug, ein +Seil, mit dessen Hilfe Giulio von seiner Schwester herabsteige, +hatte gegen ihren Balkon Feuer gegeben; am +nächsten Morgen fand sie den Eindruck der Kugel, +welche sich auf dem Eisen breitgeschlagen hatte. Herr +von Campireali hatte auf die Straße gezielt; gerade +unter den Steinbalkon, weil Giulio beim Zurückziehen +des Rohrs, das beinahe gefallen wäre, etwas Geräusch +gemacht hatte. Als Giulio das Geräusch über seinem +Kopfe hörte, erriet er, was folgen würde und hatte +sich unter dem Vorsprung des Balkons gedeckt.</p> + +<p>Fabio lud schnell seine Flinte von neuem und lief, +ungeachtet der Vorstellungen seines Vaters, in den +Garten des Hauses; öffnete geräuschlos eine kleine Tür, +die auf eine Seitenstraße führte, und schlich sich heran, +um die Leute, welche unter dem Balkon des Hauses +vorbeigingen, ein wenig zu mustern. In diesem Augenblick +befand sich Giulio, der an diesem Abend nicht +allein war, zwanzig Schritt entfernt an einen Baum gelehnt. +Helena, die über ihren Balkon gebeugt um ihren +<a id="page-224"></a><span class="pgnum">224</span>Geliebten zitterte, begann alsbald sehr laut mit ihrem +Bruder, den sie auf der Straße hörte, zu sprechen; sie +fragte ihn, ob er die Diebe getötet habe.</p> + +<p>„Glaub nicht, daß ich mich durch deine schändliche +List täuschen lasse,“ schrie dieser ihr von der Straße +aus zu, welche er in allen Richtungen durchmaß, „aber +halte deine Tränen bereit, denn ich werde den Unverschämten, +töten, der es wagt, sich deinem Fenster zu +nähern.“</p> + +<p>Kaum waren diese Worte gesprochen, als Helena +hörte, wie ihre Mutter an die Tür ihres Zimmers +klopfte.</p> + +<p>Helena beeilte sich, ihr zu öffnen, indem sie sagte, +daß es ihr unbegreiflich wäre, daß die Türe verschlossen +sei.</p> + +<p>„Keine Komödie, teures Kind,“ sagte ihre Mutter, +„dein Vater ist wütend und kann dich vielleicht töten: +komm zu mir in mein Bett, und wenn du einen +Brief hast, gib ihn mir, ich werde ihn <a class="sic" id="sicA-19" href="#sic-19">verstecken.</a></p> + +<p>Helena sagte ihr:</p> + +<p>„Hier ist der Strauß, der Brief ist zwischen den +Blumen versteckt.“</p> + +<p>Kaum waren Mutter und Tochter im Bett, als Herr +Campireali ins Zimmer seiner Frau eintrat; er kam aus +ihrem Betgemach, das er soeben durchgestöbert und +wo er alles durcheinandergeworfen hatte. Was Helena +auffiel, war, daß ihr Vater, blaß wie ein Gespenst, mit +Bedacht zu Wege ging, wie jemand, der seinen Entschluß +wohl erwogen hat. ‚Ich bin tot!‘ sagte sich +Helena.</p> + +<p>„Wir sind glücklich, Kinder zu haben,“ sagte ihr +Vater, als er zitternd vor Wut, aber den Schein vollkommener +Kaltblütigkeit wahrend, am Bett seiner Frau +<a id="page-225"></a><span class="pgnum">225</span>vorbei in das Zimmer seiner Tochter ging; „wir sind +glücklich, Kinder zu haben, statt dessen sollten wir lieber +blutige Tränen vergießen, wenn diese Kinder Mädchen +sind. Großer Gott! Ist es wohl möglich! Ihre Leichtfertigkeit +kann einem Mann, der seit sechzig Jahren +nicht den mindesten Vorwurf auf sich geladen hat, die +Ehre rauben.“</p> + +<p>Bei diesen Worten ging er ins Zimmer seiner Tochter.</p> + +<p>„Ich bin verloren,“ sagte Helena zu ihrer Mutter, +„die Briefe sind unter dem Sockel des Kruzifixes neben +dem Fenster.“</p> + +<p>Sogleich sprang ihre Mutter aus dem Bett und rannte +zu ihrem Manne. Sie begann ihm so schlecht wie nur +möglich Vernunft zuzusprechen, um seinen Zorn zum +Ausbruch zu bringen, und es gelang ihr vollkommen. +Der alte Mann wurde wütend, er zerschlug alles im +Zimmer seiner Tochter; aber die Mutter konnte unbemerkt +die Briefe an sich nehmen. Eine Stunde später, +als Herr Campireali wieder in sein Zimmer zurückgekehrt +war, das neben dem seiner Frau lag und im ganzen +Haus Ruhe herrschte, sagte die Mutter zu ihrer Tochter:</p> + +<p>„Hier sind deine Briefe, ich will sie nicht lesen; du +siehst, was sie uns beinah gekostet hätten! An deiner +Stelle würde ich sie verbrennen. Leb wohl und küsse +mich.“</p> + +<p>Helena ging, aufgelöst in Tränen, in ihr Zimmer +zurück. Es schien ihr, daß sie seit den Worten ihrer +Mutter Giulio nicht mehr liebte. Dann machte sie sich +daran, seine Briefe zu verbrennen; aber sie mußte sie +noch einmal lesen, bevor sie sie vernichtete. Sie las sie +so oft und so gründlich, daß die Sonne schon hoch am +Himmel stand, als sie sich endlich entschloß, den heilsamen +Rat zu befolgen. +</p> + +<p><a id="page-226"></a><span class="pgnum">226</span>Am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, ging +Helena mit ihrer Mutter zur Messe; zum Glück folgte +ihr Vater ihnen nicht. Der erste Mensch, den sie in der +Kirche bemerkte, war Giulio Branciforte. Mit einem +Blick überzeugte sie sich, daß er nicht verletzt war. +Ihr Glück war am Gipfel. Die Ereignisse der letzten +Wochen lagen tausend Meilen zurück. Sie hatte sich +fünf oder sechs mit Bleistift beschriebene Billets vorbereitet, +aus alten, mit feuchter Erde beschmutzten +Papierfetzen, wie man sie auf den Fliesen einer Kirche +finden kann; diese Billets enthielten alle die gleiche +Warnung:</p> + +<p>‚Sie hätten alles entdeckt, bis auf seinen Namen. +Er möge nicht mehr in der Straße erscheinen; man +werde oft hierherkommen.‘</p> + +<p>Helena ließ eins dieser Zettelchen fallen: ein Blick +belehrte Giulio, der es aufhob und verschwand. Als sie +eine Stunde später nach Haus zurückkehrte, fand sie auf +der großen Treppe des Palastes einen Papierfetzen, der +dadurch ihren Blick auf sich zog, daß er vollkommen +denen glich, deren sie sich selbst am Morgen bedient +hatte.</p> + +<p>Sie griff danach, ohne daß selbst ihre Mutter es bemerkte +und las:</p> + +<p>„In drei Tagen wird er von Rom zurückkehren, +wohin zu gehen er gezwungen ist. Man wird am hellen +Tage singen, an den Markttagen, mitten im Lärm der +Bauern.“</p> + +<p>Diese Abreise nach Rom erschien Helena sonderbar. +‚Fürchtet er die Flintenschüsse meines Bruders?‘ sagte +sie sich traurig. Die Liebe verzeiht alles, nur nicht die +freiwillige Abwesenheit. Dies ist die schlimmste aller +Qualen. Anstatt sich süßen Träumen zu ergeben und +<a id="page-227"></a><span class="pgnum">227</span>ganz damit beschäftigt zu sein, alle Gründe zu erwägen, +die man hat, um seinen Geliebten zu lieben, ist das +Leben von grausamen Zweifeln beunruhigt. ‚Aber kann +ich denn nach allem, was geschehen ist, glauben, daß er +mich nicht mehr liebt?‘ sagte sich Helena während der +drei langen Tage, die Brancifortes Abwesenheit dauerte. +Plötzlich wich ihr Kummer einer unsinnigen Freude: +am dritten Tage sah sie ihn am hellen Mittag auf der +Straße vor dem Palast ihres Vaters erscheinen. Er trug +neue und fast prächtige Gewänder. Niemals waren die +Vornehmheit seiner Haltung und die heitere und mutige +Unbekümmertheit seines Antlitzes vorteilhafter hervorgetreten; +nie allerdings hatte man auch vor diesem +Tage so oft in Albano von der Armut Giulios gesprochen. +Es waren die Männer und besonders die +jungen Leute, welche dieses grausame Wort wiederholten; +die Frauen und vor allem die jungen Mädchen +konnten sich in Lobeserhebungen über seine gute Erscheinung +nicht genug tun.</p> + +<p>Giulio verbrachte den ganzen Tag damit, in der Stadt +umherzuschlendern; es machte den Eindruck, als ob +er sich für die Monate der Haft, zu der ihn seine Armut +verdammt hatte, entschädigen wollte. Wie es einem +Verliebten zukommt, war Giulio unter seinem neuen +Rock gut bewaffnet. Außer seinem Degen und seinem +Dolch hatte er sein giacco angelegt, eine Art Weste aus +geflochtenem Draht, welche sehr unbequem zu tragen +war, jedoch diese italienischen Herzen von einer traurigen +Krankheit heilte, deren peinliche Anfälle man in +jenem Jahrhundert unaufhörlich erleben konnte; ich +spreche von der Furcht, an einer Straßenbiegung durch +einen seiner wohlbekannten Feinde getötet zu werden. +An diesem Tage hoffte Giulio Helena zu begegnen; +<a id="page-228"></a><span class="pgnum">228</span>übrigens hatte er auch einen gewissen Widerwillen, mit +sich allein in seinem einsamen Haus zu sein. Hier der +Grund: Ranuccio, ein alter Soldat seines Vaters, der +unter diesem schon zehn Feldzüge in den Truppen verschiedener +Bandenführer und zuletzt des Marco Sciarra +mitgemacht hatte, war seinem Hauptmann gefolgt, als +dessen Wunden ihn zwangen, sich zurückzuziehen. +Hauptmann Branciforte hatte seine Gründe, nicht in +Rom zu leben; er hätte dort die Söhne von Männern +treffen können, die er getötet hatte; selbst in Albano +sorgte er vor, daß er nicht nur auf die Gnade der +regulären Autorität angewiesen sei. Anstatt ein Haus +in der Stadt zu kaufen oder zu mieten, zog er es vor, +eins zu bauen, das so gelegen war, daß man seine Besucher +schon von weitem zu sehen vermochte. Er +fand in den Ruinen von Alba einen wundervollen +Platz: man konnte von dort, ohne von indiskreten +Besuchern bemerkt zu werden, sich in den Wald zurückziehen, +wo sein alter Freund und Herr, der Fürst Fabrizio +Colonna herrschte. Hauptmann Branciforte +kümmerte die Zukunft seines Sohnes wenig. Als er sich, +erst fünfzig Jahre alt, aber besät mit Wunden, vom +Dienst zurückzog, nahm er an, daß er noch zehn Jahre +leben werde, und verbrauchte, nachdem sein Haus gebaut +war, jeden Tag den zehnten Teil dessen, was er +aus den Plünderungen von Städten und Dörfern zusammengerafft, +und denen beizuwohnen er die Ehre gehabt +hatte.</p> + +<p>Er kaufte den Weinberg, der jetzt seinem Sohn +dreißig Taler Rente trug, als Antwort auf den schlechten +Scherz eines Bürgers von Albano, der ihm eines Tages, +da er erregt über die Interessen und die Ehre der Stadt +disputierte, zurief, daß es in der Tat einem so reichen +<a id="page-229"></a><span class="pgnum">229</span>Grundbesitzer, wie er einer sei, wohl zustehe, den Eingesessenen +Albanos Ratschläge zu erteilen. Der Hauptmann +kaufte den Weinberg und kündigte an, daß er +noch viele andre kaufen werde; später, als er den +Spötter an einem einsamen Ort traf, tötete er ihn mit +einem Pistolenschuß.</p> + +<p>Nach acht Jahren dieser Art des Lebens starb der +Hauptmann; sein Adjutant Ranuccio betete Giulio an; +trotzdem nahm er, des Nichtstuns müde, wieder Dienst +in der Truppe des Fürsten Colonna. Oft besuchte er +seinen Sohn Giulio, wie er ihn nannte, und am Vorabend +eines gefährlichen Angriffs, den der Fürst in seiner +Feste Petrella aushalten mußte, hatte er Giulio mit zum +Kampf genommen. Da er ihn sehr tapfer fand, +sagte er:</p> + +<p>„Du mußt wirklich toll und außerdem recht einfältig +sein, daß du bei Albano wie der letzte und ärmste seiner +Einwohner lebst, während du mit deinem Mut und dem +Namen deines Vaters ein glänzender Soldat sein und +dein Glück machen könntest.“</p> + +<p>Giulio wurde durch diese Worte gequält; ein Priester +hatte ihn Latein gelehrt; aber da sein Vater über alles, +was der Priester sonst noch sagte, nur zu spotten pflegte, +hatte er außer dem nicht das geringste gelernt. Dafür +hatte sich bei ihm, der wegen seiner Armut verachtet +und in seinem einsamen Haus ganz auf sich selbst angewiesen +war, ein gesunder Menschenverstand entwickelt, +welcher durch seine gewagte Kühnheit selbst +Gelehrte in Erstaunen gesetzt hätte. Zum Beispiel +schwärmte er, bevor er Helena liebte, ganz ohne zu +wissen, warum, für den Krieg; aber er hatte einen +Widerwillen gegen das Plündern, das doch in den Augen +seines Vaters und Ranuccios der kleinen lustigen Komödie +<a id="page-230"></a><span class="pgnum">230</span>glich, die auf die edle ernste Tragödie folgt. Seit +er Helena liebte, ließ ihn dieser gesunde Scharfblick, +den er sich durch seine einsamen Überlegungen angeeignet +hatte, Qualen erleiden. Diese früher so sorglose +Seele wagte niemanden wegen ihrer Zweifel um Rat zu +fragen und war von Leidenschaft und Unglück erfüllt. +Was würde Herr von Campireali nicht alles sagen, wenn +er Brigant würde? Dann erst würde er ihm begründete +Vorwürfe machen können. Giulio hatte sich immer den +Soldatenberuf als eine Sicherung für die Zeit aufgehoben, +wo er den Erlös der goldenen Ketten und +andren Kostbarkeiten ausgegeben haben würde, die er +in der eisernen Kasse seines Vaters gefunden hatte. +Giulio hatte trotz seiner Armut gar keinen Skrupel, die +Tochter des reichen Herrn Campireali zu entführen, +weil zu jener Zeit die Väter ganz nach ihrem Belieben +über ihr Gut verfügten, und sehr leicht war es möglich, +daß Herr von Campireali seiner Tochter nur tausend +Taler als einziges Erbe hinterließ. Aber ein andres +beschäftigte die Einbildungskraft Giulios aufs tiefste: +erstens: in welcher Stadt würde er die junge Helena +unterbringen, wenn er sie ihrem Vater entführt und +geheiratet hatte; zweitens: mit welchem Geld würde +er sie leben lassen?</p> + +<p>Als ihm Herr Campireali den beißenden Tadel versetzte, +der ihn so empfindlich traf, war Giulio zwei +Tage hindurch die Beute der Wut und des heftigsten +Schmerzes: er konnte sich weder entschließen, den alten +Mann zu töten, noch ihn leben zu lassen. Er verbrachte +ganze Nächte weinend; endlich entschloß er sich, Ranuccio +zu befragen, den einzigen Freund, den er auf der +Welt hatte; aber würde dieser Freund ihn verstehen? +Vergeblich suchte er im ganzen Wald von La Faggiola +<a id="page-231"></a><span class="pgnum">231</span>nach Ranuccio; er mußte auf der Straße von Neapel +noch über Velletri hinaus gehen, wo Ranuccio einen im +Hinterhalt liegenden Trupp befehligte. Er lauerte dort +mit einer zahlreichen Schar auf den spanischen General +Ruiz d'Avalis, welcher zu Land nach Rom reiste, ohne +daran zu denken, daß er kürzlich vor vielen Leuten mit +Verachtung von den Briganten des Colonna gesprochen +hatte. Sein Feldprediger erinnerte ihn gerade noch zur +rechten Zeit an diese kleine Begebenheit, und Ruiz +d'Avalis zog es vor, ein Schiff rüsten zu lassen und +übers Meer nach Rom zu reisen.</p> + +<p>Als der Hauptmann Ranuccio Giulios Erzählung gehört +hatte, sagte er ihm:</p> + +<p>„Beschreibe mir genau diesen Herrn Campireali, +damit seine Unklugheit nicht irgend einem guten Bürger +Albanos das Leben kostet. Sobald die Sache, die uns +hier zurückhält, beendet ist, sei es gut oder schlecht, +wirst du dich nach Rom begeben und darauf bedacht +sein, dich zu allen Tageszeiten in Gastwirtschaften und +an andren öffentlichen Orten zu zeigen, denn man darf +nicht, wegen deiner Liebe zur Tochter, gegen dich Verdacht +schöpfen können.“</p> + +<p>Giulio hatte große Mühe, den Zorn des alten Gefährten +seines Vaters zu beruhigen. Es blieb ihm nichts +übrig, als ärgerlich zu werden:</p> + +<p>„Glaubst du, daß ich deinen Degen brauche?“ sagte +er endlich. „Man sollte meinen, daß ich selbst einen +besitze! Ich wünsche einen verständigen Rat von dir.“</p> + +<p>Ranuccio schloß die ganze Auseinandersetzung mit +den Worten:</p> + +<p>„Du bist jung, du hast keine Wunde, die Beleidigung +war öffentlich; nun, ein entehrter Mann ist selbst bei +den Frauen verachtet.“ +</p> + +<p><a id="page-232"></a><span class="pgnum">232</span>Giulio sagte ihm, daß er mit sich noch darüber zu +Rate gehen wolle, wonach ihn gelegentlich verlange, und +trotz des Drängens Ranuccios, der durchaus darauf beharrte, +daß er an dem Überfall auf den spanischen +General teilnehmen möge — wobei man, wie er sagte, +Ehren erlangen könne, ganz abgesehen von den Dublonen — kehrte +er allein in sein Haus zurück. Dort +hatte er am Abend vor dem Tage, wo Herr von Campireali +auf ihn schoß, Ranuccio und seinen Korporal empfangen, +die auf dem Rückweg aus der Gegend von +Velletri waren. Ranuccio hatte Mühe, die kleine +eiserne Truhe zu sehen, wo sein Herr, der Hauptmann +Branciforte, ehemals die goldenen Ketten und andre +Schmucksachen einschloß, wenn es ihm nicht paßte, +gleich nach der Expedition ihren Erlös auszuheben. +Ranuccio fand zwei Scudi darin.</p> + +<p>„Ich rate dir, werde Mönch,“ sagte er zu Giulio, +„du hast alle Tugenden dazu: die Liebe zur Armut, +den Beweis haben wir vor Augen; die Demut: du läßt +dich auf offener Straße von einem Geldsack aus Albano +beschimpfen. Nun fehlen dir bloß noch die +Heuchelei und der Bauch.“</p> + +<p>Ranuccio legte mit Gewalt fünfzig Dublonen in die +eiserne Truhe.</p> + +<p>„Ich gebe dir mein Wort,“ sagte er zu Giulio, „wenn +binnen eines Monats dieser Herr Campireali nicht mit +allen Ehren, die seiner Vornehmheit und seinem Reichtum +gebühren, eingescharrt ist, wird mein Korporal, +so wahr er hier steht, mit dreißig Mann deine Hütte zerstören +und deine armseligen Möbel verbrennen. Es darf +nicht sein, daß der Sohn des Hauptmann Branciforte +unter dem Vorwand der Liebe eine schlechte Figur in +der Welt macht.“ +</p> + +<p><a id="page-233"></a><span class="pgnum">233</span>Als Herr von Campireali und sein Sohn die beiden +Schüsse abfeuerten, hatten Ranuccio und der Korporal +unter dem Steinbalkon Stellung genommen und Giulio +hatte die größte Mühe, sie zu verhindern, Fabio zu +töten oder mindestens zu entführen, als dieser unvorsichtig +aus dem Garten trat, wie wir schon erzählt +haben. Die Erwägung, welche Ranuccio beruhigte, war +folgende: man soll nicht einen jungen Mann, der noch +etwas werden und sich nützlich machen kann, töten, +während ein alter Sünder dabei ist, mit mehr Schuld +und zu nichts mehr gut als zum Begraben werden.</p> + +<p>Am Morgen nach diesem Abenteuer schlug sich Ranuccio +in die Wälder und Giulio reiste nach Rom. Die +Freude darüber, daß er sich mit den von Ranuccio geschenkten +Dublonen schöne Gewänder kaufen könnte, +war durch einen in seinem Jahrhundert ganz ungewöhnlichen +Gedanken grausam getrübt, der die hohe Bestimmung +ahnen ließ, zu der er später gelangte. Er +sagte sich: ‚Helena muß wissen, wer ich bin.‘ Jeder +andre junge Mann seines Alters und seiner Zeit hätte nur +davon geträumt, sich seiner Liebe zu erfreuen und +Helena zu entführen, ohne im geringsten daran zu +denken, was in sechs Monaten aus ihr werden würde, +und ebensowenig, welche Meinung sie von ihm hegen +könnte.</p> + +<p>Nach Albano zurückgekehrt, erfuhr Giulio durch +seinen Freund, den alten Scotti, am gleichen Nachmittag, +da er vor aller Augen in seinen schönen, aus +Rom mitgebrachten Gewändern glänzte, daß Fabio zu +Pferde die Stadt verlassen habe, um nach einem drei +Meilen entfernten Gut zu reiten, das sein Vater in der +Ebene an der Küste besaß.</p> + +<p>Später sah er, wie Herr Campireali in Begleitung +<a id="page-234"></a><span class="pgnum">234</span>von zwei Priestern den Weg durch die prächtige grüne +Eichenallee einschlug, welche den Rand des Kraters +krönt, auf dessen Grund der See von Albano liegt. Zehn +Minuten danach drang eine alte Frau dreist in den +Palazzo Campireali ein, unter dem Vorwand, schöne +Früchte zu verkaufen; die erste Person, die sie traf, war +die kleine Kammerzofe Marietta, die intime Vertraute +ihrer Herrin Helena. Diese errötete bis ins Weiße der +Augen, als sie einen schönen Blumenstrauß empfing. +Der in diesem Strauß verborgene Brief war unermeßlich +lang: Giulio erzählte alles, was er seit der Nacht +der Flintenschüsse erlebt hatte; aber aus einer eigentümlichen +Scham heraus wagte er nicht, das, worauf +jeder andre junge Mann seiner Zeit stolz gewesen wäre, +zu gestehen: daß er der Sohn eines durch seine Abenteuer +berühmten Kapitäns war und selbst bereits in mehr +als einem Kampf durch seine Tapferkeit erprobt. Er +glaubte stets die Betrachtungen zu hören, welche diese +Tatsachen dem alten Campireali eingeben würden. Man +muß wissen, daß im sechzehnten Jahrhundert die +Mädchen — einer gesunden republikanischen Vernunft +näher als heute — einen Mann viel mehr seiner Taten +wegen schätzten, als wegen der zusammengescharrten +Reichtümer oder der berühmten Taten seiner Väter. Aber +es waren hauptsächlich die jungen Mädchen aus dem +Volk, welche diese Anschauung hatten; die den reichen +Klassen oder dem Adel angehörten, hatten Angst vor +den Briganten und hielten, wie es sich schließlich versteht, +Adel und Reichtum in hoher Achtung. Giulio +schloß seinen Brief mit folgenden Worten: „Ich weiß +nicht, ob die gefälligen Gewänder, die ich aus Rom +gebracht habe, Euch die grausame Beleidigung vergessen +ließen, die mir kürzlich jemand wegen meines +<a id="page-235"></a><span class="pgnum">235</span><a class="sic" id="sicA-20" href="#sic-20">armsäligen</a> Äußern zugefügt hat, den Ihr verehrt; ich +hatte die Möglichkeit, mich schützen zu können, ich +hätte es tun müssen, meine Ehre verlangte es: ich habe +es wegen der Tränen nicht getan, welche meine Rache +Augen gekostet hätte, die ich anbete. Dies kann Euch beweisen, +wenn Ihr zu meinem Unglück noch daran +zweifeln solltet, daß man sehr arm sein und doch edle +Gefühle haben kann. Außerdem muß ich Euch ein +schreckliches Geheimnis enthüllen; es würde mir sicher +nicht schwer werden, es jeder andren Frau zu sagen; +aber ich weiß nicht, warum: ich zittre, wenn ich daran +denke, es Euch zu bekennen. Es könnte in einem Augenblick +die Liebe, die Ihr zu mir fühlt, zerstören; keine +Versicherung von Eurer Seite würde mir genügen. Ich +will in Euren Augen die Wirkung lesen, welche dieses +Geständnis hervorruft. An einem der nächsten Tage +werde ich Euch bei Anbruch der Nacht im Garten hinter +dem Palast sehen. Am gleichen Tag werden Fabio und +Euer Vater abwesend sein: sobald ich mir die Gewißheit +verschafft haben werde, daß sie, trotz ihrer Geringschätzung +für einen armen schlecht gekleideten jungen +Mann, uns nicht dreiviertel Stunden oder eine Stunde des +Beisammenseins zu rauben vermögen, wird vor den +Fenstern Eures Palastes ein Mann erscheinen, der den +Dorfkindern einen zahmen Fuchs vorführen wird. +Später, beim Läuten des Ave Maria, werdet Ihr in der +Ferne einen Flintenschuß hören; in diesem Augenblick +nähert Euch der Mauer Eures Gartens und wenn Ihr +nicht allein seid, singt. Herrscht Schweigen, wird Euer +Sklave zitternd vor Euren Füßen erscheinen und Euch +Dinge erzählen, die Euch vielleicht entsetzen werden. +In Erwartung dieses für mich entscheidenden und +schrecklichen Tages, werde ich nicht mehr versuchen, +<a id="page-236"></a><span class="pgnum">236</span>Euch um Mitternacht einen Strauß zu überreichen; aber +gegen zwei Uhr nachts werde ich singend vorübergehen +und vielleicht werdet Ihr vom großen Steinbalkon eine +Blume fallen lassen, die von Euch aus Eurem Garten +gepflückt wurde. Dies sind vielleicht die letzten Zeichen +der Neigung, die Ihr dem unglücklichen Giulio geben +werdet.“</p> + +<p>Drei Tage später waren Helenas Vater und Bruder auf +das Gut geritten, das sie am Ufer des Meeres besaßen; +sie mußten etwas vor Sonnenuntergang fortreiten, um +gegen zwei Uhr nachts wieder zu Hause zu sein. Aber, +als sie den Heimritt antreten wollten, waren nicht nur +ihre beiden Pferde, sondern alle, die noch in der Farm +waren, verschwunden. Sehr erstaunt über diesen kühnen +Diebstahl suchten sie nach ihren Pferden, die aber erst +am nächsten Tag im Hochwald, der ans Meer grenzt, +gefunden wurden. Die beiden Campireali, Vater und +Sohn, waren genötigt, in einem von Ochsen gezogenen +Landfuhrwerk nach Albano zurückzukehren.</p> + +<p>Als an diesem Abend Giulio vor Helena kniete, war +es beinahe völlig dunkel, und das arme Mädchen war +sehr glücklich über diese Finsternis: sie stand zum +ersten Male vor dem Mann, den sie zärtlich liebte, der +das sehr wohl wußte, aber den sie noch nie gesprochen +hatte.</p> + +<p>Eine Beobachtung, die sie machte, gab ihr ein wenig +Mut: Giulio war noch bleicher und zaghafter als sie. +Sie sah ihn zu ihren Füßen: „Ich bin wahrhaftig außerstande, +zu sprechen“, sagte er ihr. Es folgten einige +sehr glückliche Augenblicke; sie sahen sich an, aber +konnten kein Wort hervorbringen und waren unbeweglich, +wie eine sehr ausdrucksvolle Marmorgruppe. Giulio +lag auf den Knien und hielt eine Hand Helenas, sie +<a id="page-237"></a><span class="pgnum">237</span>hatte das Haupt gesenkt und betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit.</p> + +<p>Giulio wußte wohl, daß er irgend etwas hätte versuchen +müssen, wenn er den Ratschlägen seiner +Freunde, der jungen Lebemänner Roms, hätte folgen +wollen; aber dieser Gedanke entsetzte ihn. Er wurde +aus diesem Zustand der Verzückung, vielleicht dem +höchsten Glück, das die Liebe geben kann, durch das +Bewußtsein aufgeschreckt: die Zeit verfliegt schnell, +die beiden Campireali nähern sich ihrem Hause. Er begriff, +daß er mit seiner gewissenhaften Seele kein +dauerndes Glück finden könne, so lange er nicht seiner +Geliebten jenes schreckliche Geständnis gemacht habe, +das seinen römischen Freunden als große Dummheit +erschienen wäre.</p> + +<p>„Ich habe Euch von einem Geständnis gesprochen, +welches ich vielleicht nicht machen sollte“, sagte er +endlich zu Helena.</p> + +<p>Giulio wurde ganz bleich, er sprach mühsam und als +ob ihm der Atem fehlte, weiter:</p> + +<p>„Vielleicht sehe ich jetzt die Gefühle schwinden, +deren Hoffnung mein Leben ist. Ihr haltet mich für +arm; das ist nicht alles: ich bin Brigant und Sohn eines +Briganten.“</p> + +<p>Bei diesen Worten fühlte Helena, die als Tochter +eines reichen Mannes in allen Vorurteilen ihrer Kaste +aufgewachsen war, daß ihr übel wurde, sie fürchtete +umzusinken; ‚welcher Kummer würde dies für den +armen Giulio sein!‘ dachte sie, ‚er wird sich verachtet +glauben,‘ Er lag vor ihr auf den Knien. Um nicht zu +fallen, stützte sie sich auf ihn, und fast im gleichen +Augenblick sank sie wie bewußtlos in seine Arme. Wie +man sieht, liebte man im sechzehnten Jahrhundert Genauigkeit +<a id="page-238"></a><span class="pgnum">238</span>in Liebesdingen. Dies kam daher, daß nicht +der Verstand diese Geschehnisse beurteilte, sondern die +Einbildungskraft sie fühlte und die Leidenschaft des +Lesers sich an der der Helden entzündete. Die beiden +Manuskripte, denen wir folgen, und besonders jenes, +das einige dem florentinischen Dialekt eigentümliche +Wendungen aufweist, beschreiben mit den kleinsten +Einzelheiten alle Zusammenkünfte, welche auf diese +folgten. Die Gefahr ließ in dem jungen Mädchen keine +Gewissenszweifel aufkommen. Oft war die Gefahr +außerordentlich, doch dadurch wurden diese beiden +Herzen, welche alle Eindrücke, die mit ihrer Liebe zusammenhingen, +als Glück empfanden, nur noch mehr +entflammt. Öfters waren Fabio und sein Vater nahe +daran, sie zu überraschen. Sie waren wütend, weil sie +sich gefoppt fühlten. Der öffentliche Klatsch trug +ihnen zu, daß Giulio Helenas Liebhaber sei und sie +konnten nichts bemerken. Fabio, heftig und ahnenstolz, +schlug seinem Vater vor, Giulio töten zu lassen.</p> + +<p>„So lange er auf der Welt ist,“ sagte er, „läuft das +Leben meiner Schwester Gefahr. Wer schützt uns davor, +daß unsre Ehre uns nicht im ersten Augenblick zwingen +wird, unsre Hände in das Blut dieser Eigensinnigen zu +tauchen? Sie ist zu solchem Unmaß von Verwegenheit +gelangt, daß sie ihre Liebe nicht einmal mehr leugnet; +habt Ihr sie auf Eure Vorwürfe anders antworten gehört, +als mit einem verbissenen Schweigen? Nun wohl, +dieses Schweigen ist das Todesurteil für Giulio Branciforte.“</p> + +<p>„Denk daran, was sein Vater war“, antwortete Herr +von Campireali. <a class="sic" id="sicA-21" href="#sic-21">‚</a>Sicherlich ist es für uns nicht schwer, +auf sechs Monate nach Rom zu gehen und während +dieser Zeit diesen Branciforte verschwinden zu lassen. +<a id="page-239"></a><span class="pgnum">239</span>Aber wer sagt uns, daß sein Vater, der trotz all seiner +Verbrechen tapfer und freigebig war, — freigebig +genug, um viele seiner Soldaten reich zu machen, während +er selbst arm blieb — wer sagt uns, daß sein +Vater nicht noch Freunde besitzt, sei es in der Schar +des Herzogs von Monte Mariano, sei es in der Truppe +Colonna, welche oft die Wälder von La Faggiola besetzt, +die nur eine halbe Meile von uns entfernt sind? +In diesem Fall werden wir alle ohne Erbarmen umgebracht, +du, ich und vielleicht auch deine unglückliche +Mutter.“</p> + +<p>Diese oft erneuten Unterhaltungen zwischen Vater +und Sohn waren der Mutter Helenas, Vittoria Carafa, +nur zum Teil verborgen geblieben und brachten sie zur +Verzweiflung. Das Ergebnis der Unterhaltungen +zwischen Vater und Sohn war, daß es sich nicht mit +ihrer Ehre vertrüge, den Klatsch, der in Albano umging, +ruhig dauern zu lassen. Da es nicht klug schien, +diesen jungen Branciforte verschwinden zu machen, der +täglich unverschämter wurde und jetzt sogar in seinen +prächtigen Kleidern die Dreistigkeit so weit trieb, an +öffentlichen Orten das Wort an Fabio oder dessen Vater +zu richten, erübrigte nichts als einen der beiden folgenden +Entschlüsse oder vielleicht alle beide ausführen: +die ganze Familie mußte nach Rom gehen, +Helena aber im Kloster der Heimsuchung in Castro +untergebracht und so lange dort belassen werden, bis +eine passende Heirat für sie gefunden war.</p> + +<p>Niemals hatte Helena ihrer Mutter ein Geständnis +ihrer Liebe gemacht: Mutter und Tochter liebten sich +zärtlich, sie verbrachten ihr Leben gemeinsam, und doch +war nie ein einziges Wort über diesen Gegenstand gesprochen +worden, der sie beide fast in gleichem Maße +<a id="page-240"></a><span class="pgnum">240</span>beschäftigte. Zum erstenmal verriet sich in Worten, +was fast ausschließlich Gegenstand ihrer Gedanken +war, als die Mutter ihrer Tochter zu verstehen gab, +man wolle nach Rom übersiedeln und vielleicht sogar +Helena für einige Jahre in das Kloster von Castro +schicken.</p> + +<p>Diese Unterredung war von Vittoria Carafa unklug +und ließ sich nur durch die unsinnige Zärtlichkeit entschuldigen, +welche sie für ihre Tochter hegte. Im Übermaß +ihrer Liebe wollte Helena ihrem Geliebten beweisen, +daß sie sich seiner Armut nicht schämte und +daß ihr Vertrauen in seine Ehrenhaftigkeit ohne +Grenzen war. „Wer würde es glauben,“ ruft der florentinische +Chronist aus, „daß trotz so vielen gewagten Zusammenkünften, +im Garten und ein- oder zweimal sogar +in ihrem eigenen Zimmer, für die sie sich einem +schrecklichen Tod aussetzten, Helena unberührt war!“ +Durch ihre Tugend sicher, schlug sie ihrem Geliebten +vor, gegen Mitternacht den Palast durch den Garten +zu verlassen, und den Rest der Nacht in seinem kleinen, +auf den Ruinen Albas erbauten Haus zu verbringen, +das mehr als eine halbe Stunde entfernt lag. Sie verkleideten +sich als Franziskanermönche. Helena war +hoch gewachsen und glich, so gekleidet, einem jungen +Novizen von achtzehn oder zwanzig Jahren. Es ist unbegreiflich +und zeigt Gottes Finger, daß Giulio und +seine Geliebte, als Mönche verkleidet, auf dem engen, +in den Felsen gehauenen Weg, der an der Mauer des +Kapuzinerklosters entlang führt, Herr von Campireali +und seinem Sohn Fabio begegneten, welche, von vier +wohlbewaffneten Dienern gefolgt und einem Pagen mit +brennender Fackel voran, aus Castel Gandolfo zurückkehrten, +einem unweit am Ufer des Sees gelegenen Ort. +<a id="page-241"></a><span class="pgnum">241</span>Um die Liebenden vorbeizulassen, stellten sich die Campireali +und ihre Diener zur Rechten und Linken dieses +in den Felsen gehauenen Wegs auf, welcher etwa acht +Fuß breit sein mochte. Wieviel besser wäre es für Helena +gewesen, wenn man sie in diesem Augenblick erkannt +hätte! Sie wäre durch einen Pistolenschuß ihres +Vaters oder ihres Bruders getötet worden und ihre +Marter hätte nur einen Augenblick gedauert: aber der +Himmel hatte es anders beschlossen. Superis aliter +visum.</p> + +<p>Man fügt dieser sonderbaren Begegnung noch einen +Umstand hinzu, welchen die Signora Campireali noch +oftmals im höchsten Alter erzählt hat, als fast Hundertjährige +in Rom, vor Leuten, die selbst sehr alt waren; +sie haben es mir wiedererzählt, als meine große Neugierde +sie über diesen Gegenstand und über vieles +andre ausforschte.</p> + +<p>Fabio von Campireali, der ein junger auf seinen Mut +stolzer Mann und hochfahrend war, rief, als er merkte, +daß der ältere Mönch weder seinen Vater noch ihn +grüßte, trotzdem er so nah an ihnen vorbeiging:</p> + +<p>„Das ist ja ein Spitzbube von einem stolzen Mönch! +Gott weiß, was er außerhalb des Klosters sucht, er und +sein Begleiter, zu so ungehöriger Stunde! Ich weiß +nicht, was mich abhält, ihre Kapuzen zu lüften, wir +würden sehen, wie sie ausschauen!“</p> + +<p>Bei diesen Worten faßte Giulio nach seinem Dolch +unter der Mönchskutte und stellte sich zwischen Fabio +und Helena. In diesem Augenblick war nicht mehr als +ein Fuß breit Raum zwischen ihm und Fabio; aber der +Himmel befahl es anders und besänftigte durch ein +Wunder den Zorn dieser beiden jungen Leute, die sich +bald danach in noch anderer Nähe sehen sollten. +</p> + +<p><a id="page-242"></a><span class="pgnum">242</span>In dem Prozeß, den man in der Folge Helena von +Campireali machte, wollte man diesen nächtlichen Ausflug +als einen Beweis ihrer Verderbtheit darstellen; doch +es war das Delirium eines jungen Herzens, das in ganz +unsinniger Liebe entflammt war, denn dies Herz war +rein.</p> + + + +<h3>III.</h3> + + +<p>Die Orsini, die ewigen Nebenbuhler der Colonna und +damals in den Dörfern zunächst Rom allmächtig, hatten +erst vor kurzem einen reichen Landwirt namens Balthasar +Bandini aus La Petrella durch die Gerichte der +Regierung zum Tod verurteilen lassen. Es würde zu weit +führen, hier die verschiedenen Taten aufzuzählen, +welche man dem Bandini zur Last legte: zum größten +Teil wären sie heute Verbrechen, aber im Jahre 1559 +durften sie nicht in einer so strengen Weise betrachtet +werden. Bandini saß in einem den Orsini gehörenden +Schloß gefangen, das bei Valmontone im Gebirge lag, +sechs Meilen von Albano entfernt. Der Bargello von +Rom, von hundertfünfzig seiner Sbirren gefolgt, verbrachte +eine Nacht auf der Landstraße; er war gekommen, +um Bandini zu holen und ihn nach Rom ins +Gefängnis von Tor di Nona zu bringen. Bandini hatte +in Rom gegen das Todesurteil Berufung eingelegt. Aber, +wie wir schon sagten, war er aus La Petrella gebürtig, +einer Feste, die den Colonna gehörte; seine Frau war +zu Colonna geeilt, der sich in La Petrella aufhielt, und +sagte ihm vor allen Leuten:</p> + +<p>„Werdet Ihr einen Eurer treuen Diener sterben +lassen?“ Colonna erwiderte:</p> + +<p>„Es wäre Gott nicht wohlgefällig, wenn ich die Ehrfurcht +verletzte, die ich den Entscheidungen der Gerichte +des Papstes, meines Herrn, schulde!“ +</p> + +<p><a id="page-243"></a><span class="pgnum">243</span>Sofort erhielten seine Soldaten Befehle, und er ließ +allen seinen Anhängern Weisung zukommen, sich bereit +zu halten. Der Sammelpunkt wurde bei Valmontone bestimmt, +einer kleinen, auf dem Gipfel eines niederen +Felsens gelegenen Stadt, die aber einen stufenlosen und +fast lotrechten Absturz von sechzig bis achtzig Fuß +Tiefe zur Schutzwehr hat. In diese kleine, dem Papst +gehörende, Stadt war es den Anhängern der Orsini und +den Sbirren der Regierung geglückt, Bandini zu +schaffen. Unter die eifrigsten Anhänger dieser Partei +rechnete man Herrn von Campireali und seinen Sohn +Fabio, die übrigens mit den Orsini weitläufig verwandt +waren. Seit jeher waren dagegen Giulio Branciforte und +sein Vater Anhänger der Colonna.</p> + +<p>Unter Umständen, wo es den Colonna nicht paßte, +öffentlich zu handeln, nahmen sie zu einer einfachen +Vorsicht ihre Zuflucht: die meisten der reichen römischen +Bauern waren damals wie heute Mitglieder +irgendwelcher Büßergemeinschaften. Die Büßer erschienen +in der Öffentlichkeit nie anders als den Kopf +mit einem Stück Leinwand bedeckt, das ihr Gesicht verhüllte +und nur zwei Löcher für die Augen frei ließ. +Wenn die Colonna sich zu einer Unternehmung nicht +bekennen wollten, luden sie ihre Anhänger ein, sich +ihnen im Büßerkleid anzuschließen.</p> + +<p>Nach langen Vorbereitungen wurde die Überführung +Bandinis, welche schon seit vierzehn Tagen das Gespräch +der Gegend bildete, auf einen Sonntag festgesetzt. An +diesem Tag um zwei Uhr morgens ließ der Bürgermeister +von Valmontone in allen Dörfern des Waldes von +La Faggiola die Sturmglocken läuten. Man sah aus +jedem Ort Bauern in ziemlich großer Anzahl ausrücken. +Die Sitten der mittelalterlichen Republiken, als man sich +<a id="page-244"></a><span class="pgnum">244</span>noch schlug, um irgendeine Sache, die man wünschte, +zu erlangen, hatten in den Herzen der Landleute sehr +viel Tapferkeit erhalten; zu unsrer Zeit würde sich niemand +rühren.</p> + +<p>An diesem Tag konnte man etwas Sonderbares bemerken: +So oft ein kleiner Trupp bewaffneter Bauern +aus seinem Dorf heraus in den Wald bog, verringerte +er sich um die Hälfte; die Anhänger der Colonna +schlugen die Richtung nach dem von Fabrizio bezeichneten +Treffpunkt ein. Ihre Anführer schienen überzeugt, +daß man sich an diesem Tage nicht schlagen +würde: sie hatten morgens Befehl erhalten, dieses +Gerücht zu verbreiten. Fabrizio durcheilte den Wald +mit der Auslese seiner Anhänger, die mit halbwüchsigen +jungen Pferden seines Gestüts beritten waren. Er hielt +eine Art Heerschau über die verschiedenen Bauerntrupps +ab; aber er sprach nichts zu ihnen; weil jedes Wort +bloßstellen konnte. Fabrizio war ein großer, magerer +Mann von unglaublicher <a class="sic" id="sicA-22" href="#sic-22">Gewandheit</a> und Kraft; obwohl +er kaum fünfundvierzig Jahre zählte, waren seine +Haare und sein Schnurrbart von blendender Weiße, was +ihm sehr unangenehm war. Denn an diesem Merkmal +konnte man ihn auch an Orten erkennen, wo er lieber +unerkannt geblieben wäre. Sobald die Bauern ihn sahen, +riefen sie: Evviva Colonna! und zogen ihre Leinenkapuzen +über. Der Fürst selbst hatte seine Kapuze auf +der Brust hängen, um sie überziehen zu können, sobald +sich der Feind zeigte.</p> + +<p>Dieser ließ nicht auf sich warten. Die Sonne war +kaum aufgegangen, als etwa tausend Mann der Orsini-Partei +von der Seite von Valmontone her in den Wald +eindrangen und in einer Entfernung von etwa dreihundert +Schritten an den Anhängern des Colonna vorbeizogen, +<a id="page-245"></a><span class="pgnum">245</span>die sich auf seinen Befehl zur Erde geworfen +hatten. Einige Minuten, nachdem die letzten dieser +Vorhut der Orsini vorbei waren, setzte der Fürst seine +Leute in Bewegung; er hatte beschlossen, das Geleit des +Bandini anzugreifen, wenn eine Viertelstunde vorbei sein +würde, nachdem es den Wald betreten hatte. An dieser +Stelle ist der Wald mit kleinen Felsen von fünfzehn +oder zwanzig Fuß Höhe übersät; das sind mehr oder +weniger alte Lavaflüsse, auf denen die Kastanien +wunderbar wachsen und fast ganz den Tag verhüllen. +Weil diese Lavablöcke, die mehr oder weniger von der +Zeit angegriffen sind, den Boden sehr uneben machen +und um der Landstraße eine Anzahl kleiner unnützer +Auf- und Abstiege zu ersparen, hat man den Weg in +die Lava eingesenkt, und er liegt jetzt oft drei oder +vier Fuß tiefer als der Wald.</p> + +<p>An der Stelle, wo Fabrizio den Angriff vorgesehen +hatte, befand sich eine mit Gras bedeckte Lichtung, +die an einem Ende von der Landstraße überquert wurde. +Dann trat die Straße wieder in den Wald ein, der an +dieser Stelle voll von Brombeerbüschen und zwischen +Baumstümpfen wuchernder Stauden ganz undurchdringlich +war. Fabrizio hatte hier seine Fußtruppen +etwa hundert Schritt tief im Walde und zu beiden Seiten +der Straße aufgestellt. Auf ein Zeichen Colonnas setzte +jeder der Bauern seine Kapuze auf und nahm mit +seiner Büchse hinter einem Kastanienbaum Stellung; die +Soldaten des Fürsten stellten sich hinter die Bäume +zunächst der Straße. Die Bauern hatten strengen Befehl, +erst nach den Soldaten zu schießen und diese durften +erst Feuer geben, wenn der Feind auf zwanzig Schritt +nahe sein würde. Fabrizio ließ in Eile einige zwanzig +Bäume fällen, welche mit ihren Zweigen auf die +<a id="page-246"></a><span class="pgnum">246</span>Straße gestürzt sie vollständig sperrten; die Straße war +an dieser Stelle sehr eng und lag um drei Fuß tiefer. +Hauptmann Ranuccio mit fünfhundert Mann folgte der +Vorhut; er hatte Befehl, erst anzugreifen, wenn er die +ersten Flintenschüsse hören würde, die vom Holzverhau +abgegeben werden sollten, der die Straße versperrte. +Als Fabrizio Colonna seine Soldaten und seine Anhänger +jeder hinter seinem Baum wohl aufgestellt und voll +Entschlossenheit sah, ritt er im Galopp mit seinen Berittenen +weiter, unter denen sich auch Giulio Branciforte +befand. Der Fürst schlug einen Pfad zur Rechten +der Landstraße ein, welcher zum entgegengesetzten +Ende der Lichtung führte.</p> + +<p>Colonna war kaum einige Minuten davon, als man +auf der Straße von Valmontone von weitem eine große +Schar Berittener nahen sah; das waren die Sbirren und +ihr Bargello, die Bandini geleiteten, und alle Herren, +die zu den Orsini hielten. In ihrer Mitte befand +sich Balthasar Bandini, von vier rotgekleideten Scharfrichtern +umringt; sie hatten Befehl, das Urteil der ersten +Instanz zu vollstrecken und Bandini sofort zu töten, +wenn die Anhänger der Colonna daran wären, ihn zu +befreien.</p> + +<p>Die Reiter Colonnas waren kaum am andern Ende der +Lichtung angelangt, als man die ersten Flintenschüsse +aus dem Hinterhalt beim Holzverhau auf der Straße +hörte. Sogleich setzte er seine Reiter in Galopp und +richtete seinen Angriff auf die vier rotgekleideten, +Henker, die Bandini umgaben.</p> + +<p><a class="sic" id="sicA-23" href="#sic-23">Wer</a> werden nicht im genauen Verlauf diesem kleinen +Handstreich folgen, der nicht einmal dreiviertel Stunden +dauerte; überrascht flohen die Anhänger der Orsini +nach allen Richtungen, aber bei der Vorhut wurde der +<a id="page-247"></a><span class="pgnum">247</span>tapfere Hauptmann Ranuccio getötet, und dieses Ereignis +hatte einen verhängnisvollen Einfluß auf das +Schicksal Brancifortes. Kaum hatte dieser einige Säbelhiebe +ausgeteilt, um sich an die rotgekleideten Männer +heranzuarbeiten, als er sich Fabio Campireali gegenüber +befand.</p> + +<p>Auf einem schnaubenden Pferd und mit goldenem +Kettenhemd bekleidet, schrie Fabio:</p> + +<p>„Wer sind diese maskierten Schufte? Laßt uns ihre +Masken mit einem Säbelhieb zerschneiden! Seht, wie +ich das mache!“</p> + +<p>Fast im gleichen Augenblick erhielt Giulio Branciforte +von ihm einen Säbelhieb über die Stirn. Dieser +Schlag war mit solcher Geschicklichkeit geführt, daß +das Leinen, welches sein Gesicht verhüllte, fiel, als +seine Augen durch das Blut geblendet wurden, welches +aus dieser übrigens harmlosen Wunde floß. Giulio +ritt abseits, um Zeit zum Aufatmen zu gewinnen und +sein Gesicht abzuwischen. Er wollte sich um keinen +Preis mit Helenas Bruder schlagen, und sein Pferd war +schon einige Schritte von Fabio entfernt; da erhielt +er einen wütenden Säbelhieb über die Brust, der dank +seinem Kettenhemd nicht durchdrang, aber ihm für +einen Augenblick den Atem nahm. Fast gleichzeitig +hörte er in seine Ohren schreien:</p> + +<p>„Ti conosco, porco! Kanaille, ich kenne dich! So +verdienst du also dein Geld, um deine Lumpen abzulegen?“</p> + +<p>Giulio, in solcher Weise gereizt, vergaß seinen Vorsatz +und stürzte sich wieder auf Fabio:</p> + +<p>„Ed in mal ponto tu venisti!“ rief er aus.</p> + +<p>Nach einigen heftigen Säbelhieben fiel das Gewand, +das ihre Panzerhemden bedeckte, nach allen Seiten. Das +<a id="page-248"></a><span class="pgnum">248</span>Panzerhemd Fabios war vergoldet und prächtig, das +Giulios so gewöhnlich wie nur möglich.</p> + +<p>„In welchem Dreck hast du dein Giacco aufgelesen?“ +schrie Fabio.</p> + +<p>Im gleichen Augenblick fand Giulio die Gelegenheit, +die er seit einer halben Minute suchte. Das stolze Panzerhemd +Fabios deckte den Hals nicht genug, und Giulio +führte nach dieser kleinen ungedeckten Stelle des Halses +einen Stoß, der saß. Giulios Schwert drang einen halben +Fuß weit in die Gurgel Fabios und ließ einen mächtigen +Blutstrahl hervorspringen.</p> + +<p>„Unverschämter“, schrie Giulio dabei und galoppierte +auf die Rotgekleideten zu, von denen zwei, hundert +Schritte von ihm entfernt, noch zu Pferd waren; als +er sich näherte, fiel der dritte Henker, aber im Augenblick, +wo Giulio dem vierten schon ganz nahe war, +drückte dieser, da er sich von mehr als zehn Reitern +umzingelt sah, gegen den unglücklichen Bandini eine +Pistole aus nächster Nähe los, so daß er zu Boden fiel.</p> + +<p>„Meine werten Herrn, wir haben hier nichts mehr zu +tun!“ rief Branciforte, „machen wir diese Schurken von +Sbirren nieder, die nach allen Seiten davonlaufen.“</p> + +<p>Alles folgte ihm.</p> + +<p>Als Giulio eine halbe Stunde später in die Nähe Fabrizio +Colonnas zurückkehrte, richtete dieser große Herr +zum erstenmal das Wort an ihn. Giulio fand ihn +trunken vor Zorn, während er geglaubt hatte, ihn vor +Freude entzückt zu finden; denn der Sieg war vollständig +gewesen und gänzlich seinen guten Anordnungen +zu verdanken; denn die Orsini hatten nahezu dreitausend +Mann und Fabrizio hatte für diese Sache nicht mehr als +fünfzehnhundert aufgeboten.</p> + +<p>„Wir haben unsern tapfren Freund Ranuccio verloren,“ +<a id="page-249"></a><span class="pgnum">249</span>sagte der Fürst zu Giulio, „ich komme eben von +seiner Leiche, er ist schon kalt. Und der arme Balthasar +Bandini ist tödlich verwundet. Also haben wir im +Grunde nicht gesiegt. Doch der Schatten des tapfren +Kapitäns Ranuccio wird wohl begleitet vor Pluto erscheinen. +Ich habe Befehl gegeben, alle diese gefangenen +Schurken an die Bäume zu knüpfen. Versäumt +das nicht, meine Herren!“ rief er mit erhobener +Stimme.</p> + +<p>Und er ritt im Galopp zu der Stelle, wo der Kampf +der Vorhut stattgefunden hatte. Giulio kommandierte +als Vertreter Ranuccios dessen Abteilung; er folgte dem +Fürsten, welcher bei dem Leichnam dieses tapfren Soldaten, +der von mehr als fünfzig gefallenen Feinden umgeben +war, zum zweitenmal vom Pferd stieg, um die +Hand Ranuccios zu drücken. Giulio tat weinend das +gleiche.</p> + +<p>„Du bist noch sehr jung,“ sagte der Fürst zu Giulio, +„aber ich sehe dich vom Blut bedeckt und dein Vater +war ein tapfrer Mann, der mehr als zwanzig Wunden +im Dienst der Colonna erhalten hatte. Übernimm die +Führung derer, die von Ranuccios Abteilung übrig sind +und geleite seine Leiche in unsre Kirche in La Petrella; +vergiß aber nicht, daß du unterwegs angegriffen werden +kannst.“</p> + +<p>Giulio wurde nicht angegriffen, aber er tötete mit +einem Degenhieb einen seiner Soldaten, der ihm sagte, +daß er zu jung wäre, um zu befehlen. Diese Unklugheit +hatte Erfolg, weil Giulio noch von Fabios Blut bedeckt +war. Die ganze Straße entlang fand er die Bäume mit +Männern beladen, welche man aufgehängt hatte. Dieses +gräßliche Schauspiel, verbunden mit Ranuccios und besonders +mit Fabios Tod, machten ihn fast wahnsinnig. +<a id="page-250"></a><span class="pgnum">250</span>Seine einzige Hoffnung war, daß man nicht den Namen +von Fabios Besieger wußte.</p> + +<p>Wir übergehen die militärischen Einzelheiten. Drei Tage +nach dem Kampf konnte Giulio wieder einige Stunden +in Albano verbringen; er erzählte seinen Bekannten, ein +heftiges Fieber habe ihn in Rom zurückgehalten und ihn +gezwungen, die ganze Woche über das Bett zu hüten.</p> + +<p>Aber man behandelte ihn überall mit einem sichtlich +zur Schau getragenen Respekt; die angesehensten Leute +der Stadt grüßten ihn zuerst; einige Unvorsichtige +gingen sogar so weit, ihn mit Herr Hauptmann anzureden. +Er war mehrmals am Palazzo Campireali +vorbeigegangen, hatte ihn aber fest verschlossen gefunden, +und da der neue Hauptmann sehr schüchtern +war, wenn es galt, sich nach gewissen Personen zu erkundigen, +vermochte er erst gegen Mittag über sich zu +gewinnen, den alten Scotti, der ihn stets mit Güte behandelt +hatte, zu fragen:</p> + +<p>„Aber wo sind denn die Campireali? Ich sehe ihren +Palast geschlossen.“</p> + +<p>„Mein Freund,“ antwortete Scotti mit plötzlicher +Traurigkeit, „das ist ein Name, den du niemals aussprechen +solltest. Deine Freunde sind wohl davon überzeugt, +daß er es war, der herausgefordert hat und sagen +es überall; aber schließlich: war er nicht das Haupthindernis +deiner Heirat? Und macht sein Tod nicht +seine Schwester unermeßlich reich? Und bist es nicht +du, den sie liebt? Man kann sogar hinzufügen — und +in diesem Fall wird die Unverschämtheit zur Tugend —, +daß sie dich genug liebt, um dich nachts in deinem +kleinen Haus in Alba zu besuchen. Daher kann man in +deinem Interesse sagen, daß Ihr schon vor dem verhängnisvollen +Kampf bei Ciampi Mann und Frau wart.“ +</p> + +<p><a id="page-251"></a><span class="pgnum">251</span>Der Greis unterbrach sich, weil er bemerkte, daß +Giulio die Tränen nicht beherrschen konnte.</p> + +<p>„Gehn wir zum Gasthaus hinauf“, sagte Giulio.</p> + +<p>Scotti folgte ihm; man gab ihnen ein Zimmer, worin +sie sich einschlossen und Giulio bat den Greis, ihm +alles, was sich seit acht Tagen ereignet hatte, erzählen +zu dürfen. Nach Beendigung dieser langen Erzählung +sagte der Alte:</p> + +<p>„Ich sehe wohl an deinen Tränen, daß nichts, was geschehen +ist, in deiner Absicht lag, aber Fabios Tod ist +deshalb kein weniger böses Ereignis für dich. Es ist +dringend nötig, daß Helena ihrer Mutter erklärt, du +seiest schon seit langem ihr Gatte.“</p> + +<p>Giulio antwortete nicht und der Greis schrieb dies +einer lobenswerten Diskretion zu. In schweres Sinnen +versunken, fragte sich Giulio, ob Helena, verletzt durch +den Tod eines Bruders, seinem Zartgefühl noch gerecht +werden würde; jetzt bereute er, was er damals versäumt +hatte. Darauf bat er den Alten, ihm alles, was +sich am Tage des Kampfes in Albano zugetragen hatte, +frei zu erzählen. Fabio war gegen halb sieben Uhr +morgens getötet worden, mehr als sechs Meilen von Albano +entfernt und — so unglaublich es klingt! — schon +um neun Uhr wurde von diesem Tod zu sprechen begonnen. +Gegen Mittag hatte man gesehen, wie sich der +alte Campireali, tränenüberströmt und auf seine Diener +gestützt, in das Kapuzinerkloster begab. Kurz darauf +hatten drei dieser ehrwürdigen Väter, auf den besten +Rossen der Campireali und von vielen Dienstleuten gefolgt, +den Weg nach dem Dorf Ciampi eingeschlagen, +in dessen Nähe der Kampf ausgefochten worden war. +Der alte Campireali wollte durchaus mit, aber man hatte +ihn davon abgebracht, indem man ihm vorstellte, daß +<a id="page-252"></a><span class="pgnum">252</span>Fabrizio Colonna wütend sei (warum, wußte man allerdings +nicht recht) und ihm übel mitspielen könnte, +wenn er gefangen genommen würde.</p> + +<p>Nachts gegen die zwölfte Stunde schien der Wald +von La Faggiola in Flammen zu stehen: das waren alle +Mönche und alle Armen von Albano, die — jeder eine +große brennende Wachskerze in der Hand — dem +Leichnam des jungen Fabio entgegengingen.</p> + +<p>„Ich will dir nicht verhehlen,“ fügte der Greis hinzu, +die Stimme senkend, als fürchte er, gehört zu werden, +„daß die Straße, welche nach Valmontone und nach +Ciampi führt…“</p> + +<p>„Nun was?“ sagte Giulio.</p> + +<p>„Nun wohl, diese Straße führt an deinem Haus vorbei +und man sagt, daß das Blut aus der schrecklichen, +Halswunde wieder zu fließen begann, als Fabios Leichnam +dort vorbeikam.“</p> + +<p>„Wie entsetzlich!“ rief Giulio und erhob sich.</p> + +<p>„Beruhige dich, mein Freund“, sagte der Greis. „Du +siehst wohl ein, wie es nötig ist, daß du alles weißt. Und +jetzt muß ich dir sagen, daß deine Anwesenheit hier +heute ein wenig verfrüht erscheint. Wenn Ihr mir die +Ehre erweisen wollt, mich um Rat zu fragen, Kapitän, +möchte ich hinzufügen, daß es nicht passend ist, daß Ihr +Euch früher als nach einem Monat in Albano zeigt. Es +ist wohl nicht notwendig, Euch aufmerksam zu machen, +daß es unvorsichtig wäre, nach Rom zu gehen. Man +weiß noch nicht, wie sich der Heilige Vater zu den Colonna +stellen wird, man denkt zwar, daß er der Erklärung +Fabrizios Glauben schenken wird, der vorgibt, +von dem Kampf bei Ciampi nicht früher als durch das +öffentliche Gerede gehört zu haben; aber der Gouverneur +von Rom, der ein treuer Orsini ist, wütet und +<a id="page-253"></a><span class="pgnum">253</span>würde entzückt sein, einige der tapfren Soldaten Fabrizios +hängen zu lassen, und dieser könnte sich nicht +einmal öffentlich beschweren, weil er schwört, beim +Kampf nicht dabei gewesen zu sein. Ich werde noch +weiter gehen, und, obwohl Ihr mich nicht danach fragt, +mir die Freiheit nehmen, Euch einen militärischen Rat +zu geben: Ihr seid in Albano beliebt, sonst wäret Ihr +hier nicht in Sicherheit. Aber bedenkt, daß Ihr seit +mehreren Stunden in der Stadt umhergeht, daß einer +der Anhänger der Orsini sich herausgefordert fühlen +könnte, oder mindestens an die Leichtigkeit, eine schöne +Belohnung zu gewinnen, denken kann. Der alte Campireali +hat tausendmal wiederholt, daß er seine schönste +Besitzung dem schenkt, der Euch tötet. Ihr hättet einige +der Soldaten aus Eurem Haus nach Albano herunternehmen +<a class="sic" id="sicA-24" href="#sic-24">sollen.</a></p> + +<p>„Ich habe nicht einen Soldaten in meinem Haus.“</p> + +<p>„In diesem Fall seid Ihr ein Narr, Kapitän. Diese +Herberge hat einen Garten; wir werden uns durch den +Garten machen und über die Weinberge flüchten. Ich +werde Euch begleiten; ich bin alt und ohne Waffen; +aber wenn wir Übelgesinnten begegnen, werde ich mit +Ihnen sprechen; Ihr werdet wenigstens Zeit gewinnen.“</p> + +<p>Giulios Seele war zerrissen. Sollen wir zu erzählen +wagen, wie weit seine Narrheit ging? Sowie er gehört +hatte, daß der Palast Campireali geschlossen war und +alle seine Bewohner nach Rom abgereist seien, faßte er +den Plan, den Garten wiederzusehen, wo er so oft mit +Helena zusammengekommen war. Er hoffte sogar, ihr +Zimmer wiederzusehen, wo sie ihn empfangen hatte, +wenn ihre Mutter abwesend war. Er hatte das Bedürfnis, +sich durch den Anblick der Orte, wo sie so zärtlich zu +ihm gewesen war, gegen ihren Zorn zu wappnen. +</p> + +<p><a id="page-254"></a><span class="pgnum">254</span>Branciforte und der edelmütige Alte hatten keine unangenehme +Begegnung, während sie den kleinen Pfaden +folgten, die durch die Weinberge zum See ansteigen. +Giulio ließ sich von neuem die Einzelheiten des Begräbnisses +des jungen Fabio erzählen. Die Leiche dieses +tapfren jungen Mannes war von vielen Priestern begleitet +nach Rom überführt und in der Familiengruft +im Kloster San Onofrio am Gianicolo beigesetzt worden. +Man hatte als einen sehr auffallenden Umstand vermerkt, +daß Helena am Vorabend der Zeremonie von +ihrem Vater nach dem Kloster der Heimsuchung in +Castro zurückgebracht worden war; dies hatte das umlaufende +Gerücht verstärkt, daß sie heimlich mit dem +Wegelagerer vermählt sei, der das Unglück gehabt hätte, +ihren Bruder zu töten.</p> + +<p>Als er bei seinem Haus ankam, fand Giulio den Korporal +seiner <a class="sic" id="sicA-25" href="#sic-25">Kampagnie</a> mit vieren seiner Soldaten; sie +sagten ihm, daß ihr früherer Hauptmann nie den Wald +verlassen hätte, ohne einige seiner Leute bei sich zu +haben. Der Fürst hatte öfters geäußert, daß jeder, bevor +er sich aus Unvorsichtigkeit töten lasse, vorher +seinen Abschied nehmen möge, damit er die Rache für +einen solchen Tod nicht ihm aufbürde.</p> + +<p>Giulio Branciforte verstand die Berechtigung solcher +Gedanken, die ihm bisher völlig fremd gewesen waren. +Er hatte, ähnlich, wie es die Naturvölker tun, geglaubt, +daß der Krieg in nichts bestünde, als sich tapfer zu +schlagen. Er fügte sich auf der Stelle den Wünschen des +Fürsten und nahm sich nur noch die Zeit, den weisen +Alten zu umarmen, der so edelmütig gewesen war, ihn +nach Haus zu begleiten.</p> + +<p>Aber einige Tage später kehrte Giulio halb verrückt +vor Schwermut zurück, um den Palast Campireali +<a id="page-255"></a><span class="pgnum">255</span>wiederzusehen. Mit Einbruch der Nacht kamen er und +seine Soldaten, als neapolitanische Kaufleute verkleidet, +nach Albano. Er sprach allein bei Scotti vor und hörte, +daß Helena noch immer im Kloster von Castro verbannt +sei. Ihr Vater, der sie mit dem vermählt glaubte, +den er den Mörder seines Sohnes nannte, hatte geschworen, +sie nie wiederzusehen. Selbst als er sie ins +Kloster brachte, hatte er sie nicht angesehen. Die Zärtlichkeit +ihrer Mutter dagegen schien sich zu verdoppeln +und oft verließ sie Rom, um einen Tag oder zwei bei +ihrer Tochter zu verbringen.</p> + + + + +<h3>IV.</h3> + + +<p>‚Wenn ich mich vor Helena nicht rechtfertige‘, sagte +sich Giulio, als er nachts den Standort seiner Kompagnie +im Walde wiedergewann, ‚wird sie mich am +Ende für einen Mörder halten. Gott weiß, was man ihr +alles über diesen unheilvollen Kampf erzählt hat.‘</p> + +<p>Er ging zum Fürsten in das befestigte Schloß La +Petrella, um seine Befehle entgegenzunehmen und bat +um die Erlaubnis, nach Castro zu gehen. Fabrizio Colonna +verzog die Stirn:</p> + +<p>„Die Angelegenheit des kleinen Gefechts ist bei Seiner +Heiligkeit noch nicht erledigt. Ihr müßt wissen, daß +ich die Wahrheit erklärt habe; versteht: daß ich ganz +unbeteiligt an diesem Zusammenstoß war, von dem ich +sogar erst am folgenden Tage hier auf meinem Schloß +La Petrella gehört habe. Ich habe allen Grund, anzunehmen, +daß Seine Heiligkeit schließlich dieser aufrichtigen +Vorstellung Glauben schenken wird. Aber die Orsini +sind mächtig und alle Welt sagt, daß Ihr Euch in +diesem Scharmützel hervorgetan habt. Die Orsini gehen +<a id="page-256"></a><span class="pgnum">256</span>so weit, zu behaupten, daß zahlreiche Gefangene an den +Baumästen aufgehängt worden sind. Ihr wißt, wie +falsch diese Darstellung ist; aber man kann Repressalien +voraussehen.“</p> + +<p>Das tiefe Erstaunen, das in den kindlichen Blicken des +jungen Hauptmanns glänzte, belustigte den Fürsten; jedoch +empfand er, daß es angesichts solcher Unschuld +geboten sei, deutlicher zu sprechen.</p> + +<p>„Ich sehe in Euch“, fuhr er fort, „jene vollendete +Tapferkeit, die den Namen Branciforte in ganz Italien +bekannt gemacht hat. Ich hoffe, daß Ihr für mein Haus +die gleiche Treue haben werdet, die mir Euren Vater +so teuer gemacht hat; ich habe sie Euch vergelten +wollen. Die Losung meiner Mannschaft ist: Niemals die +Wahrheit über irgend etwas zu sagen, das sich auf mich +oder meine Soldaten bezieht. Wenn Ihr im Augenblick, +wo Ihr zu sprechen genötigt seid, irgendeine Unwahrheit +als nützlich erkennt, lügt, wie's der Zufall +zusammenfügt und hütet Euch, wie vor einer Todsünde, +auch nur im kleinsten die Wahrheit zu sagen. Ihr +versteht, daß sie im Verein mit andren Auskünften auf +die Spur meiner Pläne bringen könnte. Ich weiß übrigens, +daß Ihr eine Liebelei im Kloster von Castro habt. +Ihr könnt vierzehn Tage in dem Nest totschlagen, wo +es den Orsini weder an Freunden, noch selbst an Agenten +fehlt. Geht zu meinem Majordomus, der Euch zweihundert +Zechinen geben wird. Die Freundschaft, die ich +für Euren Vater hegte,“ fügte der Fürst lachend hinzu, +„macht mir Lust, Euch Anleitung über die Art zu geben, +wie Ihr dieses Kriegs- und Liebesabenteuer zu gutem +Ende führt. Ihr und drei Eurer Soldaten werdet Euch +als Kaufleute verkleiden. Ihr dürft dabei nicht verfehlen, +immer auf einen Eurer Gefährten erzürnt zu +<a id="page-257"></a><span class="pgnum">257</span>sein, dessen Beruf es ist, immer betrunken zu scheinen +und sich viele Freunde zu machen, indem er allen +Nichtstuern von Castro den Wein zahlt. <a class="sic" id="sicA-26" href="#sic-26">„</a>Übrigens“, +fügte der Fürst in verändertem Ton hinzu, „solltet Ihr +von den Orsini gefangen und zum Tode verurteilt +werden, so gesteht nie Euren wahren Namen ein und +noch weniger, daß Ihr zu mir gehört. Ich habe nicht +nötig, Euch anzuempfehlen, daß Ihr alle kleinen Städte +erst umgeht und stets durch das Tor eintretet, das der +Richtung, aus der Ihr kommt, entgegengesetzt liegt.“</p> + +<p>Giulio war über diese väterlichen Ratschläge gerührt, +die von einem sonst so ernsten Mann kamen. Zuerst +lächelte der Fürst über die Tränen, die er in den +Augen des jungen Mannes erblickte, dann wurde aber +auch seine Stimme bewegt. Er zog einen der zahlreichen +Ringe ab, die er an den Fingern trug, und Giulio küßte, +als er ihn empfing, die durch so edle Taten berühmte +Hand.</p> + +<p>„Niemals hätte mein Vater so vorsorglich mit mir gesprochen“, +rief der junge Mann begeistert aus.</p> + +<p>Am übernächsten Morgen, ein wenig vor Anbruch +des Tages, zog er in die Mauern des kleinen Städtchens +Castro ein, fünf Soldaten folgten ihm, wie er verkleidet; +zwei davon gingen für sich und schienen weder ihn +noch die drei andren zu kennen. Noch bevor sie in die +Stadt eintraten, hatte Giulio das Kloster der Heimsuchung +bemerkt, ein großes, von schwarzen Mauern +umgebenes Gebäude, das einer Festung glich. Er lief +zur Kirche; sie war prächtig. Die Nonnen, die alle adlig +und meist aus reichen Häusern waren, wetteiferten +untereinander aus Eitelkeit, um diese Kirche reich zu +schmücken, die der einzige Teil des Klosters war, +welchen die Blicke der Öffentlichkeit erreichten. Es +<a id="page-258"></a><span class="pgnum">258</span>war Gebrauch geworden, daß jene der Damen, die aus +einer vom Kardinal-Protektor des Ordens der Heimsuchung +dem Papste vorgelegten Liste von drei Nonnen +zur Äbtissin erwählt wurde, eine ansehnliche Gabe darbrachte, +die dazu diente, ihren Namen zu verewigen. +Diejenige, deren Gabe geringer war als das Geschenk +der letzten Äbtissin, verfiel samt ihrer Familie der Verachtung.</p> + +<p>Giulio trat zitternd in dieses prächtige Gebäude, das +von Marmor und Vergoldung strahlte. In Wahrheit +dachte er kaum an den Marmor und die Goldverzierungen; +es schien ihm, daß er unter Helenas Augen sei. +Der Hochaltar hatte, wie man ihm sagte, mehr als achthunderttausend +Francs gekostet; aber seine Blicke übersahen +die Schätze des Hochaltars und hefteten sich auf +ein vergoldetes Gitter, das fast vierzig Fuß hoch und +durch zwei Marmorpfeiler in drei Abteilungen geteilt +war. Dieses Gitter, dem seine mächtige Größe etwas +Schreckliches verlieh, erhob sich hinter dem Hochaltar +und trennte den Chor der Nonnen von der allen Gläubigen +zugänglichen Kirche.</p> + +<p>Giulio sagte sich, daß Nonnen und Pensionärinnen +sich während des Gottesdienstes hinter diesem goldenen +Gitter befanden. In diesen inneren Teil der Kirche +konnte sich eine Nonne oder eine Pensionärin zu jeder +Tageszeit begeben, wenn sie Bedürfnis hatte, zu beten: +Auf diesen aller Welt bekannten Umstand gründeten +sich die Hoffnungen des armen Liebhabers. Allerdings +deckte ein mächtiger schwarzer Schleier das Gitter auf +der Innenseite. ‚Aber dieser Schleier‘, überlegte Giulio, +‚kann kaum den Blick der Pensionärinnen hindern, wenn +sie in die öffentliche Kirche schauen, denn ich — stellte +er fest — der ich mich nur auf einige Entfernung +<a id="page-259"></a><span class="pgnum">259</span>nähern kann, bemerke doch durch den Schleier die +Fenster, die dem Chor Licht geben, sehr gut; ja, ich +kann sogar die geringsten Einzelheiten ihrer Architektur +unterscheiden,‘ Jeder Stab dieses prächtig vergoldeten +Gitters trug eine scharfe, gegen die sich ihm Nähernden +gerichtete Spitze.</p> + +<p>Giulio wählte einen sehr sichtbaren Platz an der +hellsten Stelle, dem linken Teil des Gitters gegenüber. +Dort verbrachte er seine Tage damit, die Messen zu +hören. Da er sich hier nur von Bauern umgeben sah, +konnte er hoffen, selbst durch den schwarzen Schleier +hindurch bemerkt zu werden. Zum ersten Mal in seinem +Leben trachtete der schlichte junge Mann aufzufallen: +sein Auftreten war gesucht; er gab zahlreiche Almosen +beim Eintritt und beim Verlassen der Kirche. Seine +Leute und er behandelten die kleinen Lieferanten und +Arbeiter, die Verbindung mit dem Kloster hatten, mit +den größten Aufmerksamkeiten. Doch erst am dritten +Tage hatte er endlich Aussicht, einen Brief an Helena +gelangen lassen zu können. Auf seinen Befehl folgte +man beständig den beiden Laienschwestern, die Vorräte +für das Kloster einzukaufen hatten; eine von ihnen +hatte Beziehungen zu einem Krämer. Einer der Soldaten +Giulios, der Mönch gewesen war, gewann die +Freundschaft des Kaufmanns und versprach ihm eine +Zechine für jeden Brief, welcher der Pensionärin Helena +Campireali zugestellt würde.</p> + +<p>„Was!“ sagte der Kaufmann bei der ersten Andeutung, +die man ihm über diese Sache machte, „einen +Brief an die Frau des Briganten?“</p> + +<p>Dieser Name war schon in Castro eingebürgert und +doch war Helena erst vor vierzehn Tagen dort angekommen; +so schnell läuft alles, was der Einbildungskraft +<a id="page-260"></a><span class="pgnum">260</span>Stoff gibt bei diesem Volk, das leidenschaftlich +alle genauen Einzelheiten liebt.</p> + +<p>Der kleine Kaufmann fügte hinzu:</p> + +<p>„Diese wenigstens ist verheiratet, aber wie viele +unsrer Damen haben solche Entschuldigung nicht und +empfangen von draußen ganz andres als Briefe.“</p> + +<p>In diesem ersten Brief erzählte Giulio mit unzähligen +Einzelheiten alles, was an jenem unheilvollen Todestag +Fabios vor sich gegangen war. „Hassest Du mich?“ +fragte er am Ende.</p> + +<p>Helena antwortete nur eine Zeile, worin sie sagte, daß +sie niemanden hasse und den Rest ihres Lebens dazu verwenden +wolle, den zu vergessen, der ihren Bruder getötet +hatte.</p> + +<p>Giulio beeilte sich, zu antworten; nach Anklagen +gegen das Schicksal, die Platon nachahmten und damals +in Mode waren, fuhr er fort:</p> + +<p>„Du willst also das Wort Gottes, das er in der +Heiligen Schrift für uns niedergelegt hat, vergessen? +Gott sagt: die Frau soll ihre Familie und ihre Eltern +verlassen, um ihrem Gatten zu folgen. Wagst du zu behaupten, +daß du nicht meine Frau bist? Erinnere dich +an die Nacht von San Pietro. Als die Morgenröte schon +hinter dem Monte Cave aufstieg, warfst du dich mir +zu Füßen; ich wollte dich schonen; du gehörtest mir, +wenn ich es gewollt hätte; du konntest der Liebe, die +du damals für mich fühltest, nicht widerstehen. Ich +hatte dir schon oft gesagt, daß ich dir mein Leben und +alles, was mir auf der Welt teuer ist, darbringe; aber +plötzlich schien mir, daß du mir auch antworten +könntest — wenn du es selbst niemals tätest — daß +alle diese durch keine äußere Tat erhärteten Opfer vielleicht +nur Einbildung sind. Ein gegen mich grausamer, +<a id="page-261"></a><span class="pgnum">261</span>aber im Grunde richtiger Gedanke erleuchtete mich. +Ich dachte, daß nicht ohne Grund der Zufall mir jetzt +die Gelegenheit gebe, in deinem Interesse auf das +höchste Glück zu verzichten, das ich mir je hatte +träumen lassen. Du warst in meinen Armen und schon +ohne Widerstand, erinnere dich, selbst dein Mund wagte +nicht zu verweigern. In diesem Augenblick ertönte das +morgendliche Ave Maria im Kloster von Monte Cave und +durch einen wundersamen Zufall drang dieser Ton bis +zu uns. Du riefst mir zu: Bring dieses Opfer der heiligen +Madonna, der Mutter aller Reinheit. Ich hatte +schon seit einem Augenblick die Idee dieses Opfers, des +einzigen, das ich dir je zu bringen Gelegenheit haben +würde. Ich fand es unerhört, daß auch dir der gleiche +Gedanke gekommen war. Der ferne Klang dieses Ave +Maria rührte mich, ich gestehe es; ich erfüllte deine +Bitte. Das Opfer war jedoch nicht ganz allein für dich +gebracht; ich glaubte, unsre zukünftige Vereinigung +unter den Schutz der Mutter Gottes zu stellen. Damals +dachte ich nicht daran, daß von dir, Treulose, wohl +aber, daß von deiner reichen und vornehmen Familie +Hindernisse kommen könnten. Wie hätte dieses Angelus +von so weit her, durch den halben Wald über die Gipfel +der im Morgenwind bewegten Bäume ohne übernatürliche +Einwirkung bis zu uns dringen können? Da fielst +du vor mir auf die Knie, erinnerst du dich? Ich stand +auf, zog aus meiner Brust das Kreuz, das ich dort trage, +und du schwurst auf dieses Kreuz, das hier vor mir +liegt, und bei deiner ewigen Verdammnis, wo du je sein +würdest und was immer auch geschehen möge, würdest +du, sobald ich dir den Befehl zukommen lasse, wieder +ganz mein Eigen sein, wie du es in dem Augenblick +warst, als das Ave Maria von Monte Cave von so weit +<a id="page-262"></a><span class="pgnum">262</span>her an dein Ohr rührte. Dann sagten wir fromm zwei +Ave und zwei Paternoster. Nun wohl, bei der Liebe, die +du damals für mich fühltest oder wenn du sie — wie +ich fürchte — vergessen hast, bei deiner ewigen Verdammnis +befehle ich dir, mich heute Nacht in deinem +Zimmer oder im Garten zu empfangen.“</p> + +<p>Der italienische Autor bringt seltsamerweise noch +viele lange Briefe Giulio Brancifortes, welche nach +diesem geschrieben sind; aber er gibt nur Auszüge +aus den Antworten Helena Campirealis. Jetzt, einige +hundert Jahre später, stehen wir den Gefühlen der +Liebe und der Religion, welche diese Briefe erfüllen, +so fremd gegenüber, daß ich fürchte, sie könnten zu +lang sein.</p> + +<p>Aus diesen Briefen geht hervor, daß Helena endlich +dem Befehl gehorchte, der in dem von uns gekürzt +wiedergegebenen Schreiben enthalten war. Giulio fand +ein Mittel, ins Kloster einzudringen; man vermöchte +aus einem Wort anzunehmen, daß er sich als Frau verkleidete. +Helena empfing ihn, aber nur hinter dem +Gitter eines Erdgeschoßfensters, das auf den Garten +ging. Zu seinem unbeschreiblichen Schmerz erkannte +Giulio, daß dieses einst so zärtliche und sogar leidenschaftliche +Mädchen zu einer Fremden geworden war; +sie behandelte ihn fast mit ausgesuchter Höflichkeit. Als +sie ihn in den Garten einließ, hatte sie fast ausschließlich +der heiligen Pflicht des Eides gehorcht. Die Begegnung +war kurz: schon nach einigen Minuten gewann +der Stolz Giulios, der vielleicht durch die Ereignisse der +letzten vierzehn Tage ein wenig gereizt war, die Oberhand.</p> + +<p>‚Ich sehe nichts vor mir‘, sagte er zu sich, ‚als den +Schatten jener Helena, die sich mir in Albano für das +<a id="page-263"></a><span class="pgnum">263</span>ganze Leben hingab,‘ Nun war es die Hauptsache für +Giulio, die Tränen zu verbergen, die bei den höflichen +Wendungen, mit denen Helena das Wort an ihn richtete, +sein Gesicht überströmten. Als sie aufgehört hatte, zu +sprechen und die — wie sie sagte — nach dem +Tode eines Bruders so natürliche Veränderung zu rechtfertigen, +antwortete ihr Giulio, indem er sehr langsam +sprach:</p> + +<p>„Ihr erfüllt nicht Euer Gelöbnis; Ihr empfangt mich +nicht im Garten; Ihr liegt nicht vor mir auf den Knien, +wie damals, eine halbe Minute, nachdem wir jenes Ave +Maria von Monte Cave hörten. Vergeßt Euren Schwur, +wenn Ihr könnt, ich vergesse nichts, Gott stehe Euch +bei!“</p> + +<p>Mit diesen Worten verließ er das vergitterte Fenster, +an dem er gut noch eine Stunde hätte bleiben können. +Wer hätte ihm einige Augenblicke zuvor sagen dürfen, +daß er diese so herbeigesehnte Zusammenkunft freiwillig +abkürzen werde! Dieses Opfer zerriß seine Seele, +aber er glaubte, daß er Helenas Verachtung verdienen +würde, wenn er auf ihre Förmlichkeit anders als damit +antwortete, daß er sie ihrer Reue überließ.</p> + +<p>Vor Sonnenaufgang verließ er das Kloster. Er stieg +zu Pferde und gab seinen Soldaten Befehl, ihn eine +Woche lang in Castro zu erwarten und dann in den +Wald zurückzukehren; er war außer sich vor Verzweiflung. +Zuerst wandte er sich nach Rom.</p> + +<p>‚Was?! Ich entferne mich von ihr!‘ sagte er sich +bei jedem Schritt. ‚Wie! Wir sind einander fremd geworden! +O Fabio! Wie bist du gerächt!‘</p> + +<p>Der Anblick der Menschen, die er auf der Straße antraf, +steigerte noch seinen Zorn; er lenkte sein Pferd +quer über die Felder und ritt auf den öden verlassenen +<a id="page-264"></a><span class="pgnum">264</span>Uferstreif zu, der das Meer begleitet. Als er nicht mehr +durch die Begegnungen mit diesen ruhigen Bauern gestört +wurde, deren Los er beneidete, atmete er auf; der +Anblick dieser wilden Gegend war in Einklang mit +seiner Verzweiflung und mäßigte seinen Zorn; jetzt +konnte er sich der Betrachtung seines traurigen Schicksals +hingeben.</p> + +<p>‚In meinem Alter‘, sagte er sich, ‚habe ich eine Hilfe: +eine andre Frau zu lieben!‘</p> + +<p>Bei diesem traurigen Gedanken fühlte er seine Verzweiflung +sich verdoppeln; er sah nur zu gut, daß es +für ihn nur eine Frau auf der Welt gab. Er stellte sich +die Qual vor, die er leiden würde, wenn er das +Wort Liebe vor einer andern als Helena ausspräche. +Dieser Gedanke zerriß ihn.</p> + +<p>Er wurde von einem Anfall bittren Lachens geschüttelt.</p> + +<p>‚Ich gleiche hier genau diesen Helden Ariosts,‘ dachte +er, ‚die einsam durch öde Länder ziehen, um zu vergessen, +daß sie ihre treulose Geliebte in den Armen +eines andren Ritters gefunden haben… Aber sie ist +nicht so schuldig,‘ sagte er sich, indem er nach diesem +tollen Lachen wieder in Tränen ausbrach; ‚ihre Untreue +geht nicht so weit, einen andren zu lieben. Diese +bewegsame und reine Seele hat sich durch die schrecklichen +Dinge irreleiten lassen, die man ihr von mir erzählt +hat; ohne Zweifel hat man es ihr so dargestellt, +als hätte ich mich an diesem verhängnisvollen Überfall +nur in der geheimen Absicht beteiligt, ihren Bruder zu +töten. Man wird noch weiter gegangen sein, man wird +mir die schmutzige Berechnung unterschoben haben, +daß sie die alleinige Erbin eines ungeheuren Vermögens +werde, wenn ihr Bruder tot sei… Und ich, ich habe +<a id="page-265"></a><span class="pgnum">265</span>die Dummheit begangen, sie ganze vierzehn Tage allein +der Überredung meiner Feinde als Beute zu überlassen! +Man muß zugeben, daß mir, zu allem meinem Unglück, +der Himmel auch noch den Verstand versagt hat, mein +Leben zu lenken! Ich bin ein verächtliches, bei Gott +ein verächtliches Wesen! Mein Leben war niemand nützlich +und mir noch weniger als jedem andren.‘</p> + +<p>In diesem Augenblick hatte der junge Branciforte eine +für jene Zeit sehr seltsame Eingebung: sein Pferd +schritt am äußersten Uferrand und zuweilen benetzten +die Wellen seine Hufe; er hatte den Einfall, es ins Meer +zu treiben und so das schreckliche Schicksal zu beenden, +dessen Beute er war. Was sollte er fernerhin machen, +da das einzige Wesen auf der Welt, das ihn jemals die +Möglichkeit eines Glücks hatte fühlen lassen, ihn verließ? +Dann hielt ihn plötzlich ein andrer Gedanke +zurück.</p> + +<p>‚Was sind die Qualen, die ich erdulde‘, sagte er sich, +‚im Vergleich mit jenen, die ich leiden würde, nachdem +dieses elende Leben beendet ist? Helena wird sich nicht +mehr bloß gleichgültig gegen mich verhalten, wie sie +es jetzt tut, sondern ich würde sie in den Armen eines +Nebenbuhlers sehen, und dieser Rivale wird ein junger +römischer Edelmann sein, reich und angesehen; denn +die Dämonen werden, wie es ihre Pflicht ist, die grausamsten +Bilder suchen, um meine Seele zu zerreißen. +So werde ich selbst im Tode Helena nicht vergessen +können; ja, weit mehr: meine Leidenschaft für sie wird +sich verdoppeln; denn dies ist der sicherste Weg, +welchen die ewigen Mächte gehen können, um mich +für meine schreckliche Sünde zu bestrafen.‘</p> + +<p>Um die Versuchung gänzlich zu vertreiben, schickte +sich Giulio an, das Ave Maria zu beten. Einst, als er das +<a id="page-266"></a><span class="pgnum">266</span>morgendliche Ave Maria gehört hatte, das der Mutter +Gottes geweihte Gebet, war jene Versuchung über ihn +gekommen, edelmütig zu handeln, die ihm heute als die +größte Torheit seines Lebens erschien. Aber aus Ehrfurcht +wagte er es nicht, weiterzugehen und den Gedanken +ganz auszudrücken, der sich seines Geistes bemächtigt +hatte.</p> + +<p>‚Wenn ich durch Eingebung der Madonna in einen +verhängnisvollen Irrtum verfallen bin, muß sie da nicht +in ihrer unendlichen Gerechtigkeit irgendeinen Umstand +schaffen, der mir das Glück wiedergibt?‘</p> + +<p>Dieser Gedanke an die Gerechtigkeit der Madonna +verjagte nach und nach seine Verzweiflung. Er hob den +Kopf und sah hinter Albano und dem Wald den von +düsterem Grün bedeckten Monte Cave vor sich und das +heilige Kloster, dessen Morgenläuten ihn zu dem gebracht +hatte, was er jetzt eine schändliche Täuschung +nannte, die an ihm verübt worden war. Der unerwartete +Anblick dieses heiligen Orts tröstete ihn.</p> + +<p>‚Nein,‘ rief er aus, ‚es ist unmöglich, daß die +Madonna mich im Stich läßt. Wäre Helena meine Frau +gewesen, wie ihre Liebe es zuließ und meine Würde als +Mann es forderte, so hätte die Erzählung von ihres +Bruders Tod in ihrer Seele die Erinnerung an das Band +vorgefunden, das sie mit mir verknüpft. Sie hätte sich +gesagt, daß sie mir lange angehörte, bevor der unglückliche +Zufall mich auf dem Kampfplatz Fabio gegenüberstellte. +Er war zwei Jahre älter als ich, er war erfahrener +in den Waffen, in jeder Hinsicht gewandter und +stärker. Tausend Gründe wären meiner Frau eingefallen, +daß nicht ich diesen Kampf gesucht haben könne. Sie +würde sich erinnert haben, daß ich nie den mindesten +Haß gegen ihren Bruder gehegt habe, selbst damals +<a id="page-267"></a><span class="pgnum">267</span>nicht, als er mit der Büchse nach uns schoß. Ich erinnere +mich an unsre erste Zusammenkunft nach meiner +Rückkehr aus Rom; ich sagte ihr: ‚Was willst du? die +Ehre verlangt es; ich kann einen Bruder nicht tadeln!‘‘</p> + +<p>Durch sein Gebet zur Madonna der Hoffnung wiedergegeben, +spornte Giulio sein Pferd an und gelangte +in einigen Stunden zum Standquartier seiner Kompagnie. +Er fand sie im Begriff abzumarschieren: man +wollte auf die von Neapel über Monte Cassino nach Rom +führende Straße gelangen. Der junge Hauptmann +wechselte das Pferd und ging mit seinen Leuten. An +diesem Tag schlug man sich nicht. Giulio fragte nicht, +warum man fortmarschiert sei; es lag ihm wenig daran, +es zu wissen. Im Augenblick, als er sich an der Spitze +seiner Soldaten sah, erschien ihm sein Schicksal in +neuem Licht.</p> + +<p>‚Ich bin ganz einfach ein Tor,‘ sagte er sich, ‚ich habe +Unrecht getan, Castro zu verlassen; Helena ist wahrscheinlich +weniger schuldig, als mein Zorn es mir einbildete. +Nein, diese kindlich reine Seele, deren erste +Liebesregungen ich entstehen sah, kann nicht aufgehört +haben, mir zu gehören! Sie war von Leidenschaft für +mich durchdrungen! Hat sie mir nicht mehr als zehnmal +angeboten, mit mir, der ich so arm bin, zu fliehen, +und uns durch einen Mönch von Monte Cave trauen zu +lassen? In Castro hätte ich vor allem eine zweite Zusammenkunft +erlangen und ihr Vernunft zusprechen +müssen; wahrhaftig, die Leidenschaft macht mich zerfahren +wie ein Kind! O Gott, daß ich nicht einen +Freund habe, einen Rat zu erflehen! Der gleiche Schritt +erscheint mir im Zeitraum von zwei Minuten verwerflich +und vortrefflich.‘</p> + +<p>Am Abend dieses Tags, als man die Landstraße verließ, +<a id="page-268"></a><span class="pgnum">268</span>um sich wieder in den Wald zu schlagen, näherte +sich Giulio dem Fürsten und fragte ihn, ob er noch +einige Tage dort, wo er wüßte, bleiben könnte.</p> + +<p>„Geh zu allen Teufeln!“ rief Fabrizio, „glaubst du, +daß jetzt der Augenblick sei, mich mit Kindereien zu +unterhalten?“</p> + +<p>Eine Stunde später ritt Giulio wieder nach Castro +zurück. Er fand dort seine Leute vor; aber er wußte +nicht, wie er Helena schreiben solle, nachdem er sie +so hochfahrend verlassen hatte. Sein erster Brief enthielt +nichts als die Worte: „Wird man mich in der +nächsten Nacht empfangen wollen?“</p> + +<p>„Man kann kommen“, war auch die ganze Antwort.</p> + +<p>Nach Giulios Abreise hatte sich Helena für immer +verlassen geglaubt. Nun erst hatte sie die ganze Tragweite +der Überlegungen des armen unglücklichen +jungen Mannes verstanden: sie war seine Frau gewesen, +bevor er das Unglück gehabt hatte, ihren Bruder im +Kampf zu treffen.</p> + +<p>Diesmal wurde Giulio nicht mit den höflichen Wendungen +empfangen, die ihm bei der ersten Zusammenkunft +so grausam erschienen waren. Helena erschien +allerdings wieder nur hinter ihrem vergitterten Fenster, +aber sie zitterte, und da der Ton Giulios sehr kühl +war und seine Redewendungen fast als ob er mit einer +Fremden spräche, war es jetzt an Helena, zu fühlen, +wie grausam solch förmlicher Ton, nach der früheren +süßen Vertrautheit wirkte. Giulio, der fürchtete, daß +seine Seele wieder durch ein kaltherziges Wort Helenas +zerrissen werden könnte, hatte den Ton eines Advokaten +angenommen, um ihr zu beweisen, daß sie lange vor +dem verhängnisvollen Kampf von Ciampi seine Frau +gewesen sei. Helena ließ ihn reden, weil sie fürchtete, +<a id="page-269"></a><span class="pgnum">269</span>von Tränen überwältigt zu werden, wenn sie ihm anders +als mit kurzen Worten antworte. Am Ende, als sie kaum +mehr an sich halten konnte, bat sie ihren Freund, am +nächsten Tag wiederzukommen. Es war am Vorabend +eines hohen Festes, die Morgenandacht wurde sehr früh +gesungen und ihre Zusammenkunft konnte leicht entdeckt +werden. Giulio, der wie ein Verliebter dachte, +verließ den Garten in tiefstem Nachsinnen: er vermochte +nicht zu unterscheiden, ob er gut oder schlecht +aufgenommen worden sei, und weil durch den Umgang +mit seinen Kameraden ihm soldatische Sitten vertraut +geworden waren, sagte er sich:</p> + +<p>„Es wird vielleicht dazu kommen, daß ich Helena +entführen muß.“</p> + +<p>Und er überlegte die verschiedenen Möglichkeiten, +mit Gewalt in den Garten einzudringen. Da das Kloster +sehr reich und lohnend zu brandschatzen war, hatte es +eine große Anzahl Bediensteter in seinem Sold, die ehemals +meist Soldaten gewesen waren; man hatte sie in +einer Art Kaserne untergebracht, deren vergitterte +Fenster auf einen schmalen Durchlaß sahen, der von +dem äußeren Tor, das in der Mitte einer schwarzen, +mehr als achtzig Fuß hohen Mauer lag, zu dem inneren +führte, welches von der Schwester Pförtnerin bewacht +wurde. Zur Linken dieses schmalen Gangs erhob sich +die Kaserne, zur Rechten die mehr als dreißig Fuß hohe +Mauer des Gartens. Die Fassade des Klosters ward von +einer dicken, vom Alter geschwärzten Mauer gebildet, +die außer dem äußeren Tor und einem einzigen kleinen +Fenster, durch das die Soldaten hinaussehen konnten, +keine Öffnungen aufwies. Man kann sich den düstern +Eindruck dieser hohen schwarzen Mauer vorstellen, die +einzig von einer mit breiten Eisenbändern und ungeheuren +<a id="page-270"></a><span class="pgnum">270</span>Nägeln verstärkten Tür und einem kleinen +Fenster von vier Fuß Höhe und achtzehn Zoll Breite +unterbrochen war.</p> + +<p>Wir begleiten den Chronisten nicht weiter in der +langen Schilderung aller folgenden Zusammenkünfte, +die Giulio von Helena gewährt wurden. Der Ton der +beiden Liebenden war ganz so vertraut geworden wie +damals im Garten zu Albano, nur hatte Helena niemals +einwilligen gewollt, in den Garten hinabzusteigen. Eines +Nachts fand sie Giulio sehr nachdenklich: ihre Mutter +war aus Rom gekommen, um sie zu sehen und wollte +einige Tage im Kloster bleiben. Diese Mutter war so +zärtlich und hatte stets so zartfühlende Rücksicht auf +die Neigung, die sie bei ihrer Tochter vermutete, genommen, +daß es dieser schwere Gewissenspein bereitete, +sie täuschen zu müssen. Könnte sie es aber wagen, ihr +zu gestehen, daß sie den Mann empfing, der sie ihres +Sohnes beraubt hatte? Helena bekannte schließlich +Giulio offen ein, daß sie nicht die Kraft haben würde, +dieser Mutter, die so gut war, mit Lügen zu antworten, +wenn sie nach der Wahrheit gefragt würde. Giulio +fühlte ganz die Gefahr seiner Lage, sein Schicksal hing +vom Zufall ab, welcher der Signora di Campireali nur +ein Wort einzugeben brauchte. In der folgenden Nacht +sagte er deshalb mit entschlossener Miene: „Morgen +werde ich früher kommen, ich werde eine der Stangen +dieses Gitters ausbrechen, du wirst in den Garten +heraussteigen, und ich führe dich in eine Kirche der +Stadt, wo ein mir ergebener Priester uns trauen wird. +Noch bevor es Tag ist, bist du wieder im Garten. Wenn +du erst meine Frau bist, habe ich keine Furcht mehr +und werde allem zustimmen, was deine Mutter als Sühne +für das schreckliche Unglück verlangen kann, das wir +<a id="page-271"></a><span class="pgnum">271</span>alle beklagen, — wäre es selbst, einige Monate vergehen +zu lassen, ohne dich zu sehen.“</p> + +<p>Da Helena von diesem Vorschlage bestürzt zu sein +schien, fügte Giulio hinzu:</p> + +<p>„Der Fürst ruft mich zu sich zurück; die Ehre und +alle möglichen Gründe verpflichten mich, zu folgen. +Mein Vorschlag ist das einzige, was unsre Zukunft +sichern kann. Wenn Du mir nicht zustimmst, trennen +wir uns für immer, hier, in diesem Augenblick. Ich +werde mit Reue wegen meiner Torheit abreisen. Ich +habe an Dein Ehrenwort geglaubt, Du bist dem heiligsten +Schwur untreu, und ich hoffe, daß die gerechte +Verachtung, die mir Deine Leichtfertigkeit einflößen +wird, mit der Zeit mich von dieser Liebe heilt, die schon +zu lange das Unglück meines Lebens <a class="sic" id="sicA-27" href="#sic-27">ist.</a></p> + +<p>Helena brach in Tränen aus.</p> + +<p>„Großer Gott!“ rief sie weinend, „wie entsetzlich für +meine Mutter!“</p> + +<p>Schließlich willigte sie in den Vorschlag.</p> + +<p>„Aber“, fügte sie noch hinzu, „man kann uns beim +Fortgehen oder beim Wiederkommen entdecken; bedenkt +den Skandal, denkt an die schreckliche Lage, in +der sich meine Mutter befinden würde; warten wir ihre +Abreise ab, die in einigen Tagen stattfinden wird.“</p> + +<p>„Es ist Euch gelungen, mich an dem zweifeln zu +lassen, was für mich das Höchste und Heiligste war: +mein Vertrauen in Euer Wort. Morgen Abend werden +wir verheiratet sein, oder wir sehen uns in diesem +Augenblick, auf dieser Seite des Grabes zum letztenmal.“</p> + +<p>Die arme Helena konnte nur mit Tränen antworten, +besonders schmerzte sie der grausam entschiedene Ton, +den Giulio anschlug. Hatte sie denn wirklich seine Verachtung +<a id="page-272"></a><span class="pgnum">272</span>verdient? Das war also der einst so fügsame +und zärtliche Geliebte! Endlich stimmte sie seinen Anordnungen +zu. Giulio entfernte sich. Von diesem Augenblick +an erwartete Helena die kommende Nacht in allen +Zuständen der verzweifeltsten Angst. Wenn sie sich auf +ihren Tod hätte vorbereiten müssen, wäre ihr Schmerz +weniger qualvoll gewesen, sie hätte Mut in dem Gedanken +an die Liebe Giulios und an die zärtliche +Neigung ihrer Mutter gefunden. Der Rest der Nacht verging +in grausamster Unschlüssigkeit. Es gab Augenblicke, +wo sie ihrer Mutter alles gestehen wollte. Am +nächsten Morgen war sie derart bleich, als sie vor ihr +erschien, daß diese, all ihre weisen Vorsätze vergessend, +sich in die Arme ihrer Tochter warf und ausrief:</p> + +<p>„Was geht vor? Großer Gott! Sage mir, was du getan +hast oder auf dem Sprung stehst, zu tun? Wenn du +einen Dolch nähmest und mir ins Herz stießest, würdest +du mich weniger leiden lassen, als durch das grausame +Schweigen, das du gegen mich beobachtest.“</p> + +<p>Die grenzenlose Zärtlichkeit ihrer Mutter ward Helena +so deutlich, sie sah so klar, daß diese den Ausdruck ihrer +Gefühle zu dämpfen suchte, statt ihn zu übertreiben, +daß endlich die Rührung sie überwältigte; sie fiel ihr +zu Füßen. Als ihre Mutter, um das Geheimnis zu ergründen, +ausrief, daß Helena ihre Nähe fliehe, antwortete +sie: daß sie morgen und alle folgenden Tage +ihr Leben bei ihr verbringen würde, aber sie flehentlich +bitte, nicht weiter zu fragen.</p> + +<p>Dieser verräterischen Äußerung folgte bald ein volles +Geständnis. Signora von Campireali hatte es mit Abscheu +erfüllt, den Mörder ihres Sohnes so nah zu wissen. +Aber diesem Schmerz folgte ein Strom reinster und lebhaftester +Freude. Wer könnte sich ihr Entzücken vorstellen, +<a id="page-273"></a><span class="pgnum">273</span>als sie erfuhr, daß ihre Tochter sich nie gegen +ihre Pflicht vergangen hatte?</p> + +<p>Sofort änderten sich die Pläne dieser klugen Mutter +ganz und gar; es schien ihr erlaubt, gegen einen +Menschen, der ihr nichts war, zur List zu greifen. Helenas +Herz war von den heftigsten Leidenschaften zerrissen: +die Aufrichtigkeit ihrer Geständnisse war vollständig; +diese gemarterte Seele hatte das Bedürfnis, sich +auszuschütten. Signora Campireali, welche jetzt alles +für erlaubt hielt, erfand eine Reihe von Vernunftgründen, +die zu weit führen würden, wollten wir sie +hier wiedergeben. Sie bewies ihrer unglücklichen +Tochter ohne Mühe, daß sie statt einer heimlichen +Ehe, die immer ein Makel für eine Frau sei, eine öffentliche +Trauung in allen Ehren erlangen könne, wenn sie +den Akt des Gehorsams, den sie einem so edelmütigen +Geliebten schulde, nur um acht Tage hinausschöbe. Sie, +die Signora Campireali, würde nach Rom reisen, sie +würde ihrem Mann darlegen, daß Helena lange vor dem +verhängnisvollen Gefecht von Ciampi mit Giulio verheiratet +gewesen sei. Die Trauung sollte in der gleichen +Nacht stattgefunden haben, wo sie, als Mönche verkleidet, +ihrem Vater und Bruder am Ufer des Sees, auf +dem in den Felsen gehauenen Weg begegnet waren, der +längs der Mauer des Kapuzinerklosters führt. Die Mutter +hütete sich, ihre Tochter während des Tags allein zu +lassen, und schließlich schrieb Helena abends ihrem Geliebten +einen kindlichen und wie uns scheint sehr +rührenden Brief, in welchem sie ihm die Kämpfe, die +ihr Herz zerrissen hatten, schilderte. Zum Schluß bat +sie ihn kniefällig um einen Aufschub von acht Tagen: +„Indem ich diesen Brief schreibe,“ fügte sie hinzu, „auf +den ein Bote meiner Mutter wartet, scheint mir, daß ich +<a id="page-274"></a><span class="pgnum">274</span>das größte Unrecht begangen habe, ihr alles zu sagen. +Ich glaube, dich erzürnt zu sehen; deine Augen blicken +mich mit Haß an; mein Herz ist von den grausamsten +Selbstvorwürfen zerrissen. Du wirst sagen, daß ich einen +sehr schwachen, sehr verzagten, sehr verächtlichen Charakter +habe, ich gebe es zu, mein teurer Engel. Aber +stelle dir dies Schauspiel vor: Meine Mutter, in Tränen +aufgelöst, lag fast zu meinen Knien. Da war es mir ganz +unmöglich, ihr nicht zu gestehen, daß ein bestimmter +Grund mir verbiete, ihrer Bitte nachzugeben; und wie +ich erst einmal so schwach gewesen war, dieses unvorsichtige +Wort auszusprechen, weiß ich nicht, was in +mir vorging, aber es ist mir unmöglich vorgekommen, +ihr nicht alles zu erzählen, was zwischen uns geschehen +ist. Soweit ich mich erinnern kann, scheint mir, daß +meine Seele, aller Kraft entblößt, Rat brauchte. Ich +hoffte, ihn in den Worten meiner Mutter zu finden… +Ich hatte völlig vergessen, mein Freund, daß das +Interesse dieser geliebten Mutter dem deinen entgegengesetzt +ist. Ich habe meine oberste Pflicht vergessen, +welche ist, dir zu gehorchen; und scheinbar bin ich +der wahren Liebe nicht fähig, welche über jede Prüfung +erhaben sein soll. Verachte mich, mein Giulio, +aber im Namen Gottes, höre nicht auf, mich zu +lieben. Entführe mich, wenn du willst, aber billige +mir zu, daß die schrecklichsten Gefahren, sogar die +Schande, daß nichts auf der Welt mich hätte verhindern +können, deinem Befehl zu gehorchen, wenn +meine Mutter nicht im Kloster gewesen wäre. Doch diese +Mutter ist so gut! Sie hat so viel Überredungsgabe! Sie +ist so edelmütig! Erinnere dich, als damals mein Vater +das Zimmer durchforschte, rettete sie die Briefe, welche +ich niemals hätte verbergen können. Dann, als die Gefahr +<a id="page-275"></a><span class="pgnum">275</span>vorüber war, gab sie mir sie zurück, ohne sie gelesen +zu haben und ohne ein Wort des Vorwurfs! Sie +ist mein ganzes Leben hindurch so zu mir gewesen, wie +sie es in diesem höchsten Augenblick war. Du siehst, +wie ich sie lieben müßte. Und doch scheint es mir, während +ich dir schreibe (wie furchtbar zu sagen), daß +ich sie hasse. Sie hat erklärt, daß sie diese Nacht der +Hitze wegen im Garten unter einem Zelt verbringen +wolle; ich höre die Hammerschläge, man errichtet jetzt +das Zelt; es ist unmöglich, daß wir uns heute Nacht +sehen. Ich fürchte sogar, daß der Schlafsaal der Pensionärinnen +verschlossen wurde, ebenso die beiden Türen +der Wendeltreppe, was sonst nie geschah. Diese Vorsichtsmaßregeln +würden es mir unmöglich machen, in +den Garten hinunterzugehen, wenn ich selbst einen +solchen Schritt nötig fände, um deinen Zorn zu beschwören. +Ach, wie ich mich dir jetzt ausliefern würde, +wenn sich mir ein Mittel böte! Wie ich zu dieser Kirche +eilen würde, wo man uns trauen soll!“</p> + +<p>Dieser Brief schloß mit zwei Seiten toller Sätze, in +welchen ich leidenschaftliche Redewendungen fand, die +auf die Ideen Platons zurückzugehen scheinen. Ich +habe in dem eben übersetzten Brief mehrere Sätze dieser +Art unterdrückt.</p> + +<p>Giulio Branciforte war sehr erstaunt, als er abends +etwa eine Stunde vor dem Ave Maria dieses Schreiben +erhielt; er hatte grade die Abmachung mit dem Priester +beendet. Er war außer sich vor Zorn.</p> + +<p>‚Sie hat nicht notwendig, mir zu raten, daß ich +sie entführe. Dieses schwache, zaghafte Geschöpf!‘</p> + +<p>Und er brach sogleich nach dem Walde von La +Faggiola auf.</p> + +<p>Für Signora Campireali stand die Sache folgendermaßen: +<a id="page-276"></a><span class="pgnum">276</span>Ihr Gatte lag auf dem Sterbebett; die Unmöglichkeit, +sich an Branciforte zu rächen, brachte ihn +langsam zum Grabe. Vergebens hatte er mehrmals den +römischen Bravi beträchtliche Summen anbieten lassen; +keiner hatte sich an einem der „Korporale“, wie sie +sagten, des Fürsten Colonna vergreifen wollen; sie +waren zu gewiß, samt ihren Familien ausgetilgt zu +werden. Es war noch kein Jahr her, daß ein ganzes +Dorf zur Strafe für den Tod eines Soldaten des Colonna +niedergebrannt wurde, und alle Einwohner, Männer und +Frauen, welche in die Campagna zu fliehen suchten, +wurden an Händen und Füßen gefesselt in die brennenden +Häuser geworfen.</p> + +<p>Signora Campireali besaß große Güter im Königreich +Neapel; ihr Gatte hatte ihr aufgetragen, von dort +Mörder kommen zu lassen; aber sie hatte nur zum +Schein zugestimmt, denn sie glaubte ihre Tochter unlöslich +an Giulio Branciforte gebunden. In dieser Voraussetzung +meinte sie, daß Giulio einen oder zwei Feldzüge +in den spanischen Heeren mitmachen solle, welche +damals Krieg gegen die Aufständischen in Flandern +führten. Fiele er nicht, so sollte dies ein Zeichen sein, +daß Gott eine Heirat nicht mißbillige, die sich nicht vermeiden +ließ; in diesem Fall würde sie ihrer Tochter die +Güter geben, welche sie im Königreich Neapel besaß, +Giulio Branciforte würde den Namen einer dieser Besitzungen +annehmen und einige Jahre mit seiner Frau +in Spanien verbringen. Nach allen diesen Prüfungen +würde sie vielleicht den Mut finden, ihn zu sehen. Doch +alles war seit dem Geständnis ihrer Tochter anders geworden; +die Heirat war keine Notwendigkeit mehr — weit +entfernt davon — und während Helena ihrem Geliebten +den Brief schrieb, den wir wiedergegeben haben, +<a id="page-277"></a><span class="pgnum">277</span>schrieb Signora Campireali nach Pescara und nach +Chieti und gab ihren Pächtern den Auftrag, ihr sichere +Männer nach Castro zu senden, die zu einem Handstreich +zu gebrauchen wären. Sie verhehlte ihnen nicht, daß +es sich darum handelte, den Tod Fabios, ihres jungen +Herrn, zu rächen. Der Kurier machte sich mit diesen +Briefen noch vor Ende des Tags auf den Weg.</p> + +<h3>V.</h3> + +<p>Schon am übernächsten Tage war Giulio wieder in +Castro, er führte acht seiner Soldaten mit sich, welche +ihm freiwillig gefolgt waren, wenn sie sich gleich dem +Zorn des Fürsten aussetzten, der einige Male Unternehmungen +dieser Art mit dem Tode bestraft hatte. Giulio +hatte schon fünf Mann in Castro und acht brachte er +hinzu; indessen schienen ihm vierzehn Soldaten, wie +tapfer sie auch sein mochten, nicht ausreichend für sein +Unternehmen; denn das Kloster glich einer Festung.</p> + +<p>Es handelte sich darum, durch das erste Tor des +Klosters mit Gewalt oder List zu dringen und dann +durch einen Gang von mehr als fünfzig Schritten Länge +zu kommen. Linker Hand sollten die vergitterten Fenster +einer Art Kaserne liegen, wo die Nonnen dreißig bis +vierzig Diener, ehemalige Soldaten, untergebracht +hatten. Aus diesen vergitterten Fenstern würde, sobald +erst das Kloster alarmiert war, ein ausgiebiges Feuer +abgegeben werden.</p> + +<p>Die regierende Äbtissin, eine Frau von starkem Verstande, +hatte Angst vor den Unternehmungen der Orsini, +Colonna, Marco Sciarra und so vieler andrer, +welche die umliegende Gegend beherrschten. Wie war +es möglich, achthundert entschlossenen Männern Widerstand +<a id="page-278"></a><span class="pgnum">278</span>zu leisten, wenn sie unversehens eine kleine Stadt +wie Castro einnahmen, weil sie das Kloster mit Gold +gefüllt glaubten?</p> + +<p>Gewöhnlich waren im Kloster der Heimsuchung von +Castro fünfzehn oder zwanzig Bravi in der Kaserne zur +Linken des Ganges, der zur zweiten Klosterpforte +führte; zur Rechten dieses Durchlasses lag eine hohe, +uneinnehmbare Mauer; an seinem Ende befand sich ein +eisernes Tor, das auf eine Säulenhalle führte; nach +dieser kam der große Klosterhof, rechts der Garten. +Diese eiserne Türe war von der Pförtnerin bewacht.</p> + +<p>Als Giulio mit seinen acht Mann sich drei Meilen vor +Castro befand, machte er in einem abgelegenen Wirtshaus +Halt, um die Stunden der großen Hitze verstreichen +zu lassen. Dort erst legte er sein Vorhaben dar; dabei +zeichnete er den Plan des Klosters, das er angreifen +wollte, in den Sand des Hofs.</p> + +<p>„Um neun Uhr“, sagte er seinen Leuten, „werden wir +außerhalb der Stadt zu Abend essen; um Mitternacht +werden wir eintreten. Eure fünf Kameraden erwarten +uns in der Nähe des Klosters. Einer von ihnen wird zu +Pferde sein und die Rolle eines Kuriers spielen, der aus +Rom kommt, um Signora von Campireali zu ihrem Gemahl +zu rufen, der im Sterben liegt. Wir werden versuchen, +geräuschlos durch die erste Türe des Klosters +zu kommen,“ sagte er, indem er auf den Plan im Sand +deutete, „die hier in der Mitte der Kaserne liegt. Wenn +wir den Kampf gleich beim ersten Tor beginnen, haben +es die Bravi der Nonnen zu leicht, uns Flintenschüsse +nachzusenden, während wir auf diesem kleinen Platz da +vor dem Kloster sind oder durch den engen Gang +zwischen dem ersten und zweiten Tor laufen. Dieses +zweite Tor ist von Eisen, aber ich besitze den Schlüssel +<a id="page-279"></a><span class="pgnum">279</span>dazu. Allerdings sind große, mit einem Ende an der +Mauer befestigte Eisenbalken oder Sperrstangen da, +welche, wenn sie vorgelegt sind, das Öffnen der Torflügel +verhindern. Aber da die beiden Eisenstangen zu +schwer sind, als daß die Schwester Pförtnerin sie handhaben +könnte, habe ich sie nie an ihrem Platz gesehen +und bin doch mehr als zehnmal durch das Eisentor +gegangen. Ich rechne darauf, auch heute Abend ohne +Hindernis hindurchzukommen. Ihr merkt wohl, daß ich +Bekanntschaften im Kloster habe. Mein Ziel ist: eine Pensionärin +zu entführen, und nicht eine Nonne; wir dürfen +erst im äußersten Notfall von den Waffen Gebrauch +machen. Wenn wir den Kampf eröffnen, bevor wir an +dieser zweiten Tür mit den Eisen angekommen sind, +wird die Pförtnerin nicht verfehlen, zwei alte siebzigjährige +Gärtner, die im Kloster wohnen, herbeizurufen, +und diese Alten würden die Stangen vorlegen. Wenn uns +dieser Unglücksfall zustößt, müssen wir erst die Mauer +demolieren, um durch die Tür zu kommen, was uns +zehn Minuten kosten würde; auf jeden Fall werde ich +als erster zur Tür eilen. Einer der Gärtner ist von mir +gekauft, aber, wie Ihr Euch denken könnt, habe ich +mich gehütet, ihm etwas von meinem Entführungsplan +zu erzählen. Wenn man diese zweite Tür hinter sich +hat, wendet man sich nach rechts in den Garten, und +sind wir erst in diesem Garten, so sprechen die Waffen; +man muß alles niedermachen, was sich in den Weg stellt. +Ihr werdet natürlicherweise nur Eure Schwerter und +Dolche brauchen; ein einziger Flintenschuß würde die +ganze Stadt in Aufruhr bringen und man würde uns +beim Abzug angreifen. Glaubt nicht, daß ich mich mit +dreizehn Mann, wie Ihr seid, nicht stark genug fühle, +durch dieses Nest zu kommen: sicher würde niemand +<a id="page-280"></a><span class="pgnum">280</span>wagen, auf die Straße hinabzusteigen; aber mehrere +Bürger haben Flinten und sie würden aus den Fenstern +schießen. Nebenbei gesagt muß man sich in diesem Fall +längs der Häuser halten. Einmal im Garten, sagt Ihr mit +leiser Stimme zu jedem, der sich zeigt: Zieh dich +zurück! und wenn er nicht augenblicklich gehorcht, tötet +Ihr ihn mit dem Dolch. Ich dringe dann mit denen +von Euch, die gerade um mich sind, durch die kleine +Gartentür ins Kloster ein, und drei Minuten später kehre +ich mit einer oder zwei Frauen zurück, die wir auf +unsren Armen tragen und nicht selbst gehen lassen +werden. Sofort verlassen wir eilig das Kloster und die +Stadt. Zwei von Euch werde ich in der Nähe des Tors +zurücklassen, sie werden von Minute zu Minute etwa +zwanzig Schüsse abgeben, um die Bürger zu schrecken +und in Entfernung zu halten.“</p> + +<p>Giulio wiederholte diese Erklärung zweimal.</p> + +<p>„Habt Ihr gut verstanden?“ sagte er seinen Leuten. +„In der Vorhalle wird es dunkel sein; rechts ist der +Garten, links der Hof, man darf sich nicht irren.“</p> + +<p>„Zählt auf uns!“ riefen die Soldaten. Dann gingen sie +trinken; der Korporal folgte ihnen nicht und bat um +die Erlaubnis, mit dem Kapitän sprechen zu dürfen.</p> + +<p>„Nichts ist einfacher“, sagte er, „als der Plan Eurer +Gnaden. Ich bin schon zweimal in meinem Leben in +Klöster eingebrochen; dies wäre das dritte; aber wir +sind zu wenig. Wenn der Gegner uns nötigt, die Mauer +zu zerstören, welche die Angel der zweiten Tür hält, +muß man bedenken, daß die Bravi während dieser +langen Arbeit nicht müßig bleiben; sie werden Euch +sieben oder acht Mann erschießen und dann kann man +uns am Rückweg die Frau wieder abnehmen. Das ist +uns in einem Kloster in der Nähe Bolognas passiert: +<a id="page-281"></a><span class="pgnum">281</span>uns wurden fünf Mann getötet, wir töteten acht, aber +der Hauptmann bekam nicht die Frau. Ich schlage Euer +Gnaden zweierlei vor: ich kenne vier Bauern aus der +Umgebung dieser Herberge, die Sciarra tapfer gedient +haben und sich für eine Zechine die ganze Nacht lang +wie Löwen schlagen würden. Vielleicht werden sie etwas +Silber aus dem Kloster rauben; das kümmert Euch +wenig, denn die Sünde ist ihre Sache und Ihr bezahlt +sie, um eine Frau zu holen, das ist alles. Mein zweiter +Vorschlag ist folgender: Ugone ist ein gescheiter und +sehr geschickter Bursche; er war Arzt, als er seinen +Schwager tötete und ging in die Macchia. Ihr könnt +ihn eine Stunde vor Sonnenuntergang zum Klostertor +schicken, er wird um Dienst bitten und wird es so +geschickt einrichten, daß man ihn in die Wache einreiht; +dann wird er die Knechte der Nonnen betrunken +machen, und er ist sogar fähig, die Lunten +ihrer Flinten zu durchnässen.“ Zu seinem Unglück nahm +Giulio den Vorschlag des Korporals an. Als dieser sich +entfernte, fügte er noch hinzu:</p> + +<p>„Wir wollen ein Kloster angreifen. Das ist excommunicatio +major und noch mehr: dieses Kloster steht unmittelbar +unter dem Schutz der Madonna…“</p> + +<p>„Ich verstehe!“ rief Giulio, aufgerüttelt durch dieses +Wort. „Bleibt bei mir.“</p> + +<p>Der Korporal schloß die Tür und kam zurück, um +den Rosenkranz mit Giulio zu beten. Diese Andacht +dauerte eine volle Stunde. Als es Nacht war, brach man +auf.</p> + +<p>Wie es Mitternacht schlug, kehrte Giulio, der gegen +elf Uhr allein nach Castro gegangen war, zurück, um +seine Leute zu holen, die außerhalb des Tores gewartet +hatten. +</p> + +<p><a id="page-282"></a><span class="pgnum">282</span>Er trat mit seinen acht Mann, denen sich drei gut +bewaffnete Bauern angeschlossen hatten, in die Stadt +ein und vereinigte sich mit den fünf Soldaten, welche +er schon in der Stadt hatte; so befand er sich an der +Spitze von sechzehn entschlossenen Männern; zwei +trugen als Diener verkleidet weite Blusen aus schwarzem +Leinen, um ihr giacco zu verdecken und ihre Mützen +waren nicht mit Federn geschmückt.</p> + +<p>Eine halbe Stunde nach Mitternacht kam Giulio, der +die Rolle des Kuriers für sich übernommen hatte, im +Galopp vor dem Klostertor an; er machte mächtigen +Lärm und schrie, daß man unverzüglich einem Kurier +öffnen möge, den der Kardinal schicke. Mit Wohlgefallen +bemerkte er, daß die Soldaten, die ihm durch +das kleine Fenster neben dem Tor antworteten, halb betrunken +waren. Der Vorschrift folgend, schrieb er +seinen Namen auf ein Stück Papier, ein Soldat überbrachte +den Namen der Pförtnerin, die den Schlüssel +zur zweiten Tür besaß und die Äbtissin in besondren +Fällen zu wecken hatte. Die Antwort ließ endlose dreiviertel +Stunden auf sich warten. Während dieser Zeit +hatte Giulio viel Mühe, seinen Trupp ruhig zu halten; +einige Bürger öffneten schon vorsichtig ihre Fenster; +endlich traf eine günstige Antwort von der Äbtissin ein; +Giulio wurde, gefolgt von zwei als Diener verkleideten +Soldaten, mit Hilfe einer fünf oder sechs Fuß langen +Leiter, die man ihm aus dem kleinen Fenster reichte, +in die Wachstube eingelassen; die Bravi des Klosters +wollten sich nicht die Mühe machen, das große Tor +zu öffnen. Als er vom Fenster ins Wachzimmer sprang, +begegneten seine Augen dem Blick Ugones; die ganze +Wache war, dank seiner Vorsorge, betrunken. Giulio +sagte dem Kommandanten, daß drei Diener der Campireali, +<a id="page-283"></a><span class="pgnum">283</span>die er als Soldaten habe ausrüsten lassen, um +ihn am Marsch zu schützen, sehr guten Branntwein +gekauft hätten und um Einlaß bäten, damit sie sich +nicht allein auf dem Platze langweilen müßten. Dem +wurde einmütig zugestimmt. Er selbst stieg mit seinen +zwei Leuten die Treppe hinunter, welche von der Wachstube +in den Gang führte.</p> + +<p>„Trachte die große Tür zu öffnen“, sagte er zu +Ugone.</p> + +<p>Dann gelangte er unangefochten zur eisernen Tür. +Dort fand er die gute Pförtnerin, welche ihm sagte, +daß jetzt, da Mitternacht vorbei sei, wenn er ins Kloster +eingelassen würde, die Äbtissin dem Bischof darüber +Bericht erstatten müßte. Darum lasse sie ihn bitten, +seine Nachrichten der jungen Schwester zu übergeben, +welche die Äbtissin zu diesem Zweck schicke. Worauf +Giulio antwortete, wegen der Bestürzung, welche durch +die unerwartete Agonie des Signor von Campireali +hervorgerufen worden sei, hätte man ihm nur ein einfaches +vom Arzt ausgefertigtes Beglaubigungsschreiben +mitgegeben; alle Einzelheiten sollte er mündlich der +Frau und Tochter des Kranken berichten, wenn diese +Damen noch im Kloster wären und in jedem Fall auch +der Frau Äbtissin. Die Pförtnerin ging, diese Botschaft +zu überbringen. Niemand blieb an der Tür als die junge +Schwester, welche die Äbtissin gesandt hatte. Giulio +plauderte und scherzte mit ihr, dabei steckte er die +Hände durch die dicken Eisenstangen des Tors und versuchte +es, immer noch lachend, zu öffnen. Die +Schwester war sehr schüchtern, sie hatte Angst und +nahm die Scherze übel auf. Da hatte Giulio, der sah, +daß beträchtliche Zeit verstrich, die Unvorsichtigkeit, +der Schwester eine Handvoll Zechinen anzubieten, mit +<a id="page-284"></a><span class="pgnum">284</span>der Bitte, ihn einzulassen, da er zu müde sei, zu warten. +„Er wußte wohl, daß er eine Dummheit beging,“ sagt +der Erzähler, „er hätte mit Eisen und nicht mit Gold +arbeiten müssen; aber er hatte nicht das Herz dazu; +nichts leichter, als sich der Schwester zu bemächtigen, +sie war nicht weiter als einen Fuß breit von ihm, auf +der andern Seite der <a class="sic" id="sicA-28" href="#sic-28">Tür.</a> Durch das Angebot der Zechinen +wurde das junge Mädchen in Schrecken versetzt. +Sie sagte später, daß sie aus der Art wie Giulio +zu ihr gesprochen habe, wohl verstanden hätte, daß er +kein gewöhnlicher Kurier sei: ‚Das ist der Geliebte +einer unsrer Nonnen,‘ dachte sie, ‚der zu einem Stelldichein +kommt‘; und sie war fromm. Von Entsetzen +ergriffen, begann sie mit aller Kraft die Schnur einer +kleinen Glocke zu ziehen, die im großen Hof hing und +alsogleich einen Lärm machte, um Tote zu wecken. +„Der Krieg beginnt,“ sagte Giulio seinen Leuten, „gebt +acht!“</p> + +<p>Er nahm seinen Schlüssel, und den Arm zwischen den +Eisenstäben durchzwängend, öffnete er die Tür zur +größten Verzweiflung der jungen Nonne, die sich über +den Kirchenfrevel entsetzt schreiend auf die Knie warf +und Ave Maria zu beten begann. Noch in diesem Augenblick +hätte Giulio das junge Mädchen zum Schweigen +bringen müssen, aber er hatte nicht das Herz dazu; einer +seiner Leute ergriff sie und schloß ihr den Mund.</p> + +<p>Im selben Augenblick hörte Giulio im Gang hinter +sich einen Flintenschuß. Ugone hatte das große Tor +geöffnet, die übrigen Soldaten traten ohne Lärm ein, +als einer der weniger betrunkenen Bravi der Wache sich +einem der vergitterten Fenster näherte und in seinem +Erstaunen so viele Leute im Gang zu sehen ihnen +fluchend verbot, weiterzugehen. Man hätte nicht antworten +<a id="page-285"></a><span class="pgnum">285</span>und ruhig weiter gegen die eiserne Tür vorgehen +sollen, so machten es auch die ersten, aber der letzte +der Reihe, einer der am Nachmittag erst angeworbenen +Bauern, feuerte einen Pistolenschuß nach dem Klosterknecht, +der durchs Fenster rief, und tötete ihn. Dieser +Pistolenschuß mitten in der Nacht und das Schreien der +Betrunkenen, als sie ihren Kameraden fallen sahen, +weckten jene Soldaten, welche diese Nacht in ihren +Betten lagen und nicht von Ugones Wein gekostet hatten. +Acht oder zehn Bravi des Klosters sprangen halb nackt +in den Gang und griffen die Soldaten Brancifortes +heftig an.</p> + +<p>Wie wir bereits gesagt haben, begann dieser Lärm +im Augenblick, als Giulio das eiserne Tor geöffnet +hatte. Von seinen zwei Soldaten gefolgt, stürzte er in +den Garten und lief zu der kleinen Türe, die zur Treppe +der Pensionärinnen führte. Aber er wurde von fünf +oder sechs Pistolenschüssen empfangen. Seine beiden +Soldaten fielen; er selbst bekam eine Kugel in den +rechten Arm. Diese Pistolenschüsse waren von den +Leuten der Signora von Campireali abgegeben, welche +auf ihren Befehl die Nacht im Garten zubrachten, wozu +sie die Erlaubnis beim Bischof erwirkt hatte. Giulio +lief allein zu der kleinen, ihm so wohlbekannten Tür, +welche vom Garten zur Treppe der Pensionärinnen +führte. Er tat, was er nur konnte, um sie aufzusprengen, +aber sie war fest verschlossen. Er suchte nach seinen +Leuten, doch die achteten nicht darauf, ihm zu antworten, +denn sie starben; er stieß in der tiefen Dunkelheit +auf drei Dienstleute der Signora von Campireali, +deren er sich mit Dolchstichen erwehrte.</p> + +<p>Er lief in die Vorhalle, gegen die Gittertür, um seine +Soldaten zu rufen; er fand diese Türe verschlossen: die +<a id="page-286"></a><span class="pgnum">286</span>beiden schweren Eisenarme waren auf ihrem Platz und +mit Schlössern gesichert, welche die alten Gärtner vorgelegt +hatten, als sie das Läuten der jungen Schwester +weckte.</p> + +<p>‚Ich bin abgeschnitten‘, sagte sich Giulio. Er rief +es seinen Leuten zu; vergeblich versuchte er eins dieser +Vorlegschlösser mit seinem Degen zu sprengen; wenn +ihm das geglückt wäre, hätte er eine der Eisenstangen +entfernen und einen Türflügel öffnen können. Sein +Degen zerbrach im Ring des Vorlegschlosses; im +gleichen Augenblick wurde er durch einen aus dem +Garten herbeigeeilten Diener an der Schulter verwundet; +er wandte sich um, und gegen die Eisenpforte gelehnt, +sah er sich von mehreren Männern angegriffen. Er verteidigte +sich mit seinem Dolch; zum Glück, da es völlig +dunkel war, trafen fast alle Degenstöße auf sein Panzerhemd. +Er wurde schmerzhaft am Knie verwundet, +stürzte sich auf einen der Leute, der sich zu weit vorgewagt +hatte, um ihm diesen Degenstich zu versetzen, +tötete ihn mit einem Dolchstoß ins Gesicht und hatte das +Glück, sich seines Degens zu bemächtigen. Nun glaubte +er sich gerettet; er stellte sich zur Linken der Tür, an +die Seite der Mauer. Seine Leute waren jetzt herbeigeeilt, +sie schossen fünf oder sechs Pistolenschüsse +durch das Eisengitter hindurch und trieben die Diener +in die Flucht. Man sah hier in der Vorhalle nichts, außer +beim Aufleuchten der Pistolenschüsse.</p> + +<p>„Schießt nicht auf meine Seite“, rief Giulio seinen +Leuten zu.</p> + +<p>„Ihr seid hier wie in einer Mausefalle gefangen“, +sagte ihm der Korporal mit großer Kaltblütigkeit durch +die Eisenstangen hindurch, „und wir haben drei Tote. +Wir werden die Türpfosten auf der Euch entgegengesetzten +<a id="page-287"></a><span class="pgnum">287</span>Seite einreißen. Rührt Euch nicht, denn man +wird auf uns schießen; es scheint, daß im Garten Feinde +sind.“</p> + +<p>„Die Schufte von Dienern der Campireali“, sagte +Giulio.</p> + +<p>Er sprach noch mit dem Korporal, als von der Seite +des Vestibüls, die in den Garten führte, Pistolenschüsse, +auf das Geräusch gezielt, gegen sie abgefeuert wurden. +Giulio verbarg sich in der Loge der Schließerin, zur +Linken des Eingangs; zu seiner Freude fand er dort +ein kaum wahrnehmbares Lämpchen, das vor dem Bildnis +der Madonna brannte; er nahm es mit großer Vorsicht, +um es nicht auszulöschen; er bemerkte zu seinem +Kummer, daß er zitterte. Er betrachtete seine Wunde +am Knie, die ihn sehr schmerzte; das Blut floß in +Strömen.</p> + +<p>Umhersehend, erkannte er zu seinem Erstaunen in +einer ohnmächtig auf einem Holzstuhl lehnenden Frau +die kleine Marietta, die vertraute Kämmerin Helenas; +er schüttelte sie lebhaft.</p> + +<p>„Aber! Signor Giulio,“ rief sie weinend, „wollt Ihr +Eure Freundin Marietta töten?“</p> + +<p>„Weit davon entfernt! Sag Helena, daß ich sie um +Verzeihung bitte, ihre Ruhe gestört zu haben und daß +sie des Ave Maria vom Monte Cave gedenken möge. +Hier ist ein Blumenstrauß, den ich in ihrem Garten in +Albano gepflückt habe; aber er ist ein wenig mit Blut +befleckt; wasche es ab, bevor du ihn ihr gibst.“</p> + +<p>In diesem Augenblick hörte er eine Flintensalve im +Gang; die Bravi der Nonnen griffen seine Leute an.</p> + +<p>„Sag mir, wo der Schlüssel der kleinen Tür ist?“ +fragte er Marietta.</p> + +<p>„Ich sehe ihn nicht, aber hier sind die Schlüssel zu +<a id="page-288"></a><span class="pgnum">288</span>den Vorlegschlössern der Eisenstangen, welche das große +Tor sperren. Ihr könnt hinaus.“</p> + +<p>Giulio nahm die Schlüssel und stürzte aus der Loge.</p> + +<p>„Laßt die Mauer,“ rief er seinen Soldaten zu, „ich +habe endlich den Schlüssel des Tores.“</p> + +<p>Einen Augenblick, während er versuchte, ein Schloß +mit einem der kleinen Schlüssel zu öffnen, herrschte +völliges Schweigen; er hatte sich im Schlüssel geirrt +und nahm den andern; endlich öffnete er das Schloß: +aber im Augenblick, wo er die Eisenstange hob, erhielt +er aus allernächster Nähe einen Schuß in den rechten +Arm. Sogleich spürte er, daß der Arm den Dienst versagte.</p> + +<p>„Hebt den Eisenriegel“, schrie er seinen Leuten zu. +Er hatte nicht erst nötig, es ihnen zu sagen. Im Licht +des Pistolenschusses hatten sie bemerkt, daß das äußerste +umgebogene Ende der eisernen Stange schon zur Hälfte +aus dem am Tor befestigten Ring herausgehoben war. +Sofort lüpften drei oder vier kräftige Arme die eiserne +Stange; als das äußerste Ende ganz aus dem Ring war, +ließ man sie fallen. Nun konnte man einen der Torflügel +ein wenig öffnen; der Korporal trat ein und sagte +leise zu Giulio:</p> + +<p>„Es ist nichts mehr zu machen, wir sind nur mehr +drei oder vier ohne Wunden, fünf sind tot.“</p> + +<p>„Ich habe Blut verloren,“ entgegnete Giulio, „ich +fühle, daß ich ohnmächtig werde; laßt mich fortbringen.“</p> + +<p>Während Giulio mit dem tapfren Korporal sprach, +gaben die Soldaten der Wache noch drei oder vier +Flintenschüsse ab und der Korporal fiel tot zu Boden. +Zum Glück hatte Ugone den Befehl Giulios gehört; er +rief zwei Soldaten herbei, die den Kapitän forttragen +<a id="page-289"></a><span class="pgnum">289</span>sollten. Da er aber nicht ohnmächtig wurde, befahl er, +ihn durch den Garten zu der kleinen Tür zu tragen. +Dieser Befehl brachte die Soldaten zum Fluchen, aber +sie gehorchten.</p> + +<p>„Hundert Zechinen dem, der diese Tür öffnet“, rief +Giulio aus.</p> + +<p>Aber sie widerstand dem Ansturm dreier wütender +Männer. Einer der alten Gärtner schoß unaufhörlich +von einem Fenster des zweiten Stockwerks mit der Pistole +nach ihnen und beleuchtete so ihre Versuche.</p> + +<p>Nach den unnützen Anstrengungen, die Tür zu öffnen, +wurde Giulio gänzlich bewußtlos; Ugone hieß den Soldaten, +den Kapitän eiligst fortzutragen. Er selbst ging +in die Loge der Schwester Pförtnerin und warf die kleine +Marietta hinaus, indem <a class="sic" id="sicA-29" href="#sic-29">es</a> ihr mit drohender Stimme +befahl, fortzugehen und niemals zu verraten, wer sie +wiedererkannt habe. Er zog das Stroh aus dem Bett, +zerbrach einige Stühle und steckte das Zimmer in Brand. +Als das Feuer gut brannte, lief er so schnell er konnte, +mitten durch die Flintenschüsse der Bravi des Klosters +davon.</p> + +<p>Etwa hundertfünfzig Schritt von der Heimsuchung +entfernt, fand er den ganz bewußtlosen Kapitän, den +man eiligst davontrug. Nach einigen Minuten war man +außerhalb der Stadt. Ugone ließ halten: er hatte nur +noch vier Soldaten bei sich; er schickte zwei in die Stadt +zurück mit dem Befehl, von fünf zu fünf Minuten +Flintenschüsse abzufeuern.</p> + +<p>„Versucht Eure verwundeten Kameraden wiederzufinden,“ +sagte er ihnen, „verlaßt die Stadt vor Tag, +wir folgen dem Fußweg über Croce rossa. Wenn Ihr +irgendwo Feuer anlegen könnt, verabsäumt es nicht.“</p> + +<p>Als Giulio das Bewußtsein wieder erlangte, befand +<a id="page-290"></a><span class="pgnum">290</span>man sich drei Meilen von der Stadt entfernt und die +Sonne stand schon hoch am Himmel. Ugone erstattete +Bericht.</p> + +<p>„Euer Trupp besteht nur mehr aus fünf Mann, wovon +drei verwundet sind. Den beiden überlebenden Bauern +habe ich je zwei Zechinen Entschädigung gegeben und +sie sind davongelaufen. Die beiden nicht verwundeten +Männer habe ich in den nächsten Marktflecken geschickt, +um einen Wundarzt zu holen.“</p> + +<p>Der Wundarzt, ein zittriger Alter, kam bald auf einem +prächtigen Esel angeritten; man hatte ihm drohen +müssen, sein Haus in Brand zu stecken, um ihn zum +Mitgehen zu bewegen. Es war nötig, ihn erst etwas +Branntwein trinken zu lassen, um ihn zu seiner Arbeit +instand zu setzen, so groß war seine Furcht. Endlich +machte er sich ans Werk; er sagte Giulio, daß seine +Wunden ohne Bedeutung seien. „Die am Knie ist nicht +gefährlich,“ fügte er hinzu, „aber Ihr werdet zeitlebens +hinkend bleiben, wenn Ihr Euch nicht zwei bis +drei Wochen vollkommen ruhig verhaltet.“</p> + +<p>Der Wundarzt verband die verletzten Soldaten. Ugone +gab Giulio einen Wink mit den Augen, man entlohnte +den Wundarzt, der sich vor Dank gar nicht fassen +konnte, mit zwei Zechinen; dann gab man ihm unter +dem Vorwand der Erkenntlichkeit eine solche Menge +Branntwein zu trinken, daß er fest einschlief. Das war +es, was man wollte. Man trug ihn ins nächste Feld, +man wickelte vier Zechinen in ein Stück Papier, das +man ihm in die Tasche steckte. Das war der Preis für +seinen Esel, auf welchen man Giulio und einen der am +Bein verletzten Soldaten setzte. Man verbrachte die +Stunden der größten Hitze in einer antiken Ruine am +Ufer eines Weihers; man marschierte die ganze Nacht +<a id="page-291"></a><span class="pgnum">291</span>hindurch und vermied die Dörfer, die auf diesem Weg +nicht zahlreich waren; endlich am übernächsten +Morgen bei Sonnenaufgang erwachte Giulio, als er tief +im Walde von La Faggiola von seinen Leuten in die +Köhlerhütte getragen wurde, die sein Hauptquartier war.</p> + + + + +<h3>VI.</h3> + + +<p>Am Morgen nach dem Kampf fanden die Nonnen +zu ihrem Entsetzen neun Leichen in ihrem Garten und +in dem Gang, der vom äußeren Tor zu dem mit den +Eisenriegeln führte; acht ihrer Bravi waren verwundet. +Niemals hatte es eine solche Angst im Kloster gegeben; +man hatte wohl öfters Flintenschüsse vom Platze her +gehört, aber nie solche Menge von Schüssen, noch dazu +im Garten, inmitten der Gebäude und unter den Fenstern +der Nonnen. Das hatte gut anderthalb Stunden gedauert +und während dieser Zeit herrschte die allergrößte Kopflosigkeit +im Innern des Klosters. Wäre Giulio Branciforte +nur ein wenig im Einverständnis mit einer der +Nonnen oder der Pensionärinnen gewesen, wäre es ihm +geglückt: es hätte genügt, daß man ihm eine der zahlreichen, +in den Garten führenden Türen geöffnet hätte; +aber ganz außer sich vor Entrüstung und voll Wut über +das, was er den Meineid der jungen Helena nannte, +wollte er alles durch eigne Kraft erreichen. Es ging +gegen seinen Stolz, sein Vorhaben irgend jemandem anzuvertrauen. +Indessen hätte ein einziges Wort an die +kleine Marietta den Erfolg verbürgt: sie hätte eine der +Türen, die zum Garten führten, geöffnet und — unterstützt +durch die schreckliche Begleitung der Flintenschüsse +von draußen — hätte auch ein einziger Mann +der in den Schlafsälen erschien, sich unbedingten Gehorsam +verschafft. Vom ersten Schuß an hatte Helena +<a id="page-292"></a><span class="pgnum">292</span>für das Leben ihres Geliebten gezittert und an nichts +andres gedacht, als mit ihm zu fliehen.</p> + +<p>Wie soll man ihre Verzweiflung schildern, als die +kleine Marietta ihr die entsetzliche Verwundung beschrieb, +die Giulio am Knie erhalten hatte und aus der +sie das Blut hatte in Strömen fließen sehen? Helena +verabscheute jetzt ihre Feigheit und Zaghaftigkeit: „Ich +habe die Schwäche gehabt, meiner Mutter ein Wort zu +sagen und Giulios Blut ist geflossen, er konnte bei +diesem bewundernswerten Angriff, wo sein Mut vor +nichts zurückschreckte, sein Leben lassen.“</p> + +<p>Die Bravi wurden ins Sprechzimmer zugelassen und +berichteten den lüstern zuhörenden Nonnen, daß sie nie +in ihrem Leben Zeugen einer Tapferkeit gewesen seien, +die sich mit der des jungen, als Kurier verkleideten +Mannes, der die Angriffe der Briganten leitete, vergleichen +ließe. Wenn diesen Erzählungen schon von +allen mit dem größten Interesse zugehört wurde, kann +man sich vorstellen, mit welch äußerster Leidenschaft +Helena die Bravi nach Einzelheiten über den jungen +Anführer der Briganten ausfragte. Nach den ausführlichen +Schilderungen, die sie sich von ihnen und von +den alten Gärtnern geben ließ, die ganz unparteiische +Zeugen waren, schien es ihr, daß sie ihre Mutter nicht +im geringsten mehr liebte. Es gab sogar eine erregte +Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen, die +sich am Vorabend des Kampfes so zärtlich geliebt +hatten. Signora Campireali war gereizt durch die +Blutflecken auf einem gewissen Blumenstrauß, von +dem Helena sich nicht einen Augenblick mehr trennen +wollte.</p> + +<p>„Man soll diese blutbefleckten Blumen fortwerfen.“</p> + +<p>„Ich war es, die dieses edle Blut vergossen hat und +<a id="page-293"></a><span class="pgnum">293</span>es ist geschehen, weil ich die Schwäche hatte, Euch +ein Wort zu sagen.“</p> + +<p>„Ihr liebt also noch den Mörder Eures Bruders?“</p> + +<p>„Ich liebe meinen Gatten, der zu meinem ewigen Unheil +von meinem Bruder angegriffen worden ist.“</p> + +<p>Nach dieser Bemerkung wurde während der drei Tage, +welche Signora von Campireali noch im Kloster zubrachte, +kein einziges Wort mehr zwischen Mutter und +Tochter gewechselt.</p> + +<p>Am Morgen nach ihrer Abreise gelang es Helena, +zu entkommen, indem sie die Verwirrung benützte, die +an beiden Klostertoren durch die Anwesenheit zahlreicher +Maurer herrschte, welche im Garten neue Befestigungen +aufführen sollten. Die kleine Marietta und +sie hatten sich als Arbeiter verkleidet. Aber die Bürger +hielten an den Toren der Stadt strenge Wacht und Helene +war in großer Verlegenheit, wie sie durchkommen +solle. Endlich war der kleine Krämer, der ihr schon die +Briefe Brancifortes übermittelt hatte, einverstanden, sie +als seine Tochter auszugeben und bis Albano zu begleiten. +Helena fand dort ein Versteck bei ihrer alten +Amme, der es ihre Wohltaten ermöglicht hatten, einen +kleinen Laden zu halten. Kaum angelangt, schrieb sie an +Branciforte, und die Amme fand, nicht ohne Schwierigkeit, +einen Mann, der es wagen wollte, in den Wald von +La Faggiola einzudringen, ohne das Losungswort der +Leute des Colonna zu wissen.</p> + +<p>Nach drei Tagen kam der von Helena abgesandte Bote +ganz verstört zurück; erst war es ihm unmöglich gewesen, +Branciforte zu finden und seine unaufhörlichen +Fragen nach dem jungen Hauptmann hatten ihn verdächtig +gemacht, so daß er schließlich gezwungen war, +zu flüchten. +</p> + +<p><a id="page-294"></a><span class="pgnum">294</span>‚Man kann nicht zweifeln, der arme Giulio ist tot,‘ +sagte sich Helena, ‚und ich bin es, die ihn getötet hat! +Das mußte die Folge meiner elenden Schwäche und +meiner Zaghaftigkeit werden; er hätte eine starke Frau +lieben sollen, die Tochter irgendeines Hauptmanns des +Fürsten Colonna…‘</p> + +<p>Die Amme glaubte, daß Helena sterben würde. Sie stieg +zum Kapuzinerkloster hinauf, das bei dem in die Felsen +gehauenen Weg, wo einstens mitten in der Nacht Fabio +und sein Vater den beiden Liebenden begegnet waren, +lag. Die Amme sprach lange mit ihrem Beichtvater +und unter dem Siegel der Beichte gestand sie ihm, daß +die junge Helena von Campireali sich mit Giulio Branciforte, +ihrem Gatten, vereinen wolle und daß sie geneigt +wäre, dem Kloster eine silberne Lampe im Wert von +hundert spanischen Piastern zu stiften.</p> + +<p>„Hundert Piaster!“ antwortete der Mönch gereizt. +„Und was wird aus unsrem Kloster, wenn wir den Haß +des Signor von Campireali auf uns ziehen? Es waren +nicht hundert Piaster, sondern wohl tausend, ohne die +Wachskerzen zu rechnen, die er uns gegeben hat, um +den Leichnam seines Sohnes vom Schlachtfeld von +Ciampi zurückzubringen.“</p> + +<p>Man muß zur Ehre des Klosters berichten, wie zwei +betagte Mönche, welche genau über die Lage der jungen +Helena unterrichtet waren, nach Albano hinabstiegen, +um sie durch Zureden oder mit Gewalt zu veranlassen, +in den Palast ihrer Familie zurückzukehren; sie wußten, +daß Signor von Campireali sie dafür reich belohnen +würde. Ganz Albano war von Gerede über die Flucht +Helenas und von der Erzählung der glänzenden Versprechungen +erfüllt, die ihre Mutter denen ausgesetzt +hatte, die ihr Nachrichten über den Aufenthalt der +<a id="page-295"></a><span class="pgnum">295</span>Tochter geben würden. Aber die beiden Mönche wurden +von der Verzweiflung Helenas, die Giulio Branciforte +tot glaubte, so gerührt, daß sie, weit davon entfernt, sie +zu verraten und ihrer Mutter ihren Zufluchtsort anzuzeigen, +sich sogar bereit erklärten, sie bis zur Festung +La Petrella zu geleiten. Helena und Marietta begaben +sich nachts, wieder als Arbeiter verkleidet, zu Fuß an +eine bestimmte Quelle im Wald von La Faggiola, eine +Stunde von Albano entfernt. Die Mönche hatten dorthin +Maultiere bringen lassen, und als der Tag anbrach, machte +man sich auf den Weg. Die Mönche, welche unter dem +Schutz des Fürsten standen, wurden von den Soldaten, +denen sie im Wald begegneten, mit Respekt gegrüßt, aber +nicht so die beiden jungen Bürschchen, welche sie begleiteten: +die Soldaten betrachteten sie zuerst mit +strengen Blicken und kamen auf sie zu, dann brachen +sie in Gelächter aus und machten den Mönchen Komplimente +wegen der Reize ihrer Maultiertreiber.</p> + +<p>„Schweigt, Gottlose! und wißt, daß alles auf Befehl +des Fürsten Colonna geschieht“, antworteten die Mönche +im Weiterschreiten.</p> + +<p>Aber die arme Helena hatte Unglück; der Fürst war +von La Petrella abwesend, und als er ihr drei Tage +später, nach seiner Rückkehr, endlich eine Audienz gewährte, +behandelte er sie sehr hart.</p> + +<p>„Warum kommt Ihr hierher, Fräulein? Was bedeutet +dieser unvorsichtige Schritt? Euer Weibergeschwätz +hat sieben der tapfersten Männer Italiens ins Verderben +gestürzt, und das wird Euch kein verständiger Mensch +je vergeben. Auf dieser Welt muß man wollen oder nicht +wollen. Ohne Zweifel ist es neuen Klatschereien zu +danken, daß Giulio Branciforte der Kirchenschändung +angeklagt und verurteilt werden soll, zwei Stunden mit +<a id="page-296"></a><span class="pgnum">296</span>glühenden Zangen gezwickt und dann wie ein Jude verbrannt +zu werden, er, einer der besten Christen, die ich +kenne! Wie hätte man ohne Euer schändliches Geschwätz +diese schreckliche Lüge erfinden können, woher +wissen sollen, daß Giulio Branciforte am Tage des +Klosterüberfalls in Castro war? Alle meine Leute werden +Euch sagen, daß man ihn gerade an diesem Tage hier in +La Petrella gesehen hat und daß ich ihn gegen Abend +nach Velletri schickte.“</p> + +<p>„Aber er lebt?“ rief die junge Helena zum zehnten +Mal, indem sie in Tränen ausbrach. „Für Euch ist er +tot,“ versetzte der Fürst, „Ihr werdet ihn niemals wiedersehen. +Ich rate Euch, in Euer Kloster in Castro zurückzukehren +und hütet Euch, von neuem zu schwatzen; +binnen einer Stunde werdet Ihr La Petrella verlassen +haben. Vor allem erzählt niemandem, daß Ihr mich +gesehen habt, oder ich werde Euch zu strafen +wissen.“</p> + +<p>Die arme Helena war tief betrübt über einen solchen +Empfang von Seiten jenes berühmten Fürsten Colonna, +den Giulio so verehrte und den sie liebte, weil er ihn +liebte.</p> + +<p>Was auch der Fürst Colonna daran auszusetzen fand, +war dieser Schritt Helenas doch nicht unklug gewesen. +Wäre sie drei Tage früher nach La Petrella gekommen, +so hätte sie Giulio Branciforte hier gefunden; die +Wunde am Knie setzte ihn außerstand, selbst zu gehen, +und der Fürst ließ ihn nach dem großen Marktflecken +Avezzano im Königreich Neapel transportieren. Bei der +ersten Nachricht des schrecklichen durch Signor von +Campireali erkauften Haftbefehls gegen Giulio Branciforte, +der ihn als Kirchenschänder und Klosterräuber +erklärte, hatte der Fürst eingesehen, daß er auf drei +<a id="page-297"></a><span class="pgnum">297</span>Viertel seiner Leute nicht würde zählen können, wenn +es sich darum handeln sollte, Branciforte zu schützen. +Das war eine Sünde gegen die Madonna, unter deren besonderem +Schutz sich jeder der Briganten fühlte. Wenn +einer der barigelli aus Rom kühn genug gewesen wäre, +Giulio Branciforte mitten im Walde von La Faggiola +zu verhaften, hätte es ihm gelingen können.</p> + +<p>Bei seiner Ankunft in Avezzano nannte sich Giulio +Fontana, und die Leute, die ihn trugen, waren verschwiegen. +Nach La Petrella zurückgekehrt, verkündeten +sie traurig, daß Giulio auf der Reise gestorben sei, +und von diesem Augenblick an wußte jeder der Soldaten +des Fürsten, daß ein Dolchstich ins Herz dem sicher +sei, der den verhängnisvollen Namen aussprach.</p> + +<p>Es war also vergeblich, daß Helena, nach Albano +zurückgekehrt, Brief über Brief schrieb und, um Branciforte +Nachricht zukommen zu lassen, ihre ganzen Zechinen +ausgab. Die beiden alten Mönche, die ihre +Freunde geworden waren — denn, sagt der florentinische +Chronist, die wahre Schönheit ermangelt nicht, +selbst auf durch niedrigsten Egoismus und Heuchelei +verhärtete Herzen eine gewisse Herrschaft auszuüben —, +die beiden Mönche, sagten wir, teilten dem armen +jungen Mädchen mit, daß jeder Versuch, Branciforte +auch nur ein Wort zukommen zu lassen, vergeblich sei: +Colonna hatte erklärt, daß er tot wäre und sicher würde +Giulio nicht wieder in dieser Welt erscheinen, ehe der +Fürst es wollte. Die Amme Helenas kündigte ihr weinend +an, daß <a class="sic" id="sicA-30" href="#sic-30">ihr</a> Mutter endlich ihren Zufluchtsort entdeckt +habe und daß die strengsten Befehle ergangen +seien, sie, und sei es mit Gewalt, in den Palast Campireali +nach Albano zu bringen. Helena begriff, daß ihre +Gefangenschaft, wenn sie einmal in diesem Palast war, +<a id="page-298"></a><span class="pgnum">298</span>grenzenlos streng durchgeführt werden könne und daß +man ihr jeden Verkehr mit der Außenwelt untersagen +würde; dagegen genoß sie im Kloster von Castro die +gleiche Freiheit, Briefe zu empfangen und abzusenden, +wie alle Nonnen. Überdies, und das entschied ihr +Schwanken, war es der Garten dieses Klosters, wo Giulio +sein Blut für sie vergossen hatte; sie konnte den hölzernen +Sessel der Pförtnerin wiedersehen, auf den er +sich einen Augenblick gesetzt hatte, um die Wunde an +seinem Knie zu beschauen, es war dort, wo er Marietta +die blutbefleckten Blumen gegeben hatte, die sie nicht +mehr verließen. Also kehrte sie traurig in das Kloster +von Castro zurück, und man könnte ihre Geschichte +hier beenden: es wäre gut für sie und vielleicht auch +für den Leser. Denn tatsächlich werden wir dem langsamen +Sinken einer edlen und reichen Seele zuschauen. +Kluge Maßnahmen und gesellschaftliche Lügen, die sie +von nun an rings umgaben, verdrängten die aufrichtigen +Regungen lebhafter und natürlicher Leidenschaft. Der +römische Chronist schaltet hier eine Betrachtung ein, +die voll Naivetät ist: Weil sich eine Frau die Mühe gibt, +eine schöne Tochter zur Welt zu bringen, glaubt sie +das Talent zu besitzen, ihr Leben zu lenken; und weil +sie ihr im Alter von sechs Jahren mit Grund sagte: +„Mein Fräulein, richtet Euren Kragen“, glaubt sie, wenn +diese Tochter achtzehn und sie fünfzig Jahre alt ist, — und +diese Tochter ebensoviel oder mehr Geist besitzt +als die Mutter —, hingerissen von der Gewohnheit des +Herrschens noch immer das Recht zu haben, ihr Leben +zu lenken, sei es auch durch Betrug.</p> + +<p>Wir werden sehen, daß Vittoria Carafa, die Mutter +Helenas durch eine Reihe geschickter und überaus klug +kombinierter Mittel den grausamen Tod ihrer so zärtlich +<a id="page-299"></a><span class="pgnum">299</span>geliebten Tochter herbeiführte, nachdem sie durch +ihre traurige Herrschsucht zwölf Jahre hindurch ihr +Unglück gewesen war.</p> + +<p>Bevor er starb, hatte Signor von Campireali noch +die Freude, in Rom den Richtspruch bekannt geben zu +sehen, durch den Branciforte verurteilt ward, zwei +Stunden lang an den Kreuzungen der Hauptstraßen +Roms mit glühenden Zangen gezwickt und dann an +langsamem Feuer verbrannt zu werden; seine Asche +sollte man danach in den Tiber werfen. Die Fresken, +des Klosters Santa Maria Novella in Florenz zeigen noch +heute, wie man diese grausamen Urteile gegen die +Kirchenschänder vollstreckte. Gewöhnlich war dabei ein +großes Wachaufgebot nötig, um das empörte Volk +zurückzuhalten, das sich an Stelle der Henker setzen +wollte. Jeder gebärdete sich, als wäre er der vertraute +Freund der Madonna. Signor Campireali hatte sich +dieses Urteil noch wenige Minuten vor seinem Tode vorlesen +lassen und schenkte dem Advokaten, welchem er +es verdankte, seinen schönen, zwischen Albano und dem +Meer gelegenen Landsitz dafür. Dieser Advokat war +nicht ohne Verdienst, denn Branciforte war zu diesem +gräßlichen Tod verurteilt worden, obwohl sich kein +Zeuge fand, der ihn unter der Verkleidung des jungen, +mit soviel Autorität die Bewegungen der Angreifer leitenden +Kuriers erkannt haben wollte. Die unerhörte +Größe dieser Schenkung brachte alle Intriganten Roms +in Aufregung. Damals gab es bei Hof einen bekannten +Fratone, einen undurchsichtigen und zu allem fähigen +Menschen, — selbst dazu, den Papst zu zwingen, ihm den +Hut zu verleihen; er besorgte die geschäftlichen Angelegenheiten +des Fürsten Colonna und dieser gefährliche +Klient verschaffte ihm großes Ansehen. Als +<a id="page-300"></a><span class="pgnum">300</span>Signora Campireali ihre Tochter nach Castro zurückgekehrt +wußte, ließ sie diesen Fratone rufen.</p> + +<p>„Euer Ehrwürden sollen glänzend belohnt werden, +wenn Ihr einer höchst einfachen Sache, die ich Euch +erklären werde, zum guten Ausgang verhelfet. In wenigen +Tagen wird das Urteil, welches Giulio Branciforte +zu einem schrecklichen Tod verdammt, auch im Königreich +Neapel bekannt gemacht und vollstreckbar werden. +Ich ersuche Euer Ehrwürden, diesen Brief des Vize-Königs +zu lesen, der weitläufig mit mir verwandt ist +und mir diese Neuigkeit zu melden geruht. In welchem +Land kann Branciforte Zuflucht suchen? Ich werde +dem Fürsten fünfzigtausend Piaster mit der Bitte übersenden, +sie ganz oder zum Teil Giulio Branciforte unter +der Bedingung zu geben, daß er beim König von Spanien, +meinem Herrn, Dienst gegen die Rebellen von +Flandern nimmt. Der Vize-König wird Branciforte ein +Hauptmannsdiplom geben, und damit das Urteil wegen +Gotteslästerung, welches wohl bald auch in Spanien vollstreckbar +sein wird, ihn in seiner Laufbahn nicht +hindert, wird er sich Baron Lizzara nennen, nach einem +kleinen Gut, das mir in den Abruzzen gehört, dessen +Besitz ich ihm durch einen Scheinkauf verschaffen +werde. Ich glaube, daß Euer Ehrwürden noch nie eine +Mutter so den Mörder ihres Sohns behandeln gesehen +haben. Mit fünfhundert Piastern hätten wir uns längst +dieses hassenswerten Menschen entledigen können: aber +wir wollten uns nicht mit Colonna überwerfen. Habt +also die Güte, den Fürsten wissen zu lassen, daß meine +Achtung vor seinen Rechten mich sechzig- bis achtzigtausend +Piaster kostet. Ich will nie wieder von diesem +Branciforte sprechen hören — und vor allem versichert +dem Fürsten meine Ehrerbietung.“ +</p> + +<p><a id="page-301"></a><span class="pgnum">301</span>Der Fratone sagte, daß er in drei Tagen eine Wanderung +in die Gegend von Ostia machen werde, und +Signora Campireali übergab ihm einen Ring im Wert +von tausend Piastern.</p> + +<p>Einige Tage später erschien der Fratone wieder in +Rom und sagte der Signora Campireali, daß er ihren +Vorschlag dem Fürsten nicht zur Kenntnis gebracht +hätte, aber daß der junge Branciforte sich binnen eines +Monats nach Barcelona einschiffen würde, wo sie ihm +bei einem der Bankiers dieser Stadt fünfzigtausend +Piaster anweisen solle.</p> + +<p>Giulio bereitete dem Fürsten große Schwierigkeit, +denn trotz der Gefahr, die er von nun ab in Italien lief, +mochte sich der junge Verliebte nicht entschließen, +dieses Land zu verlassen. Vergebens ließ der Fürst +durchblicken, daß Signora Campireali sterben könne, +vergebens versprach er ihm, daß er in jedem Fall +nach drei Jahren sein Vaterland wiedersehen solle; +Giulio vergoß Tränen, aber er stimmte nicht zu. Der +Fürst war genötigt, diese Abreise als persönlichen Dienst +von ihm zu verlangen; Giulio konnte dem Freund seines +Vaters nichts abschlagen; aber vor allem wollte er Helenas +Wünsche wissen. Der Fürst geruhte, die Übermittlung +eines langen Briefes auf sich zu nehmen; ja +er erlaubte Giulio, ihm einmal im Monat aus Flandern +zu schreiben. Endlich schiffte sich der verzweifelte Liebhaber +nach Barcelona ein. Alle seine Briefe wurden +vom Fürsten, der nicht wollte, daß Giulio jemals nach +Italien zurückkehre, verbrannt. Wir haben vergessen, +zu sagen, daß der Fürst, obgleich seinem Wesen nichts +ferner lag als eitle Anmaßung, sich doch, um die Geldgeschichte +glücklich zu ordnen, zu der Äußerung verpflichtet +glaubte, daß er es gewesen sei, der es für angemessen +<a id="page-302"></a><span class="pgnum">302</span>hielt, dem einzigen Sohn eines der treuesten +Diener des Hauses Colonna ein kleines Vermögen von +fünfzigtausend Piastern zuzuwenden.</p> + +<p>Die arme Helena wurde im Kloster von Castro als +Fürstin behandelt. Der Tod ihres Vaters hatte sie in den +Besitz eines beträchtlichen Vermögens gesetzt und ein +unermeßliches Erbteil kam noch hinzu. Als ihr Vater +starb, ließ sie jedem Einwohner von Castro und Umgebung, +der erklärte, um Herrn von Campireali Trauer +tragen zu wollen, fünf Ellen schwarzen Tuchs schenken. +Es war noch in den ersten Tagen, als ihr von gänzlich +unbekannter Hand ein Brief Giulios zugestellt wurde. +Es wäre schwierig, die Entzückungen zu schildern, +mit denen dieser Brief geöffnet wurde; und nicht +minder die tiefe Traurigkeit, die über sie kam, nachdem +sie ihn gelesen hatte. Und doch war es ohne +Zweifel die Handschrift Giulios; sie wurde mit der +größten Aufmerksamkeit geprüft, der Brief sprach +von Liebe; aber welcher Liebe, großer Gott! Und doch +hatte ihn Signora Campireali, die so viel Geist besaß, +verfaßt. Ihr Plan war: die Korrespondenz mit +sieben oder acht Briefen voll leidenschaftlicher Liebe +einzuleiten; so wollte sie auf die späteren vorbereiten, +in denen diese Liebe nach und nach erlöschen +sollte.</p> + +<p>Wir gehen rasch über zehn Jahre eines unglücklichen +Lebens hinweg. Helena glaubte sich völlig vergessen; +trotzdem wies sie mit Hochmut die Huldigungen der +vornehmsten jungen Edelleute Roms zurück. Indessen, +als man ihr von dem jungen Ottavio Colonna sprach, +dem ältesten Sohn des berühmten Fabrizio, der sie +einstens in La Petrella so schlecht empfangen hatte, +war sie einen Augenblick unentschieden. Es erschien ihr, +<a id="page-303"></a><span class="pgnum">303</span>wenn sie nun einmal einen Gatten nehmen mußte, +um ihrem Besitz im Kirchenstaat und im Königreich +Neapel einen Beschützer zu geben, als Linderung, den +Namen eines Mannes zu tragen, den Giulio einstmals +geliebt hatte. Hätte sie dieser Heirat zugestimmt, dann +hätte Helena sehr bald die Wahrheit über Giulio Branciforte +erfahren. Der alte Fürst Fabrizio sprach oft und +mit Entzücken von der übermenschlichen Tapferkeit +des Obersten Lizzara, welcher sich gleich den Helden +des alten Roms schlage, und gleich ihnen sich durch +große Taten von der unglücklichen Liebe abzulenken +versuchte, die ihn für jedes Vergnügen unempfindlich +machte. Giulio glaubte, daß Helena längst verheiratet +sei: Signora von Campireali hatte nicht nur +ihre Tochter mit Lügen umgeben.</p> + +<p>Helena hatte sich mit dieser so geschickten Mutter +wieder halb versöhnt, deren größter Wunsch war, sie +verheiratet zu wissen; die Mutter bat ihren Freund, den +alten Kardinal Santi-Quatro, den Protektor der ‚Heimsuchung‘, +der nach Castro reiste, er möge den ältesten +Nonnen des Klosters im Vertrauen erzählen, daß seine +Reise durch einen Gnadenakt verzögert worden sei: der +gute Papst Gregor XIII. habe aus Mitleid für die Seele +eines Briganten, namens Giulio Branciforte, der es einst +versuchte, ihr Kloster zu schänden, bei der Nachricht +von dessen Tode das Urteil der Gotteslästerung aufheben +wollen, überzeugt davon, daß er unter der Last einer +solchen Verdammung niemals das Fegefeuer wieder verließe; +falls Branciforte, der in Mexiko von den Wilden +überrascht und niedergemacht worden sei, überhaupt +das Glück gehabt habe, nur ins Fegefeuer zu kommen. +Diese Neuigkeit versetzte das ganze Kloster von Castro +in Aufregung; sie gelangte auch zu Helena, die sich +<a id="page-304"></a><span class="pgnum">304</span>damals allen Torheiten der Eitelkeit hingab, welche der +Besitz eines großen Vermögens in einem aufs tiefste +gelangweilten Menschen erwecken kann. Von diesem +Augenblick an verließ sie nicht mehr ihr Zimmer. Man +muß wissen, daß sie das halbe Kloster hatte umbauen +lassen, um das kleine Zimmer der Pförtnerin, wo Giulio +in jener Nacht einen Augenblick während des Kampfes +ausgeruht hatte, bewohnen zu können. Nach unendlichen +Mühen war es ihr geglückt, die drei noch lebenden Bravi +zu entdecken, von den fünf aus Giulios Gefolge, die +damals dem Gefecht in Castro entronnen waren, und sie +hatte sie, trotz des schwer zu besänftigenden Skandals, +in ihre Dienste genommen. Unter ihnen befand sich +Ugone, jetzt alt und von Wunden bedeckt. Der Anblick +dieser drei Männer hatte viel Murren erregt, aber +schließlich war die Furcht, welche Helenas hochfahrender +Charakter dem ganzen Kloster einflößte, größer, +und man sah sie täglich in der Livree des Hauses Campireali +Helenas Befehle am äußeren Gitter entgegennehmen, +und oft weitläufig auf ihre Fragen antworten, +die immer dem gleichen Gegenstand galten.</p> + +<p>Nach den ersten sechs Monaten der Einschließung +in sich selbst und der Abkehr von allen weltlichen +Dingen, die der Nachricht von Giulios Tod gefolgt +waren, ist das erste Gefühl, welches diese durch einen +unheilbaren Schmerz und eine namenlose Langweile bereits +gebrochene Seele wieder zum Leben weckte, ein +Gefühl der Eitelkeit gewesen.</p> + +<p>Vor kurzem war die Äbtissin gestorben. Dem Brauch +gemäß, hatte der Kardinal Santi-Quatro, der trotz des +hohen Alters von zweiundneunzig Jahren noch Protektor +des Klosters zur ‚Heimsuchung‘ war, die Liste der +drei vornehmen Nonnen aufgestellt, aus welchen der +<a id="page-305"></a><span class="pgnum">305</span>Papst die Äbtissin wählen sollte. Es mußten sehr gewichtige +Gründe im Spiel sein, wenn Seine Heiligkeit +die beiden letzten Namen der Liste überhaupt las; gewöhnlich +begnügte er sich damit, einen Strich mit der +Feder durch diese Namen zu ziehen, und die Ernennung +war geschehen.</p> + +<p>Eines Tages stand Helena am Fenster des ehemaligen +Pförtnergemachs, das jetzt den äußersten Flügel des +neuen, auf ihren Befehl hergestellten Anbaus bildete. +Dieses Fenster lag höchstens zwei Fuß über dem Gang, +der ehemals mit Giulios Blut getränkt war und jetzt +einen Teil des Gartens bildete. Helena hatte die Augen +sinnend auf den Boden geheftet. Die drei Damen, welche +man seit einigen Stunden auf der Liste des Kardinals +zur Nachfolge der verstorbenen Äbtissin wußte, kamen +am Fenster Helenas vorüber. Sie bemerkte sie nicht und +konnte sie daher auch nicht grüßen. Eine der Damen +wurde dadurch gereizt und sagte laut genug zu den +andren:</p> + +<p>„Das ist eine nette Art für eine Pensionärin, ihr +Zimmer so den Augen aller zur Schau zu stellen.“</p> + +<p>Durch diese Worte aufgestört, sah Helena auf und +begegnete drei boshaften Augenpaaren.</p> + +<p>‚Nun wohl,‘ sagte sie sich, das Fenster ohne Gruß +schließend, ‚lange genug bin ich jetzt das Lamm in +diesem Kloster gewesen, man muß Wolf sein, wäre es +auch nur, um den Neugierigen in der Stadt etwas Abwechslung +zu bieten!‘</p> + +<p>Eine Stunde später brachte einer ihrer Leute +folgenden Kurierbrief ihrer Mutter, welche seit zehn +Jahren in Rom lebte und verstanden hatte, sich dort +großen Einfluß zu verschaffen. +</p> + +<p class="letterfirst"><a id="page-306"></a><span class="pgnum">306</span>„Hochverehrte Mutter!</p> + +<p>Jedes Jahr schenkst Du mir an meinem Namenstage +dreihunderttausend Francs, und ich verwende dieses +Geld, um hier Torheiten zu begehen; ehrenvolle allerdings, +aber doch Torheiten. Obwohl du es mir schon +seit langem nicht mehr zu verstehen gibst, weiß ich +doch, daß zwei Dinge imstande sind, Dir meine Dankbarkeit +für all Deine guten Absichten zu beweisen. Verheiraten +werde ich mich nicht mehr, aber ich würde mit +Vergnügen Äbtissin dieses Klosters; ich bin auf diesen +Einfall gekommen, weil die drei Damen, welche unser +Kardinal Santi-Quatro auf die Liste gesetzt hat, die er +dem Heiligen Vater vorlegt, meine Feindinnen sind; +und welche immer gewählt wird, muß ich Ärger +aller Art erwarten. Spende meine Festgabe den Personen, +die in Betracht kommen; schaffen wir erst eine Verzögerung +von sechs Monaten für die Ernennung; das +wird die Priorin des Klosters, die meine intime Freundin +ist und gegenwärtig die Zügel der Regierung in Händen +hat, vor Freude außer sich bringen. Schon dies wird +eine Quelle des Glückes für mich sein und es ist so +selten, daß ich dies Wort anwenden kann, wenn ich +von Deiner Tochter spreche. Ich finde meinen Einfall +toll, aber wenn Du irgendeine Möglichkeit des Erfolgs +siehst, werde ich binnen drei Tagen den weißen Schleier +nehmen; ich habe das Recht auf Erlaß von sechs Monaten, +da ich seit acht Jahren ununterbrochen im +Kloster wohne. Der Dispens kostet vierzig Taler und +wird nicht verweigert.</p> + +<p>Ich verbleibe respektvoll</p> + +<p class="letterlast">meine ehrwürdige Mutter usw.“</p> + +<p><a id="page-307"></a><span class="pgnum">307</span>Dieser Brief bereitete Signora von Campireali die +größte Freude. Als sie ihn empfing, hatte sie schon +lebhaft bereut, ihrer Tochter den Tod Brancifortes angekündigt +zu haben; sie wußte nicht, wie diese tiefe +Melancholie, die sie befallen hatte, enden würde; sie +sah irgendeinen Gewaltstreich voraus; sie ging so weit, +zu fürchten, ihre Tochter könnte nach Mexiko gehen, +um den Ort zu suchen, wo, wie man behauptet hatte, +Branciforte getötet worden war; in diesem Fall war es +leicht möglich, daß sie in Madrid den wahren Namen +des Oberst Lizzara erfuhr. Andrerseits war das, was +ihre Tochter durch den Kurier verlangte, die schwierigste, +und man kann wohl sagen, die absurdeste Sache +von der Welt. Ein junges Mädchen, das nicht einmal +Nonne war, und außerdem bloß durch die tolle Leidenschaft +eines Briganten bekannt war, die sie vielleicht erwidert +hatte, sollte an die Spitze eines Klosters gesetzt +werden, in dem alle römischen Fürsten Verwandte +hatten! ‚Aber‘, dachte sich Signora von Campireali, +‚man sagt, daß jeder Prozeß geführt und deshalb auch +gewonnen werden kann.‘ In ihrer Antwort machte +Vittoria Carafa ihrer Tochter etwas Hoffnung, die gewöhnlich +keine andren als absonderliche Wünsche hatte, +zum Ausgleich aber sehr leicht den Geschmack daran +verlor. Noch im Lauf des Abends unterrichtete sie sich +über alles, was in näherer oder weiterer Beziehung zum +Kloster von Castro stehen könnte und erfuhr, daß ihr +Freund, der Kardinal Santi-Quatro seit mehreren Monaten +sehr schlechter Laune sei; er wollte seine Nichte +mit Don Ottavio Colonna, dem ältesten Sohn des Fürsten +Fabrizio, von dem in dieser Geschichte so oft die Rede +war, vermählen. Der Fürst bot ihm seinen zweiten +Sohn Don Lorenzo an, denn um seine Vermögensverhältnisse +<a id="page-308"></a><span class="pgnum">308</span>wieder in Ordnung zu bringen, die durch +den Krieg äußerst zerrüttete waren, den der König +von Neapel und der Papst — endlich einig — gegen +die Briganten von La Faggiola geführt hatten, +konnte er nicht davon abstehen, daß die Frau seines +ältesten Sohnes eine Mitgift von sechshunderttausend +Piastern dem Hause Colonna mitbringen müsse. Aber +der Kardinal Santi-Quatro, wenn er selbst alle seine +andren Verwandten in der anstößigsten Weise enterbte, +vermochte höchstens ein Vermögen von dreihundertachtzigtausend +oder vierhunderttausend Talern +anzubieten.</p> + +<p>Vittoria Carafa verbrachte den Abend und einen Teil +der Nacht damit, sich diese Tatsachen von allen +Freunden des alten Santi-Quatro bestätigen zu lassen. +Am nächsten Morgen ließ sie sich schon um sieben Uhr +bei dem alten Kardinal melden. „Eminenz,“ sagte sie +ihm, „wir sind alle beide recht alt, es ist unnötig, daß +wir uns zu täuschen trachten, indem wir Dingen, die +nicht schön sind, schöne Namen geben; ich werde Euch +jetzt eine Tollheit vorschlagen: alles, was ich zu ihren +Gunsten sagen kann, ist, daß sie nicht niedrig ist; aber +ich muß selbst gestehen, daß ich sie über alle Maßen +lächerlich finde. Als man wegen der Heirat meiner +Tochter Helena mit Don Ottavio Colonna verhandelte, +habe ich Freundschaft für diesen jungen Mann gewonnen +und am Tage seiner Hochzeit werde ich Euch +zweihunderttausend Piaster in Landbesitz oder in Silber +geben, mit der Bitte, es ihm zuzuwenden. Aber damit +eine arme Witwe wie ich ein so ungeheures Opfer +bringen kann, muß meine Tochter Helena, die jetzt +siebenundzwanzig Jahre zählt und seit dem Alter von +neunzehn Jahren nicht einmal außerhalb des Klosters +<a id="page-309"></a><span class="pgnum">309</span>geschlafen hat, Äbtissin von Castro werden; man muß +zu diesem Zweck die Wahl um sechs Monate verzögern; +die Sache entspricht dem geltenden Recht.“</p> + +<p>„Was sagt Ihr, Signora?“ rief der alte Kardinal außer +sich, „Seine Heiligkeit selbst vermöchte das nicht, was +Ihr von einem alten unvermögenden Greise verlangt.“</p> + +<p>„Ich habe Eurer Eminenz ja auch gesagt, daß die +Sache lächerlich sei: die Toren werden sie toll finden, +aber Leute, welche wohl über das unterrichtet sind, was +bei Hof vor sich geht, werden denken, daß unser ausgezeichneter +Fürst, der gute Papst Gregor XIII. die +loyalen und langen Dienste Eurer Eminenz belohnen +wollte, indem er eine Ehe erleichtert, von der ganz Rom +weiß, daß Eure Eminenz sie wünscht. Im übrigen ist +die Sache leicht möglich und entspricht vollkommen +dem Recht, ich stehe dafür; meine Tochter wird schon +morgen den weißen Schleier nehmen.“</p> + +<p>„Aber die Simonie, Signora!“ rief der alte Mann mit +schrecklicher Stimme aus.</p> + +<p>Signora von Campireali schickte sich an zu gehen.</p> + +<p>„Was bedeutet das Papier, das Ihr hier laßt?“</p> + +<p>„Das ist die Liste der Güter, die ich im Werte von +zweihunderttausend Piastern anbieten würde, wenn man +bares Geld nicht wünscht; der Wechsel des Eigentümers +könnte lange Zeit geheimgehalten werden; zum Beispiel: +das Haus Colonna würde mir Prozesse machen, die ich +verlieren würde…“</p> + +<p>„Aber die Simonie, Signora, erschreckliche Simonie!“</p> + +<p>„Vorerst muß man die Wahl um sechs Monate hinausschieben, +ich werde morgen kommen, um die Anordnungen +Eurer Eminenz entgegenzunehmen.“</p> + +<p>Ich glaube, daß es notwendig ist, Lesern, die nördlich +der Alpen geboren sind, den fast offiziellen Ton +<a id="page-310"></a><span class="pgnum">310</span>mehrerer Stellen dieser Unterredung zu erklären; ich +erinnere daran, daß in streng katholischen Ländern die +meisten Unterredungen über heikle Dinge schließlich +zum Beichtstuhl gelangen, und dann ist es durchaus +nicht gleichgültig, ob man ein respektvolles Wort gebraucht +hat oder eine ironische Wendung.</p> + +<p>Im Laufe des nächsten Tages erfuhr Vittoria Carafa, +daß die Wahl, zufolge eines großen, sachlichen Irrtums, +der in der Liste der drei zur Äbtissin vorgeschlagenen +Damen entdeckt worden war, um sechs Monate +verschoben wurde: die an zweiter Stelle der Liste angeführte +Dame hatte einen Renegaten in der Familie, +einer ihrer Großonkel war in Udine zum Protestantismus +übergetreten.</p> + +<p>Signora von Campireali glaubte einen besonderen +Schritt beim Fürsten Fabrizio Colonna unternehmen zu +sollen, dessen Hause sie einen so ansehnlichen Vermögenszuwachs +angeboten hatte. Nach dreitägigen Anstrengungen +gelang es ihr, eine Unterredung in einem +Dorf nahe bei Rom zu erreichen; aber sie kehrte ganz +erschreckt von dieser Audienz zurück; sie hatte den +gewöhnlich so ruhigen Fürsten dermaßen benommen +von dem Kriegsruhm des Obersten Lizzara gefunden, +daß sie es für ganz zwecklos erachtete, ihn um +Stillschweigen über diesen Fall zu ersuchen. Der +Oberst war für ihn wie ein Sohn, ja noch mehr: +wie ein geliebter Schüler. Der Fürst las gewisse Briefe, +die aus Flandern kamen, wieder und immer wieder. Was +würde aus dem Lieblingsplan, dem Signora von Campireali +seit zehn Jahren schon so viel geopfert hatte, wenn +ihre Tochter vom Leben und vom Ruhm des Oberst +Lizarra erführe?</p> + +<p>Ich glaube, daß es besser ist, viele Umstände stillschweigend +<a id="page-311"></a><span class="pgnum">311</span>zu übergehen, welche wohl die Sitten jener +Zeit getreu spiegeln, aber trübselig zu erzählen sind. +Der Autor des römischen Manuskripts hat sich unendliche +Mühe gegeben, um den genauen Sachverhalt dieser +Einzelheiten aufzufinden, die ich unterdrücke.</p> + +<p>Zwei Jahre nach der Zusammenkunft der Signora von +Campireali mit dem Fürsten Colonna war Helena Äbtissin +von Castro, aber der alte Kardinal von Santi-Quatro +war vor Gram über diesen argen Akt von Simonie gestorben. +Zu dieser Zeit hatte Castro den schönsten Mann +des päpstlichen Hofs zum Bischof, Monsignor Francesco +Cittadini, aus Mailändischem Geschlecht. Dieser +junge Mann, der durch seinen bescheidenen Anstand +und seinen Ton voll Würde auffiel, hatte viele Dinge +mit der Äbtissin der ‚Heimsuchung‘ zu erledigen, besonders +als sie einen neuen Kreuzgang zur Verschönerung +des Klosters erbauen ließ. Dieser junge Bischof +Cittadini, der damals neunundzwanzig Jahre alt war, verliebte +sich grenzenlos in die schöne Äbtissin. In dem +Prozeß, der ein Jahr später stattfand, berichteten viele +Nonnen, daß der Bischof so oft wie möglich das Kloster +aufsuchte und ihrer Äbtissin sagte: „An andren Orten +befehle ich und wie ich zu meiner Schande gestehen +muß, es bereitet mir ein gewisses Vergnügen. Euch +gehorche ich wie ein Sklave, aber mit einem Genuß, der +weit größer ist, als wenn ich anderswo befehle. Ich +befinde mich unter dem Einfluß eines höheren Wesens; +wenn ich es auch versuchen würde, könnte ich doch +keinen andren Willen haben als den seinen und würde +lieber in alle Ewigkeit der letzte seiner Sklaven sein, +als fern von seinen Augen ein König.“</p> + +<p>Die Zeugen berichten, daß die Äbtissin ihm oft inmitten +solcher eleganter Phrasen befahl, zu schweigen +<a id="page-312"></a><span class="pgnum">312</span>und auf harte Weise, in Ausdrücken, die ihre Verachtung +zeigten.</p> + +<p>„Um die Wahrheit zu sagen,“ fährt ein andrer Zeuge +fort, <a class="sic" id="sicA-31" href="#sic-31">„</a>ihre Gnaden behandelte ihn oft wie einen Dienstboten; +in solchen Fällen schlug der arme Bischof die +Augen nieder und begann zu weinen, aber er ging nicht +fort. Er fand jeden Tag neue Vorwände, um wieder im +Kloster zu erscheinen, was die Beichtväter der Nonnen +und die Feinde der Äbtissin sehr entrüstete. Aber die +Frau Äbtissin wurde von der Priorin lebhaft verteidigt, +ihrer intimen Freundin, welche unter ihrem unmittelbaren +Befehl der inneren Leitung vorstand. „Ihr wißt, +meine Schwestern,“ sagte diese, „daß seit jener vergeblichen +Leidenschaft, die unsre Äbtissin in ihrer ersten +Jugend für einen Söldner des Glücks gehegt hat, ihr +viel bizarre Einfälle zurückgeblieben sind; aber Ihr +kennt alle diesen bemerkenswerten Zug ihres Charakters, +daß niemals jemand für sie in Betracht kommt, den +sie einmal verachtet hat. Nun hat sie vielleicht in ihrem +ganzen Leben nicht so viele beleidigende Worte geäußert, +wie in unsrer eigenen Gegenwart zu dem armen +Monsignor Cittadini: tagtäglich sehen wir ihn eine Behandlung +erdulden, die uns für seine hohe Würde erröten +läßt.“</p> + +<p>„Ja,“ antworteten die aufgebrachten Nonnen, „aber +er kommt alle Tage wieder, also wird er wohl im Grunde +nicht so schlecht behandelt werden, und in jedem Falle +schadet auch der Anschein dieses Abenteuers dem Ansehen +des Heiligen Ordens der Heimsuchung.“</p> + +<p>Der strengste Herr richtet an den ungeschicktesten +Diener nicht ein Viertel der Beschimpfungen, mit denen +die hochmütige Äbtissin den jungen Bischof samt seiner +salbungsvollen Art überhäufte; aber er war verliebt und +<a id="page-313"></a><span class="pgnum">313</span>er hatte aus seiner Heimat den unerschütterlichen +Grundsatz mitgebracht, daß man sich bei einer Unternehmung +dieser Art, — wenn sie einmal begonnen ist —, +nur um das Ziel kümmern darf.</p> + +<p>„Am Schluß des Handels“, sagte der Bischof zu +seinem Vertrauten, Cesare del Bene, „trifft die Verachtung +den Liebhaber, der sich vom Angriff vorzeitig +zurückzog, ohne durch Eingriffe höherer Gewalt dazu +gezwungen worden zu sein.“</p> + +<p>Jetzt muß sich meine traurige Aufgabe darauf beschränken, +einen notgedrungen sehr trockenen Auszug +des Prozesses zu geben, in dessen Folge Helena den Tod +fand. Die Beschreibung dieses Gerichtsverfahrens, die +ich in einer Bibliothek gelesen habe, deren Namen ich +verschweigen muß, umfaßt nicht weniger als acht Foliobände. +Das Verhör und die Beweisfassung sind in lateinischer +Sprache gehalten, die Antworten italienisch. +Ich lese darin, daß sich im Monat November 1572, +gegen elf Uhr abends, der junge Bischof allein zum +Tore der Kirche begab, wo während des Tags die Gläubigen +Einlaß finden; die Äbtissin selbst öffnete ihm +dieses Tor und erlaubte ihm, ihr zu folgen. Sie empfing +ihn in einem Zimmer, wo sie sich oft aufhielt, das durch +eine geheime Tür mit den Emporen in Verbindung +stand, welche das Kirchenschiff beherrschen.</p> + +<p>Eine Stunde mochte kaum verflossen sein, als der +Bischof sehr erstaunt wieder nach Hause geschickt +wurde; die Äbtissin selbst begleitete ihn zur Kirchentüre +zurück und sagte ihm diese verbürgten Worte: „Kehrt +in Euren Palast zurück, verlaßt mich schleunigst. Adieu +Monsignore, Ihr erregt mir Abscheu; es ist mir, als +hätte ich mich einem Lakaien hingegeben.“</p> + +<p>Indessen kam drei Monate später der Karneval. Die +<a id="page-314"></a><span class="pgnum">314</span>Bewohner von Castro waren durch die Feste, die sie in +dieser Zeit einander gaben, berühmt; die ganze Stadt +widerhallte vom Lärm der Maskenscherze. Alles ging +an einem kleinen Fenster vorüber, welches einer wohlbekannten +Stallung des Klosters einen schwachen Lichtschein +gab. Man weiß, daß schon drei Monate vor dem +Karneval diese Stallung in einen Salon verwandelt +worden war und zur Zeit der Maskeraden niemals leer +wurde. Inmitten aller Narrheiten des Volks fuhr der +Bischof in seiner Karosse vorüber; die Äbtissin gab +ihm ein Zeichen und um ein Uhr der folgenden Nacht +verfehlte er nicht, sich an der Kirchentür einzufinden. +Er trat ein; aber nach weniger als dreiviertel Stunden +wurde er im Zorn fortgeschickt. Seit dem ersten Stelldichein +im Monat November kam er so etwa alle acht +Tage ins Kloster. Man sah in seinem Gesicht einen +leichten Ausdruck von Triumph und Dummheit, der +niemandem entging und das Unglück hatte, den stolzen +Charakter der jungen Äbtissin außerordentlich zu reizen. +Besonders am Ostermontag behandelte sie ihn wie den +letzten der Menschen und sagte ihm Worte, die sich +der ärmste der Taglöhner des Klosters nicht hätte bieten +lassen. Indessen gab sie ihm einige Tage später wieder +das Zeichen, dem folgend der schöne Bischof nicht verfehlte, +sich um Mitternacht an der Kirchentür einzufinden. +Sie hatte ihn kommen lassen, um ihm mitzuteilen, +daß sie schwanger sei. Bei dieser Ankündigung, +heißt es in den Akten, erbleichte der schöne junge Mann +vor Entsetzen und wurde ganz und gar blöde vor Angst. +Die Äbtissin hatte Fieber, sie ließ den Arzt rufen und +machte ihm gegenüber kein Geheimnis aus ihrem Zustand. +Dieser Mann kannte den großmütigen Charakter +der Kranken und sicherte ihr zu, ihr aus der Verlegenheit +<a id="page-315"></a><span class="pgnum">315</span>zu helfen. Er begann damit, daß er sie mit einer +hübschen jungen Frau aus dem Volk in Verbindung +brachte, die nicht den Titel einer Hebamme besaß, aber +deren Kunst ausübte. Ihr Mann war Bäcker. Helena +war unbefriedigt von der Unterredung mit dieser Frau, +die ihr erklärte, daß sie zur Ausführung des Plans, +mit dessen Hilfe sie auf Rettung hoffte, zwei Vertraute +im Kloster benötige.</p> + +<p>„Eine Frau euresgleichen, meinethalben; aber eine +aus meinem Stande? Nein. Geht mir aus den Augen.“</p> + +<p>Die Hebamme zog sich zurück. Aber einige Stunden +darauf ließ sie Helena, die es nicht klug fand, sich dem +Geschwätz dieser Frau auszusetzen, durch den Arzt ins +Kloster zurückholen, wo sie freigebig beschenkt wurde. +Diese Frau schwur, daß sie niemals, auch wenn sie nicht +zurückgerufen worden wäre, das ihr anvertraute Geheimnis +verraten hätte, aber sie erklärte nochmals, daß +sie sich auf nichts einlassen könne, wenn sie nicht im +Kloster zwei dem Interesse der Äbtissin ergebene Mitwisserinnen +hätte. Ohne Zweifel fürchtete sie die Anklage +wegen Kindesmord.</p> + +<p>Nachdem sie viel darüber nachgedacht hatte, beschloß +die Äbtissin, das schreckliche Geheimnis +Schwester Vittoria anzuvertrauen, der Priorin des +Klosters, aus der vornehmen Familie der Herzöge von +C**, und Schwester Bernarda, der Tochter des Marchese +P**. Sie ließ sie auf ihr Brevier schwören, niemals +ein Wort von dem, was sie ihnen jetzt anvertrauen +würde, verlauten zu lassen, nicht einmal vor dem hochnotpeinlichen +Gericht. Diese Damen waren vor Schreck +verstört. Sie gestanden später beim Verhör, daß sie sich +unter dem Eindruck des hochfahrenden Charakters ihrer +Äbtissin auf das Geständnis einer Mordtat gefaßt gemacht +<a id="page-316"></a><span class="pgnum">316</span>hätten. Die Äbtissin sagte ihnen einfach und +kalt:</p> + +<p>„Ich habe mich gegen alle meine Pflichten vergangen, +ich bin schwanger.“</p> + +<p>Schwester Vittoria, die Priorin, war tief bewegt und +ganz verwirrt wegen der langjährigen Freundschaft, die +sie mit Helena verband, und nicht bloß aus Neugierde +rief sie mit Tränen in den Augen aus:</p> + +<p>„Wer ist der Unvorsichtige, der dieses Verbrechen +begangen hat!“</p> + +<p>„Ich habe es selbst meinem Beichtvater nicht gesagt; +urteilt also, ob ich es euch sagen werde.“</p> + +<p>Diese beiden Damen beratschlagten sogleich über die +Maßnahmen, um das verhängnisvolle Geheimnis dem +übrigen Kloster zu verbergen. Sie entschieden vor allem, +daß das Schlafzimmer der Äbtissin, das ganz im Mittelpunkt +des Klosters lag, nach der Apotheke verlegt +werden müsse, die man im entlegensten Teil des +Klosters, im dritten Stock des großen, durch Helenas +Freigebigkeit entstandenen Neubaus eingerichtet hatte. +An diesem Ort war es, daß die Äbtissin einem Knaben +das Leben schenkte. Seit drei Wochen war die Frau des +Bäckers in den Gemächern der Priorin versteckt. Als +diese Frau dann mit dem Kind schnell durch das Kloster +eilte, begann es zu schreien, und die Frau flüchtete sich +in ihrem Entsetzen in den Keller. Eine Stunde später +gelang es Schwester Bernarda mit Hilfe des Arztes, eine +kleine Gartentür zu öffnen, und die Frau des Bäckers +verließ hastig das Kloster und bald darauf die Stadt. +In die Campagna gelangt und von panischem Schrecken +verfolgt, flüchtete sie sich in eine Grotte, die der Zufall +sie in einem der Felsen entdecken ließ. Die Äbtissin +schrieb an Cesare del Bene, den Vertrauten und ersten +<a id="page-317"></a><span class="pgnum">317</span>Kammerherrn des Bischofs, der zu der bezeichneten +Grotte eilte; er war zu Pferde, er nahm das Kind +in seine Arme und ritt im Galopp nach Montefiascone. +Das Kind wurde in der Kirche Santa Margherita getauft +und empfing den Namen Alessandro. Die Gastwirtin +des Orts hatte eine Amme verschafft, der Cesare +acht Taler zurückließ; viele Frauen, die sich während +der Tauffeierlichkeit um die Kirche angesammelt +hatten, hörten nicht auf, Signor Cesare nach dem Vater +des Kindes zu fragen.</p> + +<p>„Das ist ein großer Herr aus Rom“, sagte er ihnen, +„der sich erlaubt hat, eine arme Bäuerin wie Ihr zu +verführen.“</p> + +<p>Und er verschwand.</p> + + +<h3>VII.</h3> + +<p>Bis dahin ging alles gut, trotz dieses ungeheuren +Klosters, das von mehr als dreihundert neugierigen +Frauen bewohnt wurde; niemand hatte etwas gesehen, +niemand etwas gehört. Aber die Äbtissin hatte dem Arzt +einige Hände voll neuer in der Münze Roms geprägter +Zechinen übergeben. Der Arzt gab mehrere dieser Goldstücke +der Frau des Bäckers. Diese Frau war hübsch +und ihr Mann eifersüchtig; er durchstöberte ihren +Koffer und fand diese glänzenden Goldstücke darin; +und da er sie für den Preis seiner Schande hielt, setzte +er seiner Frau ein Messer an die Kehle und zwang sie +zu sagen, woher die Goldstücke stammten. Nach einigen +Ausflüchten gestand die Frau die Wahrheit und der +Friede wurde geschlossen. Die Eheleute begannen nun +über die Verwendung einer so großen Summe zu beratschlagen. +Die Bäckerin wollte einige Schulden bezahlen; +aber der Mann fand es schöner, ein Maultier zu kaufen, +<a id="page-318"></a><span class="pgnum">318</span>was auch geschah. Dieses Maultier erregte Aufsehen +in dem Viertel, wo man die Armut des Ehepaars kannte. +Alle Weiber der Stadt, Freundinnen und Feindinnen +fragten eine nach der andern die Frau des Bäckers, +wer der freigebige Liebhaber gewesen sei, der sie in +Stand gesetzt habe, ein Maultier zu kaufen. Diese Frau +wurde dadurch so gereizt, daß sie einige Male die Wahrheit +antwortete. Eines Tages, als Cesare del Bene das +Kind besucht hatte und zur Äbtissin zurückkehrte, um +Bericht zu erstatten, schleppte sich diese, obgleich sie +sehr unpäßlich war, bis zum Gitter und machte ihm +wegen der Unzuverläßlichkeit der von ihm verwendeten +Mittelspersonen Vorwürfe. Der Bischof seinerseits +wurde krank vor Angst; er schrieb seinen Brüdern in +Mailand, um ihnen die ungerechte Anklage, deren Ziel +er war, zu erzählen; auch forderte er sie auf, ihm zu +Hilfe zu kommen. Obwohl er sich schwer leidend fühlte, +faßte er den Entschluß, Castro zu verlassen; aber bevor +er es tat, schrieb er der Äbtissin:</p> + +<p>„Ihr wißt bereits, daß alles, was vorgefallen ist, bekannt +wurde. Wenn Euch deshalb daran liegt, nicht +allein meinen Ruf, sondern vielleicht mein Leben zu +retten, und um den Skandal zu verkleinern, könnt Ihr +Giovanni Battista Doleri beschuldigen, der vor zwei Tagen +gestorben ist. Wenn Ihr auf diese Weise auch nicht Eure +Ehre wiederherstellen könnt, so läuft wenigstens die +meine keine Gefahr mehr.“</p> + +<p>Der Bischof ließ Don Luigi, den Beichtvater des +Klosters von Castro, rufen:</p> + +<p>„Gebt dies eigenhändig der Frau Äbtissin“, sagte er +zu ihm.</p> + +<p>Als diese das ehrlose Schreiben gelesen hatte, rief sie +laut vor allen, die sich im Zimmer befanden: +</p> + +<p><a id="page-319"></a><span class="pgnum">319</span>„So verdienen die törichten Jungfrauen behandelt zu +werden, welche die Schönheit des Leibes über die der +Seele stellen!“</p> + +<p>Das Gerücht von allem, was in Castro vor sich ging, +kam rasch zu Ohren des schrecklichen Kardinals Farnese. +Er hatte sich diese Bezeichnung seit einigen Jahren +verdient, weil er hoffte, im nächsten Konklave die Unterstützung +der Eiferer zu finden. Sogleich gab er der +Obrigkeit von Castro den Auftrag, den Bischof Cittadini +zu verhaften. Dessen ganze Dienerschaft ergriff aus +Furcht vor der Folter die Flucht. Nur Cesare del Bene +blieb seinem Herrn treu und schwur ihm, daß er eher +auf der Folter sterben, als etwas gestehen würde, was +ihm schaden könnte.</p> + +<p>Cittadini, der seinen Palast von Wachen umringt sah, +schrieb aufs neue seinen Brüdern, die in großer Eile von +Mailand ankamen. Sie fanden ihn schon im Gefängnis +von Ronciglione eingekerkert.</p> + +<p>Ich entnehme aus dem ersten Verhör der Äbtissin, +daß sie ihre Schuld offen zugestand, aber leugnete, in +Beziehung zu dem Hochwürdigsten Bischof gestanden +zu haben, ihr Mitschuldiger sei Gian-Battista Doleri, +Advokat des Klosters, gewesen.</p> + +<p>Am 9. September 1573 befahl Gregor XIII., daß der +Prozeß in aller Strenge und Eile erledigt werde. Ein +Kriminalrichter, ein Fiskal und ein Kommissär begaben +sich nach Castro und nach Ronciglione. Cesare del +Bene, der erste Kammerherr des Bischofs, gestand, +bloß ein Kind zu einer Amme gebracht zu haben. Man +verhört ihn in Gegenwart der ehrwürdigen Klosterschwestern +Vittoria und Bernarda. Man unterwarf ihn +zwei Tage hintereinander der Tortur; er litt gräßlich, +aber seinem Wort getreu, gestand er nur das, was zu +<a id="page-320"></a><span class="pgnum">320</span>leugnen unmöglich war, und der Fiskal konnte nicht +mehr aus ihm herausbringen.</p> + +<p>Als die Reihe an die ehrwürdigen Damen Vittoria und +Bernarda kam, die Zeugen der Folterung Cesares gewesen +waren, gestanden sie alles, was sie getan hatten. +Alle Nonnen wurden nach dem Urheber des Verbrechens +gefragt, die meisten antworteten, daß es der Hochwürdigste +Herr Bischof gewesen sei. Eine der Schließerinnen +berichtet die beleidigenden Worte, welche die Äbtissin +gebraucht hatte, als sie den Bischof aus der Kirche wies. +Sie fügte hinzu: „Wenn man in diesem Ton zueinander +spricht, zeigt es an, daß man schon lange ein Liebesverhältnis +hat. Der Herr Bischof, der sonst durch übermäßige +Selbstgefälligkeit auffiel, hatte ein ganz linkisches +Aussehen, als er die Kirche verließ.“</p> + +<p>Eine Nonne, im Anblick der Folterwerkzeuge verhört, +antwortet, daß die Katze Urheber des Verbrechens sein +müsse, weil die Äbtissin sie nie aus den Armen läßt +und immerzu liebkost. Eine andre Nonne behauptet: der +Urheber des Verbrechens müsse der Wind sein, weil die +Äbtissin an Tagen, wo der Wind weht, glücklich und +guter Laune sei; sie setze sich dem Wind auf einem +Belvedere, das sie eigens hatte erbauen lassen, aus, und +wenn man an diesem Ort eine Gnade erbitten kam, sei +sie niemals verweigert worden. Die Frau des Bäckers, +die Amme, die Weiber von Montefiascone bekannten aus +Furcht vor den Folterqualen, die sie Cesare hatten erleiden +sehen, die Wahrheit.</p> + +<p>Der junge Bischof war krank oder spielte in Ronciglione +den Kranken, was seinen Brüdern Anlaß gab, +durch das Ansehen und den Einfluß der Signora von +Campireali unterstützt, sich mehrmals dem Papst zu +Füßen zu werfen und von ihm zu erbitten, daß das Verfahren +<a id="page-321"></a><span class="pgnum">321</span>aufgeschoben werde, bis der Bischof seine Gesundheit +wiedererlangt habe. Auf dies hin vermehrte der +schreckliche Kardinal Farnese die Zahl der Soldaten, +die ihn in seinem Gefängnis bewachten. Da der Bischof +nicht verhört werden konnte, begannen die Kommissäre +in jeder ihrer Sitzungen immer wieder, die Äbtissin +einem Verhör zu unterziehen. Eines Tages, als ihre +Mutter ihr hatte sagen lassen, sie solle guten Mutes +bleiben und fortfahren, alles zu leugnen, gestand sie alles.</p> + +<p>„Warum habt Ihr zuerst Gian-Battista Doleri bezichtigt?“</p> + +<p>„Aus Mitleid mit der Feigheit des Bischofs, und dann, +wenn es ihm gelingt, sein teures Leben zu retten, damit +er für meinen Sohn sorgen kann.“</p> + +<p>Nach diesem Geständnis schloß man die Äbtissin in +eine Zelle des Klosters von Castro ein, deren Wände +und Deckenwölbung acht Fuß dick waren; die Nonnen +sprachen nur mit Schaudern von diesem Verlies, das +unter dem Namen Mönchszelle bekannt war. Die Äbtissin +wurde hier ständig von drei Frauen überwacht.</p> + +<p>Als sich die Gesundheit des Bischofs ein wenig gebessert +hatte, kamen dreihundert Sbirren oder Soldaten, +um ihn aus Ronciglione zu holen, und er wurde in einer +Sänfte nach Rom geschafft. Dort brachte man ihn in +einem Gefängnis unter, das Corte Savella hieß. Wenige +Tage später wurden auch die Nonnen nach Rom eingeliefert; +die Äbtissin wurde im Kloster Santa Marta, +untergebracht. Vier Nonnen waren beschuldigt: die +ehrwürdigen Schwestern Vittoria und Bernarda, die +Schwester, welche an jenem Tage die Aufsicht führte, +und die Pförtnerin, welche die beleidigenden Worte gehört +hatte, die von der Äbtissin an den Bischof gerichtet +wurden. +</p> + +<p><a id="page-322"></a><span class="pgnum">322</span>Der Bischof wurde vom Auditor der päpstlichen Kammer +vernommen, einem der höchsten Vertreter des Richterstandes. +Man spannte den armen Cesare del Bene von +neuem auf die Folter; doch er gestand nichts, ja er +sagte sogar Dinge aus, die dem Staatsanwalt peinlich +waren, was ihm eine neue Folterung eintrug. Diese Einleitungsmarter +mußten auch die ehrwürdigen Schwestern +Vittoria und Bernarda erleiden. Der Bischof leugnete +alles in dümmster Weise, aber mit einer gefälligen Hartnäckigkeit; +er zählte mit den größten Einzelheiten alles +auf, was er an den drei offenkundig bei der Äbtissin verbrachten +Abenden vorgenommen haben wollte.</p> + +<p>Schließlich stellte man die Äbtissin dem Bischof +gegenüber, und obgleich sie beständig die Wahrheit gesagt +hatte, wurde sie dennoch der Folterung unterworfen. +Weil sie auf dem beharrte, was sie auf ihrem ersten +Geständnis immer ausgesagt hatte, überhäufte sie der +Bischof, seiner Rolle getreu, mit Beleidigungen.</p> + +<p>Nach mehreren andren, im Grunde vernünftigen Maßnahmen, +die aber von jenem Geist der Grausamkeit befleckt +sind, der seit der Regierung Karls V. und Philipps +II. zu sehr an den Tribunalen Italiens vorwiegt, +wurde der Bischof zu lebenslänglicher Gefangenschaft +in der Engelsburg verurteilt. Die Äbtissin wurde verurteilt, +ihr ganzes Leben im Kloster von Santa Marta, +wo sie sich aufhielt, eingekerkert zu werden. Aber schon +hatte es Signora von Campireali unternommen, um ihre +Tochter zu retten, einen unterirdischen Gang ausheben +zu lassen. Dieser Gang begann bei einer der aus der +Herrlichkeit des alten Rom zurückgebliebenen Kloaken +und sollte bei dem tiefen Kellergewölbe enden, wo man +die sterblichen Reste der Nonnen von Santa Marta beisetzte. +Dieser Gang von zwei Fuß Breite hatte Bretterwände, +<a id="page-323"></a><span class="pgnum">323</span>um das Erdreich rechts und links zu stützen und +als Deckenwölbung gab man ihm, im Maße man vorwärts +kam, zwei wie die Schenkel eines großen A gestellte +Bretter.</p> + +<p>Man grub diesen unterirdischen Weg in einer Tiefe +von etwa dreißig Fuß. Das schwierigste war, ihn in der +rechten Richtung weiterzuführen; jeden Augenblick +waren die Arbeiter durch antike Brunnen und Grundmauern +gezwungen, eine Wendung zu machen. Eine +andre große Schwierigkeit bereitete die weggeräumte +Erde, mit der man nichts Rechtes anzufangen wußte; +es sah aus, als ob man sie nachts in allen Straßen Roms +aussäte. Man wunderte sich über diese Menge Erde, die +sozusagen vom Himmel fiel.</p> + +<p>Wie groß die Summen auch waren, welche Signora +von Campireali ausgab, um ihre Tochter zu retten, wäre +ihr unterirdischer Gang doch sicher entdeckt worden; +aber der Papst Gregor XIII. starb 1585, und die Herrschaft +der Unordnung zog mit der Vakanz des Heiligen +Stuhls ein.</p> + +<p>Helena ging es in Santa Marta sehr schlecht; man +kann sich denken, wie sehr die einfachen und armen +Nonnen wetteiferten, eine so reiche, eines solchen Verbrechens +überführte Äbtissin zu quälen. Helena erwartete +mit Ungeduld das Ergebnis der von ihrer Mutter unternommenen +Arbeit. Aber plötzlich erfuhr ihr Herz seltsame +Bewegung. Schon vor sechs Monaten hatte Fabrizio +Colonna, der angesichts des schwankenden Gesundheitszustands +Gregors XIII. große Pläne für die +Zeit des Interregnums faßte, einen seiner Offiziere zu +Giulio Branciforte geschickt, der jetzt in der spanischen +Armee unter dem Namen Oberst Lizzara sehr bekannt +geworden war. Er rief ihn nach Italien zurück. Giulio +<a id="page-324"></a><span class="pgnum">324</span>brannte darauf, seine Heimat wiederzusehen. Er landete +unter einem angenommenen Namen in Pescara, einem +kleinen Hafen des Adriatischen Meeres, der unterhalb +Chieti in den Abruzzen lag, und kam über das Gebirge +nach La Petrella. Die Freude des Fürsten setzte alle Welt +in Erstaunen. Er teilte Giulio mit, daß er ihn zurückrufen +ließ, um ihn zu seinem Nachfolger zu machen +und ihm den Befehl über seine Soldaten zu übergeben. +Worauf Branciforte antwortete, daß, militärisch gesprochen, +das Unternehmen nichts mehr wert sei, was +er leicht beweisen könne; wenn jemals Spanien ernstlich +wollte, würde es in sechs Monaten mit geringen +Auslagen sämtliche Briganten Italiens vernichten.</p> + +<p>„Aber trotz allem,“ fügte der junge Branciforte hinzu, +„wenn Ihr es wollt, bin ich bereit zu marschieren, mein +Fürst. Ihr werdet stets in mir den Nachfolger des +tapferen, bei Ciampi gefallenen Ranuccio finden.“</p> + +<p>Vor Giulios Ankunft hatte der Fürst befohlen, so wie +er zu befehlen verstand, daß sich niemand in Petrella +unterfangen solle, von Castro und von dem Prozeß der +Äbtissin zu sprechen; Todesstrafe ohne Nachsicht war +auf das geringste Geschwätz gesetzt. Mitten in den +Freundschaftsergüssen, mit denen er Branciforte empfing, +bat er ihn, niemals ohne ihn nach Albano zu +gehen, und seine Art, diese Reise zu machen, bestand +darin, daß er die Stadt durch tausend seiner Leute besetzen +ließ, und eine Vorhut von zwölfhundert Mann +auf der Straße nach Rom aufstellte. Man stelle sich vor, +was der arme Giulio empfand, als der Fürst den alten +Scotti, welcher noch lebte, in das Haus, wo er sein Hauptquartier +aufgeschlagen hatte, holen ließ und ihn in das +Zimmer rief, wo er sich mit Giulio aufhielt. Als die +beiden Freunde einander umarmt hatten, rief er Giulio +<a id="page-325"></a><span class="pgnum">325</span>zu sich: „Jetzt, mein armer Oberst, mußt du dich auf +das Schlimmste gefaßt machen.“</p> + +<p>Darauf blies er das Licht aus und verließ das Zimmer, +in dem er die beiden Freunde einschloß.</p> + +<p>Am nächsten Morgen schickte Giulio, der sein Zimmer +nicht verlassen wollte, die Bitte zum Fürsten, nach +La Petrella gehen und sich dafür einige Tage beurlauben +zu dürfen. Aber man brachte ihm die Meldung, daß der +Fürst verschwunden sei samt seinen Truppen.</p> + +<p>In der Nacht hatte er den Tod Gregors XIII. erfahren; +er hatte seinen Freund Giulio vergessen und war +über Land. Bei Giulio waren nur etwa dreißig Mann +geblieben, die einst zur Kompanie Ranuccios gehörten. +Es ist bekannt genug, daß in jenen Zeiten während der +Vakanz des Heiligen Stuhls die Gesetze schwiegen; jeder +dachte nur daran, seine Leidenschaften zu befriedigen +und es galt nur die Kraft; darum hatte, noch vor dem +Ende des Tags, Fürst Colonna schon mehr als fünfzig +seiner Feinde aufhängen lassen. Giulio aber, obgleich +er nicht vierzig Mann bei sich hatte, wagte es, nach Rom +zu marschieren.</p> + +<p>Die ganze Dienerschaft der Äbtissin von Castro war +ihr treu geblieben; sie hatten sich in den ärmlichen +Häusern um das Kloster Santa Marta herum eingemietet. +Der Todeskampf Gregors XIII. hatte länger als eine +Woche gedauert; Signora von Campireali erwartete ungeduldig +die Tage der Verwirrung, die seinem Tod folgen +würden, um die letzten fünfzig Schritt ihres unterirdischen +Ganges in Angriff zu nehmen. Da man die +Keller von mehreren bewohnten Häusern durchqueren +mußte, fürchtete sie sehr, das Ziel ihrer Unternehmung +nicht länger verbergen zu können.</p> + +<p>Schon am übernächsten Tag nach der Ankunft Brancifortes +<a id="page-326"></a><span class="pgnum">326</span>in La Petrella, schienen die drei ehemaligen +Bravi Giulios, welche Helena in ihre Dienste genommen +hatte, närrisch geworden zu sein. Obgleich jedermann +nur zu gut wußte, daß sie in strenger Geheimhaft gehalten +und von Nonnen bewacht wurde, die sie haßten, +kam doch Ugone, einer der Bravi, zum Klostertor und +bat inständigst unter den seltsamsten Vorwänden, daß +man ihm erlauben möge, seine Herrin zu sehen, und +zwar auf der Stelle. Er wurde abgewiesen und zur Tür +hinausgeworfen. In seiner Verzweiflung blieb der Mann +aber hier stehn und fing an, jedem der Bediensteten des +Hauses, mochte er ein- oder ausgehn, einen Bajocco +zu geben, wobei er stets diese gleichen Worte sagte: +„Freut Euch mit mir, Signor Giulio Branciforte ist +angekommen, er lebt: sagt dies Euren Freunden.“</p> + +<p>Die beiden Kameraden Ugones verbrachten den Tag +damit, ihm Bajocchi zuzutragen, und sie fuhren Tag und +Nacht darin fort, sie mit den immer gleichen Worten +zu verteilen, bis ihnen nichts mehr blieb. Aber die drei +Bravi fuhren, einander ablösend, trotzdem fort, die +Wache an der Tür des Klosters Santa Marta zu beziehen +und richteten mit tiefen Verbeugungen an alle Aus- und +Eintretenden immer die gleichen Worte: „Signor Giulio +ist angekommen…“</p> + +<p>Der Einfall dieser braven Leute hatte Erfolg: keine +sechsunddreißig Stunden nach der Verteilung des ersten +Bajocco wußte die arme Helena trotz ihrer Einzelhaft +in der Tiefe ihres Kerkers, daß Giulio lebte; dieses Wort +versetzte sie in Raserei:</p> + +<p>„O meine Mutter,“ rief sie aus, „habt Ihr mir genug +Leid zugefügt?“</p> + +<p>Einige Stunden später wurde ihr diese erstaunliche +Neuigkeit durch die kleine Marietta bestätigt, die all +<a id="page-327"></a><span class="pgnum">327</span>ihren Goldschmuck für die Erlaubnis geopfert hatte, +der Schwester Pförtnerin, die der Gefangenen die Mahlzeiten +brachte, zu folgen. Helena warf sich in ihre Arme +und weinte vor Freude.</p> + +<p>„Das ist sehr schön,“ sagte sie ihr, „aber ich werde +kaum mehr bei dir bleiben.“</p> + +<p>„Gewiß!“ sagte Marietta, „ich denke wohl, daß die +Zeit des Konklaves nicht verstreichen wird, ohne daß +sich Euer Gefängnis in eine einfache Verbannung verwandelt.“</p> + +<p>„Ach, meine Teure, Giulio wiedersehen! Und ihn +wiedersehen, und ich schuldig!“</p> + +<p>In der Mitte der dritten Nacht, die dieser Unterredung +folgte, stürzte ein Teil des Fußbodens der Kirche mit +großem Getöse ein; die Nonnen von Santa Marta glaubten, +daß das Kloster versinke. Äußerste Verwirrung +herrschte, alle Welt glaubte an ein Erdbeben. Ungefähr +eine Stunde nach dem Einsturz des Marmorfußbodens +der Kirche drang Signora von Campireali, ihr voran +die drei Bravi aus Helenas Diensten, durch den unterirdischen +Gang in den Kerker.</p> + +<p>„Sieg, Sieg, Herrin!“ riefen die Bravi. Helena befiel +Todesangst, sie glaubte, daß Giulio Branciforte +mit ihnen käme. Sie beruhigte sich und ihre Züge +nahmen den gewohnten strengen Ausdruck an, als sie +ihr sagten, daß sie nur Signora von Campireali begleiteten +und daß Giulio noch in Albano sei, welches +er mit wenigen tausend Mann besetzt hielte.</p> + +<p>Nach einigen Minuten Wartens erschien Signora von +Campireali; sie ging mit großer Mühe und hatte den +Arm ihres Haushofmeisters genommen, der in großem +Staat war, mit dem Degen an der Seite; aber sein prächtiges +Gewand war ganz mit Erde beschmutzt. +</p> + +<p><a id="page-328"></a><span class="pgnum">328</span>„O meine teure Helena! Ich komme, um dich zu +retten!“ rief Signora von Campireali.</p> + +<p>„Und wer sagt Euch, daß ich gerettet sein will?“</p> + +<p>Signora von Campireali war verblüfft; sie sah ihre +Tochter mit großen Augen an, sie schien sehr aufgeregt.</p> + +<p>„Nun wohl, meine teure Helena,“ sagte sie endlich, +„das Schicksal zwingt mich, dir eine Handlung einzugestehen, +die nach dem Unglück, das ehemals unsrer +Familie zustieß, vielleicht ganz natürlich war, die ich +aber bereue und dich zu verzeihen bitte: Giulio Branciforte… +lebt.“</p> + +<p>„Und weil er lebt, will ich nicht leben!“</p> + +<p>Signora von Campireali verstand erst gar nicht, was +ihre Tochter meinte, dann richtete sie die flehentlichsten, +zärtlichsten Bitten an sie; aber sie erhielt keine Antwort: +Helena hatte sich zu ihrem Kruzifix gewendet und +betete, ohne sie zu hören. Es war vergeblich, daß Signora +von Campireali eine Stunde lang die äußersten Anstrengungen +machte, um ein Wort oder einen Blick zu erlangen. +Endlich sagte ihre Tochter ungeduldig:</p> + +<p><a class="sic" id="sicA-32" href="#sic-32">Unter</a> dem Marmor dieses Kruzifixes waren seine +Briefe in meinem kleinen Zimmer in Albano verborgen; +es wäre besser gewesen, mich von meinem Vater töten +zu lassen! Geht… und laßt mir Gold zurück.“</p> + +<p>Als Signora von Campireali trotz der besorgten Zeichen +ihres Haushofmeisters noch länger mit ihrer Tochter +reden wollte, wurde Helena ärgerlich:</p> + +<p>„Laßt mir wenigstens eine Stunde Freiheit. Ihr habt +mein Leben vergiftet, wollt Ihr nun auch meinen Tod +vergiften?“</p> + +<p>„Wir werden über den unterirdischen Gang noch zwei +oder drei Stunden verfügen können; ich wage zu hoffen, +daß du dich noch eines Besseren besinnen wirst,“ rief +<a id="page-329"></a><span class="pgnum">329</span>Signora von Campireali, in Tränen ausbrechend. Und +sie nahm den Weg unter die Erde zurück.</p> + +<p>„Ugone, bleibe bei mir“, sagte Helena zu einem ihrer +Bravi, „und sei wohl bewaffnet, mein Bursche, denn vielleicht +gilt es, mich zu verteidigen. Laß mich deinen +Dolch, dein Schwert, dein Messer sehen!“</p> + +<p>Der alte Soldat zeigte ihr seine beruhigend guten +Waffen.</p> + +<p>„Nun wohl, halte dich dort vor meinem Gefängnis auf, +ich werde Giulio einen langen Brief schreiben, den du +selbst ihm zustellen wirst; ich will nicht, daß er durch +andre Hände als deine geht, da ich nichts habe, um +ihn zu schließen. Du kannst alles lesen, was dieser Brief +enthält. Nimm das ganze Gold, das meine Mutter hiergelassen +hat, in deine Taschen; ich brauche nur noch +fünfzig Zechinen für mich, lege sie auf mein Bett.“</p> + +<p>Nach diesen Worten begann Helena zu schreiben:</p> + +<p>„Ich zweifle nicht an Dir, mein teurer Giulio; ich +gehe von hinnen, weil ich in Deinen Armen vor Schmerz +sterben müßte; ich würde sehen, wie groß mein Glück +gewesen wäre, wenn ich nicht einen Fehltritt begangen +hätte. Glaub nicht, daß ich jemals nach Dir ein andres +Wesen auf der Welt geliebt habe; weit entfernt davon, +war mein Herz immer von der lebhaftesten Verachtung +für den Mann erfüllt, den ich bei mir einließ. Mein Fehltritt +geschah einzig aus Langweile und — wenn man +will — aus Leichtfertigkeit. Bedenke, daß mein Geist, +der durch den vergeblichen Versuch zu La Petrella so +geschwächt war, wo der Fürst, den ich verehrte, weil +Du ihn liebtest, mich so grausam empfing — bedenke, +sage ich, daß mein so geschwächter Geist zwölf Jahre +lang von Lügen umlagert war. Alles, was mich umgab, +war falsch und verlogen, und ich wußte es. Ich erhielt +<a id="page-330"></a><span class="pgnum">330</span>anfangs etwa dreißig Briefe von Dir, urteile selbst, mit +welchem Entzücken ich die ersten öffnete! Aber indem +ich sie las, wurde mein Herz zu Eis. Ich prüfte diese +Schrift, ich erkannte die Züge Deiner Hand wieder, aber +nicht Dein Herz. Glaub mir, daß diese erste Lüge mein +innerstes Leben so zerstört hat, daß ich soweit kam, einen +Brief mit Deiner Handschrift ohne Freude zu öffnen! +Die verabscheuungswürdige Ankündigung Deines Todes +vernichtete vollends alles in mir, was noch aus den +glücklichen Zeiten unsrer Jugend übriggeblieben war. +Meine erste Absicht war, wie Du wohl verstehen wirst, +die Küste Mexikos aufzusuchen und die Stelle mit meinen +Händen zu berühren, wo die Wilden Dich, wie man mir +sagte, getötet hatten. Wenn ich diesen Gedanken ausgeführt +hätte… würden wir jetzt glücklich sein, denn +wie groß auch die Zahl und die Geschicklichkeit der von +einer wachsamen Hand um mich gesäten Spione gewesen +wäre, hätte ich doch in Madrid alle Seelen, in denen +noch Mitleid und Güte lebte, mir günstig gestimmt, und +wahrscheinlich hätte ich die Wahrheit erfahren; denn +schon, mein Giulio, hatten Deine Heldentaten die Aufmerksamkeit +der Welt auf Dich gelenkt und vielleicht +wußte irgendwer in Madrid, daß Du Branciforte seist. +Willst Du, daß ich Dir sage, was unser Glück verhinderte? +Zuerst die Erinnerung an den grausamen und +kränkenden Empfang, den mir der Fürst in La Petrella +bereitet hatte: welche mächtigen Hindernisse gab es von +Castro bis Mexiko zu überwinden! Du siehst, meine Seele +hatte schon ihre Kraft verloren. Dann kam mir eine +Eingebung der Eitelkeit. Ich hatte große Bauten im +Kloster durchführen lassen, um die Loge der Pförtnerin, +worin Du in der Kampfnacht Zuflucht fandest, als Zimmer +zu nehmen. Eines Tages betrachtete ich den +<a id="page-331"></a><span class="pgnum">331</span>Boden, den Du ehemals für mich mit Deinem Blut getränkt +hattest; da hörte ich ein verächtliches Wort; ich +erhob die Augen und sah gehässige Gesichter; um mich +zu rächen, wollte ich Äbtissin werden. Meine Mutter, +die sehr wohl wußte, daß Du am Leben warst, leistete +das Äußerste, um diese ungeheuerliche Ernennung zu +erreichen. Diese Stellung war für mich nur eine Quelle +von Langweile; durch sie wurde meine Seele vollends +erniedrigt. Ich fand Vergnügen daran, meine Macht oft +nur im Unglück der andren zu genießen; ich beging Ungerechtigkeiten. +Ich sah mich mit dreißig Jahren in den +Augen der Welt tugendhaft, reich, angesehen und trotzdem +vollkommen unglücklich. Da zeigte sich dieser +arme Mensch, der ja die Güte selbst war, aber die Unbedeutendheit +in Person. Seine Unbedeutendheit machte, +daß ich seine ersten Anträge ertrug. Meine Seele war +so unglücklich durch alles, was mich seit Deiner Abreise +umgab, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, der kleinsten +Versuchung zu widerstehen. Soll ich Dir etwas sehr Indezentes +gestehen? Aber einer Toten ist alles erlaubt. +Wenn Du diese Zeilen lesen wirst, werden die Würmer +diese angeblichen Schönheiten verzehren, die nur Dir +gehören durften. Endlich muß ich Dir das sagen, was +mir schwer wird; ich sah nicht ein, warum ich nicht, +wie alle unsre römischen Damen, die Liebe der Sinne +versuchen sollte; ich hatte eine Anwandlung von Leichtfertigkeit; +aber ich konnte mich nie jenem Menschen +hingeben, ohne ein Gefühl des Abscheus und des Ekels +zu empfinden, das jedes Vergnügen zerstörte. Ich sah +immer Dich an meiner Seite, in unserm Garten in Albano, +als die Madonna Dir den edlen Gedanken eingab, der aber +dann durch meine Mutter zum Unglück unsres Lebens +geworden ist. Du warst nicht drohend, sondern zärtlich +<a id="page-332"></a><span class="pgnum">332</span>und gut, wie Du immer warst; Du sahst mich an und +dann empfand ich Wut gegen diesen andren Mann und +ich ging soweit, ihn aus aller Kraft zu schlagen. Das +ist die ganze Wahrheit, mein teurer Giulio, ich wollte +nicht sterben, ohne sie Dir zu sagen — und ich dachte +auch, daß diese Zwiesprache mit Dir vielleicht den Gedanken +an den Tod von mir nehmen könnte. Ich ersehe +aber nur klarer daraus, wie meine Freude gewesen wäre, +wenn ich Deiner wert geblieben wäre. Ich befehle Dir zu +leben und die militärische Karriere fortzusetzen, die mir +solche Freude bereitet hat, als ich von Deinen Erfolgen +hörte. Was wäre gewesen, großer Gott! wenn ich Deine +Briefe erhalten hätte, besonders nach der Schlacht von +Achenne! Lebe und rufe Dir oft Ranuccio ins Gedächtnis +zurück, der bei Ciampi fiel, und Helena, die in Santa +Marta starb, weil sie in Deinen Augen keinen Vorwurf +lesen wollte.“</p> + +<p>Nachdem sie den Brief beendet hatte, näherte sich +Helena dem alten Soldaten, den sie schlafend fand; sie +nahm seinen Dolch, ohne daß er es merkte, dann weckte +sie ihn.</p> + +<p>„Ich bin zu Ende,“ sagte sie ihm, „ich fürchte, daß +sich unsre Feinde des unterirdischen Zugangs bemächtigen. +Nimm schnell meinen Brief, der auf dem Tisch +liegt und bring ihn Giulio, du selbst bringst ihn, +verstehst du? Und gib ihm noch mein Taschentuch, +dieses hier; sag ihm, daß ich ihn auch in diesem Augenblick +nicht mehr liebe, als ich ihn immer geliebt habe, +immer, hörst du wohl!“</p> + +<p>Ugone blieb stehen und ging nicht fort.</p> + +<p>„Geh doch!“</p> + +<p>„Signora, habt Ihr es wohl überlegt? Signor Giulio +liebt Euch so sehr!“ +</p> + +<p><a id="page-333"></a><span class="pgnum">333</span>„Ich auch, ich liebe ihn, nimm den Brief und übergib +ihn selbst.“</p> + +<p>„Nun wohl, möge Gott Eure Güte segnen!“</p> + +<p>Ugone ging und kehrte schnell zurück. Er fand Helena +tot: sie hatte den Dolch im Herzen.</p> + + + + +<h2><a id="page-335"></a><span class="pgnum">335</span>SCHWESTER SCOLASTICA</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-336"></a><span class="pgnum">336</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p> + + +<p><a id="page-337"></a><span class="pgnum">337</span>In Neapel hörte ich im Jahr 1824 in der Gesellschaft +von der Geschichte der Schwester Scolastica und dem +Kanonikus Cibo sprechen. Neugierig, wie ich bin, kann +man sich denken, wie ich herumfragte. Aber kein Mensch +wollte mir klar und deutlich Auskunft geben; man +fürchtete, sich zu kompromittieren. In Neapel spricht +man nämlich von politischen Dingen niemals klar und +deutlich; und dies ist der Grund davon: Eine neapolitanische +Familie, die zum Beispiel aus drei Söhnen, +einer Tochter, Vater und Mutter besteht, zerfällt in drei +verschiedene Parteien — Verschwörungen, wie man das +in Neapel nennt. So gehört die Tochter zur Partei ihres +Liebhabers; jeder der Söhne gehört einer bestimmten +Partei, und die Eltern sprechen mit einem Seufzer vom +Hofe, der regierte, als sie zwanzig Jahre alt waren. Aus dieser +Isolierung der Individuen ergibt sich, daß man +niemals ernstlich und offen von Politik spricht. Bei der +geringsten etwas präziseren Aufstellung, die um etwas +den Gemeinplatz verläßt, erblassen ein paar Gesichter.</p> + +<p>Da mein Ausfragen nach der Geschichte mit dem +barocken Namen in der Gesellschaft keinerlei Ergebnis +hatte, glaubte ich, es handle sich in der Geschichte dieser +Schwester Scolastica um eines jener grauenvollen Ereignisse +kürzester Vergangenheit, aus dem Jahre 1820 +zum Beispiel. +</p> + +<p><a id="page-338"></a><span class="pgnum">338</span>Eine vierzigjährige Witwe, eine gute, aber nichts +weniger als schöne Frau vermietete mir die Hälfte ihres +kleinen Hauses in einer Gasse hundert Schritte weit vom +reizenden Park von Chiaja, am Fuß des Hügels, den +hier die Villa der Prinzessin Florida krönt, der Freundin +des alten Königs. Es ist das vielleicht das einzige ruhige +Viertel von Neapel. Meine Witwe hatte einen alten Galan, +dem ich eine Woche durch den Hof machte. Als +wir eines Tages miteinander durch die Stadt schlenderten, +zeigte er mir die Stellen, wo sich die Lazzaroni gegen +die Truppen des Generals Championnet geschlagen und +den Hinterhof, wo sie den Herzog von *** lebendig verbrannt +hatten; da fragte ich ihn im Überfall, doch ganz +ruhig, weshalb man ein solches Geheimnis mit der Geschichte +der Suor Scolastica mache.</p> + +<p>Er gab mir ganz ruhig die Antwort: „Die fürstlichen +Namenstitel, die jene trugen, sind auf deren heute +lebende Nachfahren gekommen, und die würde es vielleicht +peinlich berühren, ihre Namen mit einer Geschichte +vermengt zu sehen, die so tragisch und für alle +Welt so traurig war.“</p> + +<p>„Ist die Sache denn nicht im Jahre 1820 passiert?“</p> + +<p>„Wer hat Ihnen das gesagt?“ sagte mein Neapolitaner +und lachte laut auf über meine Jahreszahl. „Wer hat +Ihnen denn was von 1820 gesagt?“ wiederholte er mit +dieser wenig höflichen italienischen Lebhaftigkeit, die +dem Pariser so auf die Nerven fällt.</p> + +<p>„Wenn Ihnen an Ihrem Menschenverstand liegt, so +sagen Sie 1745, also das Jahr nach der Schlacht von +Velletri, die unserem großen Don Carlos den Besitz von +Neapel einbrachte. Hierzulande nannte man ihn Carl VII., +und später dann, in Spanien, wo er so Außerordentliches +vollbrachte, hieß man ihn Carl III. Er hat in +<a id="page-339"></a><span class="pgnum">339</span>unsere königliche Familie die große Nase der Farnese +gebracht.</p> + +<p>Man nennt heute den Erzbischof nicht gern bei seinem +richtigen Namen, vor dem ganz Neapel zitterte, als ihm +höchst unangenehm der Name Velletri in die Ohren +tönte. Die Deutschen lagerten auf den Hügeln um Velletri +und versuchten unsern großen Carlos im Palazzo +Grineti, den er bewohnte, auszuheben.</p> + +<p>Es war ein Mönch, der die Anekdote aufgeschrieben +haben soll, von der Sie redeten. Die junge Nonne, die er +mit dem Namen Suora Scolastica bezeichnet, war aus +der Familie des Herzogs von Bissignano. Der gleiche +Chronist gibt in seiner Geschichte Proben eines leidenschaftlichen +Hasses gegen den Erzbischof von damals, +der, ein mächtiger Politiker in dieser ganzen Affäre, den +Kanonikus Cibo als den Handelnden vorschob. Vielleicht +war der schreibende Mönch ein Günstling des +jungen Don Genarino, Marquis de las Flores, von dem +man annimmt, daß er dem Carlos das Herz der schönen +Rosalinda streitig gemacht hat, dem sehr galanten König +sowohl wie auch dem alten Herzog Vargas del Prado, +der für den reichsten Mann seiner Zeit galt. Es gibt +sicher in der Geschichte dieser Katastrophe Sachen, +welche Personen, die 1760 noch mächtig waren, schwer +hätten beleidigen können, denn der Mönch, der um das +Jahr schrieb, hütet sich, deutlich zu sein; seine Wortkunst +ist beträchtlich; er redet immer in allgemeinen +Maximen, sicher von perfekter Moral, aber Bestimmtes +ist nicht daraus zu entnehmen. Nur zu oft muß man das +Manuskript zuschlagen, um über das nachzudenken, +was der gute Pater etwa hat sagen wollen. So wird er +zum Beispiel beim Tode des Don Genarino fast unverständlich. +Ich kann Ihnen vielleicht in einigen Tagen +<a id="page-340"></a><span class="pgnum">340</span>die Handschrift leihen, die so ennervierend ist, daß ich +Ihnen nicht rate, sie zu kaufen. Vor zwei Jahren verkaufte +man sie übrigens auf dem Bureau des Notars B. +für nicht weniger als vier Dukaten.“</p> + +<p>Acht Tage später war ich im Besitz dieser Handschrift, +deren Verfasser jeden Augenblick seine Geschichte, +statt sie zu Ende zu erzählen, in andern Worten +immer wieder von vorne anfängt; erst glaubt der verzweifelte +Leser, daß es sich um ein neues Faktum handelt, +und schließlich wird die Konfusion so groß, daß +man gar nicht mehr weiß, wovon die Rede ist.</p> + +<p>Man muß nämlich wissen, daß im Jahre 1742 ein +Neapolitaner, ein Mailänder, die vielleicht in ihrem +ganzen Leben nicht hundert Worte hintereinander in toskanischer +Sprache gesprochen haben, sich des Toskanischen +für den Druck bedienen, weil sie das für schön +halten. Der vortreffliche General Colleta, der größte +italienische Historiker, hatte auch ein bißchen diese +Manie, die seinen Leser oft unsicher über das vom Verfasser +Gemeinte macht. Das kaum verständliche Manuskript, +das sich Suora Scolastica betitelte, zählte nicht +weniger als 310 Seiten. Ich erinnere mich, gewisse Seiten +daraus ins reine geschrieben zu haben, um des Sinnes +sicher zu sein, den ich dem Gelesenen gab.</p> + +<p>Sowie ich einmal die Geschichte genau kannte, hütete +ich mich, direkte Fragen zu stellen. Sooft mir aus vielem +Geschreibsel des Mönches irgendein sicheres Faktum +deutlich war, erbat ich mir mit der unschuldigsten Miene +einige Aufklärungen. Und nach einiger Zeit gab mir eine +Person, die zwei Monate früher mir jede Antwort auf +meine Fragen glatt verweigert hatte, ein kleines handgeschriebenes +Heftchen von 60 Seiten, das auf die Geschichte +selber nicht weiter eingeht, aber über gewisse +<a id="page-341"></a><span class="pgnum">341</span>Fakten pittoreske Details gibt. Zum Beispiel über die +rasende Eifersucht.</p> + +<p>Aus den Worten ihres Almoseniers, den der Erzbischof +dazu gewonnen hatte, erfuhr eines Tages die +Prinzessin Donna Ferdinanda de Bissignano, daß der +junge Don Genarino nicht in sie, sondern in ihre Stieftochter +Rosalinde verliebt sei. Sie rächte sich an ihrer +Rivalin, die sie vom König Carlos geliebt glaubte, indem +sie Don Genarino de las Flores in eine heftige Eifersucht +hetzte. Dieses folgende nun ist die Geschichte, +welche ganz Neapel im Jahre 1740 so heftig bewegt +hat.</p> + +<p>Im Jahre 1740 regierte in Neapel Don Carlos. Er +war der Sohn der Fürstin Elisabet von Parma, einer +Farnese, die ihm, trotzdem er der Jüngere war, gern eine +Krone verschafft hätte, weshalb sie ihm zu günstiger +Stunde nach Italien mit einer Armee dirigierte. Er gewann +die Schlacht bei Velletri, trotzdem der Kampftag +für ihn damit begonnen hatte, daß ihn eine Kompagnie +Österreicher des Morgens in seinem Zimmer überraschte. +Der Herzog Vargas del Prado, einer der spanischen +Granden, welche die Elisabet Farnese ihrem Sohn als +Stab gegeben hatte, rettete ihm das Leben oder doch die +Freiheit, indem er ihm einen Fußtritt versetzte, der ihn +ans Fenster seines nicht niedrig gelegenen Schlafzimmers +beförderte, durch das er entkam.</p> + +<p>Don Carlos mit der ungeheuern Nase war nicht ohne +Geist. Als Karl III. von Neapel hielt er einen glänzenden +Hof. Er brachte sich seine Untertanen mit festlichem +Zirzenses nah und führte gleichzeitig strenges Regiment +in allen Zweigen der Verwaltung. Die spanischen Vizekönige, +deren Klugheit durch Masaniellos Revolte berühmt +geblieben ist, hatte man davongejagt; die harten +<a id="page-342"></a><span class="pgnum">342</span>und geldgierigen österreichischen Generäle hatte man +davongejagt; in der Folge so vieler Wechsel und Konfiskationen +sah sich der neue König Herr fast über alles +Hab und Gut. Die meisten Edelleute hatten die Konfiskation +einiger ihrer Güter erlebt oder wurden mit +konfisziertem Grundbesitz jener Unzufriedenen beschenkt, +die von erkauften Subjekten Verräter genannt +wurden. Diese Unsicherheit aller Vermögen verband sich +mit der Notwendigkeit großer Ausgaben um der Gunst +des Königs willen, und das verpflichtete die großen +Herren, hinsichtlich ihrer Geschäfte die Augen recht +offen zu halten.</p> + +<p>Der Adel drängte sich an den Hof, und der Handelsstand +gratulierte sich dazu, die unglaublichen Plackereien +der Vizekönige und die Habsucht der österreichischen +Generäle los zu sein; das gemeine Volk aber war höchlichst +erstaunt, eine Regierung zu haben, von der es nicht +immerzu geschunden wurde und gewöhnte sich daran, +Steuern zu zahlen, von denen ein Teil als Premie an Adel +und Geistlichkeit verteilt wurde.</p> + +<p>Also regierte Don Carlos seit fünf Jahren; Ruhe und +Wohlstand kehrten wieder; glückliche Zufälle halfen +dabei. Der Winter von 1740 auf 1741 sah Festlichkeiten, +wie schon lange keiner mehr. Acht oder zehn +Damen von seltener Schönheit teilten sich in alles Lob +und Preis, aber der junge König, der ein feiner Kenner +war, erklärte für die schönste Dame seines Hofes Rosalinda, +die Tochter des Principe d'Atella. Dieser Principe +d'Atella, früher österreichischer General, war ein +ebenso trübseliger wie kluger Mann, der gegen seinen +Willen Donna Ferdinanda, seinem zweiten Weibe, darin +nachgab, daß sie sich zu Hofe von seiner Tochter, der +schönen Rosalinda, begleiten ließ, die der König für die +<a id="page-343"></a><span class="pgnum">343</span>allerschönste erklärte und die noch nicht sechzehn Jahre +zählte.</p> + +<p>Der Principe d'Atella hatte drei Söhne aus erster Ehe, +deren standesgemäße Versorgung ihm Schwierigkeiten +machte. Die Titel dieser Söhne, die alle Herzöge oder +Prinzen waren, fand er in keinem Verhältnisse zu dem +mäßigen Vermögen stehend, das er ihnen hinterlassen +konnte.</p> + +<p>D'Atella liebte seine sehr lustige und sehr unvorsichtige +Frau, die, wenn auch um dreißig Jahre jünger als +er, doch nicht mehr jung war, und es während der köstlichen +Feste dieses Winters nur der Anwesenheit ihrer +Tochter Rosalinda verdankte, immer von einem hofmachenden +Schwarm der glänzendsten Jugend Neapels +umgeben zu sein. Ihre besondere Aufmerksamkeit +schenkte sie dem jungen Genarino de las Flores, dessen +etwas hochfahrenden spanischen Manieren dem hübschen +und lustigen Gesichte mit dem blonden Bärtchen und +den blauen Augen, einer Seltenheit in Neapel, sehr gut +standen; besonders von diesen blauen Augen waren die +Damen des Hofes ganz entzückt. So sehr entzückt, daß +Genarino schon zwei Wunden aus Duellen mit Bräutigamen +oder Brüdern trug, in deren Familie er Unordnung +gebracht hatte.</p> + +<p>Der junge Marquis war geschickt genug, die Principessa +d'Atella zu überzeugen, daß ihr seine Huldigung +gelte, aber tatsächlich war er in die junge Rosalinda verliebt +und, was mehr ist, eifersüchtig auf sie. Eben jener +Herzog, der in der Nacht vor der Bataille von Velletri +dem Don Carlos so von Nutzen gewesen war und sich +nun der höchsten Gunst des jungen Königs erfreute, +war aufs tiefste berührt von der naiven Grazie der jungen +Rosalinda und ganz besonders von ihrem einfachen +<a id="page-344"></a><span class="pgnum">344</span>Wesen und ihrer aus den Augen strahlenden Aufrichtigkeit; +er machte ihr auf eine majestätische Weise den +Hof, wie sich dies für einen dreifachen spanischen +Granden gehört. Aber er schnupfte und trug eine +Perücke; und gerade Schnupftabak und Perücke sind +für eine junge Neapolitanerin die zwei Dinge, die sie +nicht ausstehen kann. Und trotz der nur bescheidenen +Mitgift von vielleicht zwanzigtausend Francs und keiner +andern Aussicht als das vornehme Kloster San Petito +ganz oben in der Toledanerstraße, dem Modegrab der +jungen Mädchen aus dem Hochadel, konnte sich Rosalinda +nicht entschließen, die leidenschaftlichen Augen +des Herzogs von Prada zu verstehen; wohl aber begriff +sie sehr gut, was ihr Don Genarino mit seinen Blicken +sagte, wenn ihn die Principessa d'Atella gerade nicht +beobachtete. Der Herzog von Prada war sich nicht ganz +sicher, ob die junge Rosalinda nicht manchmal auch +Antwort auf Genarinos fragende Augen gab.</p> + +<p>Die Liebe der beiden hatte wirklich, vernünftig betrachtet, +gar keinen Sinn. Gewiß gehörte die Familie +der Las Flores zum Hochadel, aber der alte Herzog dieses +Namens, Genarinos Vater, besaß drei Söhne und hatte +nach Brauch des Landes deren Angelegenheiten so arrangiert, +daß der älteste etwa fünfzehnhundert Dukaten +Rente bekam, während die beiden jüngeren sich mit +zwanzig Dukaten im Monat zufrieden geben mußten +samt Logis im Stadtpalais und in der Villa, zufrieden +geben mußten, aber nicht damit zufrieden waren.</p> + +<p>Don Genarino und Rosalinda verwandten all ihre Geschicklichkeit +darauf, was sie für einander empfanden, +vor der Principessa d'Atella zu verbergen, deren kokettischer +Anspruch auf Begehrtwerden dem jungen Marquis +niemals die falschen Gedanken verziehen hätte, die +<a id="page-345"></a><span class="pgnum">345</span>sie sich hinsichtlich seiner Liebe zu ihr machte. Aber +ihr Gatte, der alte General, hatte bessere Augen als sie. +Beim letzten Ball, den in diesem Winter König Carlos +selber gab, war es ihm ganz klar geworden, daß der bereits +durch mehr als ein Abenteuer berühmte Don Genarino +es unternommen hatte, entweder seiner Frau oder +seiner Tochter zu gefallen; und das eine paßte ihm so +wenig wie das andere. Nächsten Morgen hieß er nach +dem Frühstück seine Tochter, mit ihm auszufahren, +und er brachte sie, ohne weiter auch nur ein Wort zu +sprechen, nach dem Kloster von San Petito; es ist das +jenes damals sehr modische Kloster, dessen köstliche +Fassade man ganz oben zur linken in der Calle di Toledo +sieht neben dem magnifiken Palazzo dei Studi.</p> + +<p>Die langhin sich streckenden Mauern, die man bei +einem Spaziergang auf der Wiese von Vomero immer +im Rücken hat, sollen das profane Auge abhalten, in +die Gärten von San Petito zu blicken.</p> + +<p>Der alte Fürst tat erst den Mund auf, als er seiner +Schwester seine Tochter vorstellte. Wie eine Mitteilung, +die er ihr aus Höflichkeit mache und für die sie ihm +dankbar sein müsse, sagte er zu Rosalinda, daß sie das +Kloster nur ein einziges Mal noch verlassen würde, nämlich +am Vorabend des Tages ihrer Profeß.</p> + +<p>Rosalinda war über alles das nicht weiter erstaunt; +sie wußte ganz gut, daß sie höchstens durch ein Wunder +eine Verheiratung erwarten konnte, und den Herzog +Vargas del Prado zu heiraten, davor graute ihr in diesem +Augenblick. Außerdem hatte sie einige Jahre als Pensionärin +in dem Kloster geweilt, in das man sie jetzt +zurückbrachte, und alle ihre Erinnerungen an ihren +frühern Klosteraufenthalt waren lustig und amüsant; so +war sie am ersten Tage nicht arg betroffen von ihrem +<a id="page-346"></a><span class="pgnum">346</span>Lose; aber schon am nächsten Tage war ihr deutlich, +daß sie den jungen Don Genarino niemals wiedersehen +würde, und das traf sie, trotz ihres Alters Kindlichkeit, +tief. Verspielt und betäubt die ersten Tage, wurde sie +bald die am wenigsten resignierte und traurigste unter +den Mädchen des Klosters. Wohl zwanzig Male dachte +sie im Tage an Genarino, den sie nicht mehr sehen sollte, +während doch früher und zu Hause an diesen liebenswürdigen +jungen Mann zu denken ihr höchstens zweimal +im Tage eingefallen war.</p> + +<p>Drei Wochen nach ihrem Eintritt im Kloster geschah +es ihr, daß sie beim Abendgebet die marianische Litanei +ohne jeden Fehler hersagte und ihr dafür die Novizenmutter +für den andern Tag erlaubte, zum erstenmal, auf +das Belvedere hinaufzusteigen; so nennt man die weitläufige +Galerie, von den Nonnen mannigfaltig mit Bildern +und Arabesken geschmückt, die ganz oben an der +Außenmauer des Klosters gegen die Toledanerstraße zu +offen liegt.</p> + +<p>Rosalinda war entzückt über die doppelte Wagenreihe, +die um diese Zeit des Korso die Straße füllt; sie erkannte +die meisten Wagen und die Damen darin. Das amüsierte +sie und bedrückte sie zugleich.</p> + +<p>Aber Verwirrung kam in ihr Herz, als sie unter einem +Torweg einen jungen Mann erkannte, der zärtlich zu ihr +hinauf einen Strauß wundervoller Blumen bewegte; es +war Don Genarino, der seit Rosalindas Entführung ins +Kloster jeden Tag hierher kam in der Hoffnung, sie +auf dem Belvedere zu sehen; und da er um ihre Blumenliebe +wußte, hatte er jedesmal, um ihre Aufmerksamkeit +auf sich zu lenken, einen Strauß seltenster Blumen mitgebracht. +Als Genarino sich erkannt sah, gab er ein +sichtbares Zeichen seiner Freude, und bald <a class="sic" id="sicA-33" href="#sic-33">folgtem</a> +<a id="page-347"></a><span class="pgnum">347</span>diesem andere Zeichen, die zu beantworten sich Rosalinda +hütete. Sie überlegte, daß nach der vom Kloster +befolgten Regel Benedicti gut ein paar Wochen bis zu +neuerlicher Erlaubnis das Belvedere zu besuchen vergehen +könnten. Um sie herum war eine Menge sehr +lustiger Nonnen, von denen fast alle ihren Freunden +Zeichen machten, und diese jungen Damen schienen +etwas geniert von der Anwesenheit dieses jungen Mädchens +im weißen Schleier, die doch etwas erstaunt sein +könnte über ihr wenig klösterliches Benehmen und ihr +Sprechen mit den Herren da unten. Man muß wissen, +daß in Neapel die Mädchen von Kindheit an die Fingersprache +sprechen, bei der die verschiedenen Stellungen +der Finger zueinander das Alphabet bilden. Man kann +die Mädchen im Salon auf diese Weise leise sprechen +sehen, während sich die betreffenden Eltern laut unterhalten.</p> + +<p>Genarino zitterte bei dem Gedanken, Rosalindas +Nonnentum könnte echt sein. Er war noch etwas weiter +zurück in den Torweg getreten und sagte ihr von hier +aus in den Kindersprache der Finger:</p> + +<p>„Seitdem ich Sie nicht mehr sehe, bin ich unglücklich. +Sind Sie im Kloster glücklich? Haben Sie so viel Freiheit, +öfter auf das Belvedere zu kommen? Lieben Sie +immer noch die Blumen?“</p> + +<p>Rosalinda sah ihm voll ins Gesicht, aber antwortete +nicht. Auf einmal verschwand sie, entweder von der +Novizenmutter gerufen oder von den wenigen Worten +Don Genarinos beleidigt. Der stand eine Weile bestürzt.</p> + +<p>Dann stieg er das kleine Gehölz von Aranella hinauf, +das über Neapel liegt; bis da hinauf zieht sich die Umfassungsmauer +des weiten Klostergartens von San Petito. +Weiter ging er seinen melancholischen Spaziergang +<a id="page-348"></a><span class="pgnum">348</span>und kam auf die Wiesenfläche von Vomero, von wo +aus man über Neapel und das Meer blickt; nach ein +paar hundert Schritten stand er vor dem großartigen +Schlosse des Herzogs Vargas del Prado ehemals eine +mittelalterliche Festung mit schwarzen kranelierten +Mauern und berühmt in Neapel wegen seiner Düsterkeit +und der Manie des Herzogs, sich nur von spanischen +Domestiken bedienen zu lassen, die genau so alt waren +wie er. Der alte Herzog sagte, daß er sich auf seinem +Schlosse in Spanien glaube, und um diesen Eindruck +zu vermehren, hatte er auch alle Bäume in der Umgebung +umhauen lassen. Sooft es ihm nur der Dienst +beim König erlaubte, begab sich der Herzog, um Luft +zu schnappen, nach seinem Schloß San Nicola.</p> + +<p>Das düstere Schloß vermehrte noch Genarinos +Melancholie. Da packte ihn, als er unter der Mauer der +Gärten von San Petito hinschritt, ein Gedanke. ‚Natürlich +liebt sie noch die Blumen,‘ sagte er sich; ‚die Nonnen +dürften deren kultivieren in ihrem Garten; also muß +es wohl Gärtner geben; ich muß diese Gärtner kennenlernen.‘</p> + +<p>In dieser sehr verlassenen Gegend gab es eine Osteria, +in die Genarino eintrat; sein Anzug war für diesen Ort +viel zu prächtig, und er merkte mit einigem Unbehagen, +daß seine Anwesenheit Überraschung und Mißtrauen +hervorrief; da tat er, als ob er sehr müde wäre und +machte sich Liebkind mit den Wirtsleuten und dem +Volk, das da seinen Schoppen Wein trank. Seiner offenen +Art hatte er es zu danken, daß die Leute in der Kneipe +ihm seine für den Ort etwas zu kostbaren Kleider verziehen. +Genarino scheute sich nicht, mit dem Wirt und +dessen Freunden ein paar Gläser von dem Bessern zu +leeren, den er kommen ließ. Nach Verlauf einer Stunde +<a id="page-349"></a><span class="pgnum">349</span>Arbeit machte seine Anwesenheit keinen mehr mißtrauisch. +Man riß Witze über die adeligen Nonnen von +San Petito und über die Besucher, die manche von ihnen +über die Gartenmauer weg empfingen.</p> + +<p>Genarino bekam die Gewißheit, daß, worüber man +in Neapel so viel redete, wirklich existiere. Die guten +Leute von Vomero scherzten darüber, aber zeigten sich +nicht im mindesten entrüstet über die weltlichen Gewohnheiten +der Nonnen von San Petito.</p> + + + + +<h2><a id="page-351"></a><span class="pgnum">351</span>DER CHEVALIER +VON SAINT-ISMIER</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-352"></a><span class="pgnum">352</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p> + + +<p><a id="page-353"></a><span class="pgnum">353</span>Man schrieb das Jahr 1640. Richelieu war, schlimmer +als je, Herr Frankreichs. Sein eiserner Wille und +seine Launen eines großen Mannes suchten jene turbulenten +Geister zu beugen, die Krieg und Liebe mit der +gleichen Leidenschaft trieben. Die Galanterie war noch +nicht auf die Welt gekommen. Die Religionskriege und +die um das Gold des düstern Philipp II. erkauften Fraktionen +hatten in den Herzen ein Feuer entzündet, das der +Anblick der auf Befehl Richelieus vom Rumpfe getrennten +Köpfe noch nicht zum Erlöschen gebracht hatte. +Reim Bauern, beim Edelmann, beim Bürger traf man +auf eine Energie, die man in dem Frankreich nach den +72 Jahren Herrschaft Ludwig XIV. nicht mehr kannte. +Im Jahr 1640 war der französische Charakter noch imstande, +Energisches zu verlangen, aber die Tapfersten +fürchteten den Kardinal; sie wußten ganz genau, daß man +ihm nicht entginge, besäße man die Unbesonnenheit, im +Lande zu bleiben, nachdem man ihn beleidigt hatte.</p> + +<p>Solchem gab der Chevalier von Saint-Ismier seine Gedanken, +ein junger Offizier aus einer der reichsten Adelsfamilien +des Languedoc. An einem der schönsten Juniabende +ritt er nachdenklich am rechten Dordogneufer +hin, Moulons gegenüber. Er hatte nur einen Domestiken +zur Begleitung. Er wußte, wagte er nach Bordeaux zu +gehen, daß er es hier mit dem Kapitän Rochegude zu +tun habe. Dieser Stadtgewaltige war eine Kreatur des +<a id="page-354"></a><span class="pgnum">354</span>Kardinals, und Saint-Ismier kannte die schreckliche +Eminenz. Trotz seiner fünfundzwanzig Jahre hatte sich +der junge Edelmann im deutschen Kriege rühmlichst +ausgezeichnet. Aber da hatte er zuletzt auf dem Schloß +einer Tante, die er beerben sollte, auf einem Balle Streit +mit dem Grafen de Chaix bekommen, dem Verwandten +eines Parlamentspräsidenten der Normandie und treu +ergebenen Dieners des Kardinals, für dessen Rechnung +er in seiner Körperschaft intrigierte. Alle Welt in Rouen +wußte das, und so war der Präsident mächtiger als der +Gouverneur selber. Darum beeilte sich Saint-Ismier auch, +nachdem er den Grafen elf Uhr des Nachts unter einer +Straßenlaterne getötet hatte, aus der Stadt hinauszukommen; +er nahm nicht einmal Abschied von seiner +Tante.</p> + +<p>Auf der Höhe des Berges Sainte-Catherine versteckte +er sich in dem Walde, der die Spitze damals noch +krönte. Seinem Diener ließ er durch einen Bauern, dem +er auf der Landstraße begegnet war, Nachricht zugehen. +Der Diener nahm sich nur so viel Zeit, die Tante zu +verständigen, daß der Chevalier sich sofort zu seinem +Schutz auf das Schloß einer befreundeten Familie in +die Nähe von Orleans begebe, und traf mit zwei Pferden +im Walde ein. Kaum war er zwei Tage auf jenem +Schlosse, als ein Kapuziner, ein Protegé des berühmten +Pater Joseph und Freund des Schloßherrn, diesem einen +Diener zuschickte, der in höchster Eile aus Paris gekommen +war, auf zu Tode gehetzten Postpferden. Der +Diener überbrachte einen Brief, der nichts als diese +Worte enthielt:</p> + +<p>„Ich kann nicht glauben, was man von Ihnen spricht. +Ihre Feinde behaupten, Sie gäben einem Rebellen gegen +Seine Eminenz Unterschlupf.“ +</p> + +<p><a id="page-355"></a><span class="pgnum">355</span>Der arme Saint-Ismier mußte aus dem Schlosse bei +Orléans flüchten, wie er aus Rouen geflohen war. Der +Schloßherr, sein Freund, suchte ihn auf der Jagd auf +am andern Ufer der Loire, um ihm den schlimmen +Brief zu übergeben. Der Chevalier nahm dankbaren Abschied +und ging an den Fluß hinunter in der Hoffnung, +da ein Boot zu finden; zu seinem Glück traf er auch +einen Fischer, der in einem winzigen Kahn gerade sein +Netz einzog. Er rief den Mann an.</p> + +<p>„Meine Gläubiger sind hinter mir her. Du bekommst +einen halben Louis, wenn du die ganze Nacht ruderst. +Du mußt mich nah meinem Haus ans Ufer setzen, eine +halbe Meile vor Blois.“</p> + +<p>Saint-Ismier fuhr die Loire hinunter bis ***; kamen +sie an Städte, stieg er aus und ging zu Fuß durch; die +Flucht währte Tag und Nacht. Seinen Diener mit den +Pferden erreichte er erst bei ***, einem kleinen Dorf +in der Nähe von **. Dann ritt er die Küste entlang südwärts. +Auf drängende Fragen ließ er verstehen, daß +er ein protestantischer Edelmann und mit den Daubigné +verwandt sei und darum ein bißchen verfolgt +werde. So erreichte er ohne Abenteuer die Mündung +der Dordogne. Wichtige Interessen riefen ihn nach Bordeaux, +aber er fürchtete, wie gesagt, der Kapitän Rochegude +habe bereits einen Verhaftsbefehl gegen ihn erhalten.</p> + +<p>‚Der Kardinal‘, sagte er sich, ‚holt viel Geld aus der +Normandie, die unter unsern Wirren am wenigsten gelitten +hat. Der Präsident Lepoitevin ist das Hauptwerkzeug +in seiner Hand, alle die Steuern einzutreiben, +er wird sich recht wenig aus dem Leben eines Edelmanns +wie mir machen, um des Preises der Staatsräson willen, +die ihm zuruft: Vor allem Geld! Mein Unglück ist gerade +<a id="page-356"></a><span class="pgnum">356</span>darum größer, daß der Kardinal mich kennt; ich +habe nicht die Chance, vergessen zu werden.‘</p> + +<p>Aber die Gründe, die ihn nach Bordeaux zu gehen +zwangen, waren zu mächtig. Er setzte seinen Weg die +Dordogne entlang fort und traf in dunkler Nacht hinter +der Vereinigung mit der Garonne bei *** ein. Ein Fährmann +setzte ihn, seine Pferde und den Diener aufs linke +Ufer über. Hier hatte er das Glück, auf Weinhändler +zu stoßen, die sich gerade vom Kapitän Rochegude einen +Permiß zur nächtlichen Einfahrt nach Bordeaux gekauft +hatten, da die Tageshitze ihrem Weine nicht bekomme. +Der Chevalier warf seinen Degen auf einen +ihrer Karren und fuhr um Mitternacht in Bordeaux ein, +eine Peitsche in der Hand und im Gespräch mit einem +der Fuhrleute. Einen Augenblick später ließ er einen +Taler in die Tasche des Mannes gleiten, nahm ruhig +seinen Degen und verschwand, ohne ein Wort zu sagen +um eine Straßenecke.</p> + +<p>Der Chevalier kam bis ans Kirchentor von Saint-Michel; +hier ließ er sich auf den Stufen nieder.</p> + +<p>‚Da bin ich also in Bordeaux‘, sagte er sich. ‚Was +gebe ich für eine Antwort, wenn die Wachrunde +mich fragt? Wenn diese Leute nicht gerade betrunkener +sind als gewöhnlich, hat es wenig Aussicht auf Glauben, +wenn ich ihnen sage, ich sei ein Weinhändler; die Antwort +wäre neben den Fuhrwerken und den Fässern möglich +gewesen. Ich hätte mir, bevor ich meine Pferde +wegschickte, Bedientenkleider anziehen sollen, aber so +angezogen wie ich bin, kann ich nichts andres sein als +ein Edelmann; und als Edelmann errege ich die Aufmerksamkeit +dieses Rochegude, der mich in die Feste +Trompette steckt, und in zwei Monaten fällt mein Kopf +auf dem Marktplatz, hier oder in Rouen. Wird mich +<a id="page-357"></a><span class="pgnum">357</span>mein Kusin, der Marquis von Miossens, der so vorsichtig +ist, aufnehmen? Wenn er von meinem Zweikampf in +Rouen nichts weiß, so wird er meine Ankunft mit Festen +begehen wollen; er wird allen diesen Gaskognern sagen, +ich sei ein Günstling des Kardinals. Weiß er aber, daß +ich der Eminenz mißfallen könnte, so wird er erst seinen +Frieden finden, wenn er seinen Sekretär mit der Anzeige +zu Rochegude geschickt hat. Es wäre nötig, zuerst +zur guten Marquise zu gelangen, ohne daß ihr Mann +von mir weiß. Aber sie hat Liebhaber, und der Marquis +ist so eifersüchtig, daß er, wie man sagt, Duennen +aus Spanien nach Paris kommen ließ zu ihrer ständigen +Überwachung. Wir machten uns lustig über ihn, daß +sein Bordeauleser Haus bewacht sei wie eine Festung. +Und dann, wie zu dem Haus gelangen, das sehr prächtig +sein soll? Ich war nie in Bordeaux gewesen. Wie soll +ich einem Passanten sagen: Zeigen Sie mir das Haus +Miossens und wie ich ohne Wissen des Marquis hineinkomme? +Das wäre verrückt. Sicher aber ist, bleibe ich +hier bei den armseligen Häusern um die Kirche herum, +besteht keine Aussicht, dem prächtigen Hause meines +Kusins zu begegnen.‘</p> + +<p>Die Turmuhr der Kirche schlug ein Uhr.</p> + +<p>‚Keine Zeit mehr zu verlieren‘, sagte sich der Chevalier. +‚Warte ich hier den Tag ab, um dann in irgendein +Haus zu treten, so hat Rochegude davon sofort +Nachricht. In diesen Provinzstädten kennt einer den +andern, besonders unter den Leuten gleichen Standes.‘</p> + +<p>Der arme Chevalier machte sich also auf die Suche, +sehr behindert von seiner Person und nicht wissend, +wohin sich eigentlich wenden. Eine tiefe Stille lag in +allen Gassen, die er durchschritt, und nicht minder tief +war die Dunkelheit. +</p> + +<p><a id="page-358"></a><span class="pgnum">358</span>‚Ich zieh mich aus dieser Geschichte nicht heraus. +Morgen abend sitze ich im Fort Trompette; daraus entweicht +keiner mehr.‘</p> + +<p>Da erblickte er in einiger Entfernung ein Haus, in +dem Licht war.</p> + +<p>‚Und wenn's der Teufel selber wäre,‘ sagte sich der +Chevalier, ‚ich muß mit den Leuten da drin sprechen.‘</p> + +<p>Als er näher kam, vernahm er Lärm. Er lauschte und +suchte zu erraten, um was es sich handle. Da flog eine +kleine Pforte auf, und ein breiter Lichtstrom fiel über +die Gasse und noch das gegenüberliegende Haus hinauf. +In dem Licht stand ein prächtig gekleideter, junger, +sehr schöner Mensch, den Degen in der Faust; er sah +verärgert aus, aber nicht wütend, oder es war die hinter +Verärgertheit maskierte Wut eines Gecken. Die Leute +seiner Umgebung hatten das Wesen von Untergebenen +und schienen ihn beschwichtigen zu wollen, wobei sie +ihn Herr Graf nannten.</p> + +<p>Saint-Ismier war noch etwa zwanzig Schritte von der +hellen Pforte entfernt, als der junge schöne Mann, der +etwa eine halbe Minute in der Türschwelle wie zögernd +gestanden hatte, plötzlich und immer wie einer, der, um +dafür bewundert zu werden, Wut zeigt, schreiend und +fluchend und immerzu mit dem Degen fuchtelnd in die +Gasse hinausging, gefolgt von einem, prächtig gekleidet +wie er. Saint-Ismier sah auf die beiden, als er von dem +ersten bemerkt wurde, den man Herr Graf nannte. Alsbald +stürzte der Graf auf Saint-Ismier los und wollte +ihm mit einem Fluche den Degen durch das Gesicht +ziehen. Saint-Ismier, auf solchen Angriff nicht im mindesten +gefaßt, hatte gerade eine Höflichkeit überlegt, +die er dem jungen Manne sagen wollte mit der Frage, wo +das Haus Miossens läge. Heiteren Wesens hatte er seinem +<a id="page-359"></a><span class="pgnum">359</span>Körper schon jenes liebenswürdige Balancieren eines +Chevaliers gegeben, der den Weinen des Landes herzhaft +zugesprochen, denn er fand es so lustiger wie sicherer, +den Edelmann anzusprechen wie ein leicht Trunkener. +Er gab seinen Lippen schon das Lächeln der Liebenswürdigkeit, +mit der er beeindrucken wollte, als er den +ihm bestimmten Hieb des Grafen vor seinen Augen sah. +Und er fühlte dessen ganze Schwere auf den rechten +Arm niedersausen, mit dem er sein Gesicht deckte.</p> + +<p>Er tat einen Sprung nach rückwärts.</p> + +<p>‚Ich habe einen Schlag bekommen‘, sagte er sich und +Wut stieg ihm rot ins Gesicht. Er ging heftig den +frechen Burschen an.</p> + +<p>„Also du willst mehr davon,“ rief der Graf, „nur zu, +das ist's ja, was ich wollte. Du sollst deine Schläge +haben.“ Und er warf sich mit toller Kühnheit auf Saint-Ismier.</p> + +<p>‚Gott verzeih mir, er will mir ans Leben,‘ sagte sich +der Chevalier, ‚ich muß kaltes Blut bewahren.‘</p> + +<p>Saint-Ismier bekam mehrere Stiche ab, denn nun hatte +auch der Edelmann aus des Grafen Begleitung den +Degen gezogen, sich an seines Freundes Seite gestellt.</p> + +<p>‚Sie wollen mich umbringen‘, sagte sich Saint-Ismier, +und machte einen Ausfall. Dabei zog er aus einer Unvorsichtigkeit +des Grafen Vorteil, der sich ungedeckt +auf ihn gestürzt hatte, um ihm den Degen durch den +Leib zu rennen. Der Graf parierte den Stich, indem er +ihn nach oben abdrängte; da aber sprang der Degen +dem Grafen sechs Daumen tief ins rechte Auge; der +Chevalier spürte, wie das Eisen auf etwas Hartes stieß; +es war der innere Schädelknochen. Der Graf stürzte tot.</p> + +<p>Als der Chevalier, stark erschrocken über dieses Ergebnis, +ein bißchen zögerte, seinen Degen zurückzuziehen, +<a id="page-360"></a><span class="pgnum">360</span>gab ihm der Mensch, der hinter dem Grafen +gestanden hatte, einen starken Hieb in den Arm, und +im gleichen Augenblick fühlte der Chevalier mächtig +das Blut fließen. Dazu rief dieser Gegner aus allen +Lungenkräften um Hilfe. Acht oder zehn Leute stürzten +aus der Herberge, denn eine solche und die erste von +Bordeaux war das erleuchtete Haus. Saint-Ismier sah +gut, daß die Hälfte der Leute bewaffnet war. Er nahm +seine Beine unter die Arme und lief, was er konnte.</p> + +<p>‚Ich habe einen Menschen getötet,‘ sagte er sich, ‚ich +bin mehr als gerächt für einen Hieb in den Arm. Übrigens +ist Gefängnis oder Tod für mich das gleiche. +Nur wird mir, falle ich Rochegude in die Hände, der +Kopf ganz gewiß auf dem Marktplatz abgeschlagen, und +an einer Straßenecke sterbe ich als ein tapferer Mensch +im Kampfe um mein Leben.‘</p> + +<p>Doch aber lief unser Held, was er konnte, um sein +Leben zu retten. Er kam wieder an der Kirche vorbei, +kam dann in eine sehr breite und wie ihm schien, sehr +lange Straße. Die Verfolger hielten an, als sie hier +zwei- oder dreihundert Schritte hinter ihm hergelaufen +waren. Es war höchste Zeit für den ganz atemlosen +Chevalier. Auch er hielt inne, etwa hundert Schritte +weiter als die Verfolger; er machte sich, indem er sich +stark bückte, so klein als möglich; dann versteckte er +sich hinter dem Pfosten einer Brustwehr, die sich in der +Straße etwa sechs acht Fuß vor den Häusern befand. +Die Verfolger tauchten wieder auf, und der Chevalier +begann wieder so gut er konnte zu laufen, immer die +breite lange Straße hinauf. Da hörte er vor sich Schritte +im Takt; er hielt sofort im Laufen inne.</p> + +<p>‚Die Scharwache!‘ dachte er.</p> + +<p>Und warf sich laufend in eine sehr enge Seitengasse, +<a id="page-361"></a><span class="pgnum">361</span>lief durch viele Gäßchen, jede halbe Minute stillstehend, +lauschend; zunächst stieß er nur auf Katzen, denen er +Furcht einjagte; aber als er in eine Gasse einbog, hörte +er vier fünf Männer kommen; deutlich vernahm er ihr +schweres und wohlgesetztes Reden.</p> + +<p>‚Wieder die Wache! Der Teufel hol mich!‘</p> + +<p>Er stand gerade an einem mächtigen, derb holzgeschnitzten +Tor; aber zehn Schritte davon bemerkte +er eine ganz kleine Tür; er stürzte hin. Die Tür war +offen. Er verschwand dahinter und verschnaufte. Er +dachte, die Männer, die er reden gehört hatte, müßten +ihn hier eintreten gesehen haben und hinter ihm +hereinkommen; dann würde er sich hinter der Tür verstecken +und sobald die Männer eingetreten und bis in +den kleinen Hofgarten, den er bemerkte, gekommen +wären, zu dem diese Tür führte, würde er wieder sehen, +daß er hinaus und weiterkomme. Er stand schweratmend +hinter der kleinen Tür und wartete. Die Männer +blieben just davor stehen und schwatzten. Aber sie +traten nicht ein und gingen weiter.</p> + +<p>Angst in den Gliedern schlich Saint-Ismier in was +ihm ein Garten schien der hohen Bäume wegen; er +kam in einen großen Hof, dann in einen kleineren, der +ihm mit kleinen marmornen Tafeln gepflastert schien. +Er spähte vorsichtig, ob er niemanden sähe, mit dem +er sprechen könnte.</p> + +<p>‚Das ist ein reiches Haus. Besser konnte ich es nicht +treffen. Finde ich da einen Domestiken, so wird er für +meinen Taler empfänglich sein und mich zum Palais +Miossens bringen. Vielleicht versteckt er mich für zwei +Taler heute Nacht und morgen in seinem Zimmer. Ja, +wer weiß, vielleicht wird er einmal noch mein eigener +Diener? Glücklicher könnte ich es mir nicht wünschen.‘ +</p> + +<p><a id="page-362"></a><span class="pgnum">362</span>Solches hoffend fand Saint-Ismier eine Treppe, die +er hinaufstieg. Sie führte in das erste Stockwerk, wo +sie aufhörte. Er trat auf einen Altan und sah sich um. +Da war es ihm, als vernehme er ein Geräusch auf der +Treppe. Er schwang sich sofort über das Geländer des +Balkons und trat auf ein Gesims der Hauswand; mit +den Händen hielt er sich an der Holzjalousie des +nächsten Fensters fest. Vorsichtig tastete er sich auf +dem Gesims weiter und kam auf einen zweiten Balkon, +vom ersten ein paar Fuß entfernt. Durch ein offenes +Fenster stieg er ein. Eine wie ihm schien marmorne +und sehr prächtige Treppe führte in das zweite Stockwerk. +Hier stand er nun vor einem mit goldenen Nägeln +verzierten Türvorhang. Durch den Spalt zwischen Türvorhang +und Boden kam ein schwacher Lichtschein. Er +zog die Portiere ganz leise an sich und stand einer Tür +gegenüber, deren silberne oder kupferne Ornamente im +Dunkel glänzten. Aber wichtiger für den armen Chevalier +war das bißchen Licht, das durch das Schlüsselloch +drang. Er brachte sein Auge daran; doch sah er +nichts; er glaubte einen Vorhang unterscheiden zu +können, der im Raume nah vor der Tür hing.</p> + +<p>‚Das ist jedenfalls ein vornehmer Wohnraum‘, sagte +er sich. Sein nächster Gedanke war, keinerlei Geräusch +zu machen. ‚Aber‘, dachte er, ‚schließlich muß ich ja +doch einmal mit jemandem reden, und so allein, verloren +in einem weitläufigen Hause und mitten in der +Nacht, ist's besser, ich spreche mit einem Herrn statt +mit einem Lakaien. Der Herr wird leicht begreifen, +daß ich kein Dieb bin.‘</p> + +<p>Er faßte mit der linken Hand die Portiere, diese beiseite +haltend, und faßte mit der rechten an den Türknopf; +<a id="page-363"></a><span class="pgnum">363</span>er öffnete ganz leise und sagte mit seiner +liebenswürdigen Stimme:</p> + +<p>„Herr Graf, erlauben Sie, daß ich eintrete?“</p> + +<p>Keine Antwort. Er blieb eine Weile in seiner Stellung, +auf dem Boden zwischen seinen Füßen den Degen, damit +er ihn, wenn nötig, rasch zur Hand hätte. Er wiederholte +das Kompliment, so reizend als möglich von ihm +ausgedacht:</p> + +<p>„Herr Graf, wollen Sie mir erlauben, daß ich eintrete?“</p> + +<p>Keine Antwort. Der Chevalier sah sich in dem mit +der Großartigkeit neuesten Stiles gezierten Prunkgemach +um. Die Wände deckten gebuckelte vergoldete +Ledertapeten. Der Tür gegenüber stand ein mächtiger +Schrank aus Ebenholz mit einer Menge kleiner Säulen, +deren Kapitale aus Perlmutter waren. Zur Rechten +breitete sich ein Bett, dessen Vorhänge aus rotem +Damast zugezogen schienen. Er konnte nicht in das +Bett sehen. Die eine Fußsäule, die er bemerken konnte, +war vergoldet. Zwei Genien, wohl aus Goldbronce, +stützten mit ihren hochgehaltenen Armen einen kleinen +Tisch mit ockergoldner Platte; zwei vergoldete Leuchter +standen darauf, in deren einem eine Kerze brannte; +und was den Chevalier nicht wenig beunruhigte, war, +daß er neben dem brennenden Leuchter ganz deutlich +fünf, sechs edelsteinblitzende Ringe liegen sah.</p> + +<p>Er machte einen kleinen Schritt ins Gemach, mit +kleinen Verbeugungen und schüchtern-liebenswürdigen +„Verzeihung, Herr Graf“.</p> + +<p>Über einem Kamin hing ein strahlender Venetianer +Spiegel. Da stand ein großer Toilettentisch, mit schwerer +grüner Seide überzogen. Auch auf diesem Tisch lagen +<a id="page-364"></a><span class="pgnum">364</span>Ringe und eine steinverzierte Uhr; ihr leises Ticken +war das einzige wahrnehmbare Geräusch im Raum.</p> + +<p>‚Wie wird der Besitzer aller dieser Kostbarkeiten aufschreien, +wenn er jetzt aus dem Bett springt und mich +erblickt! Aber ich muß doch zu einem Ende kommen, +so oder so. Eine Viertelstunde hab ich schon in Zwecklosigkeiten +und in der verrückten Hoffnung verloren, +nicht für einen Dieb gehalten zu werden.‘ Er ließ die +Tür los, die sich mit einem kleinen Geräusch schloß. +Sie war von innen nicht zu öffnen, wie sich der Chevalier +gleich überzeugte. ‚Ich bin gefangen‘, sagte er +sich und untersuchte genauer noch die Tür; es war +unmöglich, sie zu öffnen. ‚Ich bin eingesperrt.‘ Von +diesem Umstand beunruhigt, ging der Chevalier entschlossen +auf das Bett zu. Dessen Vorhänge waren fest +zugezogen. Er schlug sie auseinander, immer allerlei +lächelnde Entschuldigungen für die im Bett vermutete +Person stammelnd.</p> + +<p>Das Bett war leer. Aber in hinreichender Unordnung, +die sagte, daß es eben noch besetzt war. Die Vorhänge +trugen reiche Spitzen. Der Chevalier griff nach dem +Leuchter, um besser zu sehen; er steckte eine Hand unter +die Decke; es war noch warm da. Nun untersuchte +eiligst der Gefangene mit dem Leuchter das Zimmer +nach einem Ausgang; zu seinem großen Verdruß fand er +keinen andern als die Tür, die sich von innen nicht +öffnen ließ, und ein Fenster. Er wußte nichts andres +als die Bettvorhänge zu zerreißen und daraus etwas wie +ein Seil zu drehen, mit dessen Hilfe er den Abstieg +durchs Fenster in ein dunkles Ungewisses wagen könnte, +in etwa vierzig Fuß Tiefe, wie er schätzte; ob das da +unten ein Dach oder ein Hof sei, dies zu unterscheiden +machte er vergebliche Anstrengungen. +</p> + +<p><a id="page-365"></a><span class="pgnum">365</span>‚Und was, wenn ich da unten heil und ganz ankomme? +Ich bin da vielleicht genau so gefangen wie +hier.‘</p> + +<p>Da blitzte ihm ein Gedanke auf:</p> + +<p>‚Ich sehe keinen Degen hier im Zimmer. Die +Kammerdiener der hier hausenden vornehmen Persönlichkeit +haben deren Kleider ohne Zweifel mit fortgenommen. +Aber seinen Degen hätten sie ihm doch dagelassen. +Aber vielleicht drangen Diebe ins Haus und er +hat für ihre Verfolgung das Bett verlassen, den Degen +in der Faust? Seltsam ist es doch, daß keine Waffe hier +im Zimmer ist.‘</p> + +<p>Und mit äußerster Sorgfalt ging nun der Chevalier +daran, das Zimmer zu durchforschen. Da stieß er ganz +nah am Bett auf dem Teppich auf zwei kleine Schuhe +aus weißer Seide und auf ein Paar außerordentlich +dünne Seidenstrümpfe.</p> + +<p>‚Ich bin doch ein großer Schafskopf! Ich bin hier +bei einer Frau!‘</p> + +<p>Gleich darauf fand er ein paar Strumpfbänder aus +Silberspitze; auf einem Fauteuil einen kleinen Unterrock +aus rosarotem Satin.</p> + +<p>‚Es ist eine junge Frau‘, rief er hingerissen, und seine +Neugierde war so mächtig erregt, daß er ganz seine +Angst vor dem Gefängnis oder vielmehr vor dem Tode +vergaß, die sein einziges Gefühl war seit der Minute, als +er den jungen Menschen mitten auf der Straße niedergestochen +hatte. In seiner Neugier vergaß der Chevalier +auch gänzlich, für einen Dieb gehalten zu werden. Er +öffnete, das Licht in der Hand, den Degen unterm Arm +alle Schubfächer des Toilettentischs. Er fand eine große +Menge kostbaren Schmucks und von erlesenem Geschmack; +einige kleine Kassetten trugen gravierte Inschriften +<a id="page-366"></a><span class="pgnum">366</span>in italienischer Sprache. ‚Die Herrin dieses +Raumes muß bei Hofe gewesen sein‘, sagte er sich. Er +fand außerordentlich kleine Handschuhe, die getragen +waren. ‚Entzückende Hände hat sie‘, sagte er. Da stieß +er zu seiner größten Freude auf einen Brief.</p> + +<p>‚Dieses Gemach ist also von einer offensichtlich +jungen und schönen Frau bewohnt. Ein Mann macht +ihr die Cour und ohne Glück.‘</p> + +<p>Des Chevaliers Neugierde war zunächst befriedigt, +und eine große Müdigkeit kam über ihn. Um sich eine +Zeit zu geben, die wohl gleich eintretende Person sich +anzusehen, setzte er sich in den Alkov zwischen Bett +und Wand nieder. Er rechnete bestimmt darauf, +wachend das Ende eines Abenteuers abzuwarten, das +schlecht für ihn ausgehen konnte, aber er schlief sehr +rasch ein.</p> + +<p>Er wachte von dem kleinen Geräusch der Tür auf; +die Kammerzofe hatte sie geöffnet.</p> + +<p>„Geh zu Bett. Ich brauch dich nicht mehr. Aber +weck mich sofort, wenn es meiner Mutter wieder +schlechter geht.“</p> + +<p>Saint-Ismier hatte, aus dem Schlaf geschreckt, kaum +Zeit, diese gehörten Worte zu verstehen. Der Bettvorhang +öffnete sich; ein junges Mädchen stand da, +einen Armleuchter mit zwei brennenden Kerzen in der +Hand, die volles Licht über das Zimmer warfen. Ein +ungeheurer Schrecken drückte sich in ihren Zügen aus, +als sie hinter ihrem Bette einen blutbedeckten Menschen +liegen sah. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, stützte +sich auf das Bett. Und starrer Schrecken verzerrte das +Gesicht, als Saint-Ismier sich aufrichtete, um sie zu +stützen. Nun schrie sie laut auf und sank, wie der Chevalier +aus der Folge erfuhr, in Ohnmacht, erst auf +<a id="page-367"></a><span class="pgnum">367</span>das Bett, dann auf den Boden. Der Leuchter fiel +und erlosch. Saint-Ismier wußte erst nicht, was tun; +er war ratlos. Den letzten Rest von Schlaftrunkenheit +abzuschütteln, setzte er sich mit einem Ruck auf. Er +griff nach seinem Degen und horchte; alles war tiefste +Stille. Er tastete nach dem, was ihm über die Beine +gefallen war; fand eine Frau, die er für tot glaubte; +er griff eine Hand, deren Kleinheit und zarte Haut ihn +denken ließ, es sei eine Frau, die irgendein Eifersüchtiger +getötet habe.</p> + +<p>‚Man muß ihr helfen‘, sagte er sich und hatte von +diesem Augenblick wieder sein kaltes Blut. Der Kopf +der Frau lag auf seinem Knie. Er zog es so vorsichtig +als er nur konnte, zurück, hob das Köpfchen und bettete +es auf einen Schemel. Er fand so viel Wärme unter den +Achseln dieses Leibes, als er ihn hob, daß ihm der Gedanke +kam, die Person dürfte nur infolge einer großen +Verwundung ohnmächtig sein.</p> + +<p>‚Ich muß um alles in der Welt von hier heraus‘, sagte +er sich. ‚Da ist keine Hoffnung, mit dem eifersüchtigen +Gatten oder dem wütenden Vater, dem diese Dame getötet +wurde, vernünftig zu reden. Unmöglich, daß er +nicht gleich zurückkomme, um zu sehen, ob seine Rache +gelungen oder um den Leichnam wegzuschaffen; und +findet er mich hier blutbedeckt und ich kann nicht +sagen, wie hierhergekommen, so kann ihm leicht der +Gedanke einfallen, sich auf meine Kosten unschuldig +zu machen und mich als den Mörder dieser Dame zu +bezeichnen; ich könnte nichts darauf antworten, das +Verstand hätte.‘</p> + +<p>Mit größter Vorsicht erhob sich Saint-Ismier, ganz +bedacht nur, der Dame nicht weh zu tun, die in der +engen Bettgasse auf ihm lag. Aber da stieß sein Fuß +<a id="page-368"></a><span class="pgnum">368</span>an den Armleuchter, der mit großem Geräusch ins +Zimmer rollte. Der Chevalier blieb stehen, unbeweglich +und die Hand am Degengriff. Aber alles blieb still. +Schritt um Schritt ging nun Saint-Ismier das Gemach +ab, mit dem Degen die Wände abtastend. Es war vergeblich; +er fand nicht Öffnung noch Tür; die von +außen nur zu öffnende war ohne Gewalt nicht aufzubrechen. +Von neuem öffnete er das Fenster. Da war +weder ein Balken noch ein Gesims, die einen Ausbruch +erlaubt hätten.</p> + +<p>‚Ich hab mir wahrhaftig nichts vorzuwerfen, wenn +mich dieser Zwischenfall auf der Flucht vor dem Gefängnis +aufs Schafott bringt: ich hab mich selber gefangen +gesetzt.‘</p> + +<p>Er horchte; es war ihm, als hätte er vom Bett her +etwas sich bewegen gehört. Er tastete sich im Dunkel +eilends hin. Es war die junge verwundet geglaubte +Dame, die aus der Ohnmacht durch das Geräusch erwacht +war, das er mit dem Fenster machte. Er nahm +sie beim Arm und die Furcht brachte sie vollends zu +sich. Da entriß sie ihm den Arm und gab dem Chevalier +einen Stoß, so stark sie konnte.</p> + +<p>„Sie sind ein Scheusal! Was Sie tun, ist grauenvoll! +Sie wollen meine Ehre besudeln und mich dadurch +zwingen, Ihre Frau zu werden. Aber ich weiß alle Ihre +Absichten zu nichte zu machen. Gelingt es Ihnen, mich +vor den Augen der Welt zu entehren, so geh ich eher +ins Kloster, als daß ich eine Marquise von Buch werde.“</p> + +<p>Der Chevalier trat einige Schritte zurück auf die +andere Seite des Bettes.</p> + +<p>„Verzeihen Sie, Madame, die Angst, die ich Ihnen +verursache. Zunächst kann ich Ihnen eine vortreffliche +Neuigkeit berichten: ich bin nicht der Marquis von +<a id="page-369"></a><span class="pgnum">369</span>Buch, ich bin der Chevalier von Saint-Ismier, Kapitän +im Regiment Royal-Cravatte, von dem Sie, wie ich +glaube, nie reden gehört haben. Ich bin in Bordeaux +heut abend um neu Uhr eingetroffen, und auf der Suche +nach dem Hause der Miossens wurde ich von einem +gutgekleideten Menschen mit dem Degen angefallen, auf +der Straße. Wir haben uns geschlagen, und ich habe +ihn getötet. Man hat mich verfolgt. Ich fand eine kleine +Tür offen; sie führte in Ihren Garten. Ich stieg eine +Treppe hinauf, und da ich mich noch immer verfolgt +glaubte, stieg ich über einen Balkon in eine Antichambre. +Ich sah Licht hier und trat ein, mit vielen Entschuldigungen +für den Edelmann, den ich störte, und erzählte +ihm, es war etwas lächerlich, laut meine ganze Geschichte, +wie ich es eben jetzt tue. Ich starb vor Angst, +für einen Dieb gehalten zu werden. Alle meine lächerlichen +Höflichkeiten waren Grund, daß ich erst nach +einer Viertelstunde merkte, daß das Bett leer war. Dann +bin ich, scheint es, eingeschlafen. Ich wachte auf, als +der Leib einer getöteten Dame über mich fiel. Ich griff +eine entzückende kleine Hand; ich bin hier im Brautgemach +eines sehr eifersüchtigen Edelmanns, dessen Geschmack +und Reichtum zu bewundern ich alle Gelegenheit +hatte. Ich sagte mir, der Eifersüchtige würde behaupten, +ich hätte seine Frau umgebracht. Da legte +ich Ihr Köpfchen, Madame, so zart ich vermochte, auf +einen Schemel, und versuchte mein Letztes, aus diesem +Gemach herauszukommen. Ich wiederhole, Madame, +ich halte mich für einen sehr tapfern Menschen, +und bin seit heute abend um neun zum erstenmal +in Bordeaux. Ich habe Sie also noch nie gesehen, +Madame, weiß nicht einmal Ihren Namen und bin +in Verzweiflung über die Ungelegenheiten, die ich +<a id="page-370"></a><span class="pgnum">370</span>Ihnen mache. Aber Sie haben von mir wenigstens +nichts zu <a class="sic" id="sicA-34" href="#sic-34">fürchten.</a></p> + +<p>„Ich tue mein Möglichstes, um mir Sicherheit zu +geben“, sagte die Dame nach einer Weile. „Ich glaube +alles, was Sie mir sagen, aber doch kann der grausame +Zufall, dessen Umstände Sie mir erzählen, mich meine +Ehre kosten. Ich bin allein mit Ihnen in diesem Gemach, +ohne Licht, und es ist drei Uhr nachts; es gehört +sich, daß ich gleich meine Kammerjungfer rufe.“</p> + +<p>„Verzeihen Sie, Madame, daß ich nochmals von mir +spreche. Der Kommandant Rochegude ist mein Feind, +und ich flüchtete nach Bordeaux, eines andern Duells +wegen verfolgt, das ich vor einiger Zeit schlagen zu +müssen das Unglück hatte. Ein Wort von Ihnen, Madame, +kann mich auf die Feste Trompette bringen, und +da jener, den ich tötete, sich gewiß aller Protektion erfreut, +verlasse ich dies Fort nur auf dem Wege zum +Richtblock.“</p> + +<p>„Ich werde vorsichtig sein,“ sagte die Dame, „aber +lassen Sie mich nun gehen.“</p> + +<p>Sie schritt zur Tür, die sie durch ein Geheimschloß +öffnete. Nun fiel sie mit dem festen Geräusch wieder +zu, und Saint-Ismier war aufs neue allein, ohne Licht, +gefangen.</p> + +<p>‚Ist die Frau häßlich und aus diesem Grunde böse,‘ +dachte der Chevalier, ‚so bin ich verloren. Aber sie hatte +eine zarte Stimme. Jedenfalls werden Domestiken auf +mich losgelassen. Da wird's nichts zu markten geben; +ich steche den ersten nieder, der sich zeigt. Das schafft +dann einen Augenblick Verwirrung, die ich nütze, die +Stiege hinunter und auf die Gasse zu kommen.‘</p> + +<p>Er vernahm draußen Stimmen.</p> + +<p>‚Gleich wird sich alles entscheiden‘, sagte er sich. +</p> + +<p><a id="page-371"></a><span class="pgnum">371</span>Er packte mit der Linken einen Schemel, den er +seinem Angreifer zwischen die Augen werfen wollte, +und stellte sich hinter den Bettvorhang.</p> + +<p>Die Tür ging auf. Er sah ein leidlich hübsches Mädchen +eintreten, in der Hand ein Licht, mit der andern die +Portiere haltend. Sie sah den Raum mit den Blicken ab +und fand den Fremden nicht. Da lachte sie.</p> + +<p>‚Ich dachte mir's doch, daß es nur ein Scherz wäre. +Sie wollten mich nur durch eine seltsame Geschichte am +Schlafen hindern, gnädiges Fräulein.‘</p> + +<p>Da trat eine Dame ein, achtzehn oder zwanzig Jahre +alt und von blendender Schönheit; doch blickte sie ernst +und sogar ein wenig unruhig. Sie ließ die Tür zufallen +und ohne ein Wort zu der zuerst eingetretenen Jungfer +zu sprechen, machte sie ihr ein Zeichen gegen den Alkoven +hin.</p> + +<p>Als der Chevalier bloß die beiden Frauen sah, trat er, +den Degen in der Hand, hinter dem Vorhang hervor. +Aber der nackte Stahl und das Blut, das ihn bedeckte, +machten Wirkung auf die Zofe, die sich ganz blaß ans +Fenster zurückzog. Der Chevalier dachte weder an Gefängnis +mehr noch an seine Duelle; er bewunderte die +außerordentliche Schönheit der jungen Person, die aufrecht +vor ihm stand und ein wenig bestürzt. Nun fiel +heftige Röte über ihr Gesicht, und ihre Augen wurden +groß vor Neugierde.</p> + +<p>‚Man möchte glauben, sie erkenne mich‘, dachte Saint-Ismier. +Und dann: ‚Ich bin nicht goldbestickt wie der +junge Mann, den ich erstochen habe; er war neueste +Pariser Mode. Aber vielleicht gefällt ihrem guten Geschmack +meine einfache Eleganz.‘ Er fühlte sich von +Respekt ganz durchdrungen.</p> + +<p>„Das Dunkel war nicht günstig, Madame. Es ließ mir +<a id="page-372"></a><span class="pgnum">372</span>aber mein kaltes Blut. Erlauben Sie mir, daß ich meine +Entschuldigungen wiederhole für die schrecklichen Ungelegenheiten, +in die Sie mein Unglück gebracht haben.“</p> + +<p>„Sie erlauben, Herr Chevalier, daß alles, was Sie betrifft, +auch von meiner Jungfer Alix gewußt wird. Sie +hat viel Menschenverstand, alles Vertrauen meiner Mutter +und ihr Rat wird uns nützlich sein — Sie erlauben?“</p> + +<p>Alix hatte mehrere Kerzen angezündet. Nun nahm sie +auf ein Zeichen ihrer Herrin auf einem Stuhl neben +dem Fauteuil Platz, in dem sich diese selbst niedergelassen +hatte.</p> + +<p>Die junge Dame schien Mißtrauen und Unruhe verloren +zu haben. Sie begann die Unterhaltung damit, den +Chevalier aufzufordern, seine Geschichte nochmals zu +erzählen. Währenddem dachte Saint-Ismier:</p> + +<p>‚Allem Anschein nach hat diese Demoiselle Alix großen +Einfluß auf die Mutter der jungen Dame, die wünscht, +daß die Mama alle Einzelheiten dieser Nacht aus dem +Munde dieser Alix erfahre.‘</p> + +<p>Aber etwas beunruhigte fortwährend den Chevalier: +das schöne Mädchen machte ihrer Alix heimliche +Zeichen.</p> + +<p>‚Wär's möglich, daß diese Frauen mich verrieten? +Daß sie, mich hier durch Erzählen festhaltend, nur die +Wache erwarten, nach der sie meinetwegen geschickt +haben? Komme, was mag — ich glaube, in meinem +Leben habe ich keine schönere und eindrucksvollere Frau +gesehen.‘</p> + +<p>Der Verdacht des Chevaliers wuchs, als die junge +Dame zu ihm mit einem unerklärlichen Lächeln sagte:</p> + +<p>„Wollen Sie mit uns in eine ganz nahe Galerie treten, +Chevalier?“</p> + +<p>‚Weiß Gott,‘ dachte der Chevalier, ‚was für eine Gesellschaft +<a id="page-373"></a><span class="pgnum">373</span>uns in der Galerie erwartet! Ich hätte Lust, +das Fräulein zu erinnern, was mir bevorsteht, wenn man +mich ins Gefängnis abführt.‘</p> + +<p>So klug zu denken bringt nur ein Mann in großer +Todesnot fertig; es auszusprechen, konnte er sich +nicht entschließen; er fürchtete die Verachtung einer +Dame dadurch zu riskieren, die ein so großartiges Wesen +zeigte.</p> + +<p>Alix öffnete die Tür. Der Chevalier bot der schönen +Dame den Arm, deren Namen er noch immer nicht +wußte. Man schritt über den Vorplatz der kleinen Marmorstiege. +Alix drückte auf einen im Zierwerk der Wand +verborgenen Knopf und man trat durch die sich öffnende +Geheimtür in eine weitläufige Bildergalerie; der Chevalier +packte fest seinen Degen.</p> + +<p>„Hier wollen Sie sich versteckt halten so lange, bis +meine Mutter sich über die Vorfälle dieser Nacht unterrichten +konnte, die Sie zu uns geführt haben. Es ist +angebracht, daß ich Ihnen sage, in welchem Hause Sie +sich befinden. Ich bin Marguerite, Prinzessin de Foix. +Die Leute des Herrn Rochegude werden es nicht wagen, +hier einzudringen.“</p> + +<p>„Es scheint mir ganz unmöglich, gnädiges Fräulein, +daß der Chevalier mit Ihnen unter einem Dache wohne. +Wird es bekannt, läßt es sich nicht mehr leugnen. Man +muß eine Erklärung geben, und jede Erklärung ist tödlich +für den Ruf eines jungen Mädchens, besonders wenn +dieses Mädchen die reichste Erbin der Provinz ist.“</p> + +<p>„Vor drei Jahren, Chevalier, verlor ich in der Bataille +von ** meine beiden Brüder. Seitdem ist meine Mutter +plötzlichen und sehr beunruhigenden Anfällen unterworfen. +Wie heute nacht wieder. Ich weilte bei ihr, +währenddem Sie in mein Zimmer dringen konnten auf +<a id="page-374"></a><span class="pgnum">374</span>so sonderbare Weise. Diese Galerie enthält nur mäßig +merkwürdige Bilder. Ich bitte Sie, sehen Sie sich einige +davon an.“</p> + +<p>Der Chevalier blickte die Prinzessin an.</p> + +<p>‚Sie ist verrückt,‘ dachte er, ‚wie schade.‘ Und er ging +mit ihr ganz unter dem Eindruck dieser Meinung einige +Schritte vor ein Bild.</p> + +<p>„Hier sehen Sie einen jungen Krieger in einer heute +nicht mehr üblichen Rüstung. Immerhin schätzt man +das Bild des Malers.“</p> + +<p>Der Chevalier stand versteinert vor Erstaunen: er erkannte +in dem Bilde sein eigenes Porträt. Er blickte auf +die Prinzessin, deren vornehm ernstes Wesen unverändert +blieb, nichts verriet.</p> + +<p>„Mir kommt vor,“ sagte er nach einer Weile, „als +sähe ich in dem Bilde eine zufällige Ähnlichkeit mit +mir.“</p> + +<p>„Ich weiß nicht,“ sagte die Prinzessin, „aber dies ist +das Konterfei des Raymond von Saint-Ismier, Fahnenjunker +im Garderegiment. Vor vier Jahren wollte mein +armer älterer Bruder, der Herzog von Condal, hier die +Bildnisse aller jener Verwandten beisammen haben, deren +Familien noch existierten. Du siehst, Alix, wie es wohl +nicht unmöglich ist, daß meine Mutter einem unsrer Verwandten +Asyl gewährt, dem Chevalier von Saint-Ismier, +verfolgt wegen eines unverzeihlichen Verbrechens, eines +Duells.“</p> + +<p>Bei diesen Worten lächelte Marguerite zum erstenmal +und mit entzückendem Zauber.</p> + +<p>„Es soll alles geschehen, wie das gnädige Fräulein +wünschen. Es geht natürlich nicht, die gnädige Frau +Prinzessin, Ihre Mutter, nach der schrecklichen Nacht, +die sie gehabt hat, aufzuwecken. Ich bitte das gnädige +<a id="page-375"></a><span class="pgnum">375</span>Fräulein, mir Befehle zu erteilen, aber nicht Ratschläge +von mir zu verlangen.“</p> + +<p>„Und ich verdürbe mir das <a class="sic" id="sicA-35" href="#sic-35">außerdentliche</a> Glück, +das ich diesem Bildnis eines meiner Ahnen verdanke, +wenn ich duldete, daß das, was das gnädige Fräulein +einem leider sehr entfernten Verwandten schuldig zu sein +glaubte, zu irgendeinem Schritt führte, den Mademoiselle +Alix mißbilligt.“</p> + +<p>„Ja, wenn Sie fortwollen,“ sagte Marguerite mit reizender +Anmut, „dann bin ich hinsichtlich des Mittels +in großer Verlegenheit. Das Haus hat einen Torwächter, +einen alten Soldaten, der den pompösen Titel Gouverneur +führt. Jeden Abend muß unser Gouverneur die äußeren +Tore sperren und die Schlüssel verwahren. Die kleine +Gartentür, durch die Sie gekommen sind, ist jetzt +zu. Heut nacht um zwölf sah ich, wie unser Pförtner +alle Schlüssel meiner Mutter brachte. Sie liegen auf +einem kleinen Tisch neben ihrem Kamin. Alix, willst +du von dem Tisch den Schlüssel holen, damit wir den +Chevalier hinauslassen können?“</p> + +<p>„Bei Madame der Prinzessin wachen vier, fünf +Frauen,“ sagte Alix, „und den Schlüssel zu holen, wäre +das Unklügste, was wir tun könnten.“</p> + +<p>„Dann gib doch ein andres Mittel an, wie wir den +Chevalier von Saint-Ismier, unsern Vetter, aus dem Hause +bringen.“</p> + +<p>Man besprach manches, ohne Erfolg. Da machte Alix, +von den Einwendungen ihrer Herrin in die Enge getrieben, +zum Schlusse eine Unklugheit.</p> + +<p>„Sie wissen, gnädiges Fräulein, daß das Appartement +des Herzogs von Condal unberührt und unbetreten ist. +Bei einem Bette liegt, wie ich weiß, eine seidene Strickleiter, +die vierzig Fuß lang sein muß. Sie ist leicht, und +<a id="page-376"></a><span class="pgnum">376</span>ein Mann kann sie unter dem Arm tragen. Auf dieser +Leiter steigt der Herr in den Garten. Ist er einmal da +und entdeckte man ihn auch im Garten, so ist die Sache +schon weit weniger kompromittierend für Sie. Es gibt +doch so viele Frauen im Hause! Am Ende des Gartens, +gegen die kleine Kirche vom fleischgewordenen Worte +zu, ist eine Stelle, wo die Mauer nicht höher ist als acht +Fuß; im Garten gibt's allerlei Leitern. Der Herr kann +leicht die Mauer hinaufkommen und auf der andern +Seite dient ihm ein Stück der Strickleiter.“</p> + +<p>Als die weise Alix mit ihrem Fluchtplan soweit war, +lachte die Prinzessin hellauf. +</p> + + + + +<h2><a id="page-377"></a><span class="pgnum">377</span>AUS ITALIENISCHEN +CHRONIKEN</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-378"></a><span class="pgnum">378</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p> + + +<p><a id="page-379"></a><span class="pgnum">379</span>Ich kann mir denken, daß meine Zeitgenossen aus +dem Jahre 1833 von den naiven und lebhaften Geschichten, +die man hier in der Sprechweise einer Gevatterin +wiedergegeben findet, wenig erbaut sein +dürften. Mir liefert die Erzählung all dieser Prozesse +und Hinrichtungen wahrhafte Daten über das menschliche +Herz, über die man des Nachts im Postwagen gern +nachdenkt. Es wäre mir viel lieber gewesen, ich hätte +Geschichten von Liebeshändeln, Heiraten, klugen Erbschleichereien +gefunden. Aber in solche Geschichten +hätte, auch wenn ich deren gefunden hätte, die Eisenhand +der Gerechtigkeit nicht hineingegriffen, und sie +würden mir auch, fände ich welche, wenig vertrauenswürdig +vorkommen. Immerhin sind gefällige Leute in +diesem Augenblick bemüht, für mich derlei auszuforschen.</p> + +<p>Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hat die Eitelkeit, +le desir de parestre, wie der Baron de Foeneste, sagt, +in Frankreich einen dichten Schleier über das Tun der +Menschen geworfen und insonders über die Motive des +Tuns. In Italien ist die Eitelkeit von ganz andrer Art, +dessen ich den Leser mit meinem Ehrenwort versichern +kann; sie hat hier eine bedeutend geringere Wirkung. +Man denkt im allgemeinen an den Nachbar nur, wenn +man ihn haßt oder ihm nicht traut; Ausnahmen davon +<a id="page-380"></a><span class="pgnum">380</span>gibt es höchstens bei den drei oder vier großen Festen +im Jahr; dann erzwingt sich jeder, der ein Fest gibt, +sozusagen mathematisch des Nachbarn billigende Zustimmung. +Es gibt da keine flüchtigen Nuancen, die +man in jeder Viertelstunde des Lebens mit tödlicher +Unruhe im Fluge sich erhascht und merkt. Man sieht +hier keines jener unruhigen und magern Gesichter, +durch welche alle Ängste einer stets leidenden Eitelkeit +blicken, keines dieser Gesichter à la Vixault, Deputierter +des Herault im Jahr 1833.</p> + +<p>Diese italische Eitelkeit ist so sehr verschieden und +so sehr viel schwächer als unsere französische, und dies +hat mich darauf geführt, die nachfolgenden Klatschgeschichten +abschreiben zu lassen. Meine Vorliebe für +diese Geschichten dürfte jeden meiner französischen +Zeitgenossen spaßig und gesucht vorkommen, die gewohnt +sind, ihr literarisches Vergnügen und das Abbild +des menschlichen Herzens in Werken wie denen der +Herrn Villmain und Delavigne zu suchen. Dessen bin +ich sicher, daß das heutige England, Deutschland und +Frankreich viel zu zerfressen sind von Affektiertheit +und aller Art Eitelkeit, als daß sie imstande wären, +ein so scharfes Licht in die Tiefen des menschlichen +Herzens zu werfen, wie es diese alten italienischen Berichte +tun.</p> + +<p>Ich muß gestehen, daß ich sehr wenig neugierig bin +auf die Denk- und Lebensgewohnheiten der Bewohner +von Ceylon oder von Neu-Holland. Diese Völker sind +allzuverschieden von den Menschen, die meine Freunde +und Nebenbuhler waren. Sie bringen mich zum Gähnen +wie die Achille, und Agamemnone und die Helden Racines: +ich kenne diese Herrschaften nicht. Aber ich +schmeichle mir, die Franzosen und die Italiener meiner +<a id="page-381"></a><span class="pgnum">381</span>Zeit zu kennen; ich liebe das, was das Herz des +Menschen darstellt, aber des Menschen, den ich kenne.</p> + +<p>Rom, Palazzo Cavalieri</p> +<p class="lettersecond">24. April 1833.</p> + +<p>Man wird in dem Folgenden keine komponierten +Landschaften finden, sondern wahrhafte Naturansichten. +Die Wahrheit muß hier für alle sonstigen +Vorzüge stehen; aber wir leben in einer Zeit, der die +Wahrheit nicht genügt und die sie nicht genug pikant +findet. Die sich in dieser Verfassung Geistes befinden, +denen rate ich, jede Woche nur eine der folgenden +Geschichten zu lesen, deren Sprache ich liebe; es ist +die des Volkes, voller Pleonasmen und alle schrecklichen +Dinge bei ihrem schrecklichen Namen nennend. Aber +gerade dadurch schildert der Erzähler unbewußt sein +Jahrhundert und dessen gemeinübliche Denkweise.</p> + +<p>Die mehreren dieser Geschichten sind wenige Tage +nach dem Tode der armen Teufel niedergeschrieben +worden, von denen sie Bericht geben. Meine Korrekturen +versuchten, die Sprache etwas weniger dunkel zu +machen, damit ich nicht schon beim dritten Lesen die +Geduld verliere. Es ist ja überhaupt die Dunkelheit ein +großer Fehler des Italienischen oder vielmehr der acht +oder zehn italienischen Sprachen, von denen keine ihre +Rivalinnen besiegt hat, so wie die Sprache von Paris +die Montaignes getötet hat. So sagt man in Rom: vi +vedrò domani al giorno, was in Florenz kein Mensch +verstünde. Ich persönlich läse lieber eine Geschichte in +englischer als in italienischer Sprache, sie wäre mir deutlicher.</p> + +<p>Nur ein Volk, in dem die Stärke des unmittelbaren +Eindruckes, wie in Neapel, und die Stärke der vom +<a id="page-382"></a><span class="pgnum">382</span>Geiste ohne Pause geförderten Leidenschaft, wie in +Rom, so bedeutend war, vermochte es, in solch hohem +Maße Affektiertheit und Eitelkeit zu unterdrücken oder +auszuschalten. Ich bin nicht sicher, ob man außerhalb +Italiens — und Spaniens vor der Unnatur des 19. Jahrhunderts — eine +Epoche fände, kultivierter und interessanter +als die der Riccaras, von denen Franklin berichtet, +und doch wieder so sehr ohne Eitelkeit, daß +das menschliche Herz fast bloß liegt. In diesem Jahre +1833 kann ich feststellen, daß man in Frankreich und +besonders in England Totschlag vorwiegend des Geldes +wegen begeht. Aber von den beiden armen Teufeln, die +vorgestern hier hingerichtet wurden, hat der dreiundzwanzigjährige +Vivaldi seine Frau umgebracht, weil er +eine andere liebte, und der zweite, siebenundzwanzigjährig, +hatte aus politischen Gründen einen Arzt erschossen, +der wahrscheinlich ein Vaterlandsverräter war. +Von Geldinteressen keine Spur.</p> + +<p>Rom, 15. Mai 1833.</p> + + + + +<h3>DER KARDINAL ALDOBRANDINI</h3> + +<h4>I.</h4> + + +<p>Paolo Santacroce, ein römischer Edelmann aus Fano, +war wiederholt mit Bitten in seine Mutter gedrungen, sie +solle ihn zum gesetzlichen Erben ihres Vermögens einsetzen. +Da sie sich dessen weigerte, beschloß er, sie ums +Leben zu bringen. In solcher Absicht schrieb er an +seinen älteren Bruder Onofrio Marchese von Oriolo, +der damals von Rom abwesend war, ihre Mutter beflecke +durch ihre Ausschweifungen die Ehre ihres edlen +Hauses und daß sie derzeit schwanger sei. In Wahrheit +<a id="page-383"></a><span class="pgnum">383</span>war die arme Frau wassersüchtig, wie sich nach ihrem +Tode herausstellte. Onofrio schrieb seinem Bruder zur +Antwort, er solle tun, was ein Edelmann seiner Ehre +schuldig sei. Daraufhin erdolchte Paolo seine Mutter +und floh nach Neapel, wo er bald darauf den Tod +fand.</p> + +<p>Diesem Verbrechen Pardon zu geben schien der Papst +gar nicht geneigt, zumal kurz vorher der Brudermord +des Marc Anton Massimi sich ereignet hatte und der +Prozeß der Cenci wegen Vatermordes im Gange war. +Papst Clemens VII. befahl strenge Untersuchung, zumal +der Hauptschuldige fehlte; man fand die beiden +Briefe der Brüder und alsbald wurde Onofrio verhaftet, +gerade als er auf dem Grundstück der Orsini dem Ballspiel +oblag.</p> + +<p>Als des Papstes Neffe, der Kardinal Aldobrandini, von +dieser Verhaftung hörte, gab er dem Monsignore Taverna, +Gouverneur von Rom, den Auftrag, sich persönlich +des Prozesses anzunehmen und versprach ihm durch +Verwendung bei seinem Onkel den Kardinalshut, wenn +es ihm gelänge, gegen Onofrio ein Todesurteil zu erreichen. +Es tut aber selber Hut mehr Wirkung auf die +römischen Prälaten als die Farbe des Goldes auf die +Augen der Banditen. Der Monsignore Taverna tat getreu, +wie ihm aufgetragen.</p> + +<p>Solange das Verhör dauerte, wollte der Kardinal +Aldobrandini ihm anwohnen, und war ihm da kein Tag +zu heiß und keine Mittagsstunde; also sah man ihn oft +mitten im Juli sein Haus gegen die siebzehnte Stunde +verlassen und sich nach dem Kerker von Tordi Nona +begeben, woselbst er sieben und acht Stunden hintereinander +blieb, um dem Verhör beizuwohnen. Selbes +drehte sich immer um jene Briefstelle, in der Onofrio +<a id="page-384"></a><span class="pgnum">384</span>schrieb, sein Bruder möge tun, was die Ehre einem Edelmanne +gebiete, und immer wieder wollte der Gouverneur +wissen, was er mit diesen Worten gemeint habe. +Verwirrt im Geiste durch das lange Verhör gab endlich +Onofrio zu, daß er damit den Tod der Mutter gemeint +und verlangt habe, auf daß der Flecken abgewaschen +würde, mit dem die vermeinte Schwangerschaft des unglücklichen +Weibes die Ehre seines berühmten Hauses +befleckt habe.</p> + +<p>Dieses Geständnis kostete ihm das Leben; er wurde +zum Tode verurteilt und enthauptet.</p> + +<p>Man sah eine große Dummheit darin, daß er dieses +Geständnis gemacht hatte; denn hätte er erklärt, jene +Stelle in dem Briefe bedeutete, daß der Eintritt jener unwürdigen +Frau ins Kloster die Schmach abwasche, so +hätte er damit nicht nur sein Leben gerettet, sondern +Lob geerntet, zumal es nach den Gesetzen ritterlicher +Ehre nicht zu den Pflichten des Sohnes gehört, Fehltritte +der Mutter zu rächen, sondern nur solche der +Gattin oder der unverheirateten Schwester.</p> + +<p>Unter den Kardinälen, welche der Papst im +Jahre 1604 ernannte, befand sich auch Monsignore Taverna. +Er hätte seine Barretta im Blute des Onofrio +Santacroce rot gefärbt, sagte man damals in Rom.</p> + +<p>Es soll aber das Verlangen des Kardinals Aldobrandini +nach der Verurteilung des Santacroce seinen Grund +in der Nebenbuhlerschaft bei einer Dame gehabt haben, +die er leidenschaftlich liebte und welche des Onofrio +Geliebte gewesen sein soll. Von Aldobrandini hatte sie +einen kostbaren Diamantring zum Geschenk erhalten, +den die Dame wieder dem Onofrio schenkte, der mit +dieser Gunst seiner Geliebten prahlte. Als er eines Tags +den Kardinal begrüßte, legte er die Hand auf den Schlag +<a id="page-385"></a><span class="pgnum">385</span>der Sänfte, so daß der Diamant jenem in die Augen +funkelte.</p> + +<p>Man erzählt auch, daß Onofrio eines Nachts den +Kardinal mit Faustschlägen angriff, als dieser gerade +am Hause seiner Geliebten vorbeiging; und am andern +Morgen sei er im Vorzimmer des Kardinals erschienen, +um ihm seine Aufwartung zu machen, und tat so, als +ob er ihn nicht erkannt hätte. Daher die Wut und Rache +des Kardinals.</p> + + + +<h4>II.</h4> + +<p>Unter dem Papste Clemens VII. war dessen Neffe, +eben der genannte Kardinal Aldobrandini, mit der geistlichen +und weltlichen Gerichtsbarkeit des Kirchenstaates +betraut. Der Papst hielt streng darauf, daß unter seinem +Pontifikat die Gesetze gerecht und genau befolgt +würden, weshalb er auch seinen eignen Neffen mit +diesem Vertrauensposten bekleidet hatte. Und es wurden +auch in der Tat viele Schuldige bestraft, aber andere +Verbrechen wieder blieben ungesühnt; so die Ermordung +des römischen Ritters Girolamo Longobardi.</p> + +<p>Dieses Longobardi Haupt fand man am Morgen des +Karsamstag auf dem Petersplatz auf eine Lanze gespießt +und daran einen Zettel mit dieser Aufschrift: „Du hast +allzu tyrannisch regiert und was du andern antun +wolltest, das hat man dir angetan.“</p> + +<p>Man kannte nicht die Motive, welche den Kardinal +Aldobrandini zum Todfeind dieses kaum zwanzigjährigen +Longobardi machten, der von allen, die ihn +kannten, so geliebt wurde wie gehaßt jener Kardinal, +dem der Papst, da er ihn mit dem Purpur bekleidete, +sagte: „Trachte, deine neue Würde nicht zu entehren, +denn es wird dir, tust du Böses, nichts nützen, daß du +mein Neffe bist.“ +</p> + +<p><a id="page-386"></a><span class="pgnum">386</span>Longobardi hatte zur Geliebten eine junge Sängerin +von großem Talente und von außerordentlicher Schönheit, +namens Anna Felice Brocchi. Der Kardinal-Nepot +hatte durch das Gerede bei Hofe und in der Stadt Talent +und Schönheit der Sängerin rühmen hören. Eines Tages, +als er an ihrem Hause vorbeiging, erblickte er sie am +Fenster liegen und entbrannte allsogleich in heftiger +Liebe zu ihr. Und suchte nach einem Mittel, ihr dies +zu sagen. Da er sich aber von seinem Onkel überwacht +wußte, mußte er hiebei mit äußerster Vorsicht zu Werk +gehen. Er erfuhr, daß diese Brocchi dem Longobardi gehöre, +den er haßte.</p> + +<p>Die Sängerin hatte die Leidenschaft des Kardinals +wohl bemerkt und fühlte seine Liebe, da er jeden Mittag +an ihrem Hause vorbeiging, gerade zu der Zeit, wo sie +zur Messe in Santa Maria della Pace zu gehen pflegte +und wohin ihr der Kardinal folgte. Hier sah sie der +Kardinal unausgesetzt zärtlich an und versuchte es, ihr +durch bestimmte Zeichen seine Liebe bekannt zu geben.</p> + +<p>Dieses Spiel währte eineinhalb Jahr, ohne daß Aldobrandini +anders als durch Zeichen mit Anna Brocchi +sprechen konnte.</p> + +<p>Solches erzählte sie nun eines Tages alles dem Longobardi. +Worauf dieser sagte, daß es wegen der Feindschaft +zwischen ihm und dem Kardinal sehr übel ausgehen +könnte; er empfahl ihr größte Zurückhaltung +und den lügnerischen Versprechungen des Kardinals +nicht zu glauben, vor allem aber, ihn nie bei sich zu +empfangen. Auch nicht zu grüßen oder sonst zu beachten.</p> + +<p>Longobardi, erregt von der Mitteilung und den Versprechungen +Annas wenig trauend, ließ seine Geliebte +durch Spione beobachten und ihr Haus bewachen, wovon +<a id="page-387"></a><span class="pgnum">387</span>allem Anna nichts merkte, da es mit großer Heimlichkeit +geschah.</p> + +<p>Und bald erfuhr der junge Edelmann durch seine +Leute, daß die Liebe zwischen jenen beiden nicht nur +nicht aufhörte, sondern täglich fester wurde. Um sich +selber davon zu überzeugen, begab er sich am Sankt +Matthäustage zur gleichen Zeit wie Anna Brocchi in +die Kirche della Pace, wo er sich in einer Seitenkapelle +verbarg, von der aus er alles genau sehen konnte, was +sich zwischen der Sängerin und dem Kardinal begab. +Und es blieben ihm keine Zweifel mehr, als die Brocchi, +gefolgt vom Kardinal, die Kirche verließ und dieser sie +lachend grüßte, was ihm die Sängerin mit einem Blick +zurückgab, der deutlich genug war.</p> + +<p>Der arme Longobardi lief wütend zu der Sängerin +und machte ihr Vorwürfe wegen ihres von ihm doch +verbotenen Kirchenbesuches und daß sie den Kardinal +gegrüßt habe. Die Brocchi gab den Kirchenbesuch zu, +leugnete aber, den Kardinal Aldobrandini da gesehen zu +haben. Und fuhr trotz seiner Bitten fort, dieses zu behaupten, +daß sie jenen weder gesehen noch gegrüßt +habe. Da riß der Ritter Longobardi seinen Dolch heraus +und bedrohte sie mit dem Tode, wenn sie nicht die +Wahrheit sage. Da gestand die erschrockene Sängerin, +den Kardinal gesehen und gegrüßt zu haben, aber dies +nur in höflicher Antwort auf seinen Gruß und auf ganz +übliche Weise. Sie habe anfangs dies nur geleugnet, weil +sie so geringfügiger Ursache wegen keinen Streit +zwischen den beiden Männern entfachen wollte.</p> + +<p>Diese Antwort beruhigte etwas den jungen Edelmann, +und er bat sie aufs neue, die Kirche della Pace nicht +zu besuchen und den Kardinal nicht zu grüßen oder gar +zu sprechen, denn anders würde es sie das Leben kosten, +<a id="page-388"></a><span class="pgnum">388</span>dessen könne er sie versichern. Und die Sängerin versprach, +wenn auch sehr gegen ihren Willen, alles zu +tun, wie er wünsche.</p> + +<p>Aldobrandini vermißte zu wiederholten Malen die +Sängerin in der Kirche und konnte sich den Grund +ihrer unbegreiflichen Abwesenheit nicht erklären; er beschloß +aber, auf das Geheimnis zu kommen; doch löste +es sich ihm auf eine nicht erwartete Weise. Er erhielt +von Anna Brocchi einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, +daß sie sich unter seinen Schutz stelle; er möge sie von +Longobardi befreien, der sie mit grausamer Härte behandle. +Der Kardinal war entrüstet über das, was er die +Frechheit des Ritters nannte und ließ Anna sagen, daß +er ihr ergeben sei und sich um nichts andres kümmere, +als ihr zu dienen. Sofort suchte er nach einem Mittel, +sich seines Rivalen zu entledigen. Alsbald fand man an +jenem Ostersamstag das Haupt des Longobardi auf eine +Lanze gespießt auf dem Petersplatze.</p> + +<p>Der Verdacht richtete sich alsobald auf Aldobrandini, +von dessen Besuch bei der Sängerin am selben Abende +des Mordes man erfuhr. Und alle Welt wunderte sich +über die geringe Tätigkeit, welche die Justiz in dieser +Mordsache entfaltete, und über das Schweigen des +Papstes in dieser Sache.</p> + +<p>Den Kardinal sah man nun zu jederzeit in das Haus +der Sängerin gehen, derart, daß es ein großes Ärgernis +gab.</p> + +<p>Umgeben von Kreaturen des Kardinals, konnte der +Papst nichts wissen. Man pries ihm die Sittenstrenge +seines Neffen, an die zu glauben ihn wohl auch seine +verwandtschaftlichen Gefühle bewogen. Aldobrandini +hätte sich auch fernerhin alles Vertrauen des Papstes, +seines Onkels, erfreuen können, hätte diesen nicht ein +<a id="page-389"></a><span class="pgnum">389</span>Zufall mit dem Leben des allzuverliebten Kardinals bekannt +gemacht.</p> + +<p>Im Verlaufe eines Gespräches mit dem spanischen +Gesandten beleidigte der Kardinal diesen auf das +schwerste. Der Gesandte, ein Edelmann von feinstem +Geiste, wollte die guten Beziehungen zwischen seinem +Hofe und dem päpstlichen Stuhle von diesem Zwischenfall +nicht trüben lassen und tat, als ob er die Beleidigung +nicht merkte, bereitete aber im Geheimen seine Rache. +Nun erfuhr er durch seine Leute von der Beziehung +Aldobrandinis zur Sängerin Brocchi, der schamlosen +Straflosigkeit des Kardinals und daß der Papst von den +Schandtaten seines Neffen nichts wisse. Dieser pflegte +die Sängerin unter den größten Vorsichtsmaßregeln +gegen vier Uhr des Nachts zu verlassen; Diener und +Wagen erwarteten ihn ein paar Schritte vom Hause +entfernt um eine Straßenecke, wohin er sich immer +zu Fuß begab. Der Gesandte schickte nun einen seiner +Lakaien zu Anna Brocchi und ließ sie bitten, ob er an +einem bestimmten Abend zu ihr kommen könne, sie +singen zu hören. Er ließ ihr auch sagen, daß sie zu niemandem +von dieser Einladung sprechen möge, damit +daraus kein Gerede entstehe.</p> + +<p>Die Sängerin war sehr geschmeichelt, von einer so +hohen Persönlichkeit bemerkt worden zu sein, und gab +ihre Zustimmung bereitwilligst.</p> + +<p>An dem beschlossenen Abend schickte der Gesandte +einige vertraute Diener voraus, die sich im Treppenhaus +versteckt halten sollten. Alle waren mit großen Fackeln +versehen, geschickt in besonders dazu gefertigten Gehäusen +verborgen. Als nun Aldobrandini heimlich und +leise seine Schöne verließ, hielten ihm die Kerle des Gesandten +ihre leuchtenden Fackeln ins Gesicht, als Ehrengeleite, +<a id="page-390"></a><span class="pgnum">390</span>wie sie sagten. Der Kardinal, dem diese starke +Beleuchtung gar nicht paßte, wollte die Leute wegschicken, +aber sie blieben durchaus und geleiteten den +Kardinal, der, so gut er konnte, mit seinem Mantel sein +Gesicht verhüllte, bis an seinen Wagen.</p> + +<p>Die Geschichte wurde bald bekannt und kam endlich +auch zu den Ohren des Papstes, der alles zu wissen begehrte. +In großem Zorne entzog er seinem Neffen sein +Vertrauen, entkleidete ihn seiner Ämter und Titel und +verbot ihm, jemals mehr vor seinen Augen zu erscheinen, +falls er nicht auch des Purpurs verlustig gehen wolle; +denn es blieb dem Papste kein Zweifel mehr, daß Aldobrandini +auch an der Ermordung jenes Longobardi +schuldig war.</p> + + + + +<h3>VERBRECHEN UND TOD +DES GIROLAMO BIANCINFIORE EINES +FLORENTINISCHEN EDELMANNES</h3> + + +<p>Zur Zeit, als sich der fünfte Karl bemühte, das Haus +Medici in Florenz auf den Thron zu bringen, gab es +unter den edlen Familien dieser Stadt auch eine, die ganz +besonders dem Unglücke geweiht zu sein schien, das +Geschlecht der Biancinfiore. So starben im Jahre 1520 +Madonna Constanza Biancinfiore und ihre Kinder plötzlich +an Gift, ohne daß man dem Urheber dieses Verbrechens +auf die Spur kam. Nur eines der Kinder kam +mit dem Leben davon; es war dies Signor Girolamo +Biancinfiore, der fortan in Neapel lebte. Man war allgemein +des Glaubens, daß er selber seine Familie umgebracht +habe, um deren einziger Vertreter zu sein; +darum begab er sich, um sein Leben bangend, alsofort +<a id="page-391"></a><span class="pgnum">391</span>nach Rom, als er erfuhr, daß sein Landsmann, der Papst +Leo X. aus dem Hause Medici den päpstlichen Thron +bestiegen hatte. Er warf sich dem Papst zu Füßen, der +ihn gnädig aufnahm.</p> + +<p>Dieser Girolamo war von hoher Intelligenz und einer +über alle Probe erhabenen Tapferkeit. Unglücklicherweise +hatte ihm diese Tapferkeit zu nichts anderem gedient +als dazu, ein leidenschaftlicher Zweikämpfer zu +werden; denn mit dem Degen verstand er vortrefflich +umzugehen. In Neapel hatte er im Zweikampf mehr als +sechsunddreißig Gegner getötet, und zumeist aus ganz +nichtigen Gründen, was ihn ebenso gefürchtet machte +wie den Verdacht bestärkte, den man hinsichtlich des +Todes seiner Familie auf ihn geworfen hatte.</p> + +<p>Girolamo ließ sich in Rom nieder, mietete hier ein +Haus und lebte in einem Aufwand, der bald alle seine +Einkünfte verschlungen hatte. Er verkehrte mit einer +Anzahl junger Adeliger, die ihn nicht wegen seiner persönlichen +Tugenden schätzten als wegen der Länge und +Lebhaftigkeit seines Schwertes, weshalb sie sich auch +hüteten, mit ihm in Streit zu kommen. Aber Girolamo, +der sich von denen, die er seine Freunde nannte, so +geschätzt sah oder vielmehr glaubte, brannte darauf, +eine Probe seines Wertes und seiner Geschicklichkeit +abzugeben, rühmte er sich doch immer, nie noch einen +Gegner verfehlt zu haben. Und da bot sich ihm +auch schon so sehr verlangte Gelegenheit. Am Ostersonntag +beleidigte er ohne jeden Grund und Anlaß +mitten in der Kirche von Santa Maria in Trefontana +einen neapolitanischen Edelmann, den Grafen von Alincastro, +den er von früher her kannte, und der in der +Kirche seine Andacht verrichten wollte. Der Graf, der +ein frommer Mann war, sagte leise zu Biancinfiore: +<a id="page-392"></a><span class="pgnum">392</span>„Signor Girolamo, es ist dies weder der Ort noch die +Stunde, Händel auszutragen, aber zu anderer Zeit und +an anderm Orte mögt Ihr mich immer finden.“ Darauf +verließ Girolamo wütend die Kirche und wartete +draußen auf den Grafen. Als er ihn aus dem Kirchentor +treten sah, ging er auf ihn zu und forderte ihn mit +Beschimpfungen zum Zweikampf. Und nannte ihn einen +Feigling, wenn er die Herausforderung nicht annehme. +Da solches vor vielem Volke sich zutrug, blieb dem +Grafen, der Ehre und Ruf bedroht sah, nichts andres, +als den Zweikampf anzunehmen. Er holte bei einem +Freunde, wo er ihn gelassen hatte, seinen Degen und +focht mit Biancinfiore; eine große Menge sah zu. Der +Graf bekam einen Stich in die Brust, und verschied +eine halbe Stunde danach.</p> + +<p>Die Familie des Grafen erhob beim Papste Klage +gegen Biancinfiore, von dessen ruchlosen Taten in +Neapel der Papst bei dieser Gelegenheit erfuhr. Er ließ +ihn in die Engelsburg werfen. Aber ein paar einflußreiche +Freunde Girolamos verwandten sich für ihn und +es gelang ihnen, die Sippe des Erschlagenen versöhnlich +zu stimmen. Darauf begnadigte ihn auch der Papst, doch +unter der Bedingung, daß er in Rom nie mehr Waffen +tragen dürfe, unter Strafe des Todes.</p> + +<p>Dieses päpstliche Verbot machte des Girolamo Bekannte +weniger ängstlich vor ihm, denn jeder war der +Meinung, er würde jenes Gebot achten. Aber es waren +noch nicht zwei Monate nach seiner Haftentlassung vergangen, +als er sich durch ein zweideutiges Wort eines +venetianischen Edelmanns beleidigt glaubte und diesen, +wie er es gewohnt war, mit Beschimpfungen zum Zweikampf +forderte. Darauf begab er sich nach Hause, +seinen Degen zu holen, und fand sich an dem Orte +<a id="page-393"></a><span class="pgnum">393</span>ein, wo ihn der Venetianer erwartete. Dieser war ein +gewandter Fechter, hatte aber das Mißgeschick, über +einen Stein zu stolpern und hinzufallen. Alsogleich +stürzte Biancinfiore über ihn her und versetzte ihm so +viele Stiche, daß dem Unglücklichen kaum Zeit zur +Beichte mehr blieb, als er seinen Geist aufgab.</p> + +<p>Biancinfiore flüchtete vor dem Zorn des Papstes in +eine Kirche, wo er sich zwei Monate lang verborgen +hielt. Während dieser Zeit legten sich neuerlich einige +seiner Freunde beim Papste ins Mittel, und dieser verzieh +ihm zum zweiten Male; Girolamo hatte eine hohe Geldbuße +zu zahlen und nachher den Kirchenstaat zu verlassen. +Nun war aber Biancinfiore schon aus Neapel, +Florenz und andern Orten verwiesen und wußte nicht +mehr, wohin er sich begeben sollte; also ließ er dem +Papste die Beteuerung seiner Reue und seines Gehorsams +zukommen und daß er ihn nur immer schwer +strafen möge, wenn er inkünftig sein Gebot übertrete. +Der Papst begnadigte, gerührt von diesen inständigen +Bitten, Girolamo zum andern Male, und hinfort lebte +dieser sehr zurückgezogen, um jeden neuen Anlaß zu +Vergehungen zu vermeiden.</p> + +<p>Nun geschah es aber, daß er viel im Hause der Gräfin +Oddi zu verkehren begann und sich heftig in die Gräfin +verliebte, die auch ihrerseits bald eine solche starke +Zuneigung zu ihm empfand, daß sie ihm nicht nur ihren +Wagen überließ, sondern ihm alles gab, wessen er bedurfte, +ja ihn in einem Trakte ihres Hauses wohnen ließ. +Daraus entstand, daß sich Girolamo bald wie ein Eheherr +fühlte, denn er verbot, eifersüchtigen Wesens, der +Gräfin, die ein großes Haus führte, jede Geselligkeit, +insonders den Empfang von Herren in ihrem Hause. +Aber die Gräfin kümmerte sich um solches nicht und +<a id="page-394"></a><span class="pgnum">394</span>begann den Biancinfiore lästig zu finden; sie sagte +ihm, daß er sie mit seiner Eifersucht langweile. Solche +Worte kränkten den Eifersüchtigen um so mehr, als er +die Gäste, die er täglich mit bösen Blicken sah, nicht +mehr vor seine Klinge fordern konnte. Er konnte es +nicht hindern, daß die Gräfin Herren und Damen zu +einem Gastmahl lud, worunter besonders ein paar junge +Edelleute seinen Haß hervorgerufen hatten; da nahm +er seine Zuflucht zu Gift, wohl in der Hoffnung, daß +auch dieser Giftmord wie der an seiner Familie verborgen +bleiben oder daß ihm dabei das Glück so +günstig sein würde wie bei seinen beiden Zweikämpfen. +Einen ihm sehr ergebenen Diener der Gräfin +machte er zu seinem Vertrauten, indem er ihn mit Geld +bestach. Die Gäste waren bereits versammelt, als er +diesen Diener in sein Gemach rief und ihm sagte: „Streu +dieses Pulver hier unvermerkt auf das letzte Gericht, +das du aufträgst, und gib mir dann ein Zeichen. Du +bekommst als Lohn mehr als du dir träumst.“</p> + +<p>Hierauf setzte er sich zu den fröhlich Tafelnden und +aß mehr wie sonst; als der Diener aber das Zeichen +machte, da hörte er zu essen auf. Alle nun, die von der +vergifteten Speise gegessen hatten, wanden sich bald +in großen Schmerzen, und auch Biancinfiore rannte +als wie besessen von Schmerzen durch das Zimmer. Die +Mühe der herbeigerufenen Ärzte war vergeblich. Die +Gräfin, ihre kleine Tochter und drei Edelleute verstarben. +Nur bei Biancinfiore, der sich zu Bett begeben +hatte, wirkten die Mittel der Ärzte, die dieses mit +Staunen sahen, aber schließlich froh waren, wenigstens +einen von sechsen gerettet zu haben.</p> + +<p>Kaum sah sich Biancinfiore allein, so rief er nach +seinem Diener. Er bedrohte ihn mit dem Tode, falls er +<a id="page-395"></a><span class="pgnum">395</span>vor Gericht das Geringste verriete, und gab ihm Geld. +Die päpstliche Justizbehörde ordnete Nachforschungen +an über dieses auffallende plötzliche Sterben, und als +die Gerichtsärzte an den ausgegrabenen Leichen Gift +feststellten, wurde die ganze Dienerschaft der Gräfin +verhaftet und verhört. Trotz der Folter, unter die man +einen Diener stellte, der widerspruchsvoll ausgesagt +hatte, kam kein Licht in die Sache, und man mußte +alle wieder entlassen, darunter auch jenen Diener. Aber +es faßte diesen plötzlich die Furcht. Er flüchtete in eine +Kirche und erklärte, er wolle ein Geständnis ablegen, +wenn man ihm Straflosigkeit zusichere. Solches geschah, +und vor den Gouverneur von Rom geführt, enthüllte er +die Untat, zu der er, wie er sagte, durch die Drohungen +Biancinfiores gezwungen worden wäre. Dieser wurde +verhaftet und in den Kerker von Corte Savella gebracht. +Der Papst, der sich selber große Schuld zumaß, ordnete +eine strenge Untersuchung an.</p> + +<p>Anfangs leugnete Biancinfiore alles, auch als man ihn +mit dem Diener zusammenbrachte. Aber beim Anblick +der Folterwerkzeuge gestand er nicht nur das letzte Verbrechen, +sondern auch den Giftmord an seiner Familie. +Das Gericht verurteilte ihn zum Feuertode und vorherigem +Zwicken mit glühenden Zangen, aber der Papst +verwandelte diese Strafe in Ansehung seines adeligen +Hauses in einfache Hinrichtung im Kerker. Noch am +selben Abende empfing Biancinfiore das Todesurteil. +Er erhob ein großes Wehklagen, aber seine Beichtiger +beruhigten ihn und tiefe Reue kam über ihn, Gott so +sehr beleidigt zu haben. Er bat um Verzeihung für alle +seine Missetaten und dankte ihm für seinen bußfertigen +Tod. Vor seiner Hinrichtung erbat er sich noch die +Gnade des päpstlichen Segens, der ihm auch von einem +<a id="page-396"></a><span class="pgnum">396</span>Prälaten des päpstlichen Hauses überbracht wurde. Dann +legte er das Haupt auf den Richtblock.</p> + +<p>Also endete der letzte aus dem Hause der Biancinfiore.</p> + + + + +<h3>DER HERZOG VON SAVELLI</h3> + + +<p>Des Herzogs von Savelli einziger Sohn war, wie der +Kardinal Gaetani in einem Briefe schreibt, ein junger +Mann von lebhaftem Geiste, großem Mute und untadeligen +Sitten, was alles ihn sehr beliebt am römischen +Hofe machte. Er wollte kaiserliche Dienste nehmen, aber +der Vater war damit nicht einverstanden, dessen Trost +im Alter, Stolz und einzige Hoffnung seines Hauses er +war; zudem plante er seine Verheiratung mit der Tochter +eines der ersten neapolitanischen Geschlechter, des +des Marchese de Vastro, deren Mitgift 800 000 Skudi +betrug. Die Braut zählte aber erst zehn Jahre, weshalb +die Eheschließung auf den Tag verschoben wurde, der +ihr dreizehnter Geburtstag war.</p> + +<p>Inzwischen lebte der junge Herzog auf seinem Landgute +Ariccia, wo er sich in ein junges Mädchen von +großer Schönheit und Tochter ehrbarer Eltern verliebte, +die aber bereits einem jungen Manne des Ortes, namens +Christofano, versprochen war. Um die Tochter den Nachstellungen +des jungen Herzogs zu entziehen, drängten +die Eltern mit der Eheschließung. Sie hielten das Mädchen +streng im Hause, auf daß sie der Herzog nicht +sehe, der ihr aber insgeheim einige Liebesbriefe hatte +zukommen lassen. Es fand die Hochzeit statt und der +Herzog sandte als Hochzeitsgabe ein reich mit Blumen +verziertes Mieder, was die Eifersucht des jungen Gatten +in hohem Maße erregte. Aber er war ein Vasall des Herzogs +und konnte mit ihm nicht rechten, ja mußte um +<a id="page-397"></a><span class="pgnum">397</span>sein Leben fürchten, falls er sich den Wünschen seines +Herrn widersetzte. Aber er wollte lieber sterben, als +solches dulden; so schwor er. Und seine Frau war mit +ihm ganz einig. Sie übergab auch die Briefe, mit denen +sie der Herzog bestürmte, ihrem Gatten, und sie bezogen +ein anderes Haus, als der Herzog in ein nah benachbartes +Haus zog, von dessen Fenster aus er die junge Frau zu +sprechen suchte. Dem Gatten schien nur die Wahl +zwischen Unehre und Tod zu bleiben, und er begann +seine Heirat zu bereuen. In seiner Verzweiflung beschloß +er, den jungen Herzog zu ermorden, um die Ehre seines +Ehebettes zu retten.</p> + +<p>Er veranlaßte seine Frau, auf einen der Briefe des +Herzogs zu antworten, und sie schrieb ihm, er möge um +Mitternacht verkleidet zu ihr kommen, damit man ihn +nicht erkenne; ihr Mann sei in Geschäften nach Rom +gefahren. Daß er den Herzog ermorden wollte, davon +sagte Christofano seiner Frau kein Wort; er wollte ihm +nur einen Streich spielen, sagte er ihr, ohne ihn zu +beleidigen, was die junge Frau in ihrer Unschuld auch +glaubte. Der Herzog eilte verkleidet zu dem Stelldichein, +aber statt in die Arme seiner Geliebten, fiel er in die +ihres Gatten, der die Kleider seiner Frau angelegt hatte +und den Liebhaber durch eine Magd in ein entlegenes Gemach +führen ließ. Hier schoß er, kaum daß er eingetreten +war, fünf Kugeln aus seiner Pistole auf ihn ab +und durchschnitt ihm mit einem Messer die Kehle, +damit er nicht schrie. Mit Hilfe eines Genossen, den er gedungen +hatte, schleppte er hierauf den Leichnam bis zum +Tor des Schlosses, wo er ihn in seinem Blute liegen ließ.</p> + +<p>Nach Haus zurückgekehrt, wollte er nun auch seine +Frau ermorden, aber diese war in das Haus ihrer Eltern +geflüchtet. Christofano floh mit seinem Genossen nach +<a id="page-398"></a><span class="pgnum">398</span>Aleppo in der Türkei, von wo er Nachricht nach Rom +sandte.</p> + +<p>Auf die Kunde von dem Verbrechen sandte der Papst +viele seiner Gerichtsbeamten nach Ariccia, die alsbald +in Christofanos Haus die große Blutlache fanden. Die +Gattin wurde verhaftet und nach Borgo Castello gebracht, +wo sie zwei Monate lang verhört wurde. Sie wurde +verschiedenen Graden der Folter unterworfen und gab +das Folgende zu Protokoll:</p> + +<p>„Es ist so, daß mich der junge Herzog Savelli, während +ich im Elternhause lebte, mehrfach durch Briefe +zu einem Stelldichein zu überreden suchte. Meine Mutter +aber sagte mir, ich dürfe darauf nicht antworten, denn +er sei ein leichtfertiger junger Mann, der seine Leute um +nichts ermorden lasse. So sagten auch mein Vater und +alle meine Verwandten. Es war das erste, was mir mein +Mann Christofano sagte, daß ich den jungen Herzog +nicht ansehen solle. Als er eines Tages an das Fenster +des Nachbarhauses trat, stürzte mein Mann mit dem +offenen Messer auf mich zu, aber sein Bruder, der +Priester Don Angelo Maria, fiel ihm in den Arm. Wir +zogen in ein andres Haus, das mein Mann gemietet hatte, +dasselbe, in dem der junge Herzog ermordet wurde. Der +sandte mir aufs neue Briefe, die ich meinem Manne +zeigte. Dann gab er ihm Antwort in einem Briefe und +lud ihn zu Mitternacht in unser Haus, um ihm, wie +er mir sagte, einen Streich zu spielen. Was ich um so +mehr glaubte, da er meine eignen Kleider anlegte, auch +Halsband und Ringe, die ich trug. So trat er um Mitternacht +dem Herzog gegenüber, mit Messer und Pistole. +Ich starb vor Schrecken, als ich den ersten Schuß hörte. +Ich habe nichts gesehen, denn ich floh aus dem Haus, +aus Angst, es könnten mich die Diener des Herzogs umbringen. +<a id="page-399"></a><span class="pgnum">399</span>Ich floh zu meinen Eltern. Meine Mutter sagte +mir, ich dürfe von dem allen nichts verraten, und wir +gingen zum Podesta.“</p> + +<p>Die junge Frau blieb fest bei ihrer Aussage im Gefühle +ihrer Unschuld; sie wurde aber doch zum Tode +durch Enthaupten verurteilt, welche Strafe die Familie +des alten Herzogs verlangte.</p> + +<p>Als die Herzogin Margarete von Parma von der Schönheit +der Verurteilten hörte, wollte sie sie durchaus sehen, +und da sie großen Gefallen an ihr fand, beschloß sie +ihre Rettung. Sie verhandelte mit dem Papste. Der aber +wollte sie nur begnadigen, wenn der alte Herzog Savelli +damit einverstanden wäre. Die Herzogin erreichte es von +ihm, daß ihr die Verurteilte als gerichtet überantwortet +würde. Darauf nahm sie sie als Hoffräulein in ihre +Dienste und erreichte ihre völlige Freisprechung.</p> + +<p>Umsonst ließ Papst Paul III. den Mörder in allen +Teilen des Kirchenstaates suchen, denn der war in +Aleppo. Aber die Eltern der Frau mußten lange im +Kerker schmachten und wurden dann aus Ariccia und +dem Kirchenstaate verwiesen. Das war die einzige Genugtuung +für den Herzog, der über den Tod seines Sohnes +dem Wahnsinn verfiel.</p> + + + + +<h3>DIE RACHE ARIBERTIS</h3> + + +<p>Ariberti, ein Mailänder Edelmann und Besitzer mehrerer +Ortschaften, hatte gegen ein Mitglied der Familie Pecchio +einen tödlichen Haß gefaßt; er war in seinem Besitztum +und später auch in seiner Liebe schwer beleidigt +worden. Pecchio führte gegen ihn einen Prozeß, den er +gewann. Im Verlaufe dieses durch Jahre sich hinziehenden +<a id="page-400"></a><span class="pgnum">400</span>Prozesses fiel Pecchio des Ariberti schöne Frau +auf, und es gelang ihm, sie von seiner Liebe wissen zu +lassen und die ihre zu gewinnen. Nach Verlust des Prozesses +erging sich Ariberti in Drohungen gegen seinen +Gegner. Pecchio erfuhr, daß Aribertis Gattin auf einem +der Schlösser ihres Gatten in strengem Gewahrsam gehalten +wurde. Sie trug nur nach einem in der Welt Verlangen: +aus Aribertis Tyrannei erlöst zu werden. Insgeheim +hatte sie genügend Geld für ihren Unterhalt zusammengebracht. +Das Schloß, in dem sie eingeschlossen +war, lag nah bei Lecco, eine Stunde Wegs von der Adda, +die das Venetianische vom Mailändischen trennt; einmal +auf venetianischem Gebiet, konnte sie einen andern Namen +annehmen und war vor allen Verfolgungen so gut wie +sicher. Und ging es nicht anders, so wollte sie in Venedig +in ein Kloster gehen, dessen Regeln zu jenen Zeiten nicht +sehr streng waren.</p> + +<p>Während der kurzen Beziehungen zu Pecchio hatte +er ihr Geständnis empfangen. Seitdem waren drei Jahre +vergangen, und Aribertis Tyrannei war unerträglich geworden; +er hatte drei spanische Duennen in Dienst genommen, +die seine Frau abwechselnd bewachten; nicht +einmal des Nachts war die Unglückliche allein: die +wachthabende Duenna schlief bei ihr im Zimmer.</p> + +<p>Eine Kammerfrau, vormals die Vertraute von Aribertis +Gattin in ihrer Liebschaft, war zwar nicht +davongejagt, aber zur Gänsemagd degradiert worden, als +welche sie an dem Ufer der Adda ihre Herden hütete. +Der seltsame und in der Kunst der Rache raffinierte +Mann hatte zu der Kammerfrau gesagt: „Ich strafe dich +so mehr, als wenn ich dich wegschicke.“ Und als die +Unglückliche den Wunsch aussprach, bei einer andren +Herrschaft in Dienst treten zu dürfen, antwortete ihr +<a id="page-401"></a><span class="pgnum">401</span>Ariberti: „Versuch es nur, aber in weniger als vier +Wochen bist du tot.“</p> + +<p>Pecchio wußte um alle diese Dinge, die übrigens in +Mailand Stadtgespräch waren zu der Zeit, als er sich +für die Drohungen rächen wollte, die Ariberti überall +gegen ihn ausstieß seit dem Verluste seines Prozesses. +Eines Tages ging Pecchio, wie er sagte, auf die Jagd, +wozu er sich als Bauer verkleidete; so kam er an die +Adda, wo er die Gänseherde seines Feindes aufsuchte. +Er vergewisserte sich, daß an diesem Tage jener Kammerfrau +allein die Obhut der Gänse anvertraut war und +traf sie wie zufällig.</p> + +<p>„Großer Gott, wie seid Ihr verändert!“ rief er ihr zu, +„kaum seid Ihr wieder zu erkennen!“</p> + +<p>Die Kammerfrau brach in Tränen aus und sprach kein +Wort.</p> + +<p>„Wie leid mir Euer Unglück tut,“ sagte Pecchio, „erzählt +mir doch, wie das kam; zuvor aber wollen wir +uns hinter jener Hecke verbergen, damit uns nicht einer +der Spione bemerkt, die immer um das Schloß streichen.“</p> + +<p>Die Kammerfrau erzählte ihr und ihrer Herrin Unglück. +Sprach die Herrin ihre frühere Kammerfrau +einmal an oder lächelte sie ihr nur zu, so wurde die +Kammerfrau auf acht Tage bei Wasser und Brot eingesperrt. +Die Behandlung ihrer Herrin schien weniger +hart, war aber noch grausamer. Ariberti sprach mit ihr +immer nur in einem spottenden höhnenden Ton.</p> + +<p>Pecchio schien von diesen endlosen Berichten sehr +bewegt.</p> + +<p>„Ach, Herr, wenn Ihr ein Christ seid, so solltet Ihr +diese unglückliche Frau, die Ihr einst so liebtet, retten. +Bleibt sie noch ein Jahr in diesem Zustande, so stirbt +sie für sicher. Und sie wäre schon glücklich, könnte sie +<a id="page-402"></a><span class="pgnum">402</span>nur eine Meile weit von hier fern sein! Sie hat ein Kästchen +voll Goldzechinen und zudem, wie Ihr wißt, viele +Diamanten.“</p> + +<p>„Wohlan, ich werde sie retten“, sagte Pecchio.</p> + +<p>Die alte Kammerfrau und jetzt Gänsemagd fiel auf +die Knie.</p> + +<p>„Ich fürchte nur eines,“ sagte Pecchio, „Euer Geschwätz. +Du oder deine Herrin, ihr werdet reden, werdet +euch jemandem anvertrauen und werdet mir den Tod +bringen.“</p> + +<p>Und als darauf die Kammerfrau sich zu schweigen +verschwor, fuhr er fort: „Genau heut in acht Tagen, +am nächsten Dienstag, ist Neumond und zudem Jahrmarkt +in Lecco. Die Nacht über wird die Straße voller +singender Betrunkener sein. In dieser Nacht, wenn's zehn +Uhr auf der Kirchenuhr schlägt, werde ich auf der Adda +sein, unten am Schloßgarten, dort, wo die Maulbeerbäume +und die vielen Nesseln stehen und wo ich mich +früher immer einschlich. Ich werde selber vom Comersee +mein Boot herrudern; es ist sehr klein; hoffentlich +wird man mich nicht bemerken.“</p> + +<p>„Aber wir brauchen mindestens zwei Männer, um +die Duennen festzuhalten und ihnen einen Knebel in den +Mund zu stecken; denkt daran, daß sie schreien werden +und daß man Euch auf der Adda verfolgen wird. Die +Schiffleute Aribertis sind lauter junge Leute, die den +Preis auf der Regatta gewonnen haben. Und wie soll +ich es anstellen, meiner Herrin Nachricht zukommen zu +lassen? Ich kann ihr zwar durch ein zwischen uns verabredetes +Zeichen zu verstehen geben, daß ich ihr Wichtiges +zu sagen habe, aber wie soll ich ihr es sagen? +Es geht oft monatelang, ohne daß ich sie sprechen +kann.“ +</p> + +<p><a id="page-403"></a><span class="pgnum">403</span>Die Kammerfrau konnte nicht schreiben; alles schien +sich zu vereinigen gegen Pecchios Pläne. Schließlich +wurde vereinbart, daß Pecchio ein Fläschchen mit Mohnsaft, +ein berühmtes Betäubungsmittel, das man damals +in Venedig bereitete, in zwei Tagen bringen solle. Berta +hatte Angst, es möchte Gift sein; aber Pecchio beruhigte +sie, und sie kamen überein, daß Berta den Duennen etwas +von dem Safte geben solle. Darauf sollte sie jenen +Dienstboten, welche die Duennen nicht leiden konnten, +Geld in die Hand geben, auf diese Weise zu ihrer Herrin +kommen und endlich, wenn sie Pecchio etwas zu melden +hätte, einen einzelwachsenden kleinen Weidenbaum +knicken, der mitten auf einer nahen Wiese stand. +Pecchio kehrte nach Mailand zurück und früher als gewöhnlich +trieb Berta ihre Gänse in den Schloßhof. Sie +suchte hier eine Gelegenheit, mit ihrer Herrin zu +sprechen, noch vor der Ankunft jener Betäubungsmittel. +Der Herr Pecchio war jung und stand im Rufe geringer +Beständigkeit. Berta, welche seine Rachepläne nicht +kannte, fürchtete, er könnte vergessen, zum Stelldichein +an der Adda zu kommen.</p> + +<p>Alles ging nach Wunsch. Berta schläferte mit dem +Mohnsaft die Duennen ein, sprach mit ihrer Herrin, und +am Jahrmarktstage in Lecco betranken sich alle Dienstleute +Aribertis, wozu die Zechinen dienten, welche +Pecchio der Kammerfrau zugesteckt hatte. Ariberti selber +war in Mailand auf einem Balle, den die Signora Arezi, +eine der vornehmsten Damen des Landes, gab.</p> + +<p>Zur ausgemachten Stunde fand Pecchio sich mit +seinem Boote an jenem einsamen Ufer des Schloßgartens +ein. Die Duennen konnten die Flucht ihrer Herrin nicht +verhindern. Berta hatte alle Angst, sie zu vergiften, verloren +und ihrem Wein eine sehr große Menge von dem +<a id="page-404"></a><span class="pgnum">404</span>Mohnsaft beigemischt. Sie folgte ihrer Herrin auf das +kleine Boot.</p> + +<p>Zu seinem großen Leidwesen sah Pecchio, daß Donna +Teresa Ariberti noch große Leidenschaft für ihn hegte +oder daß diese neu entflammt war, während sein einziger +Gedanke war, sich von ihr zu befreien. Sobald das +Boot auf venetianischem Boden war, übergab er die +Dame einem Franziskanermönch, den er bestochen hatte +und der ihn auf einer kleinen Insel nah dem venetianischen +Addaufer erwartete. Der Mönch versprach, Donna +Teresa auf Umwegen nach Venedig zu bringen. Aber +sie beschwor Pecchio, sie nicht zu verlassen, und da der +Edelmann sich taub stellte, ging sie soweit, ihm Vorwürfe +zu machen, daß er sie unter dem Versprechen, +mit ihr zusammenzuleben, aus ihrem Schlosse entführt +habe. Pecchio beeilte sich, auf das mailändische Ufer +zu kommen, wo er bereits vorbereitete Relais fand, die +ihn um zwei Uhr morgens nach Mailand auf den Ball +der Signora Arezi brachten. Einer der ersten, die er hier +traf, war Ariberti, der, obwohl jung und schön, nicht +tanzte und düster dreinsah, als ahnte er, was sich auf +seinem Schlosse zugetragen hatte.</p> + +<p>Am andren Tage erhielt er die traurige Kundschaft. In +großer Eile fuhr er heim und stellte genaue Nachforschungen +an, konnte aber nichts entdecken. Die Duennen +waren noch halbtot und vermochten keine Antwort zu +geben, dank der ungeheuren Menge Mohnsaft, die Berta +in ihrem Zorne ihnen beigebracht hatte. Nach einigen +Tagen vergeblichen Forschens entdeckte Ariberti beim +Durchsuchen des Zimmers der einen Duenna ein merkwürdig +geformtes Fläschchen. Die Duenna antwortete +auf seine Frage, sie habe das Fläschchen erst vor +zwei Tagen gefunden und es wäre ihr, als habe sie es +<a id="page-405"></a><span class="pgnum">405</span>in den Händen von Berta gesehen. Ariberti schlug sie +fast tot dafür, daß sie ihm das nicht früher schon gesagt +hatte.</p> + +<p>Voll Verzweiflung, kein Anzeichen gefunden zu haben, +kehrte Ariberti nach Mailand zurück, das Fläschchen +nicht vergessend. Er selber nahm sich die Mühe, bei +allen Apothekern der Stadt damit herumzugehen und +sie auszufragen. Bei einem erfuhr er, das Fläschchen +stamme aus einer berühmten, von einem entlaufenen +griechischen Mönch gehaltenen Apotheke. Ariberti begriff, +daß der Apotheker mehr wußte, als er sagte; er +bedrohte ihn erst, dann gab er ihm Geld. Da gestand +der Apotheker, daß das Fläschchen kein Gift enthalten +habe, sondern ein starkes Betäubungsmittel, das man den +Kranken in gewissen Fällen gebe, und daß er selber +dieses Fläschchen ein paar Tage zuvor an den Signor +Pecchio verkauft habe…</p> + + + + +<h3>DIE BRÜDER MASSIMI</h3> + + +<p>Der Marchese Massimi, ein Verwandter der Colonna +und andrer altadeliger römischer Geschlechter, war +Witwer geworden und nannte fünf Söhne sein eigen. +Nun geschah es, daß sich der alte Marchese ganz toll +in die Geliebte des Marcantonio Colonna verliebte, einer +sehr schönen Dame, die der Colonna aus Neapel mitgebracht +hatte. So stark war die Liebe des Marchese zu +dieser Dame, daß er sie zu ehelichen beschloß, was +durchaus nicht den Absichten seiner vier älteren Söhne +entsprach, die diese Heirat mit allen Mitteln zu hintertreiben +dachten. Am Abend nach der vollzogenen Hochzeit +verlangte die junge Frau, ihre Stiefsöhne zu sehen, +die sie noch nicht kannte. Diese ließen aber durch den +<a id="page-406"></a><span class="pgnum">406</span>nach ihnen geschickten Diener sagen, daß sie an diesem +Abend das Glück der Jungvermählten nicht stören wollten, +aber andren Tages nicht verfehlen würden, ihre Aufwartung +zu machen.</p> + +<p>Am nächsten Morgen begab sich der Marchese wie +gewöhnlich nach dem Vatikan, denn er war Cameriere +di Spada e Cappa beim Papste. Dieses hatten die Söhne +gesehen, drangen alsbald in das Schlafgemach ihrer +Stiefmutter, töteten sie mit Pistolenschüssen und ergriffen +die Flucht.</p> + +<p>Der alte Marchese war von dem Anblick, der sich ihm +bei seiner Rückkehr bot, zu Tode getroffen. Dann ergriff +er ein Kruzifix, verfluchte seine Söhne und rief Gott +dafür zum Zeugen, daß er seine vier Söhne enterbe zugunsten +seines Jüngsten, der an dem Morde nicht teilgenommen +hatte.</p> + +<p>Bald danach starb der alte Marchese, und die Mörder +kehrten dank ihrer hohen Beziehungen und ihrer vornehmen +Verwandtschaft nach Rom zurück, ohne Strafe +oder Verfolg. Aber der väterliche Fluch erfüllte sich +bald.</p> + +<p>Marcantonio, den zweiten, gelüstete es nach der Würde +des erstgebornen Luca und er brachte den Unglücklichen +mit Gift beiseite. Er hatte das Gift zuerst an seinem +Kutscher ausprobiert. Erst leugnete er seine Tat und +wurde freigelassen. Als sich aber neue Verdachtsgründe +zeigten, wurde er in den Kerker von Tordinona gebracht, +wo er angesichts der Folter sein Verbrechen in allen +Einzelheiten gestand. Der Papst verurteilte ihn am +16. Juni 1599 zum Tode, den er, mit Gott versöhnt +und mutig, ertrug. Er legte für die Hinrichtung Festkleider +an, als ob es zu einem Mahle ginge. Der Scharfrichter +wollte ihm seine Halskrause abnehmen, aber er +<a id="page-407"></a><span class="pgnum">407</span>sagte befehlend zu ihm: „Rühr mich nicht an!“ Und +als er seiner Fesseln wegen selber den Kragen nicht abnehmen +konnte, bat er einen seiner Begleiter, solches zu +tun. Hierauf legte er selber sein Haupt auf den Richtblock +und fragte den Henker, ob es so richtig sei, worauf +dieser Ja sagte und ihm das Haupt abschlug. Seine +letzten Worte waren: „In manus tuas, Domine, commendo +spiritum meum.“</p> + +<p>Auch die beiden andern Brüder erreichte die strafende +Hand Gottes. Der eine, der Malteserritter war, wurde +von den Türken getötet. Der andere wurde in einem +Liebeshandel aus einem Hinterhalt erschossen.</p> + + + + +<h3>GEORGE PIKNON</h3> + + +<p>In den ersten Jahren des Pontifikates des Papstes Clemens +VIII. traf ein Irländer namens George Piknon +während der Oktave der Auferstehung den Erzpriester +von San Celso und San Giuliano in Banchi auf seinem +Wege in die Kirche, um den Kranken die Kommunion +zu spenden. Beim Anblick des Prälaten packte den +Irländer sinnlose Wut; er ohrfeigte ihn so heftig, daß +der Erzpriester das Ziborium fallen ließ. Piknon hätte +den Leib Christi mit Füßen getreten ohne die +Dazwischenkunft der wütenden Menge.</p> + +<p>Soldaten entrissen ihn dem Volke und er wurde eingesperrt +und verhört. Aber auf alle Fragen antwortete +er nur, daß er nichts als seine Pflicht getan habe und +bedaure, sie nicht voll erfüllt zu haben. Vergeblich versuchten +einige Mönche seiner Nationalität, ihn zu bekehren +und zum katholischen Glauben zu bringen: es +war verlorene Mühe.</p> + +<p>Indem der Papst hoffte, ihn solcherweise zu besseren +<a id="page-408"></a><span class="pgnum">408</span>Gefühlen zu bringen, befahl er, daß man Piknon im Gefängnis +behalte, aber mit Nachsicht und Güte behandle. +Aber es war unnütz. Piknon wollte sich auf nichts einlassen.</p> + +<p>Schließlich kündigte man ihm an, daß er gehenkt +würde; er antwortete mit Hohnlachen; man gab ihm +darauf noch die weitere Strafe, das Zwicken mit glühenden +Zangen auf dem Wege zum Richtplatz.</p> + +<p>Als am Abend vor der Hinrichtung der Kerkermeister +ihm nach Brauch das Urteil verlas, lachte Piknon auf +und spie, von plötzlicher Wut gepackt, dem Mann ins +Gesicht und versuchte ihm Fußtritte zu geben. Keinem +der Geistlichen, die um ihn waren, gelang es, von ihm +andres zu erreichen als eine abweisende Geste.</p> + +<p>Inmitten einer ungeheuren Menge wurde er zu Tode +geführt und mit den Zangen gezwickt, was ihn brüllen +machte wie ein Stier, und wovon ein solcher schlechter +Geruch entstand, daß einer der ihn begleitenden Geistlichen +ohnmächtig wurde. Er übergab sich selbst dem +Henker. Sein Leichnam wurde verbrannt und seine Asche +in alle Winde verstreut.</p> + + + + +<h3>DIE FARNESE</h3> + + +<p>Es geben einige Schriftsteller der Familie Farnese +einen uralten Adel, aber, ohne damit die großen Talente +ihrer vorzüglichsten Glieder zu leugnen, muß gesagt werden, +daß wahrhafter Ursprung der Größe dieser Familie +kein andrer war als die Anmut und Schönheit ihrer +Ahnin, der Vanozza Farnese.</p> + +<p>Ranuccio Farnese, ein römischer Edelmann von mäßigem +Vermögen, hatte drei Kinder: Pier Luigi, Giulia +und Vanozza. Pier Luigi und Giulia heirateten; der +<a id="page-409"></a><span class="pgnum">409</span>erstere hatten einen Sohn, Alexander, der eines Tages die +Tiara tragen sollte.</p> + +<p>Was Vanozza betrifft, so verführte sie durch ihre ungewöhnliche +Schönheit den Roderigo Lenzuoli, durch +seine Mutter Neffe Calixtus III. aus der Familie der +Borgia, der ihm im Jahre 1456 den Purpur verschaffte +und ihm die Würde des Vizekanzlers mit einigen tausend +Talern Einkünften und sonstigen Benefizien erteilte, +wodurch er einer der reichsten Kardinäle wurde.</p> + +<p>Vanozza wurde die Geliebte dieses Roderigo und hatte +einige Kinder von ihm, die, wie der berühmte Cesare +Borgia, mit großem Aufwande erzogen wurden, als ob +sie zu den mächtigsten Fürstengeschlechtern gehörten. +Alexander, ein Sohn jenes Pier Luigi, den seine Tante +Vanozza sehr protegierte, trat trotz seiner sehr leichten +Sitten in den Dienst des Kardinals Roderigo und war +noch nicht zwanzig Jahre alt. Dieser Alexander war in +Liebeshändeln höchst verwegen, hatte manche Dolchstiche +ausgeteilt und empfangen und fürchtete nichts +sonst als die Unerbittlichkeit des sehr gerechten Papstes +Innozenz VIII., der von 1484 bis 1491 regierte, und +vor dem sein Treiben durchaus geheim gehalten werden +mußte. Alexander zählte dreißig Jahre, als er ein Abenteuer +bestand, ob dessentwillen ihn die Frommen noch +mehr haßten, aber jene, die ihn verehrten, noch mehr +liebten.</p> + +<p>Er ritt eines Tages durch die Campagna und machte +zwei Miglien vor Rom halt, um Ausgrabungen zu besichtigen, +die er hier von einigen Bauern aus Aquila ausführen +ließ. Da kam an der Stelle eine junge Frau aus +edlem römischen Geschlecht vorbei, die in ihrem Wagen +nach Tivoli fuhr und von drei Bewaffneten begleitet +war. Alexander war von der Schönheit der Dame so betroffen, +<a id="page-410"></a><span class="pgnum">410</span>daß er unverzüglich die Bewaffneten anfiel und +dem Kutscher zuschrie: „Halt! Das sind meine Pferde! +Ihr habt sie gestohlen!“</p> + +<p>Alexander war gut bewaffnet, aber seine beiden Diener +hatten nur ganz kurze Schwerter und nahmen gleich +Reißaus. Alexanders Leben war in Gefahr. „Herbei, +tapfere Aquilaner!“ schrie er, und die Leute verließen +ihre Arbeit in dem Augenblick, da er von den Bewaffneten +umringt war. Was Alexander so wütend machte, +war nicht seine persönliche Gefahr, sondern daß der +Kutscher nun seine Pferde antrieb und davonfuhr im +Galopp. „Dem Wagen nach!“ schrie Alexander zweien +von den Aquilanern zu, „und tötet eins der Pferde!“</p> + +<p>Zum Glücke für Alexander wurde dieser Befehl von +allen vernommen. Zwei liefen dem Wagen nach und die +andren schlugen mit Harken, ihren einzigen Waffen, +auf die Begleitmannschaft ein, die das Leben des jungen +Farnese bedrohte. Er stach einen der Leute nieder, zwei +andre fielen vom Pferde und liefen davon. Alexander +hatte ein paar leichte Wunden erhalten; das hinderte +ihn aber nicht, hinter dem Wagen mit der Dame herzurennen. +Sie war in Ohnmacht gefallen und er ließ +den Wagen querfeldein nach einer kleinen Villa zu +fahren, die ihm gehörte, etwa zwei Miglien von Palestrina +entfernt. Hier verlebte er einen glückseligen +Monat. Niemand in Rom außer dem Kardinal Roderigo +wußte um seinen Aufenthalt.</p> + +<p>Am Tage jenes Verbrechens war Alexander so klug +gewesen, jedem der Aquilaner sechs Zechinen zu geben +und ihnen zu befehlen, sofort über Tivoli und Rio Freddo +in das Königreich Neapel zu verschwinden, was auch +getreulich ausgeführt wurde, so daß das Verbrechen +ziemlich lange unentdeckt blieb. Aber schließlich kam +<a id="page-411"></a><span class="pgnum">411</span>es doch dem Papste zu Ohren. Der Kardinal wollte nicht +als der Schuldige an der Entführung gelten, denn er +hatte sich erst kurz vorher einer ähnlichen Untat schuldig +gemacht. So wurde Alexander trotz aller Mühe, die sich +Vanozza für ihren Neffen gab, in die Engelsburg gesperrt. +Der Gouverneur von Rom ließ alle Diener Alexanders +einsperren, aber erst auf der Folter redeten sie, und +so erfuhr er auch von den Aquilanern. Er ließ sie von +Sbirren betrunken machen und über die nahe Grenze +locken; hier wurden sie gefaßt und verhört. Erst nach +Monaten war die Untersuchung abgeschlossen, und es +drohte Alexander schwere Gefahr. Da gelang es dem +Kardinal Roderigo und Pietro Marzano, einem Verwandten +der Farnese, Alexander ein Seil zukommen zu +lassen. Und er war kühn genug, sich von der Höhe der +Engelsburg, wo er gefangen war, bis in die Gräben +hinunterzulassen. Das Seil war an 300 Fuß lang und +von großem Gewicht.</p> + +<p>Nach dem Tode Innozenz VIII. wurde der Kardinal +Roderigo unter dem Namen Alexander VI. Papst. Damit +gelangte Vanozza zu höchster Macht und sie erreichte +es, daß Alexander begnadigt und zum Kardinal gemacht +wurde. Er lebte sein wildes Leben weiter wie zuvor und +bis zu dem Tage, da er sich in ein adeliges Mädchen +namens Celia verliebte, die er als seine Frau behandelte +und von der er einige Kinder hatte.</p> + +<p>Nach dem Tode Clemens VII. wurde Alexander unter +dem Namen Paul III. Papst.</p> + + + + + +<h3>DIE FÜRSTIN VON SALERNO</h3> + + +<p>Romandina war die schönste von drei Schwestern, +Töchtern des Gabriele del Balzo Orsini, Herzogs von +<a id="page-412"></a><span class="pgnum">412</span>Venosa, und mit Roberto Sanseverino verheiratet, erstem +Fürsten von Salerno und Großadmiral des Königreichs +Neapel. Ihm folgte ihr Sohn Antonello in der Herrschaft. +Carlo Caraffa, der jüngste Sohn des Galeazzo und der +Corella Brancaccio war des Fürsten nächster Freund, +jungaussehend wie ein Knabe noch, schön, hochherzig +und voll Begabung. Die beiden waren unzertrennlich; +weilte der Fürst in Neapel, so zeigten sie sich überall +zusammen.</p> + +<p>Nun begab es sich, daß Carlo im Duell einen Edelmann +aus der Familie Capece erstach und aus Neapel +fliehen mußte: er begab sich nach Salerno, wo ihn die +Fürstin Romandina auf das liebevollste aufnahm, eingedenk +der Freundschaft ihres Gatten. Allmählich entbrannten +aber die beiden in Liebe füreinander, und eine +Abwesenheit des Fürsten benutzend, verrieten sie ihn, +sie den Gatten und er den Freund. Die Fürstin vertraute +ihre Liebe einem ziemlich hübschen, aber boshaften +Kammermädchen namens Giovanna an und bat, sich +ihr hilfreich und wachsam zu zeigen.</p> + +<p>Als der Fürst zurückkehrte, begrüßte er den ungetreuen +Freund auf das herzlichste; er hatte die Verhandlungen +zwischen ihm und der Familie des Getöteten geführt +und es durch seinen Einfluß zu einem Vergleich +gebracht; so daß Carlo zum großen Schmerze der +Fürstin nach Neapel zurückkehrte.</p> + +<p>Es ließ ihm aber nach einigen Monaten die Fürstin +durch ein Schreiben wissen, wie sehr sie sich über seine +Fremdheit beklage, indem er so lange Zeit nicht nach +Salerno gekommen wäre, sie zu sehen. Carlo antwortete, +daß er mehr denn je von Liebe für sie erfüllt sei, doch +hätte er Salerno gemieden, um sie nicht zu verraten und +sie nicht beide um Leben und Ehre zu bringen. Dieser +<a id="page-413"></a><span class="pgnum">413</span>Brief mißfiel aber der Fürstin und sie schrieb ihm, er +hätte sie immer besuchen sollen. Dieser Brief brachte +Carlo in großen Zwiespalt. Ginge er nicht nach Salerno, +so verlöre er die Liebe der Fürstin nicht nur, sondern +sie würde ihn für untreu und falsch nehmen. Gehorchte +er aber ihrem Wunsche, so würde ihre Liebe leicht +bekannt werden durch einen Zufall oder den Ungestüm +der Fürstin. Aber nach vielem Schwanken entschied sich +Carlo, seiner Geliebten zu folgen, und er ging unverzüglich +nach Salerno.</p> + +<p>Den Fürsten, der sehr erfreut über Carlos Ankunft +war, sagte dieser, daß ihm seine Feinde trotz des geschlossenen +Friedens nach dem Leben trachteten, weshalb +er in Salerno für kurze Zeit ein Asyl suche, während +welcher Zeit er sich mit den Wissenschaften, den +lange vernachlässigten, beschäftigen wolle. Solches +sagte Carlo besonders der Vasallen des Herzogs wegen, +die ihn mit mißtrauendem Auge ansahen. Der Fürst bot +seinem geliebten Freunde einen einsam liegenden Ort +seiner Herrschaft zum Aufenthalte an, aber Carlo sagte, +er würde wohl auch am Hofe in Salerno selber einen +Platz finden, der ihm erlaubte, sich seinen Studien mit +aller Muße hinzugeben; nur daß er zurückgezogen lebe, +möge ihm der Fürst erlauben, was ihm dieser gerne +zusagte.</p> + +<p>Die Fürstin aber wartete voll Sehnsucht der Nacht, +da ihr Gemahl mit seinem Hofstaat ein Schauspiel besuchen +wollte. Giovanna war die Wächterin, und es +gaben sich die beiden Liebenden solchem Glücke hin, +daß sie schier daran zu versterben meinten.</p> + +<p>Ein Jahr lang genossen sie dieses Glück, wenn anders +solche verbrecherische Liebe ein Glück genannt werden +kann, und nicht der leiseste Verdacht fiel auf sie. +</p> + +<p><a id="page-414"></a><span class="pgnum">414</span>Da starb Carlos Vater, Galeazzo, und er mußte der +damit verursachten Geschäfte wegen nach Neapel zurückkehren. +In dieser Zeit ließ der Fürst seinen einzigen +Sohn Antonello aus Neapel zurückkommen, wo er +als Page dem König Ferrante bis zu seinem vierzehnten +Jahr gedient hatte. An diesem Hofe herrschte die +Liebe, und des Knaben Sinn war ganz von ihr erfüllt, +denn er war heißen Blutes. Er verliebte sich in die lebhafte +Giovanna, die wie zwanzig aussah, wenn sie damals +auch schon fünfunddreißig zählte. Die Kammerfrau +erriet sehr bald die Absichten des jungen Herrn Antonio +und tat, als wiese sie ihn ab, um ihn noch stärker an +sich zu fesseln. Die Fürstin, die dieses Spiel der beiden +merkte, fürchtete, es könnte zur Entdeckung ihrer +eigenen Liebschaft führen und verbot der Giovanna, +sich mit ihrem Sohne einzulassen. Und sie drohte ihr +mit Züchtigung, als sie merkte, daß Giovanna ihrem +Verbote nicht folgte. Dieses war sehr unbedacht von +ihr, denn sie hätte sich sagen müssen, daß es ihre eigene +Ehre verlange, die Schwächen andrer zu schonen.</p> + +<p>Giovanna fand sich durch solche Behandlung schlecht +für ihre treuen Dienste belohnt; sie nahm Abschied von +ihrer Herrin und stellte sich unter Antonellos Schutz, der +nun fünfzehn Jahre alt geworden war. Zu spät bereute +Ramondina, und in ihrer Angst, jene möchte sie verraten, +beschloß sie den Tod der Kammerfrau; einige +ihrer Getreuen betraute sie mit dieser Tat. Als diese +Leute nun Giovanna mit Dolchen angingen, erhob sie +ein großes Geschrei, und es gelang ihr, zu entfliehen; sie +rettete sich in die Kammer einer Magd, wo sie laut um +Hilfe rief. Eine Menge Menschen lief zusammen, und +als auch der Bargello erschien, flüchteten die Mörder in +die Kirche San Mateo. Antonello, der auf das Geschrei +<a id="page-415"></a><span class="pgnum">415</span>herbeieilte, fand seine Geliebte in ihrem Blute. Er ließ +die Kirche umstellen, um die Mörder zu fassen. Seine +Mutter befahl ihm aber, sie entkommen zu lassen; was +er versprach.</p> + +<p>Er erzählte sehr unklug Giovanna von dem Befehl +seiner Mutter. Da erfaßte die Kammerfrau großer Zorn +gegen die Fürstin und sie erzählte Antonello die Geschichte +seiner Mutter mit Carlo Caraffa. Antonello berichtete +es sofort seinem Vater. Dieser wollte es von Giovanna +selber hören, und sie erzählte ihm den Liebeshandel +mit allen Einzelheiten, so daß er weder mehr an +der Untreue seines Freundes noch an der seines Weibes +zweifeln konnte. Er gebot Giovanna und Antonello +tiefstes Schweigen.</p> + +<p>Die Fürstin hatte von der Unterredung durch ihre +Spione erfahren und machte sich auf Gift gefaßt, weshalb +sie täglich Gegengifte und Elixiere einnahm. Auch +Carlo sandte sie durch den Sohn einer alten Dienerin +Botschaft von dem Vorgefallenen und ihren Befürchtungen. +Aber des Herzogs Spione fingen den Boten ab, +und er erfuhr so die Untreue seines Weibes aus ihrem +eigenen Schreiben. Nun zögerte er nicht länger und +gab ihr Gift, durch das sie ein schleichendes Fieber +bekam.</p> + +<p>Sie starb nach vierzehn Tagen. Dienstleute des Herzogs +ermordeten Carlo in Neapel. Auch Giovanna traf +seine Rache: er ließ ihre Wunden vergiften.</p> + +<p>Als der Herzog von Salerno erfuhr, daß einer der vornehmsten +Herren von Neapel, der ein schönes aber lasterhaftes +Weib hatte, von der Unehre sprach, welche die +Fürstin Romandina über das Haus Sanseverino gebracht +hatte, da ließ der Herzog gegenüber der Kirche Santa +Chiara einen prächtigen Palast bauen und über dem +<a id="page-416"></a><span class="pgnum">416</span>Portal sein Wappen anbringen. Den Wappenhelm krönten +zwei Hörner, welche diese Schrift trugen:</p> + +<div class="poem"> +<p>Porto le Corna che ognun le vede.</p> +<p>Altro le porta che non se lacrede.</p> +</div> + +<p>Zu deutsch:</p> + +<div class="poem"> +<p>Ich trage Hörner, die ein jeder siecht.</p> +<p>Ein andrer trägt sie und er weiß es nicht.</p> +</div> + + + + +<h3>DIE NONNEN VON BOLOGNA</h3> + + +<p>Daß die Klosterfrauen eine andre als die himmlische +Liebe in ihrem Herzen tragen dürfen, dieses habe ich +nie geglaubt, denn indem sie sich der irdischen Liebe +ergeben, schänden sie nicht allein ihren Leib, sondern +auch ihre Seele und jagen daraus die Gottheit, die in +ihnen hausen soll. Aber ich habe oft gehört, daß manche +Nonnen gegen ihren Willen ins Kloster getan wurden +und daß diese, weit entfernt, Gott ihren Leib zu weihen, +sich dafür entschuldigen wollen, daß man sie von der +Welt abschloß.</p> + +<p>Was ich nun erzähle, ereignete sich unter dem Pontifikat +des Maffeo Barberini, der als Papst Urban VIII. +hieß, und zwar in Bologna, wo des Papstes Neffe, der +Kardinal Antonio Barberini, als Legat residierte.</p> + +<p>Im Konvertitinnenkloster von Bologna waren damals +zwei Nonnen von großer Schönheit und lieblicher Anmut, +deren eine die Teverona hieß, die andre wegen der +Farbe ihres Haares die Rote. Mit dieser Roten begann der +Hauptmann Donato Antonio einen Liebeshandel, während +ein Günstling des Kardinals, ein gewisser Carlo Possenti, +sich mit Erfolg um die Teverona, bewarb. Beide +beschlossen, die Nonnen zu entführen, worein diese gerne +<a id="page-417"></a><span class="pgnum">417</span>willigten. Sie bekamen weltliche Tracht und wurden nahe +bei der Porta Carrese mit Hilfe des Grafen Ranucci, +eines Freundes des Possenti, untergebracht bei einem +gewissen Pallade, wo sie aber nur ein paar Tage verweilten, +um in das Haus des Grafen Alessandro Maria +Pepoli und von da in das Haus eines Dieners dieses +Grafen gebracht zu werden.</p> + +<p>Inzwischen war man der Missetat auf die Spur gekommen +und eine genaue Untersuchung eingeleitet worden. +Des Donato Bruder, der Oberst seines Regimentes +war, schickte den Donato schleunigst nach der Romagna +ins Quartier und versprach ihm, die Rote alsbald +nachzuschicken. Possenti, der inzwischen Vize-Herzog +von Segni geworden und nicht mehr in Bologna war, +hoffte, man würde die Sache bald vergessen, worauf +er sich seine Teverona nachkommen lassen wollte. Aber +der Prozeß wurde sehr eindringlich geführt, so daß der +Oberst für das Leben seines Bruders fürchtete; er verständigte +sich mit dem Grafen Pepoli und die beiden +beschlossen, die zwei Nonnen umzubringen, was auch +geschah. Sie wurden im Keller ihres letzten Wohnortes +bei dem Diener begraben. Solange Urban Papst war, +wurde das Verbrechen totgeschwiegen, denn man vermutete +in dem Kardinal Antonio den Anstifter, der die +Nonnen geliebt und nachdem er ihrer überdrüssig geworden +wäre, hätte er sie man weiß nicht wohin geschickt.</p> + +<p>Als nun nach Urbans Tode Innozenz X. den Thron +bestieg, standen die zahlreichen Feinde der Barberini auf +und klagten den Kardinal vieler während der Regierung +seines Onkels begangener Verbrechen an, und obzwar +der Papst den Barberinis die Tiara verdankte, verfolgte +er doch den Kardinal. Jener Graf Pepoli war inzwischen +<a id="page-418"></a><span class="pgnum">418</span>gestorben und das Haus seines Dieners wechselte den +Besitzer. Der entdeckte die Leichen im Keller und erstattete +Bericht an die Justiz. Pallade, bei dem sie zuerst +gewohnt hatten, machte aus Angst und in Hoffnung auf +die päpstliche Gnade ein offenes Geständnis. Darauf +wurden am 30. Juli 1645 im Palaste des Kardinals Antonio +in Rom jener Carlo Possenti und des Kardinals +Haushofmeister verhaftet und nach Bologna gebracht. +Auch der Oberst, Donatos Bruder, wurde eingezogen und +mit Pallade und Possenti konfrontiert. Possenti starb +ohne etwas zu verraten in der Folter. Auch der Oberst +ertrug ohne ein Wort die Folter und der Haushofmeister +erwies auf ihr seine Unschuld. Er wurde wie der Graf +Ranucci nach Pataro verbannt.</p> + +<p>Der Kardinal floh am hellichten Tage, als ob er einen +Spaziergang machen wolle, nach Frankreich. Später +söhnte er sich mit dem Papste aus. Von jenem Verbrechen +an den beiden Nonnen war nie mehr die Rede.</p> + + + + +<h3>DIE BRÜDER MISSORI</h3> + + +<p>Die beiden Brüder Missori erfreuten sich der Gunst +des Marchese del Monte, Ministers der Königin Christine +von Schweden. Sie trieben was sie wollten in jenem Stadtviertel +Roms, das die Königin während ihres Aufenthaltes +in der Stadt bewohnte. Christine setzte alles Vertrauen +in die Brüder und war gegen ihre Taten um so +nachsichtiger als sie sich mit der Absicht trug, aus +dem von ihr bewohnten Viertel eine Freistätte zu +machen. Solcherart hatten die Gerichtsbeamten keinen +Zutritt in dieses Viertel und die immer es versuchten, +wurden umgebracht und in den Tiber geworfen. +<a id="page-419"></a><span class="pgnum">419</span>Hier in diesem Viertel fanden zumal alle Frauen, +die aus irgendwelchen Gründen ihre Männer verlassen +hatten, Zuflucht.</p> + +<p>Dies währte Jahre, und die Königin zog sich die allgemeine +Verachtung zu, da sie sich auf jene Mordbuben +stützte, und vergeblich ließ der Papst sie durch mehrere +Kardinäle ersuchen, die Verbrecher zu bestrafen; sie +verharrte nur um so stärker auf ihren verbrieften Rechten +eigener Jurisdiktion, als schlimme Ratgeber ihr einredeten, +die Kardinäle wollten sie um ihre Herrschaft +bringen.</p> + +<p>Der Papst sagte immer nur: „Der höchste Richter +wird hier Abhilfe schaffen“, und er begünstigte mit +dieser Schwäche das schändliche Treiben der beiden +Brüder, die selbst davor nicht zurückschreckten, Kindern +Gewalt anzutun. Täglich kamen neue Klagen, und +so mußte der Papst doch dem Gouverneur den Befehl +geben, sich der Brüder Missori zu bemächtigen; aber +es war ihm dieses nicht gestattet, da sie den Titel +„Garde der Königin“ führten. Man mußte daher +danach trachten, sie außerhalb des Bannkreises von +Christinens Macht zu fangen.</p> + +<p>Als dieses die Missori erfuhren, verließen sie das +Viertel nicht mehr. Spione wurden von den Bravi der +Königin erkannt, zu Tode geprügelt, erschossen oder in +den Tiber geworfen. Der Marchese vermehrte die Wachen +des Viertels um fünfundzwanzig Mann. Die Verbrechen +nahmen Tag für Tag zu.</p> + +<p>Nun gelang es einem der Königin wie dem Gouverneur +befreundeten Kardinal, die Majestät mit guten Gründen +zu veranlassen, daß die Brüder Missori den Kirchenstaat +verließen, was sie auch taten. Nicolo wollte sich nach +Neapel wenden, während Bernardino dem Großherzogtum +<a id="page-420"></a><span class="pgnum">420</span>Toskana den Vorzug gab, dessen Herr der Königin befreundet +war.</p> + +<p>Der Papst erhielt sofort Nachricht von dem Aufenthalte +der Brüder und schickte gleich einen Kurier an +den Großherzog mit einem Schreiben, worin er bat, zwei +junge Leute auszuliefern, die von Rom nach Toskana +gereist wären. Cosimo III. wußte nicht, daß sich die +Brüder der Gunst der Königin erfreuten und ließ die +Brüder in Livorno verhaften, von wo sie unter Bedeckung +nach Rom gebracht und in der Engelsburg eingekerkert +wurden. Erst dann erhielt Cosimo die Briefe der Königin, +worauf er ihr schrieb, daß es ihm leid täte und wie es +der Papst angestellt hätte, die Brüder in seine Hand zu +bekommen.</p> + +<p>Die Brüder waren getrennt untergebracht und mit +schweren Fußeisen gefesselt. Bei ihrem ersten Verhör +leugneten sie, Missori zu heißen und Brüder zu sein, +aber zahlreiche Zeugen erkannten sie. Die Königin bemühte +sich ohne Erfolg um ihre Freilassung; in eigner +Person begab sie sich nach dem Monte Cavallo zum +Staatssekretär, wurde aber nicht vorgelassen. Der Papst +war für den Tod der Brüder, sowie sie als die Missori +erkannt wären, auch ohne ihr eigenes Geständnis, causis +nobis notis, wie er hinzusetzte.</p> + +<p>Bernardino sah sich, zurückgeführt in seine Zelle, +schon dem Tode verfallen; er schrie nach dem Kerkermeister. +„Warum“, schrie er, „hat man mir den Bart +geschoren, mich in Eisen gelegt? Soll ich sterben? Laßt +mich nicht in Ungewißheit.“ Aber der Kerkermeister +sagte, dies seien nur rechtmäßige Prozeduren und keine +Vorbereitungen zur Hinrichtung. Davon gewann Bernardino +einige Beruhigung, die aber wieder schwand, als +man das Fenster seiner Zelle vermauerte. +</p> + +<p><a id="page-421"></a><span class="pgnum">421</span>Viele hatten schon die Brüder erkannt, als ein Edler +von San Stefano, der sie sehr gut zu kennen behauptete, +erklärte, er könne die beiden jungen Leute, die man ihm +hier vorführe, nicht als die Missori erkennen. Aber es +half dieses nichts, denn der Papst hatte das Todesurteil +unterzeichnet, und am 14. Januar 1685 begab sich der +Marchese Strozzi nach der Engelsburg, um sich mit dem +Kommandanten Massimi über die Vorbereitungen zur +Hinrichtung zu verständigen. Als man Nicolo das Abendbrot +brachte, fragte er: „Wer ist heute nach der Engelsburg +gekommen?“ Man sagte ihm, daß es nichts Neues +gebe. Aber er war voll Angst und aß nichts.</p> + +<p>Bernardino fragte, ob die Folterinstrumente in der +Engelsburg seien. Der Leutnant Marzio antwortete, er +sei zwanzig Jahre in der Festung und wisse nichts von +solchen Werkzeugen. Bernardino bat um Tabak.</p> + +<p>Am Tage, da man sie zur Richtstätte führte, den +15. Januar des Jahres, war der Platz vor der Engelsbrücke +dicht besetzt von Sbirren, da man einen Rettungsversuch +der Königin befürchtete. Deshalb waren +die Kanonen auch nach dem Platz gerichtet und mit +Kartätschen geladen. Auch war der Befehl gegeben, +bei dem geringsten Zeichen von Unruhe zu feuern.</p> + +<p>Die Missori kamen, der ältere voran. Er war mit seinen +sechsundzwanzig Jahren ein Mensch von hohem Wuchs +und schönem Ansehn. Seine Haare und Augen waren +schwarz und die Farbe seiner Haut olivengrün. Sein +Bruder, der ihm festen Schrittes folgte, war um drei +Jahre jünger, hatte kastanienfarbnes Haar und einen +rötlichen Bart, eine weiße Haut und lebhafte Augen. +Beide trugen hirschfarbene Wamse, hellseidne Strumpfhosen +und weiße Schuhe; ein grauer Mantel mit pfaufarbnem +Futter fiel ihnen bis auf die Füße. Als Bernardino +<a id="page-422"></a><span class="pgnum">422</span>unter der Menge einen Freund erkannte, rief er: +„Lieber Freund, wie siehst du mich wieder! Ich empfehle +dir meine Seele, die bald ihrem Körper entfliehen +wird!“ Der also Angerufene fiel bei diesen Worten in +Ohnmacht und kam erst wieder zu sich, als die beiden +schon tot waren.</p> + +<p>Sie hatten seit dem Morgen des vorigen Tages nichts +gegessen. Bei der Kapelle an der Engelsbrücke bot man +ihnen Nahrung. Bernardino wies sie ab, aber Nicolo +nahm aus Gehorsam einen in Wein getauchten Zwieback. +Er ging als erster in den Tod. Bernardino fiel +in Ohnmacht, als er seinen geliebten Bruder verscheiden +sah. Man brachte ihn rasch wieder zu sich. Er legte mit +größter Ruhe sein Haupt selber auf den Block. Als der +Kopf fiel, donnerte ein Kanonenschuß, wie zuvor bei +der Hinrichtung Nicolos. Diese Schüsse waren eine besondere +Gnade des Papstes, der während der Hinrichtung +in seinem Schlafgemach auf den Knien zu Gott um das +Seelenheil der Hingerichteten betete. Bei jedem Kanonenschuß +sandte er dem Verschiedenen den Segen in articulo +mortis nach.</p> + + + + +<h3>POMPILIA COMPARINI</h3> + + +<p>Der Abbate Paolo Franceschini aus Arezzo war wohl +von edler Herkunft, aber nur sehr wenig mit Glücksgütern +gesegnet. Doch besaß er genügend Geist, sein +Glück zu versuchen, und begab sich nach Rom, wo er +vom Kardinal Lauria als Sekretär bestellt wurde. Er gewann +bald die Gunst des wegen seiner Gelehrsamkeit +im heiligen Kollegium sehr geschätzten Kardinals, und +ausgerüstet mit dieser Gunst wollte Paolo sein Glück und +Ansehn damit fördern, daß er seinem Bruder eine reiche +Frau verschaffe. +</p> + +<p><a id="page-423"></a><span class="pgnum">423</span>Der Bruder Guido war schon ein älterer Mann, von +wenig gewinnendem Äußern und geringer Begabung. +Er war Sekretär beim Kardinal Nerli gewesen, hatte die +Stelle aber verloren, was für die Heiratspläne des Abbate +nicht günstig war. Aber er hoffte, die Mängel seines +Bruders durch die Vorzüge seiner eignen Person zu ersetzen. +Nach mancher Umschau richtete er seine Absicht +auf Francesca Pompilia, die einzige Tochter des +Pietro Comparini und seiner Gattin Violante, die eine +Erbschaft von zwölftausend Skudi zu erwarten hatte. +Um so leichter erschien ihm diese Heirat fertig zu bekommen, +als die Familie Comparini der seinen nicht +ebenbürtig war.</p> + +<p>Er bediente sich als Vermittlerin einer Haarkräuslerin, +die im Hause der Comparini arbeitete und dort vertraulich +war. Er versprach ihr für ihre Vermittlung eine +Belohnung von fünfzig Goldgulden, und die Frau machte +sich gleich ans Werk. Sie redete mit Violante, die ihr +versprach, mit ihrem Manne zu reden. Denn der Nießbrauch +jener Erbschaft blieb der Familie nur für den +Fall, daß direkte Nachkommen vorhanden waren. Der +alte Comparini erklärte sich nicht abgeneigt, wenn es +mit dem Besitze der Franceschini so stimme, wie sie ihm +gesagt hätten.</p> + +<p>Paolo drang auf Eile; er fürchtete, die Sache könnte +ihm entgehen. Er ließ vom Kardinal Lauria den Ehevertrag +aufsetzen, was dieser Mann aus Gefälligkeit gegen +den von ihm geschätzten Abbate tat. Inzwischen hatte +sich Comparini aber anderweitig über die Vermögensumstände +der Franceschini erkundigt und die Auskünfte +lauteten sehr verschieden von denen des Abbate und +dessen Gewährsmänner. Es kam dadurch zu heftigen +Auftritten zwischen Mann und Frau, die durchaus auf +<a id="page-424"></a><span class="pgnum">424</span>der Heirat bestand und sagte, daß dies nur Machenschaften +von Neidern des Glückes ihrer Tochter wären. +Aber der Gatte blieb um so kühler, je mehr die Frau in +Hitze kam und sagte, er wolle durch die Verheiratung +ja nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren. Aber +Pietro hatte innerlich längst seinem Weibe, das er zärtlich +liebte, nachgegeben, denn er tat ihr immer jeden +Willen. Violante aber fürchtete, er könne es schließlich +doch noch durch gute Ratschläge von Freunden bereuen, +und so beschloß sie, die Hochzeit ohne Wissen +ihres Mannes statthaben zu lassen. Die Tochter, immer +folgsam dem was die Mutter verlangte, war einverstanden. +Man verabredete sich mit Guido, und frühmorgens +wurden sie in der Kirche San Lorenzo getraut. +Pietro war sehr aufgebracht, als er davon hörte. Doch +war an der Sache nichts mehr zu ändern, und er richtete +die Hochzeit in seinem Hause, gab seiner Tochter eine +Mitgift von fünfundzwanzig päpstlichen Anleihescheinen +und machte sie zu seiner Erbin.</p> + +<p>Schon am Hochzeitstage war es zwischen dem Alten +und den Brüdern zum Streit gekommen über die Vorteile, +die den beiden Familien aus dieser Heirat erwüchsen, +und man war übereingekommen, daß die Comparinis +nach Arezzo übersiedeln und im Hause der Franceschini +den Rest ihres Lebens verbringen sollten. Comparini +überließ seinem Schwiegersohne auch die Verwaltung +seines ganzen Besitztumes.</p> + +<p>In Arezzo wurden die alten Comparini von den alten +Franceschini und deren Sippschaft mit großer Liebenswürdigkeit +empfangen, wie dies Brauch ist. Aber +bald kam es zu Streitigkeiten und schließlich zu offnem +Bruch. Guidos Mutter war eine anmaßende und geizige +Frau, herrisch schaltend in ihrem Hause. Auf des alten +<a id="page-425"></a><span class="pgnum">425</span>Comparini Vorhaltungen antwortete Guido erst wegwerfend, +dann drohend, was Violante in Wut brachte, +die an Hochmut der alten Franceschini nichts nachgab. +Sie begann Pietro zu quälen und fluchte dem Tag, der +sie nach Arezzo gebracht habe und gab ihm alle Schuld, +die sie selber hatte. Pietro, von Weibertränen eingenommen, +fiel es nicht ein, seinem Weibe zu sagen, daß +diese Ehe gegen sein Wissen und Wollen geschlossen +worden wäre; er bat sie vielmehr zärtlich, doch die +kleinen Unannehmlichkeiten hinzunehmen und abzuwarten, +daß die Franceschini ihr Unrecht einsehen.</p> + +<p>Da starb der Kardinal Lauria, und Paolo wurde römischer +Sekretär des Malteserordens; dadurch stieg sein +Hochmut über alle Begriffe. Violante, selber zu herrschen +gewohnt, wollte es nicht länger ertragen und bestürmte +ihren Mann, nach Rom zurückzukehren. Die +Franceschinis gaben ihnen für die Reisekosten noch eine +Summe Geldes.</p> + +<p>Alsbald in Rom setzte Pietro zu allgemeinem Staunen +eine gerichtliche Denkschrift auf, worin er nachwies, +daß Francesca Pompilia gar nicht seine leibliche Tochter +sei, und er daher gar nicht verpflichtet war, die Mitgift +auszuzahlen. Violante habe sich schwanger gestellt +und ein von einer Hebamme für hundertfünfzig Skudi +gekauftes Kind untergeschoben zu dem Zweck, ihrer +Familie die Nutznießung der fünfundzwanzig Stück +päpstlicher Anleihe zu erhalten. Sie hätte diese Täuschung +sehr geschickt ins Werk gesetzt.</p> + +<p>Diese Denkschrift Pietros wurde bald stadtbekannt +und erregte mehr Unwillen als Erstaunen, denn man +sagte sich, daß die Franceschini von diesem Schriftstück +sehr beleidigt werden müßten. Die Franceschini überlegten, +daß man, wenn Pompilia kein eheliches Kind +<a id="page-426"></a><span class="pgnum">426</span>sei, die Ehe nichtig erklären und so den guten Ruf der +Familie wieder herstellen könne. Die Rechtskundigen, +die sie darüber befragten, waren aber verschiedener Meinung +und so trauten sich die Franceschini nicht an einen +so zweifelhaften Prozeß. Was sie erreichten, war die +Anerkennung von Pompilias ehelicher Geburt und damit +die rechtsgültige Erbschaft der Anleihescheine. Dagegen +appellierte Pietro beim päpstlichen Gericht und erreichte, +daß die Franceschini wohl nur die Ausgaben jener Übertragung, +nicht aber die Nutznießung des Fideikommisses +zugesprochen bekamen.</p> + +<p>Aller Haß der Franceschini wandte sich auf die unglückliche +Pompilia, die in Arezzo zurückgeblieben war. +Von den eigenen Eltern als Kind verleugnet, wurde sie +von ihrem Gatten täglich mit dem Tode bedroht. Die +sechzehnjährige Pompilia ertrug alle Grausamkeit, wie +sie vermochte; als sie aber keinen Ausweg mehr sah, +wandte sie sich an den Statthalter von Arezzo, aber ohne +Erfolg. Nun warf sie sich dem Bischof zu Füßen, und +dieser ließ den Guido rufen und mahnte ihn zu Versöhnlichkeit. +Aber diese öffentliche Beschwerde brachte +ihn ganz außer sich, und er drohte seinem Weibe, es +zu töten, wenn sie es nochmals wagen sollte, sich zu +beklagen. Da es aber in nichts besser wurde, wandte +sich Pompilia an einen Schwager ihres Mannes, den +Canonicus Conti, der ihren Jammer kannte, und bat ihn, +ihr das Leben zu retten. Der Canonicus sah das Heil +nur in der Flucht aus dem Hause; da er sich aber nicht +die Feindschaft seiner Sippe aufladen wollte, empfahl +er Pompilia, sich an den Canonicus Caponzachi zu wenden, +einen Freund und entfernten Verwandten der Franceschini, +einen rechtschaffenen und erprobten Mann. +Dieser hatte nun erst Bedenken, eine Frau ihrem Manne +<a id="page-427"></a><span class="pgnum">427</span>zu entführen, wenn auch nur zu ihren Eltern, aber +schließlich gewann ihn doch das Mitleid und er versprach +seine Hilfe. Als diese nicht rasch genug kam, +schrieb Pompilia an ihn, leidenschaftlich und schmeichelnd, +doch nie derartiges, daß man daraus eine Verletzung +ihres ehelichen Treugelöbnisses hätte lesen +können, wie die erhaltenen Briefe zeigen. In einem dieser +Briefe lobt sie des Caponzachis Bescheidenheit, in +einem andern beschwert sie sich über einige frivole Gedichte, +die er ihr geschickt habe und bittet ihn, ihr +seinen Edelmut rein zu erhalten.</p> + +<p>Am verabredeten Tage der Flucht bestiegen der Canonicus +und Pompilia den Reisewagen und erreichten +in raschester Fahrt am frühen Morgen des andern Tags +Castelnuovo; da hier der Wirt ihnen nur ein Bett bieten +konnte, verbrachte Pompilia die Rast auf einem Lehnstuhl, +während der Canonicus im Stall zum Kutscher ging.</p> + +<p>Kurz nach der Flucht entdeckte Guido das leere Bett +und den offenen Schrank, in dem eine darin verwahrte +Geldsumme fehlte. Zu Pferde eilte er den Flüchtigen +auf der Straße nach Rom nach. Er traf eine Stunde +nach ihrer Ankunft in jener Herberge ein, stieß auf +Caponzachi, der ihn einen Schurken und Tyrannen +nannte. Guido war sehr überrascht, den Canonicus bei +seiner Frau zu treffen, und er verlor allen Mut so sehr, +daß er wieder nach Hause ritt. Hier angekommen verklagte +er seine Frau wegen Flucht und Ehebruch, womit +er seine Mitgift gewonnen zu haben glaubte. Sein +Bruder, der Abbate Paolo, erhob Beschwerde beim Papste +Innozenz XII. und beim Gouverneur von Rom, dieser +möge den Canonicus Caponzachi als Entführer und +Ehebrecher erklären und seinem Bruder die Mitgift zusprechen. +</p> + +<p><a id="page-428"></a><span class="pgnum">428</span>Der mit aller Strenge geführte Prozeß ergab aber +nichts gegen das Paar, außer dem Briefwechsel vor der +Flucht, diese selber und die Aussage des Kutschers, der +erklärte, er hätte beim Umsehen des öftern die beiden +Wange an Wange liegend im Wagen gesehen. Aber es +möchte dessen Ursache die schlechte Straße gewesen +sein. Endlich verfügte das Gericht die Verbannung des +Canonicus für Jahre nach Civitavechia wegen Begünstigung +der Flucht, wenn auch in guter Absicht. +Pompilia wurde mit Zustimmung der Franceschinis in +loco carceris nach dem Kloster delle Scalette an der +Lungara gebracht, wo Guido ihren Unterhalt zu bestreiten +hatte. Da sie aber ihrer Schwangerschaft wegen +nicht länger an diesem Orte bleiben konnte, verfügte +der Gouverneur ihre Übersiedlung in das elterliche Haus, +womit auch der Unterhalt durch den Gatten sein Ende +fand.</p> + +<p>Des Geredes über diese Sache war in Rom so viel, daß +der Abbate Paolo seine Stelle beim Malteserorden verlor. +Worauf er sich entschloß, Rom zu verlassen und +in ein Land zu gehen, wohin kein Gerücht von der Unehre, +die ihn betroffen, gedrungen sein konnte. Er +hinterließ Guido die Pflicht, die Ehre des Hauses wieder +herzustellen.</p> + +<p>Pompilia gebar einen Sohn, der den Namen Moschio +erhielt und von den Comparinis zur Pflege außer Haus +gegeben wurde. Alle Welt hoffte, Guido würde nun +zur Besinnung kommen und sich mit seinem Weibe versöhnen; +aber Guido hatte ganz andere Gedanken: er +wollte seine Ehre mit dem Blute aller Contarinis reinwaschen.</p> + +<p>Einem Feldarbeiter, einem Menschen niedern Wandels, +vertraute er seine Schmach und seinen Racheplan +<a id="page-429"></a><span class="pgnum">429</span>an, und der Mensch erbot sich, mit Hilfe von vier, fünf +sichern Leuten den Racheplan auszuführen. Zu fünft +begaben sie sich verkleidet nach Rom und klopften des +Nachts um zwei bei den Comparinis an. Einer rief, er +habe einen Brief Caponzachis zu bestellen, aber die +Frauen hatten Angst und rieten Pietro, nicht zu öffnen. +Der aber, auf den Brief neugierig, öffnete die Tür und +Guido stürzte mit zweien seiner Leute herein, während +die andern zwei draußen Wache standen. Er stieß dem +Alten das Messer in den Leib, so daß er ohne einen +Laut hinfiel und starb. Hierauf ermorderte er Violante +und die unglückliche Pompilia mit vielen Messerstichen +und Fußtritten. Einem seiner Leute befahl er, nachzusehen, +ob die Frauen tot seien; der zog sie an den +Haaren hoch, ließ sie hinfallen und sagte, sie seien tot. +Er zahlte ihnen dann den Lohn aus und wollte sich von +ihnen trennen; dies aber ließen die vier Gesellen nicht +zu, aus Angst, und so gingen sie alle miteinander zu +Fuß die Straße nach Arezzo zu.</p> + +<p>Guido und Violante waren tot, aber Pompilia lebte +noch, trotzdem sie die meisten Messerstiche bekommen +hatte. Nun rief sie um Hilfe, so daß die Nachbarn +herbeieilten. Mit großer Standhaftigkeit ertrug sie ihre +schwere Verwundung, beklagte auch nicht ihren Gatten, +sondern bat den Himmel, daß er ihm seine Tat vergebe, +und starb eines seligen Todes, bis zuletzt ihre Unschuld +beteuernd.</p> + +<p>In einer Hütte nahe Rom wurden die Mörder aufgegriffen. +Guido gestand erst beim Anblick der Folter, +rechtfertigte seine Tat aber als seiner Ehre wegen getan. +Seine Mitschuldigen wurden an den Galgen geknüpft; +er selber wurde geköpft. +</p> + + + + +<h3><a id="page-430"></a><span class="pgnum">430</span>KÖNIGIN CHRISTINE</h3> + + +<p>Die Königin Christine hatte Jahre in Rom gelebt und +entschloß sich, einer Einladung Ludwigs XIV. zu folgen +und nach Frankreich zu reisen. Mit einem großen Gefolge +von Kavalieren und Pagen verließ sie Rom. Der +König hatte für seinen erlauchten Gast einen prunkvollen +Palast richten lassen und dem Gefolge ein Kavalierhaus +angewiesen. In diesem Gefolge befanden sich +zwei Herren, die sie mit ihrer besonderen Gunst auszeichnete; +Tag und Nacht waren der Marchese Monaldeschi +und der Marchese Santinelli um sie, der erste +ein witziger Poet in der modischen Art der Marini, der +den königlichen Hof zum großen Ergötzen seiner +Herrin in scharfen Satiren durchhechelte. Dies führte +dazu, daß ihn die Königin zu ihrem geheimen Vertrauten +machte. Darüber fühlte sich Santinelli zurückgesetzt, +wenn auch die Königin alles tat, ihn huldvoll +zu behandeln. Monaldeschi merkte die Eifersucht seines +Nebenbuhlers um die Gunst und wollte sich diese allein +erhalten; also ließ er am Hofe Briefe mit verstellter +Hand verbreiten, in denen sehr vertrauliche Mitteilungen +der Königin an Santinelli und was sie miteinander taten, +auf das respektloseste erzählt wurden. Diese Briefe +kamen auch in Santinellis Hände, und er erkannte die +verstellte Handschrift. Er beschloß die Vernichtung +seines Gegners. Er brachte, mit der Königin einmal +im Garten lustwandelnd, das Gespräch auf jene Briefe, +über die man sich bei Hofe sehr skandalisierte. Die +Königin verlangte die Briefe zu lesen; doch schwieg sie +dazu und bat Santinelli nun, nicht weiter darüber zu +sprechen. Ein neuer Brief, in anderer Hand, aber +gleichem Stile, teilte weiteres von den Beziehungen der +<a id="page-431"></a><span class="pgnum">431</span>Königin zu Santinelli mit. Die Königin wollte nun die +verdiente Strafe für den Briefschreiber nicht länger +hinausschieben, aber sie lebte in Frankreich, wo die Gesetze +jede Gewalttat strenge ahnden. Die Gesetze waren +erst vor kurzem vom Kardinal Richelieu erlassen +worden, um den zahlreichen Bluttaten zu steuern. Der +König hatte ihre geringste Verletzung mit dem Tode +bestraft, auch wenn es Mitglieder seines Hauses waren, +die sich solches zuschulden kommen ließen. Durch +eine Ermordung des Monaldeschi hatte die Königin den +Zorn des Königs zu fürchten; doch war ihre Ehre allzu +sehr beleidigt und solches allgemein bekannt geworden.</p> + +<p>Eines Tages legte die Königin dem Monaldeschi einen +mit verstellter Hand geschriebenen Brief vor, er möge +ihn lesen.</p> + +<p>„Wer ihn wohl geschrieben haben mag,“ sagte sie, +„ich kenne die Handschrift nicht.“</p> + +<p>Und als Monaldeschi schwieg, sagte sie: „Welche +Strafe verdient wohl der Schreiber solcher Böswilligkeiten?“</p> + +<p>„Sicher den Tod,“ sagte der Marchese, „den Tod, +den ihm Eure Majestät wählen.“</p> + +<p>„Den Tod, meint Ihr? Ich werde mich Eures Urteils +erinnern. Denkt daran.“</p> + +<p>Die Furcht, in die Monaldeschi nach dieser Unterredung +geriet, ließ ihn zu Santinelli gehen, von dem +er wußte, daß er einige ähnliche Schreiben verwahre; +er wollte von ihm erfahren, ob die Königin auf ihn +einen Verdacht geworfen habe. Doch Santinelli beruhigte +ihn derart, daß Monaldeschi ahnungslos in den +Tod ging.</p> + +<p>Die Königin ließ eines Tages einen Edelmann ihrer +Leibwache kommen und gab ihm den Auftrag, am +<a id="page-432"></a><span class="pgnum">432</span>nächsten Morgen in einem entlegenen Zimmer den +Marchese Monaldeschi heimlich und ohne Lärm mit +einem Degenstoß ins Herz beiseite zu schaffen. Auch +einen Mönch ließ sie sich bereithalten, den Marchese auf +sein Ende vorzubereiten. Der Mönch bat die Königin, +ihm solchen schweren Auftrag zu erlassen, da ihm sonst +die Ungnade des Königs sicher sei. Doch sie gab ihm +ihr Wort, daß er nichts zu befürchten habe, und versprach +ihm eine Belohnung.</p> + +<p>Andern Morgens ließ sie Monaldeschi in den Garten +rufen; sie zeigte ihm wieder einen Brief und neben +diesen hielt sie seine Handschrift: er konnte nicht mehr +leugnen. Er fiel der Königin zu Füßen und bat um +Gnade. Die Königin sagte: „Was Euer Seelenheil anbetrifft, +so habe ich Euch der Huld Gottes empfohlen; +was mich betrifft, so verzeih ich Euch. Ihr habt in +Eurer Sache selbst gerichtet. Euer Urteil soll vollstreckt +werden.“ Damit verließ sie ihn. Zwei Leute hielten den +Marchese fest, der ihr nachspringen wollte, und +führten ihn in ein abgelegenes Gartenzimmer, wo er, +wie sie ihm sagten, gefangen bleiben sollte. Da traf +er den Mönch, der ihm auf Befehl der Königin das +Urteil verkündete.</p> + +<p>Auf Ansuchen des Marchese begab sich der Mönch +zur Königin und bat um das Leben; aber die rachsüchtige +Frau bestand auf seinem sofortigen Tode. So +bat der Mönch den Marchese, sich zum Tode vorzubereiten +und seine Sünden zu beichten, zumal die +Henker schon warteten. Aber der Marchese verweigerte +die Beichte, in ungeheurer Wut durch das Gemach +stampfend. Da überfielen ihn jene beiden; und der eine +stach nach ihm mit dem Degen; doch glitt er am Wamse +ab. Ein zweiter Stich, den er abwehren wollte, durchbohrte +<a id="page-433"></a><span class="pgnum">433</span>ihm die Hand und verletzte ihn am Kopfe. Jetzt +erst, aus zwei Wunden blutend, verlangte er zu beichten, +was die beiden Mörder nur auf Bitten des Mönchs gewährten, +der nicht mehr wußte, in welcher Welt er +lebte. Nach der Absolution wollte Monaldeschi sein +Wams ablegen, um einem Stoß ins Herz freien Weg zu +geben; aber als er sein Kleid auszog, drangen ihm zwei +Degen durch den Hals, daß er aufstöhnend verschied. +‚Herr Jesus‘ war sein letztes Wort. Den Leichnam +schnürte man in eine Decke und vergrub ihn gar kläglich +neben einer nahen Kirche, rasch, damit man von +dem Tode nichts erführe. Aber es kam doch dem König +zu Ohren, der genaues wissen wollte. Er war nah daran, +die Königin aus dem Reiche zu verweisen. Er ließ den +toten Marchese ausgraben und mit allem Pomp beisetzen, +auf daß jeder von der grausamen Tat der blutdürstigen +Frau erfahre. Hatte der König vor jener Tat +die Königin mit seinem Besuche beehrt, so brach er +nun jeden Verkehr mit ihr ab; worin sie eine Beleidigung +sah und abreisen wollte. Sie wollte das, um ihre +Mißachtung gegen den König damit auszudrücken, ohne +jede Förmlichkeit tun; aber der König, der den Tag +ihrer Abreise erfahren hatte, besuchte sie und verabschiedete +sich kurz von ihr. Soldaten eskortierten sie ein +paar Meilen weit; es sah wie eine Ehrung aus, aber es +geschah zu ihrer Bestrafung, denn die Soldaten begleiteten +sie wie eine Gefangene.</p> + + + + +<h2><a id="page-435"></a><span class="pgnum">435</span>ZWEI ROMAN-ENTWÜRFE</h2> + +<p class="xlat"><a id="page-436"></a><span class="pgnum">436</span>ÜBERTRAGEN VON FRANZ BLEI</p> + + + +<h3><a id="page-437"></a><span class="pgnum">437</span>I.</h3> + +<h4>AN-IMAGINATION</h4> + + +<p>Der leidenschaftliche Mensch, der junge Jean-Jacques +haftet sich an die Weisungen seiner Einbildungskraft, +Robert tut nur, was er unmittelbar wahrnimmt. +Der Verfasser dachte öfters daran, einen jungen +Menschen zu gestalten, der aus der Welt einer bestimmten +Epoche, z.B. der Welt von 1811, zu Glück +und Ruhm aufsteigt, 1811: Cambacèrés, der Staatsrat, +der Kaiserliche Hof in den Tuilerien etc.</p> + +<p>Der Verfasser wollte vor zehn Jahren einen zärtlichen +und anständigen jungen Mann gestalten, und er machte +ihn ehrgeizig, aber doch voller Imaginationen und Illusion: +Julien Sorel.</p> + +<p>Er möchte nun diesen Robert völlig frei von jeder +Imagination gestalten außer dieser einen, die dazu dient, +alle die nötigen Schliche zu erfinden, um zu Reichtum +zu gelangen; aber Robert gibt sich keineswegs dem +müßigen Vergnügen hin, sich den Reichtum und dessen +Genüsse vorzustellen. Erfahrung hat ihm schon beigebracht, +daß sich derlei müßige Träumereien niemals +realisieren. Alors comme alors ist sein Wahlspruch.</p> + +<p>Küßt er die schönste Frau, so sieht er nur, was auch +der ausgedörrteste Jockey nicht zu leugnen wüßte, nämlich +Schönheit und Wert ihrer Ohrgehänge. Indem +<a id="page-438"></a><span class="pgnum">438</span>Robert seiner Einbildung nicht das geringste Vergnügen +verdankt, schenkt er der Bequemlichkeit seines Fauteuil +größte Aufmerksamkeit, der Qualität seines Diners, +dem Komfortablen seiner Wohnung etc. etc.</p> + +<p>Robert ist, was das Herz anlangt, mit vierzehn +Jahren ein vollendeter kleiner Lump. Er stiehlt Bonbons +aus den Auslagen der kleinen Händler, gemeinsam +mit seinem sechzehnjährigen Kameraden Carière. Dieser +Carière hat keinerlei freundschaftliche Gefühle für +Robert, erhofft sich aber von dessen Geschicklichkeit +Annehmlichkeiten. Der Verfasser erzählt von Carière, +dem Bastard einer diebischen Kammerfrau. Carière ist +anständig nur eigentlich aus Mangel an Geist; man +glaubt, er verspreche was für die Zukunft. Dadurch +ist er Robert von Nutzen; Carière zieht sich aus allen +Einzelheiten geschickt heraus, hat in der Hauptsache +das gleiche Verdienst wie Robert: sein Auge ist nie +vom Hauch des Imaginären getrübt.</p> + +<p>Er erkennt, was in seinem Interesse liegt, aber er +steckt voll kleinem Stolz. Diese Schwäche liefert das +Komische der Figur. Auch Robert ist nicht ohne diese +selbstgefällige Eitelkeit, aber er verneint sie. Carière +liefert das Komische.</p> + +<p>Bertrand, höchst simplen Wesens, führt Roberts Befehle +aus, ohne sie zu verstehen.</p> + +<p>Damit der Robert Effekt mache, muß man ihn +handeln sehen.</p> + +<p>Daher darf sein Reichtum noch keine Tatsache sein. +Man muß ihn sehen, wie er sich diesen Reichtum +schafft. +</p> + + + +<h3><a id="page-439"></a><span class="pgnum">439</span>II.</h3> + +<h4>EINE SOZIALE POSITION</h4> + + +<p>September 1832—Juli 1833.</p> + +<p>Ich vermache dieses Manuskript dem Maler Herrn +Ab. Constantin, meinem Nachbarn, mit der Bitte, es +nicht vor 1880 zu zeigen. Rome, 4. Oktober 1882. +H. Beyle. — Es muß hierin mehr Wohlklang als in Le +Rouge sein, damit es leichter ins Ohr gehe.</p> + +<p>Plan. — Die Herzogin will de Roizard nur als Tröster.</p> + +<p>Sie fürchtet nur dieses eine: daß er sie verliebt anblicke.</p> + +<p>Später sagt sich Roizard: sie will ganz einfach geliebt +sein, und parbleu, ich werde sie nicht lieben.</p> + +<p>Sein Erstaunen, als er entdeckt, daß sie Liebe gar +nicht will.</p> + +<p>Bin ich denn zu alt? fragt er sich. Und da verliebt +er sich.</p> + +<p>Zunächst Beschreibung der Charaktere; die Charaktere +gehen aus den Umständen hervor.</p> + +<p>Die Charaktere sehr sauber festhalten: die Ereignisse +bloß en masse, die Details nur in dem Maße zulassen, +als sie sich einstellen (12. Dezember 1882).</p> + +<p>Grund: man denkt nur im Augenblicke des Schreibens +selber wirklich und ernsthaft an die Details. Ohne mir +das vorher zu sagen, habe ich so in Le Rouge gehandelt. +Das Detail strömte mir im Schreiben erst zu.</p> + +<p>Statt das Buch mit dem Stumpfsinn der Beschreibung +nach der Methode Walter Scotts zu beginnen, könnte +man anfangen mit der Charakteranalyse der Herzogin, +wie ich diese mir aufschrieb im September 1882. Ich +fand am 12. Dezember diese zwei Seiten vortrefflich, +<a id="page-440"></a><span class="pgnum">440</span>und hatte sie während der Bataillen von Vidau völlig +vergessen.</p> + +<p>Nach diesen beiden Seiten die Beschreibung der Rue +de Palais, und die Soiree oder den Empfang bei der +Herzogin.</p> + +<p>Die Herzogin. Madame la Duchesse de Vaussay, über +dreißig alt, eine Leidenschaftliche. Fortgerissen von +einem Feuertemperament ergab sie sich allen Freuden +und Genüssen, hatte aber doch immer die höchste Idee +von der Pflicht, nicht eine vernünftige Idee, sondern +eine ganz abergläubische, deren Fond sie niemals untersuchte +und deren sie sich aus ihrer Leichtigkeit, gerührt +zu werden, bemächtigt hatte.</p> + +<p>Sie hat, wie man sagt, einige Liebhaber gehabt, und +ist das ohne weiteres zu glauben; ihre Seele war Leben und +Bewegung; immer war sie von den geschickten Manövern +eines Mannes fortgerissen, der Frauen zu haben +gewohnt war, oder sie erlag mit blinder Leidenschaft +einem wirklich von ihr eingenommenen Manne. Niemals +liebte sie als die erste, niemals wollte sie sich hingeben, +sondern voller Gewissensqualen über ihren Fall, +dem sie ruhigen Blutes nicht ins Gesicht schauen konnte, +glaubte sie ihn auslöschen zu können, indem sie dieses +Gewissen durch eine völlige Unterwerfung unter den +Mann beschwor, der gerade ihr Herr war. In ihrem +guten Glauben hielt sie sich noch durch eine befehlende +Pflicht gebunden, wenn ihr Verstand ihr schon deutlich +sagte, daß der Mann, dem sie ihr Herz bewahrte, +längst eine andere anführte.</p> + +<p>Roizard. For me. In einem Wort ist Roizard der +idealisierte Dominique. Ersichtlich höchst wechselvollen +veränderlichen Charakters; ein Wort bringt ihn das eine +Mal zu Tränen, das andere Mal macht es ihn ironisch, +<a id="page-441"></a><span class="pgnum">441</span>hart, aus Angst, davon weich zu werden und sich hinterher +dieser Schwäche wegen zu verachten. Er war von +mittlerer Größe und zählte über vierzig Jahre. Seine +Züge waren groß, nicht schön, aber höchst beweglich. +Seine Augen drückten die geringste Nuance seiner Gefühle +aus. Und darüber war sein Stolz verzweifelt. Da er +dieses Malheur fürchtete, war er brillant, witzig, voller +amüsanter Geschichten, elektrisierte seine Zuhörer und +machte das Gähnen im Salon unmöglich. In solchen +Augenblicken erregte er Abneigungen wie heftigste Bewunderung +seiner Person. Man kann nicht geistvoller +sein, sagten seine Bewunderer. Aber die Mittelmäßigen +erschreckte die Lebhaftigkeit seines Imprevu. Ohne +Emotion war er ohne Geist. Im übrigen war sein Erinnerungsvermögen +schwach, oder er mißachtete, es zu +Hilfe zu rufen. Dann war sein Wort so diskret wie +indiskret der Ausdruck seiner Physiognomie. Daß man +erriete, was er fühlte, hätte seinen Stolz zur Verzweiflung +gebracht. Das Pompöse — la sostenutezza — im +Ausdruck eines Gefühles, Affektation im Ausdruck +eines Schmerzes waren ihm fremd und zuwider, so legitim +solcher Ausdruck auch sein mochte; in solchen +Fällen war Roizard Ironie in Blick und Wort. Seriöses, +Pompöses, Trauriges waren nie in seiner Konversation, +und nie sprach er von dem einzigen, das ein Recht +auf sein Interesse hatte; ein echtes Gefühl oder Heroismus, +die sich für das Vaterland opferten.</p> + +<p>Wie weit darf der familiäre Ton des Verfassers dieses +Romans gehen? Die außerordentliche Familiarität +Walter Scotts und Fieldings bereitet sehr gut die Momente +des Enthusiasmus vor. Ist der Ton in Le Rouge +nicht zu römisch? 4. Oktober 1832. +</p> + + + + +<h2><a id="page-442"></a><span class="pgnum">442</span>ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS</h2> + + +<p>In diesem Bande sind die novellistischen Arbeiten +Stendhals gesammelt, deren Abfassungszeit nach Le +Rouge et le Noir fällt, also in die Zeit von 1830 bis zum +Tode des Schriftstellers. Zwei Romanentwürfe, der eine +aus dem Jahre 1882, der andere etwa aus dem Jahre +1840, finden in diesem Bande ihren Platz. In der folgenden +Bibliographie sind bloß die ersten Drucke angegeben; +von einer Aufzählung der oft sehr zahlreichen +nachfolgenden Drucke ist abgesehen.</p> + +<p><i>Les Cenci</i> (1599): erster Druck in der Revue des +Deux Mondes, 1. juillet 1837, pag. 5-32. Auf eine +1825 in Paris erschienene Broschüre von 87 Seiten: +Histoire de la famille Cinci. Ouvrage traduit sur l'original +italien trouve dans la Bibliothèque du Vatican, +par M. l'Abbé Angelo Maio, son conservateur, hat +G. Hanotaux aufmerksam gemacht und hinter dem Verfasser +„Angelo Maio“ Stendhal vermutet. Auch eine +Relation de la mort de Giacomo et Beatrix Cenci, französisch +und italienisch 1828 in den Mélanges der Société +des Bibliophiles français veröffentlicht und in der +kurzen Vorrede mit ‚Malartic‘ unterzeichnet, dürfte +Stendhal zum Verfasser haben. Vgl. G. Vicaire in Manuel +de l'Amateur de Livres du XIX. siècle, I, 1894, +col. 464-465, und: Gli originali delle Chroniques italiennes, +<a id="page-443"></a><span class="pgnum">443</span>con postille autografe inedite: Les Cenci, a cura +del dott. Giov. Barburo. Casale, 1912, pag. 27.</p> + +<p>Die Fürstin von Campobasso, unter dem Titel: <i>San +Francesco a Ripa</i>, zuerst gedruckt in der Revue des Deux +Mondes. Juli 1853, pag. 166-179.</p> + +<p><i>La Duchesse de Palliano</i>. Zuerst gedruckt in der +Revue des Deux Mondes. August 1838, pag. 535-554.</p> + +<p><i>Vittoria Accoramboni</i>. Zuerst gedruckt in der Revue +des Deux Mondes. März 1837, pag. 560-584.</p> + +<p><i>L'Abbesse de Castro</i>. Geschrieben um 1838 und zuerst +gedruckt in der Revue des Deux Mondes, Februar +1839, pag. 273-328 und März 1839, pag. 628-653. +Die erste Buchausgabe: L'Abbesse de Castro par M. de +Stendhal, Auteur de Rouge et Noir, de La Chartreuse +de Parme etc. Paris, Dumont, éditeur, Palais-Royal, 88, +au Salon litteraire, 1839, in 8°, SS. 329. Der Band +enthält außerdem Vittoria Accoramboni, Les Cenci. Von +der Äbtissin von Castro, meist vereinigt mit andern Novellen +aus dem italienischen Kreise, sind erschienen: +fünfzehn französische, drei deutsche Ausgaben, je +eine spanische, italienische, schwedische, flämische, +tschechische, russische und polnische Ausgabe.</p> + +<p>Ein Aufsatz Stendhals über etruskische Gräberfunde +Les Tombeaux de Corneto, den man in den französischen +Ausgaben meist den Novellen beifügt, findet in unserer +Ausgabe seinen richtigen Platz in den Essais.</p> + +<p><i>Suora Scolastica</i>, deren Vorrede vom 21. März 1842 +datiert ist — Stendhal erlitt andern Tags einen Schlaganfall +und starb am 23. März des Jahres — ist 1837 +begonnen, wie sich aus einem Briefe vom 16. März +1837 an die Comtesse de Tracy ergibt, und unvollendet +geblieben. Das Fragment wurde zuerst von C. Stryienski +in La Chronique de Paris Nr. IV, 25. Februar 1893, +<a id="page-444"></a><span class="pgnum">444</span>pag. 195-200, veröffentlicht, die Vorrede in der Revue +rétrospective, XVIII, 1. Mai 1898, pag. 289-293. +Beides dann in den Soirées du Stendhal Club, Paris +1904, pag. 127-141.</p> + +<p><i>Trop de faveur nuit</i> wurde um 1838 geschrieben und +aus der Handschrift zum erstenmal veröffentlicht von +F. von Oppeln-Bronikowski in La Revue de Paris, +15. Dezember 1912, pag. 678-696, und 1. Januar +1918, pag. 5-26. Dem Manuskript Stendhals gehen +folgende Zeilen von seiner Hand voraus: „‚Zu viel Gunst +schadet‘ (aufgegeben am 15. April 1889). Personen: +der Fürst, Großherzog und Kardinal; der Graf Buondelmonte; +die Äbtissin Virgilia; Felizia, Geliebte Roderigos; +Rodelinde, Geliebte Lancelottos, Freundin Felizias; +Fabiana, 17 Jahre alt, munter, unbesonnen, Geliebte +von X**; Celiana, düstre Geliebte von X**, Freundin +Fabianas; Martona, Vertraute der Äbtissin Virgilia; +Roderigo L., Geliebter Rodelindens; Lorenzo R., Geliebter +Fabianas; sie liebt ihn über alles und hat seinetwegen +Don Cesare, Malteserritter, aufgegeben; Pierantonio +D., Geliebter Celianas, die nur eine sinnliche +Liebe zu ihm fühlt; Livia, adelige Kammerzofe Rodelindens. +Trop de faveur nuit, Historie aus dem Jahre +1589. Dies der Titel, den ein spanischer Dichter dieser +Geschichte gab, aus der er eine Tragödie machte. Ich +werde mich wohl hüten, irgendeine der Ausschmückungen +zu gebrauchen, mit deren Hilfe die Phantasie dieses Spaniers +versucht hat, diese traurige Schilderung klösterlichen +Lebens zu verschönern. Gewiß steigern einige dieser Zutaten +das Interesse, aber ich bleibe bei meiner Absicht, +die elementaren passionierten Menschen jener Zeit zu +zeigen, von denen unsere Zivilisation stammt; darum +gebe ich diese Erzählung ganz schmucklos.“ Stendhal +<a id="page-445"></a><span class="pgnum">445</span>hat seine Erzählung aus einer Chronik entnommen, wonach +sich der Vorfall im Kloster von Bajano bei Neapel +zutrug. Der Schluß der Erzählung ist nach Stendhals +Aufzeichnungen gegeben.</p> + +<p><i>Le Chevalier de Saint-Ismier.</i> Erstmals nach der +Handschrift veröffentlicht von F. von Oppeln-Bronikowski +in der Revue Bleue, 7. Dezember 1912, +pag. 709-714, und 14. Dezember 1912, pag. 737-740.</p> + +<p><i>Zwei Roman-Entwürfe.</i> Erstmals von C. Stryienski veröffentlicht +in den Soirées du Stendhal Club, Paris 1904, +pag. 95-100. Der erste Plan — A-Imagination, +das A ist alpha privativum — ist gegen 1840 aufgeschrieben, +wie sich aus der Julien Sorel erwähnenden +Textstelle ergibt. Den zweiten Entwurf hat Stendhal +selber datiert. Der in dem Legat angegebene Abraham +Constantin war ein Miniaturenmaler auf Porzellan und +Kopist alter Meister, dessen Hauptwerke sich im Museum +von Turin befinden. Die Duchesse de Vaussey +dürfte in Menta ihr Urbild haben. Vgl. Vie de Henri +Brulard und einen Brief Mentas in Comment a vécu +Stendhal, 1900. Roizard ist Selbstporträt; R. Colomb +benützt es in seiner Notice.</p> + +<p><i>Aus italienischen Chroniken</i>. Im Jahre 1833 erstand +Stendhal zwölf — nach Oppeln-Bronikowski, Einleitung +zu Chroniken 1908, dreizehn — handgeschriebene +Foliobände mit zeitgenössischen Berichten aus dem Italien +des Seicento, vornehmlich des römischen. Was er +damit für Absichten hatte und wie er durch ihre Verwendung +der Originator des Renaissancismus wurde, +geht aus Briefen an den Freund R. Colomb und den +Verleger Calman Levy und aus Tagebuchaufzeichnungen +hervor: sie sollten ihm das stoffliche Material zu einer +Reihe von Erzählungen liefern, denen er den gemeinsamen +<a id="page-446"></a><span class="pgnum">446</span>Titel „<i>Les Bois de Premol</i>“ geben wollte und die +sechs Bände umfassen sollten. „Ich habe alles nichts +als Historische beiseite gelassen und nur das gesucht, +was das menschliche Herz schildert“ und unterm +27. April 1882 an Colomb aus Palermo: „was geht +uns heute ein Interdikt gegen Venedig an oder die Geschichte +der zahllosen Verträge zwischen Rom und +Neapel? Aber es interessiert uns, wie man sich in jener +Zeit an einem Nebenbuhler rächte oder eine Frau eroberte. +Ich las das Manuskript dieser alten Berichte wie +einen Roman.“</p> + +<p>Und: „Die Eitelkeit und die öffentliche Meinung +waren kaum im Entstehen, und vom Fürsten verliehene +Ehren nahm man mitnichten ernst… Manche glauben +ja gar, jene Kultur wäre der unsern, auf die wir so +stolz sind, gleichwertig. Aber wir haben da ein Plus +von zwei hübschen Dingen: die Wohlanständigkeit und +die Heuchelei. Unsere heutige Prüderie hat nicht die +leiseste Vorstellung von jener Kultur… Aber dafür +wären auch alle unsere mumienhaften Tugenden den +Zeitgenossen Ariostos und Raffaels höchst lächerlich vorgekommen. +Denn man schätzte damals am Manne nur, +was er als Person, als er selber war, und es war keine +Eigenschaft der Person, so zu sein wie jedermann: die +Dummköpfe und Einfaltspinsel hatten da kein Terrain.“ +Und: „Das Leben ohne die Dinge, die es glücklich +machen, wurde nicht hoch eingeschätzt. Ehe man den +beklagte, der es verlor, rechnete man die Summe von +Glück aus, die er genossen, und in dieser Rechnung +nahmen die Frauen einen weit größeren Raum ein als +heutzutage.“ Und: „Diese Sitten haben einen Raffael und +Michel Angelo hervorgebracht, die man heute höchst +lächerlich durch Kunstakademien hervorbringen will. +<a id="page-447"></a><span class="pgnum">447</span>Man vergißt, daß es einer kühnen Seele bedarf, um den +Pinsel recht zu führen, und erzielt nichts als arme +Teufel, die einem Bureauchef den Hof machen müssen, +damit er bei ihnen ein Bild bestelle.“</p> + +<p>Einiges aus diesen Handschriften hat Stendhal in die +Formen seiner Novellen gebracht; fast wörtlich folgt er +seinen Quellen in der Vittoria Accoramboni und den +Cenci. Anderes wird Episode, ja dient als Fabel, wie in +der Chartreuse de Parme. An der Ausführung seines +Planes der weiteren Bände wurde Stendhal durch den +Tod verhindert; der Vertrag über neue Chroniques italiennes +mit der Revue des Deux Mondes war bereits +abgeschlossen und 1500 Franken an Stendhal als Vorzahlung +geschickt worden.</p> + +<p>Stendhals Schwester Pauline Périer-Lagrange verkaufte +durch Mérimées Vermittlung die Manuskriptbände +der Quellen an die Bibliothèque nationale: es sind +die Codices Italiani 169-179 und 296-297 der Handschriftenabteilung. +Zum ersten Male haben gleichzeitig +Oppeln-Bronikowski a.a.O. und C. Stryienski im +zweiten Bande der Soirées du Stendhal Club, Paris +1908, pag. 214-267, daraus einiges publiziert, der +Deutsche sechzehn, der Franzose zwölf gekürzte Stücke. +Oppeln-Bronikowski hat außerdem eine genaue Beschreibung +der Codices gegeben, die ungeführ fünfzig +Geschichten enthalten. Ein kleiner Teil dieser Geschichten +ist von Stendhal durchkorrigiert — „ich mache +Bleistiftkorrekturen, um nicht beim dritten Lesen die +Geduld zu verlieren“, wie er in einer Vorrede schreibt. +Unserer Übersetzung dienten als Vorlage: Abschriften +nach den Originalen in Paris, Stryienskis Text und für +<i>Ariberti</i> und <i>Farnese</i> Stendhals Correspondance. Die +ausgewählten Beispiele wären leicht zu vermehren gewesen, +<a id="page-448"></a><span class="pgnum">448</span>doch schien dies überflüssig. Das begrifflich und +dokumentarisch Neue von 1830 ist durch Burckhardt +und Nietzsche und ihnen nachfolgend durch zahlreiche +Veröffentlichungen der Dokumente so vertraut geworden, +daß ein ausführlicherer Abdruck Stendhalscher +Exzerpte obsolet wäre. Aus einem der drei oder vier literar-kritischen +Werke von Rang, die in den letzten zwanzig +Jahren in Deutschland veröffentlicht wurden, aus +F.F. Braungartens ‚Das Werk Conrad Ferdinand Meyers, +Renaissance-Empfinden und Stilkunst‘, G. Müller, +München 1920, seien hier einige Sätze zitiert: <a class="sic" id="sicA-36" href="#sic-36">„</a>Bei +Stendhal ist die Renaissancebegeisterung wesentlich revolutionäre +Weltanschauung: Stendhals Renaissancehelden +sind die Abenteurer, die Briganti und Condottieri. +Cesar Borgia, ‚le représentant de son siècle‘ heißt es bei +Stendhal… Er stellt die Renaissance als Ziel des natürlichen +und freien Menschen in Gegensatz zu der Knechtschaft +und Verlogenheit des ancien régime. Er verherrlicht +die Leidenschaft und Aufrichtigkeit der Renaissance +als lichte Gegenbilder der Eitelkeit und der +Galanterie und des verlogenen Ehrbegriffs des ancien +régime, die den Mann im Herrendienst und Frauendienst +zum Sklaven macht. Auf diesen von Stendhal festgelegten +Grundzügen baut sich das Renaissanceempfinden +auf. Auch das erschöpfendste Renaissancebild: +die Darstellung Burckhardts hat hier ihre Aufgabe. +Stendhal, der immer nur an das XVI. Jahrhundert denkt +und von dessen civilisation renaissante spricht, kennt +übrigens das Wort Renaissance noch nicht. Stendhal +hat die Renaissance als Folie des ancien régime, d.h. +des Barocks, geschaut… Das Renaissancebild des Romanciers +Stendhal war rein psychologisch. Er hatte bereits +1817 der Renaissancebewunderung das Losungswort +<a id="page-449"></a><span class="pgnum">449</span>gegeben: „le seul siècle, qui ait eu à la fois de +l'esprit et de l'énergie“.</p> + +<p>Stendhal hat einigen seiner Auszüge Bemerkungen +vorangestellt; sie sind folgend wiedergegeben:</p> + +<p><i>Zu Kardinal Aldobrandini</i>: „Das wirkliche Herz der +italienischen Kurtisane; die Sitten waren zu wild, als +daß sie den Kurtisanen eine leichtherzige Güte erlaubt +hätten. Mit dieser Geschichte die Sammlung anfangen. +Hierauf chronologische Folge. In der Biographie +Michaud den Artikel Aldobrandini zu lesen, +um über die Lügereien zu lachen. Alles das ist vor +der Kopie von mir in den Originalmanuskripten gelesen +worden. Augenschmerzen wegen des Staubes.“</p> + +<p><i>Girolamo Biancinfiore</i>: „Art Don Juan oder giftmischender +Casanova. Wildes Geschwätz, sehr abzukürzen, +macht den Eindruck, als ob es für Kinder +erzählt wäre. 24. April 1833.“</p> + +<p><i>Die Brüder Massimi</i>: „Aus Höflichkeit, aus mondäner +Klugheit diese Geschichte nach Neapel verlegen. +Anfangen mit der Geschichte der Stiefmutter, umgebracht +von den vier Brüdern.“</p> + +<p><i>George Picknon</i>: „Unter Ganganelli kam ein Engländer, +wie ich glaube, nach Rom, um den Papst zu +bekehren. Ganganelli ließ ihm einiges Geld für die +Heimreise geben. Ich hätte den Mann zu meinem +Amüsement kommen lassen, aber wahrscheinlich hatte +der arme Ganganelli, mit den Jesuiten beschäftigt, keine +Zeit, sich zu amüsieren.“</p> + +<p><i>Die Farnese</i>: „Bericht voll naiver Wahrheit im römischen +Patois. Rom 1834. To make of this sketch a +Romanzotto, 16. August 38. Courier hat ganz Recht. +Durch eine oder mehrere Huren haben die meisten +großen Familien ihr Glück gemacht. Das ist nun ja in +<a id="page-450"></a><span class="pgnum">450</span>New York nicht möglich, da gähnt man sich aber auch +die Kinnbacken aus. Alessandros idealisierte Porträtbüste +von della Porta in Sankt Peter auf seinem Grabmal. +Das wahrhafte Porträt Alessandros, der Paul III. +wurde, zeigen im höchsten Alter zwei Büsten im Palazzo +Farnese, eine davon dem Michel Angelo zugeschrieben. +Spaßiger aber seiner würdiger Schmuck auf dem Ornat +des Papstes.“</p> + +<p>Im ersten Bande von Stendhals Novellen ‚Eine Geldheirat‘ +sind folgende Versehen zu korrigieren. S. 371, +letzte Zeile, haben die Neuausgaben von Contes bruns +zu heißen: Phil. Chasles und Ch. Rabou. Auf S. 372: +Le Mari d'argent ist zuerst gedruckt in den Nouvelles +Inédites 1855. Die genannte Ausgabe ist der 1902 erschienene +Neudruck von den alten Platten. S. 369, Zeile +fünf von oben muß es heißen Nouvelles Inédites. Arthur +Schurig macht mich auf eine erotische Geschichte aufmerksam, +die unediert in Grenoble liegt, die erste +schriftstellerische Arbeit des jungen Beyle. Es ist zur +Zeit davon keine Abschrift zu erhalten gewesen. Die +Heldin der Novelle ‚Mina von W.‘ heißt in Stendhals +Handschrift richtig Wrangel. Da die Arbeit unter dem +Namen Wangel bekannt wurde, schien es besser, dabei +zu bleiben. Zumal auch ein umfangreicher, noch nicht +veröffentlichter Roman den Titel ‚Mme de Wrangel‘ +trägt und dieser dann zur Unterscheidung von der +wesentlich verschiedenen Novelle den richtigen Namen +in unserer Ausgabe behalten wird.</p> + +<p class="letterlast"><span class="spaced">Franz Blei</span></p> + + + + +<h2><a id="page-451"></a><span class="pgnum">451</span>INHALTSVERZEICHNIS</h2> + +<div class="content"> +<p><a href="#page-1">Die Fürstin von Campobasso</a></p> +<p><a href="#page-23">Die Herzogin von Palliano</a></p> +<p><a href="#page-59">Die Cenci</a></p> +<p><a href="#page-105">Zu viel Gunst schadet</a></p> +<p><a href="#page-161">Vittoria Accoramboni</a></p> +<p><a href="#page-199">Die Äbtissin von Castro</a></p> +<p><a href="#page-335">Schwester Scolastica</a></p> +<p><a href="#page-351">Der Chevalier von Saint-Ismier</a></p> +<p><a href="#page-377">Aus italienischen Chroniken</a></p> +<p><a href="#page-435">Zwei Roman-Entwürfe</a></p> +<p><a href="#page-442">Anmerkung des Herausgebers</a></p> +</div> + +<hr class="front" /> + +<p class="center"><a id="page-452"></a><span class="pgnum">452</span>Gedruckt für Georg Müller in München<br/> +von Poeschel & Trepte in Leipzig. Gebunden von<br/> +H. Pikentscher in Leipzig nach dem Entwurf<br/> +von Paul Renner</p> + + +<hr class="front" /> + +<h2>Fußnoten</h2> + +<div class="FN"><p><a id="FN-1" href="#FNA-1"><sup>1</sup></a> Ein wenig weiter unten kommt Stendhal darauf zurück und +läßt Felizia in einer andern Weise handeln. Dieser ganze Absatz +scheint ein erster Entwurf zu sein. D.H.</p></div> + +<div class="FN"><p><a id="FN-2" href="#FNA-2"><sup>2</sup></a> Siehe weiter oben.</p></div> + +<div class="FN"><p><a id="FN-3" href="#FNA-3"><sup>3</sup></a> Die Corte wagte nicht in den Palast eines Fürsten einzudringen.</p></div> + +<div class="FN"><p><a id="FN-4" href="#FNA-4"><sup>4</sup></a> Sixtus V. wurde 1585 mit 68 Jahren Papst und regierte fünf +Jahre und vier Monate; er hat verblüffende Ähnlichkeiten mit Napoleon.</p></div> + +<div class="FN"><p><a id="FN-5" href="#FNA-5"><sup>5</sup></a> Gasparone, der letzte der Briganten, unterhandelte 1826 mit der +Regierung; er sitzt in der Festung von Civita Vecchia mit sechsunddreißig +seiner Leute gefangen. Der Wassermangel auf den +Höhen des Apennin, wohin er sich geflüchtet hatte, nötigte ihn zu +kapitulieren. Er ist ein Mann von Geist, von einnehmendem Äußern.</p></div> + +<div class="transcribers-notes"> +<hr class="front"/> + +<h2>Transkriptions-Notizen</h2> +<p>Typografische Unstimmigkeiten der Vorlage, egal ob vom Schriftsetzer oder dem Autor/Übersetzer zu verantworten, +wurden möglichst unverändert übertragen. +Zur Unterscheidung von Fehlern bei der Übertragung wurden sie so weit wie +möglich gekennzeichnet.</p> + +<div class="FN"><p><a id="sic-1" href="#sicA-1">“</a> — statt: ‘</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-2" href="#sicA-2">Domitiano</a> — weiter unten: Domiziano</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-3" href="#sicA-3">„</a> — Das schließende Anführungszeichen fehlt.</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-4" href="#sicA-4">„</a> — Die Setzung der Anführungszeichen der nächsten vier Absätze entspricht durchaus der Vorlage.</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-5" href="#sicA-5">daß</a> — statt: das</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-6" href="#sicA-6">anzukleiden.</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-7" href="#sicA-7">“</a> — statt: ‘</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-8" href="#sicA-8">„</a> — statt: ‚</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-9" href="#sicA-9">größte</a> — statt: grüßte</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-10" href="#sicA-10">Buondelonte</a> — statt: Buondelmonte</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-11" href="#sicA-11">Diszipin</a> — statt: Disziplin</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-12" href="#sicA-12">“</a> — überzähliges Anführungszeichen</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-13" href="#sicA-13">einen</a> — statt: einem</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-14" href="#sicA-14">Mönch!</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-15" href="#sicA-15">ihm zu</a> — statt wie sonst: ihn zur</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-16" href="#sicA-16">Angelegeheiten</a> — statt: Angelegenheiten</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-17" href="#sicA-17">Übriggebiebenen</a> — statt: Übriggebliebenen</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-18" href="#sicA-18">venezianische</a> — sonst einheitlich: venetianische</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-19" href="#sicA-19">verstecken.</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-20" href="#sicA-20">armsäligen</a> — sonst einheitlich: armseligen</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-21" href="#sicA-21">‚</a> — statt: „</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-22" href="#sicA-22">Gewandheit</a> — statt: Gewandtheit</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-23" href="#sicA-23">Wer</a> — statt: Wir</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-24" href="#sicA-24">sollen.</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-25" href="#sicA-25">Kampagnie</a> — statt: Kompagnie</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-26" href="#sicA-26">„</a> — Anführungszeichen wohl überzählig, da Rede fortgesetzt wird.</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-27" href="#sicA-27">ist.</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-28" href="#sicA-28">Tür.</a> — Hier fehlt wohl: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-29" href="#sicA-29">es</a> — statt: er</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-30" href="#sicA-30">ihr</a> — statt: ihre</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-31" href="#sicA-31">„</a> — Schließendes Anführungszeichen fehlt (wohl einige Absätze weiter).</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-32" href="#sicA-32">Unter</a> — Vorab fehlt: „</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-33" href="#sicA-33">folgtem</a> — statt: folgten</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-34" href="#sicA-34">fürchten.</a> — Fehlt: “</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-35" href="#sicA-35">außerdentliche</a> — statt: außerordentliche</p></div> +<div class="FN"><p><a id="sic-36" href="#sicA-36">„</a> — Anführungszeichen am Ende des Zitats (wohl am Absatzende nach dem Losungswort) fehlt.</p></div> + +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Die Abtissin von Castro, by Stendhal + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE ABTISSIN VON CASTRO *** + +***** This file should be named 14330-h.htm or 14330-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/4/3/3/14330/ + +Produced by Juliet Sutherland, Hagen von Eitzen and the Online +Distributed Proofreading Team. + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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