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+The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Memoiren einer Sozialistin
+ Lehrjahre
+
+Author: Lily Braun
+
+Release Date: July 15, 2005 [EBook #16301]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***
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+Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
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+Memoiren einer Sozialistin
+
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+Lehrjahre
+
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+Roman
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+von
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+Lily Braun
+
+Albert Langen, München
+
+1909
+
+
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+
+An meinen Sohn
+
+
+Die Rosen blühen und die Linden duften. Über dunkle Wälder und saftgrüne
+Matten ragen die Berge meiner Heimat zum Himmel empor, an dem die Sterne
+funkeln und strahlen, ungetrübt von den Dünsten der Städte und den
+Nebeln der Niederung. Die grauen Felsriesen schimmern silbern im
+Mondlicht, und in ihren tausend Furchen und Spalten glänzt noch der
+Schnee.
+
+Das ist die schönste Nacht des Jahres, die Nacht, in der's in Wald und
+Feld von alten Märchen raunt und flüstert, die Nacht, mein Sohn, die
+dich mir geschenkt: ein Sonnwendskind, ein Sonntagskind. Elf Jahre sind
+es heute. Ist es mir doch, als wäre es erst gestern gewesen, daß du an
+meiner Brust gelegen, daß du die ersten Worte lautest, zum erstenmal die
+Füßchen setztest. Und nun bist du ein großer Junge! Die Kindheit
+bereitet sich aufs Abschiednehmen vor.
+
+Fast am gleichen Tage war es, und mehr als drei Jahrzehnte sind es her,
+daß auch ich zu Füßen dieser Berge meinen elften Geburtstag feierte. Die
+Tafel bog sich damals unter der Fülle der Geschenke -- auf deinem Tisch,
+mein Sohn, lagen heute neben dem duftenden Kuchen unsrer alten Marie nur
+ein paar Bücher! --, und Eltern, Verwandte und Freunde umgaben mich,
+mit schäumendem Sekt und schmeichelnden Reden das Geburtstagskind
+feiernd, -- wir dagegen waren heute allein und hatten nur tiroler
+Landwein in den Gläsern. Das Geburtstagskind von damals war ein blasses,
+langaufgeschossenes Mädchen mit einem alten, hochmütig-sarkastischen Zug
+um den Mund, dessen Lächeln der Dankbarkeit nur die Frucht guter
+Erziehung war; du aber bist ein blühender Knabe, der im Überschwang
+seiner Freude seine Mutter und die alte Marie abwechselnd in tollem Tanz
+auf der Wiese umherwirbelte. Nur zweierlei ist sich gleich geblieben --
+damals und heute --: auf deinem Tisch wie auf dem meinen lag das erste,
+langersehnte Tagebuch, dessen weiße Blätter so verlockend sind für ein
+elfjähriges Herz, wie der Eingang ins Zauberreich des Lebens selbst, und
+vor dir wie vor mir ragten dieselben Bergesriesen, und derselbe Wald
+umrauschte unsre Kinderträume.
+
+Mich hat mein Tagebuch durch's ganze Leben begleitet, und der
+Gewohnheit, mir allabendlich vor ihm Rechenschaft abzulegen über des
+Tages Soll und Haben, bin ich immer treu geblieben. Am Schlusse jeden
+Jahres habe ich an seiner Hand den verflossenen Lebensabschnitt überlegt
+und sein Fazit gezogen. Seine lakonischen Bemerkungen -- ein bloßes
+trockenes Tatsachenmaterial -- bildeten den festen Rahmen, den die
+Erinnerung mit den bunten Bildern des Lebens füllte, und unverzerrt
+durch jene schlechtesten Porträtisten der Welt -- Haß oder Bewunderung
+--, blickte mein Ich mir daraus entgegen.
+
+Als ich diesmal aus der Tretmühle und der Fabrikatmosphäre meines
+Berliner Arbeitslebens in unsre stille Bergeinsamkeit floh, nahm ich die
+zweiunddreißig Jahreshefte meines Tagebuches mit mir. Generalabrechnung
+muß ich halten.
+
+Auf steilem Felsenpfad bin ich bis hierher gestiegen, meinem wegkundigen
+Blick, meiner Kraft vertrauend, weit entfernt von den Lebenssphären, die
+Tradition und Sitte mit Wegweisern versah, damit auch der Gedankenlose
+nicht irre gehe. Jetzt aber muß ich stille stehen, muß Atem schöpfen,
+denn die große Einsamkeit um mich her läßt mich schaudern. Wohin nun?
+Hinab zu Tal, zu den Wegweisern? Oder weiter auf selbstgewähltem Steige?
+
+Die Menschen zürnen mir, und alle nennen mich fahnenflüchtig, die
+irgendwann auf der Lebensreise ein Stück Weges mit mir gingen; mir aber
+erscheinen sie als die Ungetreuen. Wer hat recht von uns: sie oder ich?
+Um die Antwort zu finden, will ich den letzten Wurzeln meines Daseins
+nachspüren, wie seinen äußersten Verästelungen; und an dich, mein Sohn,
+will ich denken dabei, auf daß du, zum Manne gereift, deine Mutter
+verstehen mögest.
+
+In der Sonnwendnacht, die dich mir geschenkt, in der Sonnwendnacht, in
+der ringsum auf den Höhen die Feuer glühen, in der Sonnwendnacht, wo
+aufersteht, was ewigen Lebens würdig war, seien die Geister der
+Vergangenheit zuerst heraufbeschworen.
+
+Obergrainau, den 24. Juni 1908
+
+
+
+
+Erstes Kapitel
+
+
+Wo die kurische Nehrung beginnt, ihre Dünen in die Ostsee
+hinauszustrecken, und das Meer auf der einen, das Haff auf der andern
+Seite das Land bespült, steht das Haus meiner Großeltern, in dem ich
+geboren bin. Vor Jahrhunderten haben deutsche Ordensritter es als festes
+Bollwerk gegen das heidnische Volk des Samlands erbaut; der breite,
+viereckige Turm, die dicken Mauern und der Graben ringsum erinnern noch
+an seinen Ursprung. Ein Ordensbruder soll es gewesen sein, der als einer
+der ersten im Samland zur Lehre Luthers übertrat, -- nicht aus
+Gewissenszwang, denn das hätte dem blonden derben Junker aus dem
+thüringischen Geschlecht der Golzows wenig ähnlich gesehen, sondern aus
+Liebe zu einem schönen Fräulein, die ihn das Keuschheitsgelübde brechen
+hieß. Er wurde auf dem Schloß von Pirgallen der Stammvater des
+preußischen Zweigs der Familie und der Vorfahr meines Großvaters. Mit
+dem Besitz schien sich aber auch die lebenbestimmende Liebesleidenschaft
+des Ahnherrn von Generation zu Generation zu vererben. Nur selten fügte
+sich ein Golzow dem Rate der Familiensippe, wenn es galt, sich die
+Eheliebste zu wählen, und so wurden viele fremde Blumen in den
+nordischen Garten verpflanzt. Manch eine mag dabei im Frost erstarrt,
+vom Meersturm zerzaust worden sein, andere aber blühten, trugen Frucht
+und streuten den Samen ihrer Heimaterde in das Land, wo er üppig
+aufging, so daß es zwischen den gelben Dünen, den weißen Birkenstämmen
+und knorrigen Eichen gar seltsam anzuschauen war.
+
+Auch meine Großmutter war solch eine fremde Blume gewesen: ein Kind der
+Liebe, dem heimlichen Bund eines Königs mit einem kleinen elsässischen
+Komteßchen entsprossen. Und sie war wohl nie recht heimisch geworden da
+oben. Sie fror immer, saß auch im Sommer gern am Kaminfeuer der Halle,
+und schwere schleppende Samtkleider, mit Pelz verbrämt, trug sie am
+liebsten. Sie blieb auch einsam trotz der großen Kinderschar, die sie
+umgab. Das Blut der Golzows war lebenskräftiger als das ihre, denn all
+die Buben und Mädeln, die sie gebar, waren nicht eigentlich ihre Kinder:
+mit hellen blauen Augen aus rosigweißen Gesichtern blickten sie in die
+Welt, und Jagd und Tanz, Spiel und Liebe blieb ihnen Lebensinhalt.
+
+An meine Mutter, ihr jüngstes Kind, die goldblonde Ilse, hatte sie sich
+mit aller Kraft ihrer Sehnsucht geklammert. Lange hoffte sie, sich
+selbst in ihr wiederzufinden, und verdeckte mit den bunten Gewändern
+ihrer Phantasie in zärtlicher Selbsttäuschung alles, was ihr fremd war
+an ihrer Tochter. Sie half ihr auch den Starrsinn des Vaters brechen,
+der sich ihrer Verbindung mit einem armen Infanterieleutnant
+widersetzte. Die Ehe mit dem ernsten, strebsamen Mann würde, so meinte
+sie, ihr eigentliches Wesen erst zur Entfaltung bringen, -- das Wesen,
+das sich schon deutlich genug dadurch auszudrücken schien, daß ihre Wahl
+unter allen ihren glänzenden Bewerbern grade auf diesen gefallen war.
+Sie wußte nicht, daß nur der Rausch Golzowscher Liebesleidenschaft --
+heiß und kurz, wie die Sommer Pirgallens -- Ilse beherrschte. Ihr Gatte
+kannte die Tochter besser als sie, darum gab er die Hoffnung nicht auf,
+statt des »heimatlosen Landsknechts«, wie er ihren Erwählten, den
+Leutnant Hans von Kleve, spöttisch nannte, einen der Standesherrn des
+Landes als Schwiegersohn zu begrüßen.
+
+Kleve besaß nichts als seinen guten Namen und seinen Ehrgeiz. Nachdem
+sein Vater, ein leichtsinniger Gardeleutnant, mit dem spärlichen Rest
+seines rasch verjubelten Vermögens und einer lustigen kleinen Frau,
+deren bürgerliche Herkunft ihn den schönen bunten Rock auszuziehen
+zwang, ein Gütchen in der Nähe Berlins erworben hatte, um dort nichts zu
+tun, als zu sterben, war seiner Mutter kaum das notwendigste übrig
+geblieben, um ihn und seine vier Geschwister zu erziehen. Wie gut, daß
+sie an Arbeit gewöhnt gewesen war ihr Leben lang! Zu stolz, die reichen
+Verwandten ihres Mannes, die sie ihrer Herkunft wegen nie hatten
+anerkennen wollen, in Anspruch zu nehmen, zog sie sich in eine kleine
+märkische Stadt zurück, wo sie ihre Kinder mit eiserner Strenge und in
+spartanischer Einfachheit erzog. Hans war zwölf Jahre alt, als er in
+diese harte Schule genommen wurde. Er empfand die Beschränktheit des
+Lebens am tiefsten und litt ständig unter den Anforderungen, die seine
+Mutter an seine geistige und moralische Leistungskraft stellte. Sein
+Liebesbedürfnis fand wenig Verständnis bei ihr, die unter dem dauernden
+Druck quälender Sorgen die Zärtlichkeit glücklicher Mütter eingebüßt
+hatte. Eine Schwester, die ihm im Alter am nächsten stand, und der er
+sein ganzes Herz zuwandte, wurde ihm früh durch väterliche Verwandte,
+die sich plötzlich der armen Witwe und ihrer Kinder erinnert hatten,
+entrissen; so blieb er ganz auf sich allein angewiesen und konzentrierte
+all seine Energie auf das eine Ziel: sich selbst das Leben zu erobern.
+
+Mit sechzehn Jahren machte er das Abiturientenexamen und trat in ein
+Königsberger Infanterieregiment ein. Kavallerist zu werden, was er sich
+gewünscht hatte -- denn die Reiterleidenschaft saß ihm tief im Blute --,
+erlaubten seine Mittel ihm nicht, und die Schwester, die von ihrem
+reichen Onkel wie ein eignes Kind gehalten wurde, hatte dem Bruder, --
+um ihre persönliche Stellung besorgt, -- rundweg abgeschlagen, eine
+Zulage für ihn zu erbitten. Von selbst reichte des Onkels Generosität
+über das Geburtstags- und Weihnachtsgoldstück und gelegentliche
+Urlaubsreisen nach dem Familiengut in Oberfranken nicht hinaus, und so
+bestand des jungen Mannes Dasein in unaufhörlichen Verzichtleistungen.
+Er lebte nur seinem Beruf; sein Empfindungsleben schien durch die Arbeit
+völlig erstickt zu sein.
+
+Um diese Zeit lernte er Ilse Golzow kennen, und alles, was an
+Liebessehnsucht in seiner Seele gelebt hatte von klein auf, brach
+ungestüm hervor. Das Weib war ihm unbekannt geblieben bis dahin; die
+Arbeit hatte ihn taub und blind gemacht, und eine angeborene Reinheit
+der Gesinnung hatte ihn das Gemeine stets als gemein empfinden lassen.
+So vereinte sich in der ersten Liebe des Achtundzwanzigjährigen die
+volle phantastische Schwärmerei des Jünglings mit der tiefen Neigung des
+reifen Mannes. Die Erfüllung alles dessen, was er in seinen stillsten
+Stunden für sich an Glück erträumt hatte, erwartete er von dem Besitz
+dieses holden blonden Mädchens. Daß ihm dies Glück nicht kampflos in den
+Schoß fiel, erhöhte nur seinen Wert für ihn.
+
+Um ihretwillen vertauschte er seine Studierstube mit dem Ballsaal; er
+entwickelte gesellige Talente, die bisher niemand in ihm vermutet hatte,
+er wurde das belebende Element aller großen und kleinen Feste. Auf dem
+Wege zwischen Königsberg und Pirgallen ritt er sein Pferd fast zu
+Schanden, das er sich endlich als Regimentsadjutant halten konnte, und
+auf den Schnitzeljagden stellte er durch seine Reiterkunst sämtliche
+Kürassierleutnants in den Schatten. Ein instinktives Verständnis für die
+weibliche Natur lehrte ihn, daß Mädchen, wie die schöne Ilse, durch die
+Bewunderung, die man ihnen abnötigt, am sichersten zu gewinnen sind. Von
+dem Vater der Geliebten aber mußte er sich eine zweimalige Ablehnung
+gefallen lassen; erst als er zum drittenmal wieder kam und die Tränen
+Ilsens sich mit seinen Bitten vereinigten, während ihre Mutter alle
+Gründe der Liebe und der Vernunft zu seinen Gunsten zur Geltung brachte,
+hieß er ihn -- mit aller Reserviertheit des Bezwungenen, nicht des
+Überzeugten -- als Schwiegersohn willkommen.
+
+An einem Maiensonntag des Jahres 1863 fand die Trauung des jungen
+Paares in der alten Pirgallener Dorfkirche statt. Als »Burg des
+Christengottes«, so erzählt die Sage, galt sie einst dem heidnischen
+Volk, und an eine Burg mehr als an eine Kirche erinnern noch heut die
+aus ungefügen Steinblöcken zusammengesetzten Mauern und der viereckige
+Turm mit den kleinen Fenstern, den dichter Efeu fast ganz überwucherte.
+Die dämmerige Halle verstärkte diesen Eindruck: vor dem Zeichen des
+Speeres, dem Wappenbilde der Golzows, verschwand fast das des Kreuzes,
+und statt der Bilder des Heilands und der Apostel reihte sich ein
+Grabstein neben dem andern an den Wänden, mit Ritterhelmen und
+Schwertern geschmückt, oder mit steinernen Bildnissen, die alle
+denselben Typus ostdeutschen Adels aufwiesen, ob ihr Antlitz mit den
+regelmäßigen, etwas leblosen Zügen und den hochmütig geschürzten Lippen
+nun unter dem Stechhelm oder der Allongeperücke hervorsah. Auf den
+Grabsteinen der Frauen erzählten die Doppelwappen, wie selten nur die
+ritterbürtige Ahnenreihe unterbrochen worden war. Und daß sie alle zu
+einem Geschlechte gehörten: diese stummen Zeugen der Hochzeit Ilsens und
+die vielen derer von Golzow, die sich in der alten Kirche
+zusammenfanden, -- das bewiesen diese schlanken Menschen mit den
+schmalen Handgelenken und den langen spitzen Fingern, die an harte
+Arbeit nie gewöhnt gewesen waren. Nur daß die Kraft der Ahnen sich in
+lässige Grazie verwandelt und ihre rassige Vornehmheit einen leisen
+Schein müder Dekadenz angenommen hatte.
+
+Auch des Bräutigams Verwandte waren vollzählig erschienen. Sie hatten
+sich die Teilnahme an dem Familienfest um so weniger entgehen lassen,
+als Hans Kleves Heirat die Mesallianz seines Vaters verschmerzen ließ.
+Von anderem Schlag waren sie als die Golzows: Das Blut fahrender
+Landsknechte und alt-nürnberger Patrizier mischte sich in ihren Adern,
+und breit, groß und stämmig waren ihre Gestalten. Die Kniehosen und
+Wadenstrümpfe ihres bayerischen Berglands ließen ihnen besser, als Frack
+und Zylinder, und seltsam stach vor allem des Bräutigams üppige
+rotblonde Schwester Klotilde ab gegen die zarte Elfengestalt seiner
+Braut.
+
+Als Menschen eigner Art jedoch, nicht als bloße Glieder einer Familie,
+traten zwei Erscheinungen aus dem großen Kreise hervor: die Mütter des
+jungen Paares waren es. Das Leben hatte sie beide auf seine Höhen
+geführt und in seine Abgründe hineingerissen, sie waren von ihm
+gezeichnet; die eine -- das Königskind, das Kind der Liebe --, um deren
+hohe Gestalt das Samtgewand wie ein Krönungsmantel niederfloß, deren
+schwermütig-dunkle Augen Geist und Güte strahlten, -- die andere --, ein
+Kind des Volkes und der Arbeit, die sich nicht zu Hause fühlte in dem
+schwarzen Seidenkleid, deren harte Hände von zähem Fleiße, deren
+durchfurchte Züge von eiserner Willenskraft sprachen, und in deren
+braunen Augen doch der kecke Humor noch lachte, der über alles Ungemach
+hinweghilft.
+
+Königsberg, die Garnison meines Vaters, als er heiratete, war mit dem
+raschen Golzowschen Gespann von Pirgallen aus in drei Stunden zu
+erreichen. Es war daher für die Tochter kein Abschied von zu Hause, der
+den Schmerz langer Trennung in sich birgt. Ja, sie blieb im Grunde
+daheim, denn im alten Stadthaus ihrer Eltern wurde dem jungen Paare die
+Wohnung eingerichtet.
+
+Während es auf der Hochzeitsreise war, schmückte die Großmutter das
+künftige Nest ihrer Kinder. All ihren Geschmack, all ihre Träume und
+Gedanken über die Schönheit, Harmonie und Behaglichkeit einer
+Familienwohnung verwirklichte sie hier. Da war der grüne Salon mit den
+tiefen englischen Lehnstühlen, dem geräumigen Sofa am breiten
+Fensterpfeiler, mit dem runden, von einer Tuchdecke bedeckten großen
+Tisch davor, dem mächtigen roten Marmorkamin an der Längswand ihm
+gegenüber; daneben, nur durch Portieren getrennt, das helle Boudoir mit
+seinen kretonneüberzogenen Wänden und Möbeln, dem Schreibtisch voller
+Familienbilder, überragt von Thorwaldsens segnendem Christus; und auf
+der andern Seite des Vaters Zimmer mit seinen schweren geschnitzten
+Eichenmöbeln, in deren Arabesken das Wappentier der Kleves, die gekrönte
+Eule, sich vielfach wiederholte. Für das Speisezimmer hatte die
+Großmutter die alten Empiremöbel ihrer Mutter hergegeben: Mahagoni mit
+Bronzebeschlägen und gelbseidnen Sesselbezügen. Hier prangte auch eine
+Reihe alter Familienbilder an den Wänden: Frauen im Reifrock mit
+märchenhaft dünner Taille und gepuderten Haaren, Männer in
+goldstrotzender Uniform und mächtiger Lockenperücke, und mitten unter
+ihnen ein rosiges, lächelndes, goldlockiges Frauenköpfchen, das die
+Mutter in spätern Jahren immer in den dunkelsten Winkel zu hängen
+pflegte: Alix, die Urgroßmutter, das Königsliebchen.
+
+Ein großes, helles Schlafzimmer, eine Fremdenstube und ein sorgfältig
+abgeschlossner, von der Großmutter streng behüteter Raum -- als hätte
+Blaubart seine Frauen darin -- vollendeten die Wohnung. In Ost und West,
+in Süd und Nord -- wohin immer das Soldatenschicksal uns getrieben hat,
+-- dieser Rahmen des Lebens ist sich stets gleich geblieben. Ein
+Gesellschaftszimmer, ein Tanzsaal kamen später wohl hinzu, sie haben
+mich aber immer wie etwas Fremdes angemutet. »Ihr habt keine Heimat,«
+pflegte die Großmutter zu sagen, »da müßt ihr sie als Ersatz, wie die
+Schnecke ihr Haus, mit euch tragen.«
+
+Als die Eltern nach der Hochzeitsreise diese Räume, die geschaffen
+schienen, Liebe und Freude in sich zu schließen, betraten, war auf ihr
+Eheglück schon ein Reif gefallen. Ahnungslos, wie alle wohlgehüteten
+Mädchen ihrer Zeit und ihrer Lebenskreise, war Ilse in die Ehe getreten.
+Keusch wie sie war der Mann, dem sie sich vermählt hatte, aber um so
+gewaltiger war die Glut seiner Liebe und seines Begehrens, während ihre
+Sinne noch schliefen und das große, tiefe Geheimnis des Geschlechts sich
+ihr wie eine gräßliche Untat offenbarte. Sie hat mir oft erzählt, daß
+sie in den ersten acht Tagen ihres Zusammenlebens mit ihrem Mann am
+liebsten davongelaufen wäre, wenn sie sich nicht vor ihren Eltern
+geschämt hätte. Erst ganz allmählich kam ihr die Erkenntnis, daß ihr
+Gatte kein Verbrecher, ihr Schicksal kein abnormes war. Zu den
+seelischen Leiden, mit denen sie ihn, der so liebevoll, so zartfühlend
+und weichherzig war, wohl noch mehr quälte als sich selbst, kamen
+körperliche Beschwerden hinzu, deren Ursachen sie ebenso verständnislos
+gegenüberstand. Sie suchte sie mit der ihr eignen Energie zu
+beherrschen, um so mehr, als sie sich unter den ihr fremden Kleveschen
+Verwandten befand; sie teilte auch ihrer Mutter nichts davon mit, um die
+Überängstliche nicht unnötig, wie sie meinte, aufzuregen. Tapfer
+beteiligte sie sich an allen Ausflügen, allen ländlichen Festen; tanzte
+und ritt, obwohl es ihr oft vor den Augen dunkelte und der Schwindel sie
+zu übermannen drohte. So kehrte die junge Frau bleich und müde zurück,
+die, ein Bild blühender Gesundheit, das Elternhaus verlassen hatte. Der
+Schatten dieser ersten Schmerzen und Enttäuschungen fiel über ihr ganzes
+Leben.
+
+Der Großmutter blutete das Herz, als sie ihr Kind wiedersah. Bald aber
+war sie beruhigt und zärtlicher Freude voll in dem Gedanken an das junge
+Leben, das sich im Schoße der Tochter entwickelte. Nur allzu früh sollte
+die Hoffnung, die von Ilse selbst nur qualvoll empfunden wurde, zerstört
+werden; und statt einer Wöchnerin pflegte die Großmutter eine schwer
+kranke junge Frau. Erst die würzige Herbstluft von Pirgallen heilte sie,
+und der Königsberger Karneval sah sie als eine der schönsten der Schönen
+im fröhlichen Kreise der Jugend wieder. Sie tanzte gern, sie sah sich
+gern von Bewunderern umgeben, und ihr Mann war überglücklich, wenn er
+sie heiter wußte.
+
+Im zweiten Jahre ihrer Ehe stellten sich wieder Hoffnungen ein; mit
+hellem Jubel begrüßte sie Hans Kleve, mit tiefer Rührung die Großmutter;
+nur die, unter deren Herzen das neue Leben erwachte, spürte nichts von
+alledem. Die Fassung, mit der sie sich in ihr Schicksal ergab, das
+Vorgefühl ernster kommender Pflichten war das einzige, was sie ihm
+gegenüber aufbringen konnte.
+
+Indessen richtete die Großmutter des Enkelkindes erstes Stübchen ein:
+Alles darin war weiß und rot, einfach und freundlich, nur das Sofa war
+mit braunem Rips bezogen und der Tisch davor mit braunem Wachstuch. Du
+gutes altes Sofa! Auf dir hab ich die Glieder im ersten Lebensgefühl
+gestreckt, auf dir bin ich umhergeklettert, als ich die Beinchen regen
+konnte; in deinen Winkeln hab ich mein Lieblingsspielzeug geheimnisvoll
+verwahrt, habe, tief in deine Polster geschmiegt, meine Märchenbücher
+verschlungen und meine ersten Träume auf dir geträumt!
+
+Mitten in den Vorbereitungen zum Empfange des kleinen Erdenbürgers warf
+eine Lungenentzündung den alten Golzow aufs Krankenlager. Bei einer der
+häufig wiederkehrenden Überschwemmungen, die durch die wilden, alle
+Dämme durchreißenden Wogen des kurischen Haffs entstanden und die Wiesen
+stets auf Jahre hinaus wertlos machten, hatte er stundenlang, bis an die
+Kniee im Wasser, mit den Knechten um die Wette die Löcher der Dämme zu
+verstopfen gesucht und sich dabei eine Erkältung zugezogen. Auf die
+Nachricht seiner Erkrankung siedelte Ilse, die ihrem Vater besonders
+nahe stand, nach Pirgallen über. Noch wochenlang sah sie dem wilden
+Kampf des starken Mannes gegen den Allüberwinder zu, der ihn
+schließlich sanft in seine Arme nahm.
+
+Ein Maiensonntag war es abermals, als der Gutsherr mit all dem Pomp, der
+die Sprossen eines der ältesten Geschlechter des Landes von jeher zu
+Grabe leitete, in die Gruft seiner Vorfahren gesenkt wurde. Vollzählig
+war wieder die Familie versammelt, vollzählig war auch das Offizierkorps
+des Königsberger Kürassierregiments zugegen, dem Walter, der älteste
+Sohn des Verstorbenen, angehörte, und seine Trompeter bliesen die
+Trauerchoräle. In langem Zuge folgten die Knechte und die Instleute dem
+Sarge, den der greise Förster, des Toten Lebensgefährte, mit seinen
+Jägern trug. Ehrliche Trauer blickte aus den Zügen aller der
+wettergebräunten Männer der Arbeit. Werner Golzow war ihnen ein guter
+Herr gewesen. Sie hatten nie seine Faust und nie seine Peitsche gespürt,
+wie ihre Kollegen ringsum auf den Nachbargütern, und sie fürchteten sich
+vor dem Junker, seinem Erben. Sein junges hübsches Gesicht war hart und
+hochmütig, auf die unbeholfenen, teilnehmenden Worte der Diener seines
+Vaters antwortete er nur mit einem leichten Neigen des Kopfes, die Hand,
+die sie, der alten preußischen Sitte gemäß, küssen wollten, zog er
+ungeduldig zurück. Als die Gutsleute nach der Beisetzung in der großen
+Halle des Herrenhauses von der Großmutter empfangen wurden, spürten sie
+doppelt ihre Güte, die nichts Herablassendes hatte, die den Untergebenen
+niemals den Abstand zwischen Herrn und Diener fühlen ließ. Und einer
+nach dem andern richtete die angstvolle Frage an sie: Unsre Frau Baronin
+wird uns doch nicht verlassen? Sie schüttelte nur wehmütig lächelnd den
+Kopf dazu, und halb und halb beruhigt ging alles auseinander.
+
+Sechs Wochen später wurde ich geboren. Es war ein glühheißer
+Junisonntag; in voller Pracht blühten die Rosen, und in der alten
+dunkeln Gespensterallee, wo die »böse Frau von Pirgallen«
+nächtlicherweile mit dem Kopf unter dem Arme umging, dufteten
+berauschend die Linden. Das Geläut der Glocken begleitete gerade die
+heimkehrenden Kirchgänger, als ich zur Welt kam. Ich konnte das Leben
+nicht erwarten, denn den Weg hinein fand ich ohne Hilfe, -- die weise
+Frau kam erst, als die Großmutter mich schon in den Armen hielt und dem
+Vater beim Anblick seines Kindes große Tränen der Rührung über die
+Wangen liefen.
+
+In der alten Kirche, über der Gruft der Golzows und unter ihren Speeren,
+wurde ich getauft. Die Gutskinder hatten den düstern Raum in eine Laube
+von Jasmin verwandelt, -- darum hab ich wohl mein Lebtag keinen
+Blumenduft so geliebt wie den dieser weißen Sterne. Selbst im geweihten
+Wasser des Taufsteins schwammen ihre Blätter, und als der greise Pfarrer
+es mir auf die Stirn träufelte, blieb eins davon auf meinem dunkeln
+Köpfchen haften. »Und wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und
+hätte der Liebe nicht, ich wäre ein tönend Erz und eine klingende
+Schelle« -- lautete der Text der Taufpredigt und Alix der Name, der mir
+gegeben wurde. Beides hatte die Großmutter gewählt; den Namen hatte sie
+gegen den Widerstand der Tochter für ihr erstes Enkelkind durchgesetzt,
+-- den Namen ihrer Mutter, die sie um so inniger geliebt, je mehr die
+Welt sie verdammt hatte.
+
+Ich blieb in Pirgallen. Vergebens hatte man versucht, mich an die Brust
+meiner Mutter zu legen. War es ihre innere Abneigung, die sie nur im
+Gefühl, eine Pflicht erfüllen zu müssen, überwinden wollte, war es mein
+früh erwachter Eigensinn, -- kurz, Mutter und Kind schienen nichts von
+einander wissen zu wollen, und eine derbe Fischerfrau, die mich mit
+ihrem Söhnchen zusammen nährte, wurde meine Amme. Behütet von ihr und
+der Großmutter, der das schwarzhaarige, dunkeläugige Baby so ähnlich
+sah, verbrachte ich auch den Winter bei ihr; seufzend hatte es mein
+Vater zugegeben, da er sah, daß ich hier besser aufgehoben war als in
+Königsberg, wo die Freuden der Gefälligkeit meiner Mutter ganze Zeit in
+Anspruch nahmen. Oft aber packte ihn die Sehnsucht so sehr, daß er Sturm
+und Wetter nicht scheute und, wie einst zu der Geliebten, zu der Braut,
+nun zu dem Töchterlein hinausritt, um es zu küssen, und in den Armen zu
+schaukeln. Die Großmutter hat immer dabei weinen müssen, erzählte mir
+die Amme später. Lange wußte ich nicht, warum.
+
+Dann kam der Krieg, der böse deutsche Bruderkrieg. Mein Vater wurde
+Kompagnieführer in einem jener Regimenter, die durch die mörderischen
+Kämpfe in Böhmen fast völlig aufgerieben wurden. In den Wäldern um
+Königgrätz warf ihn eine Kugel zu Boden. Wären nicht ein paar seiner
+treuen Grenadiere, die ihn wie einen Vater liebten, der eignen
+Erschöpfung nicht achtend, noch spät des Nachts ausgezogen, um, wie sie
+meinten, die Leiche ihres Hauptmanns zu suchen, er wäre elend verblutet.
+Puckchens, unseres Affenpinschers, klägliches Winseln führte sie auf
+die Spur des Verwundeten. Sobald er transportfähig war, brachte man ihn
+nach Königsberg. Die Mutter, sonst eine so starke Frau, brach zusammen
+beim Anblick des entkräfteten, vollkommen entstellten Mannes. Er war es,
+der sie lächelnd trösten mußte.
+
+Viele, viele Wochen lag er auf dem Krankenlager, das ihm in seinem
+Wohnzimmer errichtet worden war. Je mehr seine Genesung vorschritt,
+desto eifriger beschäftigte er sich mit mir. Ich habe nie einen Mann
+gesehen, der wie er mit kleinen Kindern spielen konnte.
+
+Meine erste traumhafte Erinnerung, -- ich bin immer ausgelacht worden,
+wenn ich von ihr erzählte, da ich doch damals noch nicht zwei Jahre alt
+war --, führt mich in einen dunkel verhängten Raum vor ein großes
+braunes Bett, aus dem mir ein blasser Mann die Arme entgegenstreckte.
+Ich weiß, daß ich laut aufschrie, daß der Mann den Kopf müde zurücklegte
+und ich mich ausatmend in meinem hellen Stübchen wiederfand. Und später
+sah ich ihn im Rollstuhl wieder und mich auf seinem Schoß mit seiner
+großen, dicken Uhr spielend, die, weil sie mit so zärtlichem, feinen
+Stimmchen alle Viertelstunden schlug, für mich immer etwas Lebendiges
+gewesen ist. Wende ich ein andres Blatt der Erinnerung um, so seh ich
+große rote Blumenkerzen in mein Fenster hereinleuchten. Das war in
+Potsdam, wohin mein Vater nach dem Feldzug versetzt wurde, und wo wir in
+einem gartenumsäumten Haus, vor dem ein alter Kastanienbaum Wache hielt,
+das erste Stockwerk bezogen. Neben uns, nur durch den Gartenzaun
+getrennt, wohnte meiner Mutter zweiter Bruder Max, der bei den
+Gardehusaren Leutnant war und eine elsässische Cousine geheiratet
+hatte. Werner, ihr Sohn, war nur um wenige Monate jünger als ich. Unter
+uns aber, in die Parterrewohnung mit der großen Terrasse, auf deren
+Balustrade kleine Steinengelchen saßen, die in meinen Träumen immer
+lebendig wurden, zog, kaum ein Jahr nach unsrer Übersiedlung, die
+Großmutter ein.
+
+Walter Golzow hatte nach dem Kriege den bunten Rock mit dem schönen
+himmelblauen Kragen ausgezogen und das Gut übernommen, dessen Geschäfte
+die Großmutter bis dahin mit Hilfe des erprobten Verwalters gewissenhaft
+und in der alten Weise geleitet hatte. Sie versuchte dann noch eine
+Zeitlang, neben dem Sohn zu wirken und zu arbeiten, wie sie es früher
+gewohnt gewesen war. Aber zu hart stießen die Gegensätze aneinander: in
+ihrer Milde sah Walter Schwäche, in ihrer Wohltätigkeit Verschwendung.
+Es kam auch tatsächlich zuweilen vor, daß ihre Güte mißbraucht wurde,
+daß man die allzeit Hilfsbereite, die an jedem Menschen etwas Gutes sah
+oder herauszulocken verstand, hinterging und betrog. Das nahm ihr Sohn
+zum Vorwand, ihrem barmherzigen Wirken mehr und mehr Hindernisse in den
+Weg zu legen. Doch dies alles hätte sie nicht so schwer getroffen, da
+sie als Herrin ihres Vermögens damit machen konnte, was ihr gut schien;
+unerträglich wurde ihr die Existenz vielmehr erst durch die fast
+fieberhafte Neuerungssucht Walters: nichts in der Wirtschaft und im
+Hause schien ihm mehr gut genug, und Umwandlungen und Neuanschaffungen,
+die ein vorsichtiger, auf alle Möglichkeiten schlechter Jahre
+vorbereiteter Gutsherr auf einen langen Zeitraum verteilt, sollten jetzt
+in wenigen Monden vor sich gehen. Die Großmutter sorgte, warnte, bat,
+-- sie predigte tauben Ohren. Die Ställe füllten sich mit Luxuspferden,
+die Wirtschaftsräume mit neuen Maschinen aller Art, deren Handhabung
+selten einer verstand, das Herrenhaus mit modernen Möbeln, vor deren
+geschmacklosem Prunk der alte, solide Hausrat aus Urväter Tagen weichen
+mußte. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn,
+die ihren Höhepunkt erreichten, als sie sah, wie er auf die Wange eines
+ungeschickten Reitknechts die Peitsche niedersausen ließ, so daß der
+junge Mensch blutend zu Boden sank. Wenige Tage darauf entführte der
+alte breite Kutschwagen mit den wohlgenährten Braunen davor die
+Großmutter von der Stätte ihrer jahrzehntelangen Wirksamkeit, von dem
+erinnerungsreichen Boden ihrer zweiten Heimat. Sie sah sich nicht um,
+und sie weinte nicht; zu tief empfand sie das schwerste Geschick, das
+ein Weib treffen kann: fremde Kinder zu haben.
+
+Ich war vier Jahre, als die Großmutter nach Potsdam kam. Ein Ölbild von
+Tochter und Enkelin, das damals für sie gemalt worden war, zeigt, daß
+auch ich meiner Mutter solch ein fremdes Kind gewesen bin: von ihrer
+lichten Erscheinung mit dem hellblonden Haar, der durchsichtigen Haut,
+den meerblauen Augen sticht das kleine Mädchen seltsam ab, um dessen
+schmales gelbliches Antlitz dunkle schwere Locken sich ringeln, dessen
+schwarze Augen fragend und verträumt ins Weite sehen. Von klein an
+bewunderte ich neidvoll meiner Mutter nordische Schönheit, und wenn
+meine Freunde mir Tränen des Zorns entlocken wollten, brauchten sie mich
+nur »schwarze Alix« zu rufen; sie waren selbst alle blond, und schon
+bei den Unmündigen wirkt die Majorität überzeugend. Die Anführer bei
+solchen Späßen, die mir den Umgang mit meinesgleichen früh verleideten,
+waren meist mein Vetter Werner und Adda, das Töchterchen eines der
+Regimentskameraden meines Vaters. Mit jener Grausamkeit, die nur den
+kleinen Menschentieren eigen ist, rächten sie sich durch ihre Neckereien
+an meiner Besonderheit. Einig waren wir drei eigentlich nur, wenn es
+galt, unseren französischen Bonnen einen Schabernack zu spielen. Wir
+konnten sie alle nicht leiden und empfanden sie nur als notwendiges
+Übel, unter dem wir gemeinsam zu leiden hatten.
+
+An jedem schönen Morgen führten sie uns in den Park von Sanssouci; kein
+Wort Deutsch durften wir sprechen, und artig mußten wir nebeneinander
+gehen. Wenn die drei Fräuleins aber erst häkelnd auf einer der Bänke
+saßen und die Lebhaftigkeit ihres Gesprächs einen gewissen Höhepunkt
+erreicht hatte, benutzten wir schleunigst die Gelegenheit, aus ihrem
+Gesichtskreis zu verschwinden, und dann war ich die Anführerin. Wo die
+Büsche am dichtesten waren, versteckten wir uns und spielten im grünen
+Dämmerlicht phantastische Märchen. Meine blühende Phantasie steckte die
+beiden andern an: unter halbverwitterten steinernen Göttern gruben sie
+eifrig nach den Schätzen, von denen ich ganz genau zu erzählen wußte,
+oder sie umschlichen geduldig immer wieder des alten Fritzen Schloß oben
+auf den Blumenterrassen, die Ritter und die Feen mit Herzklopfen
+erwartend, die ich schon »soo« oft gesehen hatte. Wenn freilich durchaus
+nichts von dem Erwarteten sich zeigen wollte, mußte ichs bitter büßen,
+und wenn wir unsrer schmutzigen Hände und zerdrückten Kleider wegen von
+unsern drei Gestrengen gescholten wurden, war allemal ich die
+Hauptschuldige. Allmählich gewöhnte sich mein sehr robuster und
+prosaischer kleiner Vetter daran, den lebhaften Ausbrüchen meiner
+Einbildungskraft mit einem verächtlichen »zu dumm« zu begegnen, was mich
+bis zu Tränen kränkte und mehr und mehr verstummen ließ. Spielte ich
+dann artig mit Ball und Reifen, ohne in die Büsche zu kriechen, dann
+lobte mich Mademoiselle: »Comme elle devient raisonable!« sagte sie.
+
+Noch stand ich nicht fest auf dieser Staffel der guten Erziehung, als
+mir ein schwerer Kummer widerfuhr. In unserm Garten, in dem wir
+nachmittags zu spielen pflegten, lagen auf den Wegen viele bunte
+Kieselsteine. In einem Winkel, unter einem Jasminstrauch -- zu den
+weißen Blüten trug ich immer meine tiefsten Geheimnisse -- sammelte ich
+die schönsten, die ich finden konnte. Ich war fest überzeugt, daß sie in
+ihrem Innern goldne Wagen mit weißen Pferdchen davor, blitzende
+Königskronen und schimmernde Schlösser bargen, und versuchte, sie mit
+einem Hammer aufzuschlagen. Schließlich kamen Werner und Adda hinter
+mein Geheimnis; mein Vetter, den meine glühende Begeisterung für die zu
+erwartenden Herrlichkeiten anstecken mochte, bemühte sich auch
+seinerseits, die Kiesel zu öffnen, und es gelang. »Bist du dumm,« rief
+er ärgerlich, als er die grauen Splitter in der Hand hielt, »es sind ja
+nur ganz gewöhnliche Steine!«
+
+Noch oft hab ich später hinter dem Leblosen wundervolle Offenbarungen
+vermutet und im Schweiße meines Angesichts versucht, zu ihnen
+vorzudringen, aber die Enttäuschung hat mich kaum je so heftig
+geschmerzt und bis zu so wilder Verzweiflung getrieben, wie damals, wo
+ich, ein fünfjähriges Kind, weinend vor den zerschlagenen Kieseln saß.
+
+Wenn die andern mich verhöhnten, wenn der Schmerz mich übermannte und
+sie nicht verstanden, warum, dann blieb mir ein Zufluchtsort und ein
+Mensch, der immer die rechten Worte des Trostes fand: Großmama. Wie oft
+flüchtete ich in ihr stilles Reich, wo sie zwischen blühenden Blumen und
+dunkeln Palmen lesend, schreibend oder still vor sich hinträumend in
+ihrem tiefen, grünen Lehnstuhl saß. Sie hatte immer Zeit für mich, sie
+lachte mich niemals aus und antwortete nie auf meine tausend Fragen mit
+jenem ein weiches Kindergemüt so verletzenden: »Das verstehst du nicht.«
+Und wenn sich mir Park und Garten, Wasser und Wald mit tausend Gestalten
+bevölkerten, wenn die allabendlich in buntem Reigen um mein Bettchen
+tanzten, so wußte ich: Großmama sah sie, wie ich; nur die andern hatten
+keine Augen dafür. War ich allein bei ihr, so erschienen mir ihre Zimmer
+wie ein einzig Märchenreich: Zwischen den Palmen lächelte der schöne
+weiße Jünglingskopf ihres Vaters mir entgegen -- halb ein Cäsar, halb
+ein Antinous --; von den Wänden sahen Männer und Frauen mich an, mir
+vertraut seit meinem ersten Augenaufschlag, wenn auch fremd nach Art und
+Gewandung, und unter einem von ihnen, auf kleinem Postament, stand
+Winter und Sommer ein frischer Blumenstrauß. Das war der Dichter, zu
+dessen Füßen die Großmutter gesessen hatte, als sie ein Kind, ein junges
+Mädchen gewesen war, der die Geschichte vom Heideröslein gedichtet
+hatte, die erste, die ich wiedererzählen konnte, und bei deren Schluß
+mir immer die Stimme brach: ... »Doch es half kein Weh und Ach, mußt es
+eben leiden!«
+
+Auf dem Fußbänkchen neben Großmama, den Kopf vergraben in den weichen
+Falten ihres Sammetkleids, die Augen auf die tanzenden und zuckenden
+Flammen des Kaminfeuers gerichtet, während ihre leise Stimme über mir
+klang, von Schneewittchen und Dornröschen erzählend oder von der kleinen
+Seejungfrau, die dem Prinzen zuliebe unter tausend Schmerzen zum
+Menschen wurde und dann doch wieder hinabsteigen mußte in die Fluten, --
+das waren die schönsten Stunden meiner frühen Kinderjahre. Und das alles
+waren Erlebnisse für mich, viel bedeutungsvollere, als die Ereignisse
+des öffentlichen Lebens, deren Kunde an mein Ohr schlug. So weiß ich vom
+deutsch-französischen Kriege, obwohl ich ihn als fast Sechsjährige
+erlebte, nicht allzuviel. Ich sehe mich zwar Charpie zupfend am Fenster
+sitzen oder mein Frühstücksbrötchen mitleidig für die armen Soldaten in
+die Kiste legen, die die Mutter allwöchentlich zu packen pflegte; ich
+erinnere mich, daß ich mit Hurra schrie bei jeder Siegesnachricht und
+die Illuminationskerzen nach dem Fall von Sedan mit in die sandgefüllten
+Gläser steckte. Ich weiß auch, daß mir das bunte Schauspiel des Einzugs
+der Sieger in Berlin, dem ich in einem neuen blauseidnen Kleidchen mit
+meiner Mutter von irgend einem Lindenhotel aus beiwohnte, sehr gefiel,
+und daß mein Lorbeerkranz statt auf die Lanze eines Kriegers auf den
+aufgespannten Schirm irgend einer biedern Berliner Bürgerfrau
+niederfiel; aber von hochgeschwellter patriotischer Begeisterung weiß
+ich nichts. Vielleicht, daß die gedrückte Stimmung zu Haus mich
+beeinflußt hatte, denn hier kam eine reine Siegesfreude nicht auf. Nicht
+nur, weil Söhne und Gatten allen Wechselfällen des Krieges ausgesetzt
+waren, sondern auch, weil nahe, liebe Verwandte der Großmutter im
+französischen Heere dienten. Neffen von ihr kamen als Gefangene nach
+Potsdam; der alte Bruder ihrer Mutter, der sich als Jüngling unter
+Napoleon I. die Sporen verdient hatte, kämpfte jetzt mit derselben
+glühenden Vaterlandsliebe unter seinem Nachfolger. Von dem Franzosenhaß,
+der den deutschen Kindern späterer Zeit eingeprägt wurde, wußten wir
+infolgedessen nichts. Ich glaube, jener Hurrapatriotismus, der sich
+heute breit macht, gedeiht nur in Friedenszeiten. Wer dem Kriege Aug in
+Auge sieht, dessen Vaterlandsliebe wird vielleicht nicht weniger tief,
+wohl aber ernster und stiller sein. Erst wenn die großen Kämpfe der
+Völker lange vorüber sind, werden sie zu Mitteln, die Begeisterung auch
+der Kinder anzufachen. So kam es wohl, daß meine Phantasie von dem, was
+vor sich ging, ebenso unberührt blieb wie mein Gemüt. Nur der Heimkehr
+meines Vaters sah ich voll jubelnder Freude entgegen.
+
+Er brachte uns allen Geschenke aus Frankreich mit, die er mit Sorgfalt
+und in der freudigen Aussicht auf die glücklichen Gesichter der
+Empfänger ausgewählt und wofür er wohl auch viel Geld ausgegeben hatte.
+Über all das schöne Spielzeug, das ich erhielt, war mein Jubel ohne
+Grenzen, und ein zierliches goldnes Kettlein, das mich noch mehr
+entzückte, schlang ich mir grade vor dem Spiegel um den Kopf, so daß die
+Perle, die wie ein Tautropfen daran hing, just unter dem Scheitel auf
+die Stirne fiel -- meine schwarzen Locken erschienen mir plötzlich gar
+nicht mehr so häßlich --, als das Antlitz meiner Mutter hinter mir
+auftauchte. Angstvoll erstaunt wandte ich mich um; Seiden- und
+Samtstoffe lagen vor ihr ausgebreitet, mit zärtlich-fragenden Augen sah
+der Vater sie an, und sie -- sie freute sich nicht! Worte des Vorwurfs
+über die »unnützen Ausgaben« war das erste, was ich sie sagen hörte, und
+mit ungewohnt heftiger Geberde nahm sie mir die Kette aus den Haaren,
+die nun -- ich wußte das nur zu gut -- in der unergründlichen Tiefe des
+Silberschranks verschwinden würde, wie so manche der schönsten Dinge,
+bis »Alix groß sein wird«. Dann dankte sie dem Vater mit einer kühlen
+Phrase, aus der ich das Erzwungene mit dem feinen Gefühl des
+Kinderherzens herausempfand. Über unsre Festtagsfreude hatte sich ein
+dunkler Schatten gelegt. Papa ging verstimmt hinaus, ich spielte
+verschüchtert in einem möglichst versteckten Winkel. Freude ist eine der
+sensitivsten Pflanzen, die es gibt, das hab ich damals unbewußt zum
+erstenmal empfunden: wenn sie in vollster Blüte steht, genügt ein kalter
+Lufthauch, sie zu töten. Sie will gehütet sein und gepflegt, und nur ihr
+natürliches Welken ist schmerzlos. Verschleiert blieb von da an die
+Stimmung; um Liebe werbend, dankbar für jeden wärmeren Blick, bemühte
+sich mein Vater um seine schöne kühle Frau. Wie oft nahm er mich auf den
+Schoß, legte mein Bäckchen an seine Wange und herzte und streichelte
+mich, während seine Augen ihr folgten, die im Zimmer umherging, jedem
+Staubfäserchen nach, das etwa von einem Möbelstück nicht entfernt worden
+war.
+
+Bald hieß es, die Mutter sei krank und brauche längere Zeit der
+Erholung. Große Koffer wurden gepackt, und wir reisten -- Großmama, Mama
+und ich, meine Mademoiselle und die Jungfer -- nach der Schweiz. Wie
+schnell war da der arme, einsame Papa vergessen! Wundervolle Bilder von
+weißleuchtenden Gletschern, blauen Seen, brausenden Wasserstürzen und
+Schauerlichen Abgründen zogen an mir vorüber. Nirgends war mir meine
+Bonne mit ihrem ewigen: Tiens-toi droite -- ne court pas si vite -- sois
+raisonable so widerwärtig vorgekommen wie hier. Ins Moos sich werfen mit
+ausgebreiteten Armen, laufen und springen, wie von Flügeln getragen, und
+über Stock und Stein aufwärts klettern, höher, immer höher, bis zu den
+silbernen Häuptern der Berge mitten in den Himmel hinein -- ach, wer das
+könnte! Eines Tages hielt es mich nicht länger. Irgendwo am
+Vierwaldstädter See wars, wo ich davon lief, gedankenlos, ziellos, nur
+erfüllt von dem Wonnegefühl der ungebundenen Kraft. Erst als es anfing
+zu dunkeln, kam ich zum Bewußtsein meiner Verwegenheit. Da plötzlich
+geschah etwas so Wundersames, daß ich alles vergaß: die weißen Berge
+bekamen rotglühendes Leben. -- Männergeschrei und ängstliches Rufen
+schreckten mich auf aus der Verzauberung; vom Hotel aus suchte man die
+Ausreißerin. Stumm kehrte ich heim, unempfindlich blieb ich für alle
+Vorwürfe, die mich sonst so bitter trafen; das Erlebte hatte jede andre
+Empfindung in mir ausgelöscht. Nur der Großmutter vertraute ich
+flüsternd das große Geheimnis an: wie die Bergriesen vor mir lebendig
+geworden waren.
+
+Im Herbst desselben Jahres kehrte Großmama nach Potsdam zurück, Mama
+und ich aber reisten nach Augsburg zu meines Vaters Schwester Klotilde.
+Sie hatte sich mit Baron Artern, dem jüngeren Bruder ihrer Tante Kleve,
+bei der sie erzogen worden war, vermählt gehabt und war nach kurzem
+strahlendem Glück Witwe geworden. Monatelang schien es, als ob ihr
+sehnsüchtiger Wunsch, dem Toten zu folgen, erfüllt werden würde, und es
+war mein Vater, der ihr in dieser Zeit mit der ganzen hingebungsvollen
+Liebe und zarten Rücksicht, deren er fähig war, zur Seite gestanden und
+sie dem Leben zurückgewonnen hatte. Er war es wohl auch gewesen, der ihr
+den Gedanken nahe legte, uns zu sich einzuladen. Es gibt kaum eine
+heilendere Kraft für alle Lebenswunden als die weichen Hände, die klaren
+Augen und das helle Lachen eines Kindes, -- ihr war sie versagt
+geblieben; in mir, so hoffte mein Vater, sollte sie sie finden.
+
+An einem trüben Oktoberabend kamen wir in Augsburg an. In Trauerlivree
+empfing uns der Diener am Bahnhof, dunkel war die Equipage, dunkel waren
+die engen winkligen Straßen, und grau, wie leblos, starrten die alten
+Häuser mir entgegen. In einen hallenden Torweg, den nur eine unruhig
+flackernde Lampe spärlich erhellte, bog der Wagen, und vor einer
+breiten, teppichbelegten Treppe mit kunstvollem schmiedeeisernem
+Geländer stiegen wir aus. Eine alte Dienerin mit großem Schlüsselbund
+über der schwarzseidenen Schürze begrüßte uns zuerst; oben, wie eine
+Fürstin, wartete des Hauses Herrin auf uns. Der Kreppschleier verhüllte
+sie fast ganz, nur das weiße Gesicht und die roten Haare leuchteten
+daraus hervor. Weinend umarmte sie ihre Gäste, und erschüttert von dem
+Eindruck der neuen Umgebung weinte ich mit ihr. »Du gutes Kind,« sagte
+sie und küßte mich zärtlich; ich hatte ihr Herz gewonnen.
+
+Ein seltsames Leben begann für mich in dem grauen Hause mit seinen
+langen, düstern Gängen, an deren Wänden ein dunkles Bild neben dem
+andern hing, mit seinen mächtigen schwarzbraunen Schränken und den
+tiefen, tiefen Teppichen, über die der Fuß unhörbar hinglitt. Die Türen
+waren mit Fries eingefaßt, um jedes Geräusch zu vermeiden, und die
+Klingeln hatten einen dunkeln Ton. Meine Tante vertrug nicht den
+geringsten Lärm. Man hatte mir das streng eingeschärft, aber ich wäre
+hier auch ohnedies ganz still gewesen. Nur im Stübchen bei der alten
+Kathrin, der Wirtschafterin, die mich schnell in ihr Herz schloß, durfte
+ich lachen und toben, und draußen bei allen den vielen Verwandten und
+Freunden fühlte ich mich aus dem Traumreich in die Welt zurückversetzt.
+Die erste Mädcheneitelkeit ist damals von ihnen in mir großgezogen
+worden. Sie umgaben mich förmlich mit der wohligen weichen Treibhausluft
+der Bewunderung; und wenn meine Mutter auch, sobald wir allein waren,
+Worte wie Hagelschauer und Gewitterregen abkühlend hernieder brausen
+ließ, so sah ich darin doch nichts weiter, als daß sie mir die Freude
+eben wieder einmal nicht gönnen wolle. Hatte ich mich früher, weil ich
+anders war, zurückgesetzt gefühlt, war ich mir im Vergleich zu meinen
+helläugigen Gespielen häßlich vorgekommen, so wurde ich allmählich
+meiner Besonderheit als eines Vorzugs bewußt.
+
+In meinem Zimmer, das ich allein bewohnte -- Mademoiselle war auf
+Urlaub bei ihren Eltern in der Schweiz geblieben --, stand ein
+verschlossener Schrank. Ich studierte durch die Glastüren die Titel auf
+den Rücken der Bücher, soweit das meine ziemlich unzureichende Kenntnis
+der deutschen Buchstaben zuließ; französisch war mir bisher allein
+geläufig geworden. Auf einer Reihe großer Quartbände wiederholten sich
+immer dieselben Worte: »Die Geschichten aus tausend und einer Nacht.«
+»Tausend und eine Nacht«, -- hieß nicht so das Buch mit den bunten
+Bildern, aus dem mir Großmama Aladins seltsame Abenteuer vorgelesen
+hatte? Niemand erzählte mir Märchen in Augsburg, die alte Kathrin wußte
+nur immer dieselben Gespenstergeschichten, ach, wenn ich doch selber
+lesen könnte! Heimlich versuchte ich, mit allen Schlüsseln, die mir
+erreichbar waren, den Schrank zu öffnen, um zu den Schätzen zu gelangen,
+die er barg. Endlich, endlich sprang er auf. Wie gut, daß ich Halsweh
+hatte und Tante und Mama allein spazieren gefahren waren! Mit klopfendem
+Herzen nahm ich einen Band nach dem andern heraus -- ich sehe noch ihr
+gebräuntes Leder vor mir und ihr gelbes, stockfleckiges Papier! -- und
+betrachtete die vielen Bilder darin: Geister und Ungeheuer, Männer auf
+sich bäumenden Rossen mit krummen Säbeln und hohem Turban und wunder-,
+wunderschöne Frauen. Von nun an hatte ich häufig »Halsschmerzen« und
+ließ mir mit rührender Geduld Einreibungen und Umschläge gefallen, trug
+auch klaglos das rote Flanellläppchen, das ich sonst nicht rasch genug
+hatte abreißen können. Sobald ich allein war, vertiefte ich mich in die
+Bücher. Es waren unverkürzte Übersetzungen des herrlichen
+Märchenschatzes; ich lernte lesen darin; der ganze Farbenreichtum, die
+ganze Glut des Orients umgaben mich wie mit einem Zaubermantel. Wie oft,
+wenn ich mit glühenden Wangen und heißen Augen den Heimkehrenden
+entgegentrat, wurde mir der Fieberthermometer besorgt unter den Arm
+gesteckt. Aber ich hatte kein Fieber, -- ich hatte ja auch nur mit den
+Ausschneidepuppen gespielt, die in buntem Durcheinander auf meinem
+Tische lagen!
+
+Warum ich mein Geheimnis verschwieg? Nicht nur, weil die Mutter ganz
+gewiß die Bücher verschlossen hätte, sondern weit mehr noch, weil alles,
+was mich am tiefsten ergriff, auch am tiefsten verhüllt bleiben mußte.
+Es erschien mir entweiht, seines Wertes beraubt, wenn andre es sahen,
+besprachen, betasteten. Großmama allein hätte ich davon erzählen können.
+Niemand merkte das Geheimnis, in dem ich lebte, niemand ahnte, daß ich
+in den dunkeln Gängen und tiefen Nischen alle Spukgestalten meiner
+Bücher leibhaftig vor mir sah, daß sie mir aus den Bildern an den Wänden
+entgegentraten, daß ich eine seltsam schwüle, schwere Luft durstig
+einatmete.
+
+Seit meiner ersten Kinderzeit hatte ich die Gewohnheit, mir abends im
+Bett Geschichten zu erzählen; das waren meine köstlichsten Stunden! Da
+störte mich nie die rauhe Hand der Wirklichkeit, da lachte mich keiner
+aus. Von nun an wurden meine Phantasten wilder, so daß ich mich oft vor
+ihnen fürchtete und zitternd unter die Bettdecke kroch. Häufig genug
+wartete ich mit fieberhafter Erregung auf den Schritt der Mutter im
+Nebenzimmer, aber zu rufen wagte ich nicht, nachdem sie mich einmal
+meiner »dummen Aufregung« wegen arg gescholten hatte.
+
+Inzwischen war mein Vater nach Karlsruhe versetzt worden. Er und die
+Großmutter besorgten den Umzug, suchten die Wohnung und richteten sie
+ein. Beide erwarteten uns, als wir nach einer beinahe halbjährigen
+Abwesenheit endlich heimwärts reisten. Mir war der Abschied von Augsburg
+sehr schwer geworden, denn mochte ich mir noch so sehr den Kopf
+zerbrechen, -- meine lieben Bücher heimlich mitzunehmen, gelang mir
+nicht. Papa und Großmama erschraken, als sie mich wiedersahen. »So blaß
+ist mein Alixchen,« sagte sie. »So dunkle Ränder hat sie um die Augen,«
+fügte er hinzu. Als ich zuerst sein Zimmer betrat, einen langen Raum mit
+einem einzigen breiten Fenster, sah ich eine durchsichtige, weiße
+Gestalt mit gesenktem Haupt an mir vorüberschweben. Ich schrie auf und
+erzählte nach vielem Zureden, was mir begegnet war; schon wollte die
+Mutter auffahren, und der Vater murmelte etwas von »dem Unsinn, den man
+dem armen Kinde beigebracht hat«, als die Großmutter mich still beiseite
+nahm und lange und liebreich auf mich einsprach. Was sie sagte, weiß ich
+nicht mehr, aber es löste mir Herz und Zunge. »Ach, bleib doch bei mir,
+Großmama!« rief ich, während die Angst sich in Tränen löste. Andre
+jedoch bedurften ihrer noch mehr als ich; ihr jüngster Sohn, Max, zog
+sie an sein Krankenlager, und ich war wieder allein.
+
+Es war tiefer Winter damals. Trübselig und neidvoll sah ich oft durch
+die geschlossenen Fenster auf den Platz, wo die Kinder tobten,
+Schneeball warfen und Schneemänner bauten. Ich durfte nur selten
+hinaus. Von klein an war ich Halsentzündungen ausgesetzt gewesen, und
+meine Mutter ließ mich, ebenso pflichttreu wie gedankenlos, bei kaltem
+Wetter nur ins Freie, wenn es völlig windstill war. Aber auch dann wurde
+ich dick verpackt und durfte nicht laufen wie die andern. Das ließ mich
+noch mehr vereinsamen. Mir ist, als hätte ich die Winter stets
+verschlafen, so wenig weiß ich von ihnen. Vom Frühling aber und vom
+Sommer weiß ich um so mehr. Wir hatten einen großen Garten hinter dem
+Hause mit alten Bäumen, blühenden Büschen und bunten Blumen. Hier war
+mein Reich. Hier durfte ich ungestört umherspringen, mir Höhlen bauen,
+die zu unterirdischen Schätzen führten, auf der Schaukel bis zu den
+Wolken fliegen, die im Grunde gar keine Wolken, sondern Drachen und
+Zaubervögel waren. Hier konnte ich mit meinen Bällen, die alle
+Märchennamen trugen, geheimnisvolle Zwiesprach halten, so daß die
+Nachbarn oft meinten, ich hätte Scharen von Gespielen im Garten. Puck,
+unser alter Pinscher, dem zwei Feldzüge schon die Haare gebleicht
+hatten, mußte sich hier zu jugendlichen Sprüngen bequemen, war er doch
+das Flügelpferd, das mich ins Zauberland tragen sollte.
+
+Ich war den größten Teil des Tages mir selbst überlassen. Mademoiselle
+war froh, wenn sie den Mund nicht aufzutun brauchte und mit ihrer
+unendlichen Häkelei friedfertig auf dem Sofa sitzen konnte. Papa war den
+ganzen Vormittag auf dem Bureau des Generalkommandos tätig, nachmittags
+ritt er mit Mama spazieren und arbeitete dann allein bis zum Abend.
+Mama hatte immer schrecklich viele Besuche zu machen und zu empfangen;
+und was beiden an freier Zeit etwa noch übrig blieb, das verschlang die
+große, zu jeder Jahreszeit äußerst lebendige Geselligkeit. Nur
+vormittags zwischen ein und zwei Uhr pflegte meine Mutter mich bei
+schönem Wetter zum Spaziergang mitzunehmen. Mit dem Reifen, meinem
+unzertrennlichen Gefährten, lief ich voraus durch eine jener
+menschenleeren, langen, graden Straßen, die in Fächerform sämtlich am
+Schloßplatz münden, und trieb mein Spiel durch die stillen Laubengänge
+des Parks, bis es Zeit war, Papa vom Bureau abzuholen. Pünktlich, wenn
+wir vor dem Hause standen, schloß der Kommandierende, General von
+Werder, der Sieger von Wörth, die Vormittagsarbeit und kam mit Papa
+hinaus, um uns heim zu begleiten, denn er mochte alle schönen Frauen
+gern, meine Mutter insbesondere. Ich sehe ihn noch, den kleinen Mann,
+mit den Händen auf dem Rücken und den blitzenden Augen in dem scharf
+geschnittenen Gesicht, wie er neben uns herging, immer zu einem derben
+Scherz bereit und stets einen Leckerbissen für mich in der Tasche.
+
+Mein Reifen ruhte auf dem Heimweg, denn dann hatte der Vater mich an der
+Hand, und des Fragens und Erzählens war kein Ende. Wenn er für meine
+Phantasien auch nur wenig Verständnis hatte und ich mich hütete, sie ihm
+anzuvertrauen, so wußte er doch wie kein anderer meine Wißbegierde zu
+stillen. Er hatte eine Art, mir die Dinge klarzumachen und selbst
+schwierige Probleme meinem kindlichen Verständnis nahezubringen, mir
+Naturerscheinungen, chemische oder physikalische Vorgänge zu erklären
+und mich das Leben der Pflanzen und Tiere beobachten zu lehren, die die
+kurzen Stunden des Zusammenseins mit ihm wertvoller für mich machten,
+als wenn ich den ganzen Vormittag in der Schule gesessen hätte. Kamen
+wir nach Haus, so gingen wir zusammen in den Stall, und ich brachte den
+Pferden meinen Frühstückszucker, den ich mir täglich vom Munde absparte,
+seitdem Mama mich wegen meiner Zuckerverschwendung gescholten hatte.
+August, unser Kutscher und Faktotum, der mir trotz seiner verdächtig
+roten Nase viel lieber war als alle Mademoiselles zusammen genommen,
+mußte den kleinen Braunen herausführen, und ich durfte auf Mamas Sattel
+im Hof umherreiten, während Puckchen steifbeinig nebenher trabte, die
+Augen ernsthaft auf mich gerichtet, als müßte er Sitz und Haltung ebenso
+beobachten und kritisieren wie Papa. Der war kein bequemer Lehrmeister,
+und ich fürchtete diese halbe Stunde vor Tisch mehr, als daß ich mich
+daran freute. Ja, reiten, -- das mußte herrlich sein! Frei, mit
+verhängtem Zügel über Felder und Wiesen, -- vor Wonne klopfte mein Herz,
+wenn ich daran dachte! Aber im engen Hof, immer im Schritt, bestenfalls
+im kurzen Trab in der Runde, jeden Moment gewärtig, vom Vater heftig
+angefahren zu werden, wenn ich krumm saß, die Zügel verkehrt hielt, die
+Ecken nicht ausritt oder die Peitsche verlor, -- gräßlich wars! Laute,
+harte Worte zu hören, verwundete mich aufs tiefste, und die
+Liebesbeweise, mit denen mein Vater mich nach jedem Ausbruch seiner
+Heftigkeit in doppeltem Maße überschüttete, vermochten den Eindruck
+nicht auszulöschen. Ich bemühte mich, sie nicht hervorzurufen -- man
+nannte das lobend »artig sein« --, aber mein Herz krampfte sich dabei
+zusammen, und ich zog mich mehr und mehr in das Gehäuse meines
+verborgenen Lebens zurück, was meine Mutter als ein erfreuliches
+Resultat ihrer Erziehungsmethode betrachten mochte, die nur ein Prinzip
+kannte: Selbstbeherrschung. »Ein gut erzogenes Mädchen zeigt seine
+Gefühle nicht,« pflegte sie zu sagen, und so vergrub ich mich in die
+Kissen meines Betts, wenn ich weinen mußte, und lief in den Garten
+hinaus, um mich hoch in die Lüfte zu schaukeln, wenn ich mich freute.
+
+Eigentliche Freunde und Spielkameraden hatte ich nicht, wohl aber
+geselligen Verkehr, der mich Sonntags fast immer, schön geputzt, aus dem
+Hause führte. Im Schloß bei Großherzogs war ich ein häufiger Gast:
+Prinzessin Viktoria und Prinz Ludwig, zwei blühende Kinder damals, waren
+lustige Gefährten, und beim Baumplündern zu Weihnachten, beim Eiersuchen
+zu Ostern hallte das Schloß wieder von unserm Lachen und Lärmen, an dem
+das freundliche Elternpaar stets die meiste Freude hatte. Nur das Kochen
+in Vickis großer Küche, die das Ideal aller andern kleinen Mädchen war,
+langweilte mich entsetzlich, -- die Fee, die dem Wickelkind die
+Hausfrauentugenden in die Wiege legt, war offenbar zu meinem Tauffest
+nicht geladen worden! Da wars bei Max und Marie doch schöner, den
+Kindern des Prinzen Wilhelm, deren kaiserlicher Großvater ihnen aus
+Rußland das kostbarste Spielzeug zu schicken pflegte: Eisenbahnen mit
+richtigen Schienen, Puppen, die laufen und reden konnten, -- lauter
+Dinge, die zu jener Zeit für gewöhnliche Sterbliche unerreichbar waren.
+Am allerbesten aber gefiel es mir in einem Hause, dessen Herrin, eine
+Tochter Bettinens auch dem Geiste nach, es verstand, Märchen zu
+Wirklichkeiten zu machen. Mit ihren beiden reizenden Töchtern, die um
+ein paar Jahre älter waren als ich, fertigte sie aus buntem Seidenpapier
+die köstlichsten Gewänder an, mit denen geschmückt wir lebende Bilder
+stellten, Scharaden aufführten und uns als Helden Grimmscher Märchen in
+unsre Rollen so einlebten, daß die Rückkehr in die prosaische Erdenwelt
+uns hart ankam. Unsre Feste wurden bald die große Attraktion der
+Gesellschaft; oft genug sah auch der Großherzog uns zu, und ich erinnere
+mich noch recht gut, wie ich einmal als kleiner Amor im rosa Hemdchen,
+mit goldenen Sandalen und blitzenden Flügeln aus einem Strauß lebendiger
+Blumen meinen Pfeil auf ihn zu richten hatte und auf seinen lachenden
+Zuruf: »Nun, schieß los!« das strenge Schweigegebot vergebend,
+antwortete: »Aber das tut weh!« Bald lernte ich besser, bei solchen
+Gelegenheiten die Fassung zu bewahren, denn lebende Bilder und
+Kostümfeste waren auch bei den »Großen« an der Tagesordnung, und fast
+überall wirkte ich mit. In Scheffels Dichtung vom Rockertweibchen, die
+unter seiner persönlichen Leitung dargestellt wurde, war ich ein kleines
+Schwarzwaldmädchen, das sich der besonderen Gunst des Dichters erfreute.
+Er hatte immer eine Düte für mich in der Tasche, und das erste Glas
+Sekt, das mir warm und wohlig bis in die Fußspitzen niederrieselte,
+verdanke ich ihm. Auch ein Rokokodämchen war ich, mit hoch aufgetürmtem,
+gepudertem Haar, und ein Elfenkind, und das Veilchen auf der Wiese, --
+was Wunder, daß ich immer unlustiger morgens vor meinem alten,
+pedantischen Lehrer saß, der mich Buchstaben malen, Gesangbuchverse und
+Bibelsprüche hersagen ließ. Im Strudel rauschender Freude untertauchen
+oder lesen und träumen für mich ganz allein, -- was dazwischen lag: das
+Alltagsleben mit seinen Pflichten und Leiden, war wie eine staubige
+Straße, die ich am liebsten zu gehen vermied. »Pflichten« besonders
+waren mir verhaßt; ich definierte sie schon als sechsjähriges Kind auf
+eine Frage hin als das, »was immer unangenehm ist«. Alles, was Mama z. B.
+tat, wenn sie ein recht unzufriedenes Gesicht dazu machte, erklärte sie
+für Pflichterfüllung: die schmutzige Wäsche selber zählen, obwohl drei
+Dienstboten daneben standen, die Zutaten zum Kochen herausgeben, obwohl
+wir eine vortreffliche französische Köchin hatten, nachmittags mit mir
+spazieren fahren, obwohl wir uns beide schrecklich dabei langweilten, --
+ja selbst die Dämmerstunden bei Papa, wo er zu Frau und Kind gern
+zärtlich war, schienen mir, nach ihrem Ausdruck zu schließen, in dieses
+Gebiet zu gehören. Ganz gewiß, ich würde nie meine Pflicht erfüllen,
+schwor ich mir heimlich und suchte meine Theorie nur zu oft in die
+Praxis umzusetzen, indem ich tat, was mir zu tun gefiel, und Befehlen,
+deren Ursache und Zweck ich nicht einsah, hartnäckigen Widerstand
+entgegensetzte. Der meiner freien Bewegung gezogene Umkreis konnte daher
+für meine Bedürfnisse nicht weit genug sein; darum war der Sommer so
+schön, wo ich den Garten fast für mich allein hatte, wo ich auf dem
+Lande bei Verwandten und Freunden der weitgehenden Ungebundenheit mich
+erfreute.
+
+Eingebettet zwischen weiß- und rotblühenden Obstbäumen, überragt von
+grünen Hügeln, zu denen schmale, nußbaumbeschattete Wege emporführten,
+noch nicht erobert von dem Feinde aller verträumten Poesie, der
+fauchenden, qualmenden Maschine, lag Weinheim damals zu Füßen der
+Bergstraße. Dem Grafen Währing, dem Bruder meiner Urgroßmutter, hatte
+das Schloß gehört, das mit seinen Gärten und Weinbergen das Städtchen
+beherrschte. Jetzt hauste seine Witwe, eine achtzigjährige Greisin dort
+oben, der niemand ihr Alter ansah, und bei der wir oft wochenlang zu
+Gaste waren. Wie eine Marquise aus dem achtzehnten Jahrhundert war sie
+anzuschauen: klein, zierlich, sprudelnd von Geist und Leben, mit
+winzigen weißen, von Juwelen bedeckten Händen, allerhand seltenes
+Tierzeug -- weiße Angorakatzen, schlanke Windspiele, lockige
+Zwergpinscher -- um sich herum. Sie pflegte sich stets nur mit Jugend zu
+umgeben, -- es sei genug, daß der Spiegel sie an ihr Alter erinnerte,
+meinte sie. Je toller es um sie her zuging, je mehr Liebesgeschichten
+sie sich entspinnen sah, desto fröhlicher war sie. Immer hatte sie
+Schränke voll Pariser Toiletten bereit, um ihre weiblichen Gäste -- die
+schönsten am häufigsten -- damit zu beschenken, und Juwelen, Ringe und
+Armbänder aller Art, mit denen sie sie schmückte. Wer harmlos irgend
+etwas, was nicht niet- und nagelfest war, bei ihr bewunderte, dem wurde
+es als Geschenk aufgenötigt. Und was für merkwürdige Dinge gab es in
+ihren Salons mit den Louis XV. Möbeln, den hohen Spiegeln und vielen,
+vielen Bildern und Bilderchen: da waren Sessel, Fußbänke, Bücher, aus
+denen in tollem Durcheinander Mozartsche und Offenbachsche Melodien
+ertönten, sobald sie benutzt wurden; Gemälde, die plötzlich in der Wand
+verschwanden, um einem Schränkchen voll süßem Naschwerk Platz zu machen;
+Tischchen, die in den Boden sanken, wenn man sie anstieß, um mit Wein
+und Kuchen besetzt wieder zu erscheinen, kurz -- ein Paradies für ein
+wundergieriges Kinderherz! Und dann der Garten mit seiner Fülle von
+Beeren und Blumen, mit seinen dichten Laubengängen und lustigen
+Wasserspielen -- und die Freiheit vor allem, die ungebundene!
+
+Wenn ich bei Tisch erschien, musterte die alte Tante mich zuvor
+sorgfältig, rückte da eine Falte zurecht, steckte mir dort eine Schleife
+an, wickelte meine Locken über ihre feinen Fingerchen, zog das Kleid
+noch tiefer von meinen magern Schultern und holte die Puderquaste aus
+ihrer kleinen goldnen Taschenbüchse, um den Rest Vormittagsübermut von
+meinen Wangen zu entfernen. »Est-elle gentille, la petite?!« sagte sie
+dann, mich vor dem Spiegel drehend. Mit Seide und Spitzen, mit Kettchen
+und Armbändern, mit Worten und Ratschlägen, die für die Seele einer
+Siebenjährigen nichts andres waren als süßes Gift, warb sie um mich und
+modelte an mir. Was sie sagte, weiß ich heute nicht mehr, aber ich weiß,
+daß ich von ihr erfuhr, des Weibes Aufgabe sei, zu gefallen und zu
+herrschen, und all die Spiegel und Büchschen und Fläschchen des
+Toilettentischs, all die Geheimnisse des Boudoirs seien nichts als
+Etappen auf dem Wege zu ihrer Erfüllung. Das Bewußtsein, hübsch zu sein,
+machte mich stolz, und mit der Koketterie des kleinen Mädchens suchte
+ich zum erstenmal ein männliches Wesen mir gefügig zu machen. Die alte
+Tante hatte einen Heidenspaß daran, nur war leider der arme Rudi, ihr
+Enkel und mein Spielgefährte, ein gar zu ungeeignetes Objekt für meine
+Künste! Er stotterte und war infolgedessen scheu und ängstlich; und ich,
+die ich mit jener unbewußten Grausamkeit der Kinder, mein Licht vor ihm
+leuchten ließ, verschüchterte ihn nur noch mehr. Armer Rudi! Das
+Stottern hat man ihm später abgewöhnt, aber in seinem Gemüt ist doch
+irgend etwas Angstvoll-Zitterndes zurückgeblieben: auf der Höhe des
+Lebens hat er sich eine Kugel in die Schläfe gejagt, und keiner wußte,
+warum.
+
+Meine Erziehung durch die alte Tante war gewissermaßen nur eine
+theoretische; am Anschauungsunterricht sollte es auch nicht fehlen. Wir
+verbrachten die Herbstwochen häufig bei französischen Verwandten auf
+ihrem Schlosse im Elsaß, einer sagenumwobenen alten Ritterburg.
+Gefallene Größen des napoleonischen Hofes -- männliche und weibliche --
+gaben sich dort zur Jagd und Weinlese ein Rendezvous. Ein Stück Pariser
+Leben spielte sich vor meinen erstaunten Augen ab: da war der Herr des
+Hauses, ein schwer reicher Emporkömmling, dessen kurze, dicke Hände, mit
+denen er meine Wangen streichelte, mir in fatalster Erinnerung sind, --
+neben ihm seine vornehme zarte Frau, immer in Spitzen gehüllt, an denen
+ihre durchsichtigen Hände nervös hin und her zerrten. Eine ihrer Töchter
+war Onkel Maxens Frau, die Mutter meines alten Spielgefährten Werner,
+den ich zu meiner hellen Freude hier wiedersah. Sie war die schönere von
+den beiden Schwestern, dabei still und phlegmatisch, eine
+Haremsfrauennatur, während die andere von Geist und Leben sprudelte und
+der Mittelpunkt eines Kreises ausgelassener junger Leute war. Mich
+beachteten sie wenig, sie taten sich keinerlei Zwang an vor mir; »la
+petite« hatte ihrer Meinung nach ebensowenig Augen und Ohren wie die
+Zofen und Lakaien, ja sie galt zuweilen als der harmloseste Liebesbote.
+Aber ich war nur allzubald gar nicht mehr harmlos: mit zitternder
+Neugier beobachtete ich ihre Tändeleien, ihre Stelldicheins, ihr
+Flüstern, ihre Küsse, und Wellen heißen Lebens, die mir über den Rücken
+fluteten, ließen mich dabei erbeben.
+
+Als wir das letztemal vom Elsaß nach Karlsruhe zurückkehrten -- acht
+Jahre war ich damals --, kamen mir mein Garten und mein Spielzeug
+merkwürdig fremd vor. Ein Stück harmloser Kindheit war mir inzwischen
+verloren gegangen. Gierig stürzte ich mich über alle Bücher, deren ich
+habhaft werden konnte, und wenn jemand mich zu ertappen drohte, steckte
+ich sie rasch unter Puckchens Kissen, der fast immer auf dem alten
+braunen Sofa neben mir lag. Wenn ich mir jetzt des Abends im Bett
+Geschichten erzählte, so klopfte mein Herz nicht aus Angst vor den
+Geistern, die ich rief und nicht zu bannen vermochte, sondern in heißer
+Erregung über das abenteuerliche Schicksal, als dessen Heldin ich mich
+selber träumte. Liebe, wie ich sie um mich gesehen hatte, Liebe, deren
+Wonnen und Schmerzen im Mittelpunkt all der Lieder, all der Erzählungen
+standen, die ich las, wurde zum Inhalt meiner Phantasien, und je kühler
+ich die Luft empfand, die mich daheim umwehte, um so durstiger wurde
+mein kleines Herz. Hatte ich doch schon lange den Feuerbrand im Innern
+heimlich genährt und gehütet, weil ich niemanden besaß, vor dem ich ihn
+als Opferflamme hätte aufsteigen lassen können, -- nun mußte ich mir
+selber den Gegenstand meiner Leidenschaft schaffen. Eines der
+erschütternsten Erlebnisse meiner Kindheit half mir dazu: das Theater.
+Wagners Lohengrin war das erste, was ich sah. Konnte es für mich etwas
+Herrlicheres geben als den Schwanenritter? Er erschien mir als die
+Verkörperung idealen Heldentums. Meinen Eindruck vermochte ich nicht in
+Worte zu fassen -- undankbar und empfindungslos wurde ich deshalb
+gescholten --, aber meinem Herzen hatte er sich unauslöschlich
+eingeprägt. In demselben Winter sah ich die Jungfrau von Orleans, und
+nun stand es fest für mich: nicht eine Elsa, die dem Geliebten die Treue
+brach, wollte ich sein, sondern eine Johanna, die seiner würdige Heldin
+welterlösender Taten.
+
+Bald aber genügte mir der Lohengrin als Gegenstand meiner Liebe nicht
+mehr, -- er lebte nicht, und der seine Silberrüstung trug, hatte die
+Rolle nur gespielt, mich aber verlangte nach einem lebendigen Menschen.
+Wenn das Herz auf die Suche geht und die Phantasie die Führung
+übernimmt, dann wird gar rasch gefunden! -- Bei meinen Eltern gingen
+viele Gäste aus und ein. Ein junger, schlanker Dragonerleutnant mit
+einem schmalen, blassen Gesicht war unter ihnen, der sich oft mit mir
+unterhielt, -- nicht wie die andern nur mit mir scherzte und spielte.
+Und durch nichts konnte man mich leichter gewinnen, als indem man mich
+ernst nahm; -- daß man es immer nur drollig und kindisch findet,
+erbittert jedes geistig reifere Kind. So flog denn mein sehnsüchtiges
+Herz ihm zu, und meine Phantasie umkleidete ihn mit aller Romantik des
+Lohengrinhelden meiner Träume. Er war nicht von Adel, also namenlos wie
+Elsas Ritter: gewiß würde er sich einmal als eines Königs verschollener
+Sohn entpuppen, und mir fiele die Aufgabe zu, ihm Reich und Krone zu
+erobern! Die schönsten Blumen aus meinem Garten legte ich heimlich auf
+seine Mütze im Flur, ehe er ging, und der ganze Tag war mir verklärt,
+wenn er morgens vorüberritt und mich grüßte.
+
+Rohe Menschen mögen lachen über solche Kinderliebe und moralische sich
+darüber entrüsten. Mir ist, als wäre sie die reinste meines Lebens
+gewesen.
+
+Im Frühling 1874 wurde mein Vater nach Berlin versetzt. Zum letztenmal
+versammelten sich des Hauses Freunde um unsern Teetisch. Noch weiß ich,
+wie mirs vor den Augen dunkelte, als ich meinem Helden die Hand zum
+Abschied reichte. Heiß lag sie in der seinen. Dann strich er mir noch
+einmal über den Kopf. »Wenn wir uns wiedersehn, bist du ein großes
+Mädchen,« sagte er, »wer weiß, wir tanzen vielleicht noch einmal
+miteinander!« Wortlos lief ich hinaus in mein Zimmer und biß verzweifelt
+in mein Kopfkissen, um mein Schluchzen zu ersticken.
+
+Kinderschmerz ist so gut echter Schmerz wie der der Erwachsenen, -- nur
+daß wir ihn so leicht vergessen.
+
+Am nächsten Morgen schrieb ich meine ersten Verse in ein altes
+Schreibheft:
+
+ Maiglöckchen zart und rein,
+ Läut'st schon den Frühling ein?
+ Nein, nein, er kommt noch nicht,
+ Du gehst zu früh ans Licht.
+
+ Werd ich dich welken sehn,
+ Dann werd auch ich vergehn,
+ Und in das kühle Grab
+ Senkt man uns beide hinab.
+
+Bis ich erwachsen war, hat es niemand zu sehen bekommen, wie man eine
+getrocknete Blume -- eine Zeugin holder Stunden -- vor der Berührung
+bewahrt, die sie zerstören würde.
+
+Mein Garten stand in vollem Frühlingsflor, als wir Abschied nahmen. Ich
+lief durch das Haus, wo die Packer hantierten, in den Stall, wo August
+die Wagen in Decken hüllte. »Puckchen, mein Puckchen,« rief ich. Noch
+nie war ich fortgefahren, und wäre es auch nur auf ein paar Tage
+gewesen, ohne ihm ein Stückchen Zucker zu geben. Aber diesmal kam
+Puckchen nicht. Ich frug den August nach ihm, er sah verlegen zur Seite
+und murmelte etwas Unverständliches. Da fiel mir ein, daß Mama vor
+kurzem von seinem Alter, der Möglichkeit seines Todes gesprochen hatte.
+Das Herz stand mir still. Noch einmal suchte und rief ich, die Stimmen
+von Mademoiselle und Mama absichtlich überhörend, die mich zur Eile
+mahnten. »Geh nur, geh, Alixchen,« sagte August, der mir nachgekommen
+war, beruhigend, »Puckchen findest du nicht -- --.«
+
+»Er ist tot!« schrie ich außer mir und warf mich weinend in Augusts
+Arme. Alles lief zusammen, mich zu trösten, aber fassungslos blieb mein
+Schmerz. »Sieh, mein Kind,« sagte schließlich Mama, die mich auf den
+Schoß genommen hatte, »Puckchen war alt und krank, er hätte sich mit
+seinen blinden Augen in der fremden Stadt nicht mehr zurecht gefunden.
+Eine Wohltat wars für ihn, daß ich ihn vergiften ließ ...« -- Ich
+zuckte zusammen, wie unter einem Peitschenschlag. Meine Tränen waren
+versiegt. Von der Mutter Schoß glitt ich herunter und sah sie groß an:
+»Du -- du -- hast mein Puckchen vergiftet?!«
+
+Dann ließ ich mich still zum Wagen führen. Irgend etwas war entzwei
+gegangen in mir. Ganz ruhig und empfindungslos sah ich vom Coupéfenster
+aus, wie die Stadt allmählich vor mir verschwand.
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+Wer sich von Partenkirchen westwärts wendet, wo lockend in geheimnisvoll
+düsterer Pracht die Zugspitze in die Wolken steigt, und, die staubige
+Chaussee verschmähend, auf schmalem Pfad durch bunte Wiesen wandert, dem
+zeigt sich plötzlich ein Bild voll stillen Friedens: in leisen
+Wellenlinien erhebt sich das Tal, Hügel an Hügel von alten Baumriesen
+gekrönt und blühenden Büschen; gradaus aber, wohin der Weg sich glänzend
+wie ein Silberstreifen durch die Gründe schlängelt, schmiegt sich
+vertrauensvoll, wie ein kleines Kind in den Schoß der Ahne, ein weißes
+Kirchlein an die grauen Wände des Waxensteins. So oft ich es sah, -- mir
+war immer, als lächele es. Und ein lichter Schimmer von Lebensfreude lag
+auch auf den kleinen Häusern ringsum: ein heller Goldton überzog die
+Wände des einen, in einem satten Himmelblau strahlte das andere, und
+selbst die Heiligen und die Märtyrer, die irgendwo unter einem Baldachin
+oder in einer Nische standen, hatten so lustige bunte Kleider an, daß
+wohl keiner, der vorüberging, sich bei dem Anblick ihres gottseligen
+Leidenslebens erinnerte. Von der Zeit gebräunt waren First und Dach und
+Altanen, aber so leuchtend war der Nelkenflor, der von Fensterkasten
+und Geländern niederschaukelte, daß das Dunkel auch hier nur da zu sein
+schien, um den Glanz noch stärker hervorzuheben. Dazu plätscherte der
+kleine Bergbach lustig durchs Dorf, der ganz, ganz oben in den Furchen
+und Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich nährt und vom Eis,
+um erst unten im Tal, berauscht von den Blumen, die über ihm nicken, die
+helle Stimme zu verlieren.
+
+Vor den letzten Häusern beginnt der Wald. Als müßte er ein Kleinod
+schützen, so schlingt er sich dicht um den leuchtenden Smaragd des
+Badersees, der seine grüne Farbe auch unter der schönsten Himmelsbläue
+nicht verliert und trotz des bösesten Unwetters durchsichtig bleibt bis
+zum Grunde. Aber während eine breite Straße ihm den Strom der Menschen
+zuführt und den Wald gezwungen hat, Platz zu machen, liegt sein
+kleinerer Zwillingsbruder, der Rosensee, noch immer still und versteckt
+zwischen den Bäumen. Selten nur verirrt sich einer auf die engen Steige,
+die in seine Nähe führen, und das Riesenpaar über ihm -- der Waxenstein
+und die Zugspitze -- scheint sich darum besonders wohlgefällig in seinen
+stillen Wassern zu spiegeln. An seinem Ufer, das an dieser Seite von
+Rosen in allen Farben und Formen umkränzt ist, steht nur ein einziges
+kleines Haus; von wildem Wein und Efeu ist es so dicht umsponnen, daß es
+an dunkeln Tagen mit dem Wald, der es umgibt, in eins verschwimmt.
+
+Vor vier Jahrzehnten kaufte Ulysses Artern den Rosensee und baute seinem
+jungen Eheglück das grüne Nest daran. Jedes Jahr, wenn die Maiglöckchen
+blühten und ihr Duft süß und schwer über Wasser und Wald sich legte,
+zog seine Witwe auch nach seinem Tode hierher und blieb, bis der Schnee
+über die Bergspitzen hinunter ins Tal sich streckte.
+
+Seitdem wir in Augsburg bei ihr gewesen waren, hatte sie uns jedes Jahr
+zu sich eingeladen. Aber nur mein Vater hatte sie besucht; meiner Mutter
+war die Schwägerin nie sympathisch gewesen, und so hatte sie lange
+gezögert, zu ihr zu gehen. Mich freilich zog die Sehnsucht in die Berge,
+seitdem sie mir in der Schweiz Augen und Seele entzückt hatten; und wenn
+der Vater von Grainau erzählte und vom Rosensee, so wünschte ich nichts
+mehr, als dort zu sein. Und nun hatte sich mein Wunsch erfüllt!
+
+Schon in Weilheim, der Endstation der Eisenbahn damals, wo das Tor des
+Loisachtals sich vor mir öffnete und tief im Hintergrunde die Umrisse
+der weißen Bergspitzen in den Wolken verschwanden, waren mir die Augen
+übergegangen -- wie stets, wenn ein Eindruck mich überwältigte. Still
+und stumm ließ ich ihn auf der ganzen langen Wagenfahrt auf mich wirken,
+und als ich dann abends oben im Giebelstübchen des Rosenhauses stand,
+den Blick auf die vom dunkelblauen Nachthimmel grausilbern sich
+abhebenden Berge gerichtet, während die reine, kühle Luft mir um die
+Stirne wehte, da fiel all mein Kinderleid von mir ab, wie ein schwerer,
+drückender Mantel. Frei atmen konnte ich wieder.
+
+Mit jedem Morgen, an dem ich erwachte, nach festem, traumlosem Schlaf,
+mit jedem Abend, an dem ich mich niederlegte, müde von dem Reichtum des
+Tages, steigerte sich diese Empfindung. Ein Vollgefühl des Lebens
+durchströmte mich, und wenn niemand mich sah, dann warf ich mich wohl
+vor lauter Seligkeit mit ausgebreiteten Armen in die blühende Wiese und
+lag so still und atmete so leise, daß die Schmetterlinge sich ruhig auf
+den blauen Glockenblumen, die über mir blühten, niederließen, oder ich
+legte den Kopf ins Waldmoos, wo die Maiglöckchen am dichtesten standen,
+und sah den tanzenden Sonnenstrahlen zu. Keine Mademoiselle legte meiner
+Freiheit Zügel an; meine Tante fand mich zwar »schlecht erzogen«, weil
+ich nicht ruhig mit meiner Handarbeit neben ihr saß, und ließ es meiner
+Mutter gegenüber an Anspielungen darauf nicht fehlen, aber da sie mit
+Kindern gar nichts anzufangen verstand, ließ sie mich laufen und
+beschränkte ihre Erziehungskünste auf strenge Toilettenvorschriften,
+wenn ich zu Tisch erschien oder mit ihr spazieren fuhr. Dann saß ich
+nach guter karlsruher Gewohnheit steif und grade auf dem Rücksitz der
+Equipage, wie Johann auf dem Bock, der Kutscher, der mit dem »gnädigen
+Fräulein« nur vertraut war, wenn es morgens in den Stall kam und -- ohne
+väterliche Aufsicht! -- auf dem großen Fuchs, von allen Bauernkindern
+bewundert, durch das Dorf ritt. Ich hatte bald viele Freunde unter den
+Buben und Mädeln. Alle Waldwege und Bergsteige lernte ich durch sie
+kennen; die schönsten Erdbeerplätze zeigten sie mir und lehrten mich
+klettern, wenn es galt, zu den Alpenrosen zu gelangen, die rotleuchtend
+die grauen Felsen belebten.
+
+Die Kinder des Landvolks im Norden Deutschlands tragen das Zeichen der
+Dienstbarkeit noch immer auf der Stirn: wie selbstverständlich ordnen
+sie sich im Spiel mit dem »Herrschaftskind« diesem unter und sehen es
+fast als Auszeichnung an, die Rolle der Untergebenen zu übernehmen. Wo
+die frische Luft der Berge weht, hat selbst die Sklavenmoral der
+katholischen Kirche Freiheitsgefühl und Selbstbewußtsein nicht zu
+unterdrücken vermocht. Der Sepp vom Bärenbauern, der am verwegensten
+kletterte und am schönsten jodeln konnte, -- mein Hauptspielgefährte, --
+behandelte mich ganz auf gleich und gleich, ja er sah zuweilen mit
+unverhohlenem Stolz auf mich herab, und seiner urwüchstgen Kraft
+gegenüber kam selbst meine sonst so ausgeprägte Empfindlichkeit nicht
+auf: ich biß nur in stillem Ingrimm die Zähne zusammen, wenn er mich
+verspottete, weil ich ohne seine Hilfe den Fels nicht hinaufkam. Es gab
+viel zerrissene Kleider dabei; und wäre die alte Kathrin nicht gewesen,
+die sie heimlich flickte und immer dafür sorgte, daß ich in möglichst
+tadelloser Toilette bei den Mahlzeiten erschien, -- ich hätte mich nicht
+lange meiner Freiheit erfreuen dürfen.
+
+An einem heißen Julinachmittag kam ich einmal, einen großen Buschen
+Alpenrosen im Arm, eilig vom Ochsenhügel heruntergelaufen, in heller
+Angst, zur Teestunde zu spät zu kommen. Ich suchte darum möglichst
+schnell an dem Wagen vorbeizuschlüpfen, der vor unserem Gartentor hielt,
+als eine Hand mir in die wehenden Locken griff und eine lachende Stimme
+rief: »Das ist doch die Alix, das Nichtchen!« Eine große blonde Frau,
+von einem kleinen Mädchen und einem halberwachsenen Knaben begleitet,
+stand vor mir, und nun mußte ich Rede und Antwort stehen, während meine
+Augen ängstlich an meinem fleckigen Lodenrock und den schmutzigen
+Stiefeln hingen. Kurz vor dem Haus riß ich mich unter dem Vorwand, die
+Blumen ins Wasser stellen zu wollen, los, und erschien, noch glühend vor
+Erregung, nach zehn Minuten im weißen Musselinkleid wieder, das mir die
+alte Kathrin mit einem »Kind, Kind, was wird die Tante sagen -- das war
+ja die Prinzessin Friedrich!« hastig übergeworfen hatte. Aber es kam
+nicht einmal zu einem strafenden Blick, denn die Prinzessin nahm mich in
+die Arme und erzählte lachend, wie sie eben schon meine Bekanntschaft
+gemacht habe. Ihre Worte überstürzten sich wie ein Wasserfall und wurden
+von ebenso hastigen und burschikosen Gebärden begleitet. Eine komische
+»Prinzessin«, dachte ich mir im stillen und sah mit gesteigertem
+Erstaunen zu ihren Kindern herüber, die sich grade nach allen Regeln der
+Kunst zu prügeln begannen und des wohlgepflegten Rasens nicht achteten,
+auf den sich sonst nicht einmal mein Ball verirren durfte.
+
+»Der Helmut sagt, die Alix wär eine Zigeunerin,« schrie das kleine
+Mädchen plötzlich.
+
+»Zigeunerinnen sind viel hübscher als semmelblonde Frauenzimmer, wie du
+eins bist,« entgegnete der Knabe, und es bedurfte des Dazwischentretens
+der Mutter, um mit einer Ohrfeige nach rechts und links dem Streit ein
+Ende zu machen.
+
+Mein Schicksal hatte sich dabei entschieden: selbst der Kuchen, in den
+das Prinzeßchen mit Behagen hineinbiß, hinderte sie nicht, mir
+feindselige Blicke zuzuwerfen, während ihr Bruder mir die
+Aufmerksamkeiten eines vollendeten Kavaliers erwies. Er mochte sieben
+Jahre älter sein als ich, war schlank und hochaufgeschossen, mit
+lustigen grauen Augen und aufgeworfenen roten Lippen. Die kleine
+Friederike glich ihm wenig; sie war ein dürftiges Persönchen mit jenen
+neidisch heruntergezogenen Mundwinkeln, die die Gesichter solcher Kinder
+zu entstellen pflegen, die sich früh ihrer Reizlosigkeit bewußt werden.
+Als Helmut nach dem Tee zum Badersee hinüber wollte, um dort Kahn zu
+fahren, weigerte sie sich, mitzukommen, wohl in der Hoffnung, daß er
+dann allein gehen müsse und der Spaß ihm verdorben wäre. Ihre Mutter
+aber meinte: »Um so besser werden sich Helmut und Alix amüsieren,« und
+so brachen wir auf, vom Diener begleitet, der uns rudern sollte.
+
+Geheimnisvoll und spiegelklar, wie immer, lag der See vor uns. Vor dem
+kleinen Wirtshaus, das damals noch bescheiden an seinem Ufer lag, saßen
+nur wenige Touristen.
+
+»Jetzt wollen wir uns erst gütlich tun und den schlabbrigen Tee
+herunterspülen,« sagte Helmut und bestellte Tiroler Wein, mit dem wir
+lustig unsre neue Freundschaft leben ließen. Als der Diener im
+Hintergrund, vertieft in die »Fliegenden«, ruhig vor seinem Seidel saß,
+schlichen wir davon. Die Abneigung gegen irgendwelche Beaufsichtigung,
+die Helmut dadurch bekundete, steigerte meine Sympathie für ihn. Er
+löste den Kahn selbst von der Kette, und wir ruderten, glückselig über
+unsre gelungene Kriegslist, in den See hinaus. Bald kamen wir in
+lebhafte Unterhaltung; Helmut erzählte mir von Berlin, wo er wohnte, und
+wo ich nun bald hinkommen sollte, soviel des Schönen und Interessanten,
+daß meine Abneigung dagegen sich rasch in erwartungsvolle Neugierde
+verwandelte. Die uns zugestandene Stunde war längst verstrichen, als
+heftige Rufe vom Ufer her uns zur Rückkehr mahnten. Die ganze Familie
+war dort versammelt: unsere Mütter, die Tante, das schadenfroh lächelnde
+Prinzeßchen, -- und wir wurden mit Vorwürfen überschüttet, kaum daß wir
+das Boot verlassen hatten.
+
+»Mach dir nichts draus,« flüsterte Helmut und wandte sich mit eleganter
+Verbeugung meiner Tante zu. »Alix ist unschuldig, Frau Baronin,« sagte
+er lächelnd, »sie wollte nicht ohne den Diener fahren und mahnte dann
+unausgesetzt zur Rückkehr.« Mit einem raschen dankbaren Blick lohnte ich
+Helmuts Ritterlichkeit, und mit einem herzlichen »Aufwiedersehn«
+schieden wir.
+
+Auf dem Wege heimwärts konnte die Tante es nicht unterlassen, ihrer
+Befriedigung über den »passenden Verkehr«, den ich nun endlich gefunden
+hätte, und ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben, daß er mich hindern würde,
+weiter »mit den Dorfbuben herumzuschlampen«. Das empörte mich, und ich
+nahm mir vor, ihre Hoffnung auf das gründlichste zu täuschen. Schon am
+nächsten Tag lief ich in aller Frühe mit dem Sepp in die Wälder und ließ
+mich nur grade zu den Mahlzeiten sehen. Aber ganz so wie ehemals wurde
+es trotzdem nicht mehr. Wir fuhren oft nach Partenkirchen hinauf, wo die
+Prinzessin eine Villa besaß, und sie kam häufig ins Rosenhaus. Vergebens
+hatte ich versucht, meine alten Freundschaften mit meiner neuen in
+Einklang zu bringen; Helmut kehrte dem Sepp und seinen Kameraden
+gegenüber zu sehr den Herren heraus, so daß sie sich fern hielten, wenn
+er da war. Auch sonst war irgend etwas nicht mehr so recht in Ordnung;
+wie mir die Adern stets hoch auf zu schwellen pflegen, wenn ein Gewitter
+im Anzuge ist, so empfand ich auch seelischen Atmosphärendruck mit
+peinvoller Sicherheit.
+
+Meine Tante und meine Mutter hatten sich nie gemocht. Sie waren beide
+gewöhnt, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen: die eine um ihrer
+Schönheit und Vornehmheit willen, die andere ihres Reichtums und der
+unangefochtenen Selbständigkeit ihrer Stellung wegen. Schmeichelei und
+Unterwürfigkeit begegneten der Baronin Artern auf Schritt und Tritt;
+jeder, der von ihr etwas erreichen wollte -- und wer hätte das nicht
+gewollt! --, beugte sich ihrem Willen und ihren Ansichten. So kam es,
+daß sie allmählich Widerspruch überhaupt nicht mehr ertrug ... Um mit
+ihr auszukommen, mußte man Ja und Amen zu allem sagen, was sie
+behauptete, -- oder schweigen. Meine Mutter schwieg, aber sie schwieg
+mit allen Zeichen inneren Widerspruchs: einem sarkastischen Lächeln,
+einem hochmütigen Achselzucken. Das reizte die Tante; was sie jedoch
+weit mehr reizte, war der Schwägerin unzweifelhafte Vornehmheit, die
+kein Reichtum und keine Toilettenpracht ersetzen konnte. Daß ihre Mutter
+einer einfachen Bürgerfamilie entstammte, das war für sie ein dunkler
+Punkt ihres Lebens, und in ihr lebte etwas von jenem Pöbelhaß, der stets
+das eine Ziel verfolgt: Rache zu nehmen an den Vornehmen. Sie tat es in
+grober und feiner Weise: sie ließ in Gegenwart meiner Mutter das Licht
+ihres überlegenen Geistes am hellsten strahlen; sie zeigte ihre
+vollendete Meisterschaft am Klavier und ließ in ihrer dunkeln Altstimme
+alle Skalen der Leidenschaft vor dem entzückten Zuhörer tönen. Genügte
+ihr das nicht, um meine Mutter, die nichts Gleichwertiges zu bieten
+hatte, in den Schatten zu stellen, so griff sie sie an ihrer schwächsten
+Stelle an: ihrem preußischen Patriotismus. Wie oft ging meine Mutter mit
+hochrotem Kopf und zusammengepreßten Lippen hinaus, wenn die Schwägerin
+wieder einmal preußische Sitten, preußische Ansichten, preußische
+Politik geringschätzig kritisiert hatte. Daß sie es trotzdem bei ihr
+aushielt, war nur ein Ergebnis ihres Pflichtgefühls: von der reichen,
+kinderlosen Frau hing die Gestaltung meiner Zukunft ab, ihr galt es
+Opfer zu bringen.
+
+Eines Tages kam es zur Explosion. Meine Mutter machte irgend eine
+wegwerfende Bemerkung über die zweifelhafte Herkunft einer Dame, die
+eben, eine Wolke von Parfüm hinterlassend, die Terrasse verlassen hatte;
+die Tante widersprach und redete sich so in den Zorn hinein, daß sie
+schließlich Mama vorwarf, ihren eignen Mann beleidigt zu haben, denn
+nach der von ihr ausgesprochenen Ansicht, wäre auch seine Mutter »von
+zweifelhafter Herkunft«. Mama verteidigte sich; ein Wort gab das andere,
+Tante Klotilde spielte ihren letzten Trumpf aus, indem sie mit
+haßfunkelnden Augen hervorstieß: »Du am wenigsten hast ein Recht von
+zweifelhafter Herkunft zu sprechen. Weiß man doch, wer deine Großmutter
+war!«
+
+Zwei Tage später verließen wir das Rosenhaus, nicht ohne daß vorher eine
+konventionelle Versöhnung stattgefunden hätte. Unsre Zeit war sowieso
+beinahe abgelaufen, und das kalte, trübe Wetter, das meinem
+empfindlichen Halse schaden konnte, war Erklärung genug für unsre
+beschleunigte Abreise. Die Rosen am See waren längst entblättert; bis
+tief ins Tal hingen die Wolken, als das weiße Kirchlein mehr und mehr
+meinen Blicken entschwand. An einer Biegung des Wegs kam der Sepp
+gelaufen, einen Strauß von blauem Enzian in der Hand, aus dessen Mitte
+zwei große weiße Sterne leuchteten. »Von der Zugspitz,« stotterte er,
+auf die Edelweiß zeigend, dann brach ich in Tränen aus und weinte --
+weinte noch, als schon Garmisch weit hinter uns lag. Das Wetter hellte
+sich indessen allmählich auf, und wie ich von Weilheim aus rückwärts
+sah, lagen die Wolken, wie bezwungene Sklaven, tief im Tal, während die
+Berge, mit der glänzenden Silberkrone des Neuschnees auf ihren Häuptern,
+stolz und siegesbewußt gen Himmel ragten. Dies Bild nahm ich mit, und
+ich wußte: nie wird es mir entschwinden.
+
+Papas Freude, als er uns in Berlin empfing, war grenzenlos. In unserm
+neuen Heim in der Hohenzollernstraße hatte er mir einen Aufbau von
+Geschenken vorbereitet, grade wie zu Weihnachten. Ich wagte zunächst gar
+nicht, mich zu freuen in Erwartung von Mamas bekannten, vorwurfsvollen:
+»Aber Hans!« Doch diesmal blieb es aus; stand doch mein guter Engel
+daneben: die Großmutter. Wie einst in Potsdam, so war sie jetzt mit uns
+in ein Haus gezogen; wir glaubten eines langen Aufenthalts in Berlin
+sicher zu sein.
+
+»Ist mein Herzenskind aber groß geworden!« rief sie, mich gerührt in die
+Arme schließend. -- Großmama, wie alt wurdest du, -- hätte ich beinahe
+erwidert, wenn die Regeln der guten Erziehung mich nicht rasch genug
+daran gehindert hätten. Ihr glänzendes dunkles Haar war ganz grau, und
+tiefe Falten zogen sich von Nase und Mund herab. Sie schien mich auch
+ohne Worte zu verstehen, denn mit einem wehmütigen Lächeln sagte sie:
+»Ich bin jetzt eine alte Frau, mein Alixchen, -- das Leben ist nur
+selten ein Jungbrunnen!«
+
+War meine Stimmung jetzt schon gedämpft, so wurde sie noch mehr
+herabgedrückt, als ich mich umsah bei uns: alles kam mir beschränkter
+vor als sonst, fremde Leute wohnten mit uns im gleichen Haus, und statt
+des großen Karlsruher Gartens fand sich nur ein Vorgärtchen an der
+Straße, dessen Rasen man nicht zertrampeln, dessen Blumen man nicht
+abpflücken durfte. Ich frug nach August und nach den Pferden. Der Stall
+lag jenseits der Straße, Papa führte mich hinüber; meine Enttäuschung
+über diese Entfernung war groß, sie steigerte sich, als ich eintrat:
+unsre Goldfüchse waren fort, nur drei Pferde standen darin, ein fremder
+Reitknecht trat mir entgegen. »Weißt du, in Berlin gibt es so schöne
+Droschken, da braucht man Kutscher und Wagen nicht,« sagte Papa
+lächelnd, aber ich sah recht gut, daß seine Schnurrbartenden
+verräterisch zuckten und seine Harmlosigkeit Lügen straften. Ich biß mir
+auf die Lippen und ging nachdenklich nach Hause, und mehr als einmal
+zuckte ich angstvoll zusammen, wenn Papa -- ein Zeichen seiner tiefen
+inneren Erregung -- ohne besondere Ursache heftig wurde.
+
+Bald darauf kam ich in die Schule, ein Privatinstitut in der Königin
+Augustastraße, das erst seit kurzem bestand und nur wenig Zöglinge
+hatte. Meine Großmutter stellte mich der Vorsteherin vor, einer
+kleinen, dicken Dame mit fettglänzendem Gesicht und feuchten Händen, mit
+denen sie mir zu meinem Entsetzen die Backen tätschelte. Der erste
+Eindruck, den ich von den Stunden empfing, war der einer grenzenlosen
+Langenweile. Erst als man mich in eine höhere Klasse nahm, wo die
+Mädchen alle älter waren als ich, gewann die Sache mit dem Erwachen
+meines Ehrgeizes an Interesse. Der trockne Memorierstoff, auf den der
+ganze Unterricht hinauslief, vermochte mich freilich auch hier nicht zu
+fesseln, aber es den andern zuvortun, die Beste in der Klasse sein, --
+das spornte mich an. Und ich brauchte mich nicht einmal anzustrengen, um
+mein Ziel zu erreichen, denn ich lernte leicht und bekam immer die
+besten Noten. Meine Kameradinnen konnten mich deshalb alle nicht leiden,
+und ich hatte vor ihnen ein unbestimmtes Schuldbewußten, da ich überdies
+ihre Interessen nicht teilte, -- spielte ich doch trotz meines großen
+Kochherds und meiner vielen Puppen nur selten mit dergleichen, und den
+Austausch bunter Oblaten, ein Hauptsport damals, fand ich albern, -- so
+blieb ich ganz isoliert. Neben mir in der Klasse saß ein Mädchen, das
+mir zuerst auch nichts andres war, als eine Konkurrentin, durch die ich
+mich nicht überflügeln lassen durfte, und eine gefährliche dazu. Bald
+merkte ich, daß sie noch mehr gemieden wurde als ich, daß man sie mit
+Neckereien und Bosheiten verfolgte. »Judenmädel« stand einmal mit roter
+Tinte auf ihrem Pult, ein andermal mit weißer Kreide auf ihrem Mantel.
+Sie weinte stets, wenn sie es sah, wagte aber nicht, sich zu
+verteidigen.
+
+Einmal, nach der Religionsstunde -- wir hatten grade die
+Leidensgeschichte Christi durchgenommen -- sah ich sie plötzlich
+inmitten der andern, die sie dicht umdrängten und auf ein gegebenes
+Zeichen gemeinsam losbrüllten: »Judenbalg hat Christus gekreuzigt --
+Judenbalg hat Christus gekreuzigt!« Dann tanzten sie im Kreise um sie
+herum, und auf ein »Eins, Zwei, Drei« der Anführerin spieen sie alle vor
+ihr aus. Ich kochte vor Wut und stürzte mich besinnungslos zwischen sie.
+»Gemeine Bande,« schrie ich, während sie überrascht auseinanderprallten,
+»schämt ihr euch nicht: zehn gegen eine?« -- »Sie ist aber doch eine
+Jüdin,« knurrte die mir Zunächststehende. »Und wenn sie es ist -- wißt
+ihr denn nicht, daß Christus auch ein Jude war?« gab ich zur Antwort.
+Dann wandte ich mich der noch immer Weinenden zu: »So heule doch nicht,
+Edith,« flüsterte ich, »sonst lassen sie dich gar nicht in Ruh.«
+
+Von da ab befreundeten wir uns mehr und mehr. Wir waren beides einzige
+Kinder, die durch ihr stetes Zusammensein mit Erwachsenen reifer zu sein
+pflegen als andre; Bücher waren unsre Leidenschaft, und ein eifriger
+Austausch zwischen uns begann, gab auch stets neuen Stoff zur
+Unterhaltung. Wir wohnten überdies Haus an Haus, so daß wir unsern
+Schulweg zusammen machen konnten. Aber das sollte nicht die einzige
+Wirkung meines Eintretens für die Angegriffene sein. Eines Tages ließ
+mich die Schulvorsteherin zu sich rufen. »Du hast gesagt, Christus sei
+ein Jude,« fuhr sie mich mit zornigem Stirnrunzeln an, »wie kommst du
+dazu?« »Maria und Joseph,« stotterte ich in höchster Verlegenheit,
+»waren doch auch Juden, und -- und David doch auch, von dessen Stamm er
+ist.« -- »Christus ist Gottes Sohn, merke dir das,« schrie sie, wobei
+ihre Stimme sich überschlug, »und streue nicht Unfrieden in die
+gläubigen Seelen deiner Kolleginnen.« Ich schluckte krampfhaft an den
+aufsteigenden Tränen. »Ich sehe, du bereust deine Sünde,« sagte sie
+würdevoll, »so sei dir für diesmal vergeben,« und ihre feuchten Hände
+fuhren mir übers Gesicht. Am liebsten wär ich davongelaufen, aber meine
+Empörung über die gemeine Art, wie die Mädchen sich an mir gerächt
+hatten, hielt mich fest, und ich erzählte den ganzen Zusammenhang der
+Geschichte. Die Wirkung war für mich verblüffend. »Das ist ja natürlich
+sehr, sehr unartig von ihnen gewesen,« erklärte sie mit hochgezognen
+Augenbrauen, »entschuldigt aber in keiner Weise deine weit größere
+Sünde.«
+
+Verwirrt und erregt trat ich den Weg nach Hause an. Religiöse Zweifel
+hatten mich noch nie gequält. Ich glaubte an den lieben Herrn Jesus, von
+dem Großmama mir immer erzählte, der die Unglücklichen tröstet, den
+Armen Hilfe, den Kranken Heilung bringt und die Kinder lieb hat. Daß
+Christi Gotteskindschaft von so ungeheurer Bedeutung sein sollte, -- das
+war mir noch nie in den Sinn gekommen. Geradenwegs zu Großmama ging ich
+und erzählte ihr alles.
+
+»Das hat Fräulein Patze gewiß nicht so schlimm gemeint, wie du das
+auffaßt,« sagte sie, »wir sind alle Gottes Kinder; wer aber, wie
+Christus, den Willen des Vaters in höchster Vollkommenheit erfüllt, der
+ist sein liebster Sohn.« Ich war zunächst beruhigt, merkte aber in den
+Religionsstunden mehr auf den Sinn der Worte als vorher und fühlte bald
+den Widerspruch zwischen dem, was dort gelehrt wurde, und dem, was
+Großmama sagte, heraus. Mein Herz und mein Verstand entschieden für sie,
+und für die Lehrerinnen blieb nichts als Geringschätzung übrig. Ich
+lernte zwar nach wie vor vortrefflich, aber für mein inneres Leben, für
+meine geistige Entwicklung blieb die Schule ebenso bedeutungslos, wie
+jede Art von Unterricht bisher.
+
+Mein Schulerlebnis sollte auch nach andrer Richtung nicht ohne Folgen
+bleiben. Edith und ich waren natürlich noch mehr als früher aufeinander
+angewiesen, und oft genug hatte sie mich schon zu sich eingeladen, ohne
+daß es mir erlaubt worden wäre, der Einladung zu folgen. Erst nachdem
+sich Großmama ins Mittel gelegt und ich Papas Herz erweicht hatte,
+durfte ich zu ihr gehen. Es war alles sehr schön bei ihr, und ihre
+Eltern, die die Tochter nicht ohne Absicht in die vornehme Schule
+schicken mochten, wußten sich vor Freundlichkeit gar nicht zu lassen.
+Mein Besuch galt ihnen vielleicht als die erste Stufe zu dem Ziel, das
+ihnen für ihr einziges Kind vorschwebte, eine adlige Heirat, -- denn er
+sollte den Verkehr mit aristokratischen Kreisen einleiten. Mir war es
+unbehaglich in der Nähe des Ehepaars: der Frau mit dem bei jeder
+Bewegung krachenden Korsett und den vielen Ringen auf den fleischigen
+Händen, des Mannes mit der dicken Uhrkette über dem Spitzbauch. Nach
+einem reichlichen Imbiß spielten wir ein Gesellschaftsspiel. Ich verlor,
+wie immer, -- meine Ungeschicklichkeit in solchen Spielen war nicht
+leicht zu übertreffen, da meine Gedanken dabei stets spazieren gingen
+--, bekam aber trotzdem eine Menge der reizendsten Gewinne, unter denen
+ein kleiner Muschelwagen mit einem silbernen Ziegenbock davor das
+schönste war.
+
+Daheim schüttete ich meine Schätze vor den Eltern aus, aber sie teilten
+meine Freude nicht; Papa räusperte sich heftig, und Mama kniff die
+Lippen zusammen. Und dann kams, das viel gefürchtete Ungewitter: sie
+warfen einander gegenseitig vor, daß sie mich zu der »protzigen
+Judensippschaft« gelassen hatten, die sich »erlaubte, dem Kinde solche
+Geschenke zu machen«. Schluchzend kroch ich in mein Bett. Ich durfte nie
+wieder hinüber. In der Schule ging ich Edith, die vergebens auf eine
+Gegeneinladung wartete und von den gekränkten Eltern nun wohl auch ihre
+bestimmten Instruktionen bekommen hatte, scheu aus dem Wege. Im
+sonntäglichen Familienkreis bei Großmama kam noch einmal die Rede auf
+die Geschichte. Tante Jettchen, ihre Schwägerin, der gefürchtete
+Kleinkinderschreck und Sittenwächter, geriet heftig aneinander mit ihr
+und erklärte schließlich kategorisch: »Juden sind kein Umgang für
+Mädchen, die eine Position in der Gesellschaft haben.« Manch einer
+lächelte verstohlen zu diesem Ausspruch, wußte man doch, daß sie um so
+empfindlicher war, was diesen Punkt betraf, als sie es nie verwinden
+konnte, daß Baron Wolkenstein ihr Schwiegersohn geworden war. Sein
+Ahnherr war Hofjude bei Friedrich dem Großen gewesen, und dieser hatte
+ihn mit der Bemerkung geadelt: »Machen wir den Kerl zum Baron, ein
+Edelmann wird doch nie draus.« Selbst in der vierten Generation hatte
+das Taufwasser die Erinnerung an den Familienstammbaum nicht zu
+verwischen vermocht.
+
+Es war eine Ironie des Schicksals, daß mir als Ersatz für Edith Onkel
+Wolkensteins ältester Sohn Hermann als Spielkamerad zudiktiert wurde. Er
+war etwas älter als ich, in der Schule sehr zurückgeblieben, und ich
+sollte ihm zum Vorbild dienen. Wir kamen einander demnach nicht gerade
+mit liebevollen Gefühlen entgegen, vertrugen uns aber schließlich doch
+ganz leidlich. Auf der Erde in meinem Zimmer bauten wir Dörfer und
+Gutshöfe auf, die wir aus bunten Bilderbogen selbst ausschnitten.
+Hermanns Vater besaß ein Gut in Sachsen, so daß landwirtschaftliche
+Interessen ihm am nächsten lagen; die Erinnerung an Grainau zauberte mir
+alle Wonnen des Landlebens vor Augen und belebte mein Spiel. Wenn aber
+Hermann anfing, sich aufs Kaufen und Verkaufen von Vieh, Korn und Heu
+beschränken zu wollen, wobei er stets in den höchsten Eifer geriet, und
+ich Ediths Muschelwagen als Feenfahrzeug durch die Lüfte fliegen ließ,
+um den Menschen in meinen Dörfern alle möglichen Herrlichkeiten zu
+bringen, dann wars mit dem Frieden vorbei. Hermann liebte nur die
+»wirklichen« Geschichten, und ich erklärte seinen Handel für »ekelhaft«.
+Schließlich verschloß ich gekränkt den silbernen Ziegenbock in meinem
+Schrank, gerade, wie ich lernte, meine Träume für mich zu behalten. Es
+war nun einmal nicht anders mit den Menschen, philosophierte ich, jeder
+war immer nur für eine Seite meines Wesens zu brauchen; es galt daher,
+die andre zu verstecken, bis auch für sie die rechten Gefährten sich
+finden würden.
+
+Mit einer Schar kleiner Mädchen und Knaben bekam ich in demselben Winter
+die ersten Tanzstunden, die abwechselnd in ihren Familien stattzufinden
+pflegten. Da saßen dann all die Mamas und Großmamas und Tanten
+ernsthaft im Kreise herum und musterten die junge Generation und
+spannen Zukunftspläne und wetteiferten mit unserm Tanzmeister, der uns
+besonders interessant war, weil er in »Flick und Flock« den großen Krebs
+zu tanzen pflegte, in der Ausübung ihrer Erziehungskünste. Sie konnten
+stolz sein auf ihr Werk: So gut wir französisch parlierten, so zierlich
+tanzten wir Quadrille und Polka, -- der Walzer war als »unschicklich« zu
+jener Zeit in der Hofgesellschaft verboten --, und so tadellos war unser
+Hofknix. »Eine Position in der Gesellschaft« war uns gesichert, ja wir
+besaßen sie, dank unsrer Familienbeziehungen, schon jetzt. Mir war sie
+etwas so Selbstverständliches, daß jener Hochmut, der nur entstehen
+kann, wenn man sie als etwas Besonderes ansieht, der daher am sichersten
+den Emporkömmling kennzeichnet, bei mir gar nicht aufkam. So war mir die
+Ehrfurcht und die Bewunderung, mit der Edith mich über die
+Kindergesellschaften bei »Kronprinzens« auszufragen pflegte, immer
+komisch erschienen. Ich hätte wirklich nicht gewußt, was mich im
+kronprinzlichen Palais zum Bewundern und Verehren hätte bewegen können:
+die kleine unansehnliche Kronprinzessin, die mit der Miene einer
+Gouvernante unsre Spiele beaufsichtigte, der lustige Kronprinz, dessen
+derbe Späße die Märchenprinzenillusionen unsrer Kinderträume gar nicht
+aufkommen ließen, die einfachen, mit Spielzeug wenig verwöhnten Kinder,
+der Teetisch, auf dem ich bald aufgegeben hatte, etwas zu suchen, was
+Kindergaumen reizt, -- es gab doch immer nur dieselben Albert-Kakes --
+das alles gab ein Gesamtbild, das der Glanz der Kaiserkrone nicht zu
+treffen schien. Ich ging nicht allzu gerne hin: Prinzessin Charlotte,
+die mir am besten gefiel, war viel älter als ich; Prinzessin Viktoria,
+mit der ich spielen sollte, hatte nur Spaß am Kommandieren, was ich mir
+nicht gefallen ließ, die jüngern Geschwister waren Babys in den Augen
+der bald Zehnjährigen. Kam Prinz Wilhelm dazu mit dem kurzen lahmen Arm
+und dem finstern Gesicht, so wurde mirs vollends unheimlich. Es war
+jedesmal ein Seufzer der Erleichterung, mit dem ich mich in die Kissen
+des Wagens lehnte, der mich heimwärts fuhr. Schön waren nur die großen
+Feste: das Baumplündern, die Kinderbälle, die Aufführungen. Wenn ich mit
+offnen Locken, im Spitzenkleid und Atlasschuhen die lichterstrahlenden
+Säle betrat und gnädig die ersten Huldigungen kleiner Kavaliere
+entgegennahm, -- dann ging mir eine Ahnung vom üppigen Freudenmahl des
+Lebens auf, die mir alle Fibern mit Sehnsucht füllte. Bei einem solchen
+Fest war es, als Helmut mir entgegentrat und mir auf dem Wege zum
+Ballsaal den Arm reichte. »Wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht
+siehst du aus,« flüsterte er dicht an meinem Ohr. Tausend und eine
+Nacht! Heiß überflutete es mich! Und als wir uns dann im schimmernden
+Glanz der Kerzen, bei rauschender Musik im Tanze wiegten, war mirs, als
+hörte ich verlockend die Worte zu seiner Melodie: schön sein --
+herrschen -- genießen!
+
+Eine Kugel, die ich mir einst im Schloß vom Weihnachtsbaum
+herunterholte, und in der sich noch heute alljährlich die Lichter unsres
+Tannenbaums spiegeln, ist das einzige, was mir zur Erinnerung an jene
+Feste übrig blieb. Ich hielt sie damals für eitel Silber. Aber sie ist
+auch nur aus Glas und hat schon lange einen Sprung! ...
+
+Im Frühjahr wurde ich krank. Wiederholte Schwindelanfälle waren der
+Anlaß gewesen, mich schon Wochen vorher aus der Schule zu nehmen. Dann
+bekam ich die Masern und lag lange Zeit zu Bett. Als ich wieder
+aufstehen durfte, konnte ich mich durchaus nicht erholen. Eine
+Herzschwäche war zurückgeblieben. Ich sollte viel an der Luft sein und
+war daher vor- und nachmittags im Zoologischen Garten, wo ich mit
+Großmama auf einer sonnigen Bank zu sitzen pflegte, die recht schmal
+gewordenen Hände müßig im Schoß, den Kopf, der mir immer so schwer war,
+hinten übergelehnt. Sie las mir vor und hatte sich zu dem Zweck eine
+besondre Art von Lektüre ausgewählt: Schilderungen der Jugendzeit
+bedeutender Männer, die sie ihren Lebensbeschreibungen und
+Selbstbiographien entnahm. Zwei davon machten mir einen unauslöschlichen
+Eindruck: die Napoleons und die Goethes. Wie der große Kaiser ein armer
+Junge gewesen war und sich dem niederdrückenden Einfluß von Not und
+Verlassenheit nicht nur nicht unterwarf, sondern beide ihm zu Mitteln
+seiner Stärke wurden, und wie der Genius des großen Dichters sich schon
+an des Knaben Puppentheater, vor den staunend aufhorchenden Freunden
+offenbarte, denen er seine Märchen erzählte, -- wundervoll war es! »Das
+muß das Schönste sein im Leben, Großmama: zu sein wie ein Stern, der
+allen leuchtet« -- sagte ich einmal nachdenklich. Und ihre Antwort tönt
+mir noch in den Ohren: »Den alle lieben, meinst du wohl, weil er alle
+wärmt!«
+
+Legte sie das Buch weg, so erzählte sie von ihrer eignen Jugendzeit,
+die sie in der Stadt des Dichters, fast ständig in seiner Nähe, verleben
+durfte. Wie arm kam mir, mit der ihren verglichen, meine Kindheit vor!
+Ich konnte überhaupt gar nicht mehr recht froh werden. Es lag irgend
+etwas Dumpfes, Schweres in der Luft, das die Mienen immer verstörter,
+das Lachen immer seltner werden ließ. Selbst meines Vaters Humor
+versiegte mehr und mehr, und häufiger als je flüchtete ich vor seiner
+tobenden Heftigkeit zu Großmama hinunter. Aber auch sie war zerstreut
+und sorgenvoll, so sehr sie sich auch vor mir zusammen nahm. Jeden
+Morgen vertiefte sie sich in den Kurszettel, und die mir rätselhafte
+Bemerkung: »Die Lombarden fallen« störte unsre sonst so gemütliche
+Frühstücksstunde. Eines Abends hatte Papa meine Mutter aus irgendeinem
+geringfügigen Anlaß heftig angefahren, was mich immer ganz besonders
+entsetzte, und ich lief, so rasch ich konnte, davon, um mich verängstigt
+im tiefen Sessel von Großmamas Boudoir zu vergraben. Da hörte ich
+nebenan das Geräusch von Stimmen: Onkel Walter war tags vorher aus
+Ostpreußen angekommen und betrat mit Großmama in starker Erregung, wie
+es schien, den Salon.
+
+Sie setzten sich zusammen auf das weiche, grüne Sofa, das mir so oft zum
+Schmollwinkel diente, und nun hörte ich jedes Wort ihrer Unterhaltung:
+Großmamas weiche, von aufsteigenden Tränen verschleierte Stimme, Onkel
+Walters hartes, durch die Aufregung immer rauher klingendes Organ.
+
+»Du kennst unsre finanzielle Lage,« sagte sie. »Hans hat sein kleines
+Vermögen völlig verloren, und was Ilsens Mitgift betrifft, so fürchte
+ich das Schlimmste. Dazu haben sich meine Einkünfte bedeutend
+verringert, und ich muß mich jetzt schon sehr einschränken, um Ilse und
+Max, die beide Familie haben, nicht im Stich zu lassen. Du hast nicht
+Frau, nicht Kind, hast ein schönes Gut, -- du solltest ohne weiteres
+auskommen.«
+
+»Klotilde kann bei Hansens für dich eintreten,« entgegnete er.
+
+»Klotilde!« Großmama seufzte. »Jede Inanspruchnahme ihrer Hilfe heißt
+Alixchens ganze Zukunft gefährden.«
+
+Onkel Walter stöhnte schwer.
+
+»Hast du noch etwas, was du mir verschweigst? -- Sprich dich doch aus,
+mein Junge!« schmeichelte Großmamas Stimme.
+
+Und nun kams, wie ein Sturzbach wilder, leidenschaftlicher Worte, die
+schließlich Großmamas leises Weinen so wehevoll begleitete, daß sich mir
+das Herz schmerzhaft zusammenzog.
+
+Ich verstand nicht alles, aber die Hauptsache prägte sich mir ein:
+irgendwo in der Schweiz oder in Italien bei einer der vielen
+Spielbanken, die damals wie Pilze aus der Erde schossen, hatte Onkel
+Walter sehr, sehr viel Geld verloren, und in Pirgallen standen die Dinge
+schlecht, da die Heuernte wieder einmal durch Überschwemmungen zerstört
+worden war -- »ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, wenn du nicht
+hilfst,« schloß er außer sich. Ich schrie entsetzt auf. Großmama erhob
+sich, ich hörte ihre Kleider rauschen, duckte mich schnell tief in die
+Kissen und hielt den Atem an.
+
+»Also ein Verschwender und ein Feigling dazu!« sagte sie; ihr hatte
+seine Drohung zu meinem Erstaunen keinen Eindruck gemacht. »Schämst du
+dich nicht? Wie viele fristen ihr und ihrer Familie Leben mit wenigen
+Groschen am Tag, und du wirfst Tausende zum Fenster hinaus, noch dazu
+Tausende, die dir gar nicht gehören! Oder ist es etwas andres als
+Diebstahl, wenn du deine Lieferanten, deine Handwerker und ihr Geld dem
+schlimmsten aller Teufel, dem Spielteufel, in den Rachen wirfst?! Wenn
+du noch eine Spur von Ehrgefühl hast, so wirst du dir selber helfen und
+nicht verlangen, daß deine Schwester und dein Bruder sich dir opfern.
+Setz dich auf dein Gut und arbeite!«
+
+Niemals hatte ich Großmama so reden hören, auch Onkel Walter mochte
+erstaunt sein, denn er schwieg lange Zeit. Dann brachs von neuem los,
+nicht heftig, wie vorher, sondern jammernd, verzweifelnd. Und nun
+tröstete ihn Großmama, wie ein krankes Kind, ohne in der Sache
+nachzugeben. Sie wollte zu ihm ziehen, ihm ein neues Leben aufbauen
+helfen, in der Wirtschaft nach dem Rechten sehen, bis er eine gute Frau
+gefunden haben würde ...
+
+»Ich habe eine Geliebte,« stieß er hervor.
+
+»Auch das noch!« murmelte sie. »Kannst du sie heiraten?« fügte sie rasch
+hinzu.
+
+»Damit wir beide am Hungertuch nagen?« höhnte er.
+
+Auf Großmamas Bitten berichtete er von seinem Verhältnis zu dem Mädchen.
+Ich glaube, sie war anständiger armer Leute Kind; Onkel Walter hatte sie
+fürs Theater ausbilden lassen und an irgendeiner Bühne untergebracht:
+»Talent hat sie keins, aber sie ist hübsch, damit wird sie sich schon
+weiter helfen! Für das Kind aber, dessen Vaterschaft mir einigermaßen
+sicher ist, muß gesorgt werden!«
+
+»Und du -- du bist mein Sohn!« hörte ich Großmama mit halberstickter
+Stimme sagen. Hätte ich ihr nur zu Füßen fallen und ihre Hände küssen
+können!
+
+Nach langer, peinvoller Stille fing sie wieder zu sprechen an: mit
+ruhiger Geschäftsmäßigkeit, wie zu einem völlig Fremden, setzte sie
+Onkel Walter auseinander, welche Schritte zur Regelung seiner
+Angelegenheiten zu tun seien, und zu welchem Zeitpunkt sie ihre
+Übersiedlung nach Pirgallen vornehmen würde. »Für das unschuldige
+Würmchen und die arme Mutter sorge ich,« schloß sie, »und nun gute
+Nacht!«
+
+Ohne ein Wort zu erwidern, verließ Onkel Walter das Zimmer.
+
+Wieviel Schleier, unter denen bisher das Leben sich mir verborgen hatte,
+waren in dieser kurzen Stunde zerrissen! Wild klopfte mir das Herz. Da
+trat Großmama über die Schwelle. »Alixchen!« rief sie entsetzt. Ich
+sprang auf, und den heißen Kopf in die kühlen Sammetfalten ihres Kleides
+pressend, erzählte ich ihr, daß ich alles, alles gehört hätte.
+
+»Ich, ich will dir helfen, Großmama,« rief ich, ohne eine Antwort von
+ihr abzuwarten, während die abenteuerlichsten Pläne sich in meinem Hirne
+kreuzten. »Ich komme mit nach Pirgallen, und dann pflege ich das kleine
+Kind, und du brauchst keine Kinderfrau.« Bittend sah ich auf zu ihr; mit
+wehmütigem Lächeln streichelte sie mir die glühenden Wangen, und durch
+ihre Liebkosung ermuntert, fuhr ich noch eifriger fort: »Weißt du, wenn
+ich das tue, sind doch auch die Eltern mich los und brauchen kein Geld
+für mich auszugeben« -- -- Großmama war noch immer still -- --
+»vielleicht kann ich sogar selbst Geld verdienen. Du hast einmal
+gesagt, daß viele arme Kinder für Geld arbeiten müssen. Ich tanze doch
+so gut -- Herr Ebel hat mich doch selbst unterrichtet -- der nimmt mich
+gewiß zum Theater.«
+
+»Du kleiner Hitzkopf du -- was für törichte Gedanken du dir machst,«
+unterbrach mich Großmama. »Komm, laß uns ruhig miteinander reden,« damit
+ließ sie sich in dem tiefen Stuhl nieder, dessen Bezug noch Spuren
+meiner Tränen zeigte, und ich kauerte mich ihr zu Füßen, wie in jenen
+glücklichen Stunden, wo ich ihren Märchen lauschte. Lange und liebreich
+sprach sie auf mich ein: daß ich mir die Dinge nicht so schwarz ausmalen
+solle, daß wir zwar nicht mehr reich, aber auch nicht arm seien, daß ich
+viel helfen könne, wenn ich meiner Mutter das Leben erleichtere, wenn
+ich überflüssige Wünsche unterdrücke und tüchtig lerne, damit ich
+einmal, falls es nötig sein sollte, auf eignen Füßen zu stehen
+vermöchte. Meine heroische Opferwilligkeit wurde nicht wenig
+herabgestimmt. Gar kläglich kam mir vor, was Großmama mir als eine
+Aufgabe ans Herz legte. »Und -- das kleine Kind?« wagte ich noch einmal
+schüchtern zu bemerken. Die feinen Adern auf Großmamas Schläfen
+schwollen. »Versprich mir, daß du niemandem sagst, was du von ihm gehört
+hast,« sagte sie, mir ernst und fest ins Auge blickend. »Ich verspreche
+es,« hauchte ich.
+
+Großmama küßte mir beide Wangen. »So, nun komm! Ich bring dich in dein
+Bettchen, und morgen ist das alles nichts als ein Traum für dich.« Still
+und in mich gekehrt folgte ich ihr.
+
+Als sie aber die Decke an den Bettpfosten befestigt hatte, -- ich
+pflegte sie sonst im Traume von mir zu werfen --, und, die Hände
+gefaltet, neben mir stand, mein Abendgebet erwartend, richtete ich mich
+noch einmal auf: »Großmama, liebe Großmama,« kam es mit Anstrengung über
+meine Lippen, »sag mir doch, ist eine Geliebte dasselbe wie eine Frau?«
+Und sie gab mir eine Antwort, wie ich sie noch auf keine Frage von ihr
+erhalten hatte: »Kind, das verstehst du nicht.«
+
+Mein Abendgebet vergaßen wir danach alle beide.
+
+Trotz des gemeinsamen Geheimnisses, um das meine Gedanken sich in der
+Stille unaufhörlich drehten, trat seitdem eine leise und noch lange
+nachwirkende Entfremdung zwischen uns ein. Ich aber achtete von nun an
+genau auf meine Umgebung, auf alles, was geschah und was gesprochen
+wurde. Ich merkte, daß Papa mir seltner etwas mitbrachte als früher, wo
+er fast immer eine Schachtel Bonbons oder ein Spielzeug für mich in der
+Tasche gehabt hatte. Und wenn er es jetzt noch tat, so war Mamas
+Empörung über die »Verschwendung« so groß, daß mir von vornherein jede
+Freude verging. Ich sah, wie im stillen überall gespart und geknausert
+wurde, ohne daß sich nach außen viel veränderte: unsre alte französische
+Köchin machte einer deutschen Platz, die keine Kuchen und Pasteten
+backen konnte, an Stelle der Jungfer trat ein Hausmädchen, unter deren
+Händen Mamas blonder Kopf nicht mehr zu einem Kunstwerk wurde wie
+früher. Nur der Wilhelm, der Diener, blieb, und seine stets gleichmäßig
+unbeweglichen Züge verrieten niemandem, wie anders es im Hause der
+Herrschaft geworden war; er schenkte den billigen Mosel bei Tisch mit
+derselben Würde ein, wie den teuren Rheinwein früher.
+
+Aber noch mehr, als ich sah, hörte ich, und lernte rasch ein halbes
+Wort, ein vielsagendes Lächeln verstehen: da mußte der eine den Abschied
+nehmen, weil er sein »Verhältnis« geheiratet hatte, und der andre
+ruinierte sich eines »Frauenzimmers« wegen; da wurde einer im Duell
+erschossen, weil seine Frau auf dem Zimmer eines Schauspielers gefunden
+worden war, und eine andre wurde in der Gesellschaft »unmöglich«, weil
+sie ihren Mann heimlich verlassen hatte. Bei alledem schwebte mir immer
+Onkel Walters Geliebte vor, die Mutter seines Kindes, der meine
+Phantasie die Gestalt der duldenden Madonna gegeben hatte, und ich nahm
+im Innern unentwegt Partei für ihre Leidensgefährtinnen.
+
+Im Sommer gingen wir wieder nach Oberbayern. Mein schwaches Herz, das
+sich in Ohnmachtsanfällen allzu häufig bemerkbar machte, bedurfte der
+Stärkung durch die Bergluft. Aber meine Freude über das Reiseziel sollte
+eine erhebliche Einbuße erfahren: statt im Rosenhaus zu wohnen, bei
+Tante Klotilde, blieben wir in Garmisch im Hotel. Als wir das erstemal
+zu ihr kamen, war ich steif und still. Selbst als der Sepp mit einem
+Strauß von Orchideen, die ich ihrer märchenhaften Formen wegen immer
+besonders liebte, vor mir stand, ließ ich mich nicht bewegen, mit ihm zu
+spielen. »Das Fräulein ist wohl ganz preußisch geworden,« sagte Tante
+Klotilde spöttisch. Ich sah sie böse an. Sie hatte keine Spur von
+Verständnis für mich; sie wußte nicht, daß ich die Kosthäppchen des
+Lebens nie leiden konnte. Wer nicht das ganze köstliche Gericht haben
+kann, für den ist eine Probe davon nur eine grausame Mahnung an das, was
+er entbehrt.
+
+Es blieb bei kurzen Besuchen am Rosensee; nur selten holte die Tante
+uns zum Spazierenfahren ab und unterließ es dabei nie, ihrem Ärger über
+die Nichte, die eine »gelbe Hopfenstange« geworden wäre, Luft zu machen.
+Ich war bisher so gewöhnt gewesen, bewundert zu werden, daß mich ihre
+Bemerkung einigermaßen in Erstaunen setzte. Der Spiegel sprach für ihre
+Richtigkeit. Diese Entdeckung steigerte nur meine morose Stimmung. Ich
+hatte niemanden, der mich ihr hätte entreißen können; Mama hielt mich
+abwechselnd für unartig oder für launisch; sie befand sich überdies bald
+in einer ihr sehr angenehmen Gesellschaft und war daher ganz zufrieden,
+daß ich gar keine Ansprüche an sie stellte, sondern am liebsten allein
+mit meinem Buch im Hotelgarten saß. Die Bäume darin standen in Reih und
+Glied, wie Soldaten, und verbargen, trotz ihrer Dürftigkeit, den Kranz
+der fernen Berge; um aber jedes Gefühl für die Großartigkeit der Natur
+vollends zu verwischen, plätscherte ein dünner, kleiner Springbrunnen in
+der Mitte. Hier konnte ich zeitweise vergessen, daß ich dem alten grauen
+Freund, dem Waxenstein, so nahe und er mir doch so unerreichbar fern
+war.
+
+Ich blieb nicht lange allein. Ein junger Mensch mit fuchsig rotem Haar
+und einem Gesicht voll gelber Sommersprossen, der mit seiner Mutter,
+einer Schriftstellerin, an der Table d'hote neben uns saß, gesellte sich
+immer häufiger zu mir und rümpfte immer deutlicher die Nase über meine
+Lektüre. Freilich: das ganze Elend der damaligen Jugendliteratur konnte
+nicht deutlicher zum Ausdruck kommen als hier. Gegen den gräßlichen
+Nieritz mit seiner Zuckerwassermoral hatte ich schon selbst protestiert,
+dafür herrschten jetzt Ottilie Wildermut und Elise Polko, die der
+gesitteten höhern Tochter in hundert Variationen stets dasselbe
+predigten: der Mann ist deines Lebens Ziel und Zweck. Hans Guntersberg,
+froh, eine so dankbare Zuhörerin für seine Primanerweisheit gefunden zu
+haben, erzählte mir von seinen Lieblingsbüchern, und von niemandem
+schwärmte er mehr als von Paul Heyse. Ein Buch nach dem andern brachte
+er mir, um mir daraus die seiner Meinung nach schönsten Stellen mit dem
+Pathos eines Vorstadttragöden vorzulesen. Sein ganzer Koffer steckte
+voller Bücher und sein Kopf voller Liebesgeschichten, wobei es kein
+Wunder war, daß es in dem einen an Platz für frische Kragen, in dem
+andern an Interesse für klassische Sprachen fehlte. Er war nämlich schon
+zwanzig Jahre alt. Seine körperliche Nähe war mir widerwärtig, und meine
+Sehnsucht nach seinen Büchern stand immer in hartem Kampf mit meiner
+Antipathie gegen seine Persönlichkeit. Er mochte fühlen, was ihn allein
+für mich anziehend machte und gab daher seine Schätze nicht aus der
+Hand. Plötzlich kam er nicht mehr und antwortete mir ausweichend, als
+ich ihn abends nach der Ursache frug. Am nächsten Tag schlich ich ihm
+nach und fand ihn in der Laube des Nebenhauses mit einem Mädchen, das
+nicht nur erheblich älter, sondern auch viel hübscher war als ich. In
+seiner bekannten Schauspielerpose stand er vor ihr und deklamierte,
+während der Schweiß ihm in Perlen auf der sommersprossigen Stirn stand.
+Halb belustigt, halb verärgert wandte ich mich ab. Ich gönnte der
+Rivalin den Kurmacher, aber seine Bücher gönnte ich ihr nicht.
+Vielleicht gab er sie mir jetzt, da seine Person anderweitig
+untergebracht war. Er lachte mich aus, als ich ihn darum bat: »Für
+dumme Göhren wie dich ist das noch nichts.« Mir fiel ein Laden in
+Partenkirchen ein, der alle leiblichen und geistigen Bedürfnisse der
+Sommergäste zu befriedigen pflegte. Heyses Novellen hatte er gewiß. Das
+Schlimme war nur, daß ich kein Geld besaß. An meinem Geburtstag hatte
+ich in Erinnerung an Großmamas Ratschläge das Goldstück von Tante
+Klotilde unberührt gelassen. Mama sollte mir zum Winter ein Kleid davon
+kaufen, dieser Wunsch -- ein erstes Zeichen praktischen Verständnisses
+-- war durch einen der seltnen mütterlichen Küsse belohnt worden. Sie
+für diesen Zweck nun doch um das Geld zu bitten, wäre töricht gewesen;
+bestenfalls hätte sie meinen Lesehunger durch einen neuen Band Wildermut
+gestillt. Und doch hatte ich ein Recht darauf -- es war mein Eigentum
+--, ich konnte tun damit, was ich wollte; Mama hatte es sogar selbst in
+mein Portemonnaie gesteckt, das in der Kommode unter den Taschentüchern
+lag. Tagelang kämpfte ich mit mir, -- aber das Verlangen wurde um so
+stärker, als ich Stunden und Stunden nichts mit mir anzufangen wußte;
+endlich konnt ich nicht länger widerstehen: unter dem Vorwand, ein
+Taschentuch haben zu müssen, verschaffte ich mir den Schlüssel und nahm
+mein Portemonnaie an mich. In fliegender Hast, als brenne der Boden
+unter mir, lief ich die Treppen hinunter durch die Straße nach
+Partenkirchen. Für meine Mutter, sagte ich verwirrt und stotternd im
+Laden, sollte ich Heyses Novellen kaufen. Verwundert sah man mich an,
+als ich ein ganzes Goldstück vorwies. Mit mehreren Bänden beladen lief
+ich zurück; die Eile, die Angst vor Entdeckung, das klopfende Gewissen
+ließen mein Herz immer stürmischer schlagen. Glühende Funken tanzten
+vor meinen Augen; zuweilen wars dann wieder, als hüllten schwarze
+Schleier sie ein. Ungesehen kam ich ins Hotel zurück und hatte noch
+gerade so viel Kraft, mein Paket in die leere Reisetasche zu stecken,
+als der Schwindel mich packte und ich zusammenbrach. Auf meinem Bett,
+umringt von der Mutter, dem Arzt, dem Stubenmädchen, das mich zuerst
+gefunden hatte, fand ich mich wieder. Die Hotelküche sei nichts für mich
+-- es fehle mir an Bewegung -- Garmisch sei zu heiß -- die Baronin
+Artern müsse mich ins Rosenhaus nehmen, da würde das dumme Herzchen
+schon zur Räson kommen -- hörte ich des alten Doktors freundliche Stimme
+sagen. Er fuhr selbst nach Grainau, um mit der Tante zu reden. Schon am
+nächsten Tag sollte ich hinüber. Der Gedanke an die versteckten Bücher
+ließ zunächst meine Freude nicht aufkommen. Ich benutzte den Augenblick,
+wo Mama zum Essen hinunter ging, um mich hastig anzuziehen, nahm das
+verhängnisvolle Paket und trug es mit wankenden Knien in den Garten.
+Dort, unter einem Fliederbusch, vergrub ich ein Buch nach dem andern in
+der Erde; nur eins -- das letzte, ein dünnes Bändchen, versenkte ich in
+meine Kleidertasche. Dann erst kam mir die bedenkliche Moralität des
+Ereignisses zum Bewußtsein: statt der Strafe für meine Sünden erwartete
+mich das Rosenhaus, meiner ständigen stillen Sehnsucht Ziel!
+
+Ich verlebte stille, wundervolle Wochen dort. Da ich weder Kraft noch
+Lust hatte, soviel umherzuklettern wie im vorigen Jahr und die alte
+Kathrin mich überdies mehr denn je in ihren Schutz nahm, fand die Tante
+nicht allzuviel Ursache zum Schelten. Und der Sepp erwies sich als der
+treuste, rücksichtsvollste Kamerad. Er strahlte über das ganze braune
+Gesicht vor Freude über meine Ankunft; er ließ sich willig mit Plaid und
+Mantel bepacken, wenn ich dafür nur wieder mit ihm gehen durfte; er hob
+mich, das lange Mädel, das ihn an Größe beträchtlich überragte, über
+jeden Bach, jede sumpfige Stelle. Und gleich am ersten Tage führte er
+mich mit geheimnisvoll verlegenem Lächeln durch den Wald bis zu dem
+Hügel, unter dem der Badersee grün aufleuchtete und Waxenstein und
+Zugspitze herübergrüßten, als wäre es nur ein Vogelflug bis zu ihnen.
+Dort unter der alten Buche hatte er mir eine Bank gezimmert und in
+ungefügen Buchstaben ein »Alix« in die Lehne geschnitten. Dort nahm ich
+zum erstenmal mein gerettetes Buch aus der Tasche: »L'Arrabiata« war es.
+Ich weiß heute nichts mehr von seinem Inhalt; ich weiß nur, daß das
+kleine Werk mich in einen Traum von Schönheit verstrickte, daß ein
+Gluthauch von Leidenschaft mir daraus entgegenströmte, die mich mir
+selbst entrissen. Wenn ich morgens erwachte, solange noch alles still im
+Hause war, zog ich immer häufiger mein Notizbuch unter dem Kopfkissen
+hervor und schrieb in Versen nieder, was mich bewegte, und was ich
+niemandem hätte sagen können.
+
+Im Spätherbst kehrten wir heim. Es war mir eine Erleichterung, Großmama
+nicht mehr vorzufinden, -- ich hätte ihr nicht in die Augen zu sehen
+vermocht. Wie wenig hatte ich mich ihres Vertrauens würdig gezeigt, wie
+schwach, wie schlecht war ich gewesen! Das sollte nun anders, ganz
+anders werden. Durch tägliche Opfer wollte ich gut machen, was ich
+verbrochen hatte. Mit wahrer Leidenschaft stürzte ich mich in die
+selbstgewählte Aufgabe und nahm gleich das schwerste auf mich, was es
+für mich geben konnte: Handarbeiten. Der Eifer, mit dem eine büßende
+Nonne sich geißelt, konnte nicht hingebungsvoller sein als der, mit dem
+ich Strümpfe stopfte! Rascher, als er erlahmte, machte meines Vaters
+Versetzung nach Posen ihm ein Ende. Ich sah dieses Verschlagenwerden
+nach einer Stadt, von der niemand etwas Gutes zu sagen wußte, als eine
+gerechte Strafe für meine Sünden an. Keine Lockungen der Eitelkeit und
+des Vergnügens würden mich dort dem Ernst des Lebens entreißen.
+
+An einem der letzten Abende vor der Abreise saßen wir zwischen
+hochaufgetürmten Kisten um den Eßzimmertisch. Schwarz starrten die
+vorhanglosen Fenster zu mir herüber, vor denen ich stets ein Grauen
+empfand, wie vor offenen Gräbern. Mama trug ihren unscheinbarsten
+Morgenrock, ich -- im Vollgefühl größter Selbstentsagung -- eine
+Schürze. Nur der Wilhelm wahrte auch inmitten der Unordnung des Umzugs
+die Form: tadellos, wie stets, war sein Frack, blank geputzt, wie immer,
+der silberne Teller, auf dem er Mama einen Brief präsentierte. »Aus dem
+Kabinett Ihrer Majestät der Kaiserin,« sagte er mit der Miene
+ehrfurchtsvoller Devotion. Mamas Gesicht erhellte sich, während sie las.
+»Das ist wirklich ein Glücksfall«, -- damit reichte sie den Brief meinem
+Vater. Ihm stieg das Blut zu Kopf bei der Lektüre; die Adern schwollen
+ihm auf der Stirn; er räusperte sich immer heftiger. »Das hast du ja mal
+wieder fein eingefädelt,« rief er schließlich mit dröhnender Stimme,
+warf den Brief auf den Tisch und sprang vom Stuhl auf. Ich erhob mich
+gleichfalls, um möglichst rasch zu verschwinden. »Du bleibst!« schrie
+Papa wütend, mein Handgelenk umklammernd. »Alix ist schließlich die
+Hauptperson, -- mag sie entscheiden,« fügte er hinzu und reichte mir
+trotz Mamas entrüstetem »Aber Hans, wie unpädagogisch!« den gewichtigen,
+großen Bogen. Er enthielt die kurze Mitteilung, daß »Ihre Majestät
+gnädigst geruht habe, Fräulein Alix von Kleve eine Freistelle im
+Augustastift zu bewilligen,« und die Bemerkung von der Kaiserin eigener
+Hand »sie freue sich, die Enkelin ihrer lieben Jugendfreundin Jenny in
+die ihrem Herzen so nahe stehende Anstalt aufnehmen zu können.« Im Fluge
+erschienen all die Bilder des Stifts vor mir, die ich bei meinen
+Besuchen mit Großmama oft genug gesehen und meinem Vater oft genug
+geschildert hatte: Alles war Uniform dort, von der Kleidung bis zur
+Gesinnung, und von den weiten Schlafsälen bis zum Garten atmete alles
+denselben Geist: den der Hygiene, der Pünktlichkeit, der Ordnung. Da gab
+es kein stilles Plätzchen und keine Zeit zum Träumen. Das, was mir von
+klein auf das tiefste Bedürfnis gewesen war: allein sein zu können mit
+meinen Gedanken, wäre hier Tag und Nacht unbefriedigt geblieben. Aber
+war es nicht vielleicht die Hand Gottes, die mir grade diesen Weg der
+Buße wies? Würde ich nicht mit einem Schlage meine Eltern von drückenden
+Sorgen befreien, wenn ich ihn, ohne Rücksicht auf meine Wünsche, tapfer
+betrat? Erwartungsvoll fragend sah Papa mich an. Und leise, mit
+gesenkten Augen sagte ich: »Es wird wohl das beste für mich sein!«
+
+»Ihr habt ja das Mädel gut klein gekriegt,« höhnte Papa, »aber ich geb
+das nie und nimmer zu! So stehts noch nicht mit mir, daß ich meine
+Tochter das Gnadenbrot essen ließe! -- Sie bleibt zu Hause, wo sie
+hingehört, sie wird nicht zum Hofschranzen erzogen -- und damit basta!«
+
+Mama blieb still. Ich wurde ins Bett geschickt, hörte aber noch lange
+des Vaters heftige Stimme: mein Schicksal, das fühlte ich, wurde dort
+drüben entschieden.
+
+Am Tage darauf mußte ich mich auf des Vaters Kniee setzen, und mit einer
+weichen Zärtlichkeit, die er selten zu zeigen pflegte, sprach er auf
+mich ein:
+
+»Du bist mein einziges Kind, Alixchen, und meine ganze Lebensfreude.
+Wenn ich dich von mir gebe, so heißt das, dich verlieren, denn fremde
+Einflüsse werden auf dich wirken, die meinem Denken und Fühlen
+entgegengesetzt sind. Glaube mir: niemand meint es so gut mit dir wie
+ich, wenn ich auch oft grob und heftig bin, -- und niemand kann dich
+lieber haben.« Mit feuchten Augen sah er mich an: »Willst du deinen
+armen alten Vater wirklich verlassen, mein Kind?«
+
+Schluchzend schlang ich die Arme um seinen Hals: »Ich bleibe bei dir,
+Papa.«
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Wir saßen um den runden Mahagonitisch beim Nachmittagskaffee; von der
+Hängelampe mit dem grünen Schirm fiel ein warmes Licht auf den zierlich
+gedeckten Tisch mit seinen Kristalltellern und Sahnennäpfchen und seinen
+alten, weißen, wappengeschmückten Porzellantassen; die dickbauchige
+silberne Kaffeekanne blitzte, und der große Napfkuchen duftete
+sonntäglich. Mit lustigem Prasseln übertönten die brennenden Holzscheite
+im Kamin die grämliche Herbststimme des Novemberregens draußen.
+
+»Doktor Hugo Meyer,« meldete der Diener und öffnete die Tür vor dem
+Erwarteten. Mein Vater stand auf. »Dein Erziehungsapparat,« flüsterte er
+mir lächelnd zu. Ich war wenig neugierig. Sie waren bisher einander alle
+ähnlich gewesen: grauhaarige Männer mit krummen Rücken und schmutzigen
+Fingernägeln, ältliche, bebrillte Fräuleins mit blutleeren Lippen --
+wirklich: nur gleichmäßig funktionierende »Erziehungsapparate«, aber
+keine Erzieher.
+
+Pflichtschuldigst erhob ich mich, als Papa mich dem neuen Lehrer
+vorstellte, den er nach vielem Suchen für mich gefunden hatte. »Hier ist
+unsere Alix, Herr Doktor! Ein großes Mädel, nicht wahr? Sie werden sich
+tüchtig anstrengen müssen, damit der Geist sich streckt, wie der
+Körper.« Ich reichte ihm die Hand; sein warmer, kräftiger Händedruck
+ließ mich erstaunt zu ihm aufsehen, -- meine früheren Lehrer hatten mir
+immer nur die Fingerspitzen berührt, was mich von vornherein hatte
+frösteln lassen.
+
+Ein großer, breitschultriger Mann stand vor mir; ein paar gute Augen von
+einem so reinen Blau, wie es mir noch bei keinem Menschen begegnet war,
+sahen mich forschend an. Und doch konnte ich nur schwer ein Lächeln
+verbergen: wie schlecht paßte der Mann, dachte ich, in den langen
+korrekten schwarzen Rock. Eines Arminius Lederwams und Panzer hätte ihm
+besser gestanden, und unter einem Büffelhelm würde der breite
+Germanenkopf mit dem gelockten rötlichen Haar und dem dichten Bart nie
+den Gedanken an einen preußischen Gymnasiallehrer haben aufkommen
+lassen. Er errötete unter meinem Blick und setzte sich mit einer
+ungeschickt verlegenen Bewegung, den Zylinder immer noch in der Hand,
+auf den Rand des ihm angebotenen Stuhles. Es bedurfte der ganzen
+gesellschaftlichen Geschicklichkeit meiner Mutter und der jovialen
+Liebenswürdigkeit meines Vaters, um eine Unterhaltung in Fluß zu
+bringen. Erst als das Gespräch sich ausschließlich auf des Besuchers
+eigentliches Gebiet konzentrierte, wurde er lebendig, und je mehr er den
+schwarzen Rock und das Zeremoniell der Salonkonversation vergaß, desto
+stärker trat seine Natur hervor: die eines Menschen voll Jugendkraft und
+Enthusiasmus. Ich empfand sie, wie ich den schäumenden Gießbach und die
+dunkeln, schattenden Bäume in dem kühlen, grünen Grund der Maxklamm
+empfand, wenn ich von den sommerschwülen Wiesen Grainaus dorthin
+flüchtete. Ein tiefes Aufatmen ging durch meine Seele. Ich öffnete den
+Mund nicht während des ganzen Besuchs, und er richtete nie das Wort an
+mich. Daß ich seinen Händedruck beim Abschied herzhaft erwiderte, war
+das einzige Zeichen meines Willkommens.
+
+Am Abend desselben Sonntags war es; die Stunde, in der mein Vater für
+Wünsche am zugänglichsten, für Widerspruch am wenigsten empfindlich war.
+Dann pflegte Mama mit gekreuzten Armen tief in der Sofaecke seines
+Zimmers zu sitzen, der Patience zuschauend, die er, als bestes
+Nervenberuhigungsmittel, wie er meinte, allabendlich zu legen pflegte.
+Ich las währenddessen oder träumte vor mich hin.
+
+»Wir hätten Alix doch in die Schule schicken sollen,« begann Mama.
+
+»Damit sie mit fünfzig Cohns und Goldsteins in einer Klasse sitzt! Na,
+Gottlob, ist das Thema seit heute erledigt,« antwortete er.
+
+»Und daß er ihr keine Religionsstunde geben will, ist doch auch
+bedenklich,« fuhr sie fort.
+
+»Das ists grade, was mir paßt,« sagte er mit etwas erhobener Stimme,
+»den Katechismus kann sie am Schnürchen, die Kirchenlieder auch, alles
+übrige läßt sich nicht lehren und nicht lernen, wenn mans nicht erfährt.
+Und zu dieser Religionserziehung sind die Herren Eltern da.«
+
+»Ich freue mich auf die Stunden,« unterbrach ich das Gespräch, in der
+Angst, es könne sich zu einer Szene steigern.
+
+»Jedenfalls muß ich immer dabei sein,« seufzte darauf Mama.
+
+Ich erschrak. Vor niemandem vermochte ich so wenig aus mir herauszugehen
+wie vor ihr. Lähmend wirkte ihre Kühle auf mich. Wie eine stumme Geige
+war ich in ihrer Nähe: gehorsam geben die Saiten dem Spiel der Finger
+nach, aber mit keinem Ton antworten sie ihnen.
+
+»Warum denn, Mama?« frug ich mit zuckenden Lippen, die Augen bittend auf
+sie gerichtet, »ich werde sicher gut aufpassen und immer fleißig sein.«
+
+»Glaubst du vielleicht, ich tus aus Vergnügen?!« Ihre Stimme wurde
+schärfer: »Es schickt sich einfach nicht, euch allein zu lassen!«
+
+Eine unklare Empfindung, als habe mich etwas Unreinliches berührt, trieb
+mir die Schamröte in die Wangen.
+
+Wir verstummten alle. Tiefer senkte ich den Kopf auf mein Buch, aber ich
+sah die Worte nicht; ich hörte auf den Regen, der eintönig gegen die
+Fensterscheiben schlug. Das Kaminfeuer nebenan war erloschen.
+
+Am nächsten Nachmittag begann der Unterricht. Mama saß richtig mit einer
+Handarbeit dabei. Ihre Gegenwart schien auch der Lehrer peinlich zu
+empfinden, er kam nicht in die Stimmung, die mich an ihm mit so viel
+Hoffnung erfüllt hatte, und wir waren schließlich sichtlich enttäuscht
+voneinander. Wochenlang blieb alles beim alten, und ich sagte mir mit
+altkluger Bitterkeit, daß ich mich eben wieder einmal umsonst gefreut
+hätte. Aber mit dem nahenden Winter nahm die Gefälligkeit zu, und
+schließlich war sie dermaßen ausgedehnt, daß ich meine Eltern fast nur
+zu Tisch noch sah. Besuche, Diners, Bälle, Wohltätigkeitsvorstellungen
+folgten einander auf dem Fuß. Meine Mutter hatte nur noch Zeit, die
+pflichtgemäße Mittagspromenade mit mir zu machen und meinen Lehrer zu
+begrüßen, wenn er kam. Täglich wiederholte sich dabei dieselbe Szene:
+mit linkischer Verbeugung und verlegenem Hüsteln, das sein gewaltiger
+Brustkasten Lügen strafte, trat er ein. »Sind Sie zufrieden mit Alix?«
+frug Mama. »O sehr,« antwortete er. Ihm freundlich zunickend, mir rasch
+die Stirne küssend, verabschiedete sie sich, und mit einem Gefühl der
+Erleichterung nahmen wir einander gegenüber Platz. Der Diener brachte
+den Kaffee, der, wie Papa gemeint hatte, eine Unterhaltung und damit ein
+näheres Bekanntwerden von Lehrer und Schülerin herbeiführen sollte. Aber
+es kam nie dazu. Dr. Meyer schluckte hastig den gebotnen braunen Trank
+herunter und zerbröckelte schweigsam den Kuchen zwischen den Fingern,
+während er meine Hefte durchsah. Erst durch den Lehrstoff, den er
+vortrug, taute er auf, und je mehr die Zeit vorrückte, desto heller
+leuchteten seine Augen, desto reicher strömten ihm alle Mittel
+eindrucksvoller Rede zu. War mein ganzer bisheriger Unterricht nichts
+als eine Anhäufung von Regeln, Versen Namen, Zahlen und Daten gewesen,
+so leblos und reizlos für mich, wie das Spielzeug, mit dem Onkels und
+Tanten meine Schubläden füllten, so strömte jetzt mit ihm das Leben
+selbst mir zu, dessen Fülle ich in atemloser Aufmerksamkeit, in
+herzklopfender Erregung zu fassen und zu halten versuchte. Die toten
+Helden der Geschichte wurden lebendig vor mir; alle, die um der Freiheit
+und der Gerechtigkeit willen geblutet hatten, -- von Leonidas und
+Tiberius Gracchus bis zu den Amerikanern, den Griechen, den Polen der
+Neuzeit --, zeigten mir ihre Narben und Wunden, und meine Begeisterung
+entflammte sich an ihren Taten und Leiden. Die Dichter sprachen zu mir,
+und die Lehrer und die Propheten der Menschheit brachten dem kleinen
+Mädchen die unvergänglichsten ihrer Schätze. Wenn sie auch ihren Wert
+noch nicht zu würdigen verstand, so erkannte sie doch mit inbrünstigem
+Schauern ihren Reichtum, und die Welt, bisher für sie nur erfüllt mit
+den Nebelgestalten ihrer eignen Schöpfung, sah sie nun aus tausend
+lebendigen Augen an.
+
+Mündlich und schriftlich hatte ich Gelesenes und Gehörtes nicht nur
+automatisch wiederzugeben, sondern meine eignen Eindrücke und Gedanken
+daran zu knüpfen. Stets verteidigte ich leidenschaftlich meine Helden,
+und um ihre Widersacher zu malen, war mir das tiefste Schwarz nicht
+schwarz genug. Suchte der Lehrer meine Engel in Menschen zu verwandeln,
+so bäumte sich meine Empfindung feindselig gegen ihn auf; und geschah
+es, daß mein Verstand ihm recht geben mußte, so trauerte ich verzweifelt
+vor dem gestürzten Heros, als wäre mir ein Freund gestorben.
+
+Ein hoher hölzerner Fußschemel war meine Rednertribüne. Ich konnte nicht
+zusammenhängend sprechen, wenn ich am Tische saß oder stand; ich
+bedurfte eines merkbaren räumlichen Abstands zwischen mir und dem
+Zuhörer und war daher instinktiv auf diesen Ausweg verfallen. Nur in
+Mamas Gegenwart half auch der Fußschemel nichts, seitdem sie einmal
+zugehört und über mein Pathos Tränen gelacht hatte. Mein Lehrer
+verstand mich; kam sie zufällig herein, während ich sprach, so
+wechselte er stillschweigend den Gegenstand des Unterrichts. Aber nicht
+nur der Stoff und die Form, auch der Tenor des Inhalts wurde ein andrer,
+wenn wir nicht allein blieben.
+
+Meine Mutter hatte einmal ausnahmsweise der Geschichtsstunde beigewohnt,
+als Dr. Meyer Friedrichs des Großen Polenpolitik einer abfälligen Kritik
+unterzog. Er war Hannoveraner und hatte sich als solcher trotz aller
+Begeisterung für das Deutsche Reich den Hohenzollern gegenüber einen
+scharfen kritischen Blick bewahrt. Seine Auseinandersetzung unterbrach
+meine Mutter plötzlich mit einer Leidenschaftlichkeit, die bei der sonst
+so vornehm kühlen Frau wie etwas völlig neues erschien: »Herr Doktor,«
+rief sie, »vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben. Wir sind
+Preußen!« -- »Verzeihen Sie, gnädige Frau,« entgegnete er, während
+das Blut ihm in Wangen und Schläfen schoß, »die objektive
+Geschichtsforschung ...« -- »Was geht mich die objektive
+Geschichtsforschung an,« warf sie heftig dazwischen, »wir haben unser
+angestammtes Fürstenhaus zu lieben und unsre Kinder im Respekt vor ihm
+zu erziehen. Lehren Sie Alix einfache Tatsachen, keine zersetzende
+Kritik. Sie ist sowieso schon superklug genug.« Ich erwartete eine
+energische Antwort. Doch der große, starke Mann schien in sich zusammen
+zu fallen, er senkte die Augen, und sein Gesicht färbte sich noch
+dunkler. Als wollte er einen bösen Gedanken vertreiben, fuhr er sich mit
+der Hand, deren Weiße zu ihrer breiten Derbheit einen seltsamen Kontrast
+bildete, ein paarmal über die Stirn, sah mechanisch nach der Uhr, atmete
+tief auf, da die abgelaufene Zeit seinen Aufbruch gestattete, und
+verabschiedete sich noch unbeholfener als gewöhnlich. Mir gab es einen
+Stich ins Herz: es war zwar nicht ein Heros, dessen Sturz mich
+verletzte, es war nur ein erster schüchterner Trieb beginnenden
+Vertrauens, der mir aus dem Herzen gerissen wurde. Ein Mann, der sich so
+herunterputzen ließ! Der seine Überzeugung nicht zu vertreten vermochte!
+Daß Mutter und Schwester daheim mit jedem Groschen rechnen mußten, den
+er verdiente, -- das freilich wußte ich damals nicht.
+
+Für mich, für die ein Erlebnis, das andre kaum empfanden, so oft zum
+erschütternden Ereignis wurde, blieb diese Stunde bedeutungsvoll. Noch
+immer sah ich Tag für Tag meinem Lehrer voll Erwartung entgegen, aber er
+war doch nur der Türhüter am Museum der Menschheitsgeschichte, nicht der
+Führer, dessen Leitung sich der Laie anvertraut: er öffnete mir einen
+Saal nach dem andern, aber ich ging schließlich doch allein. Wenn es
+auch sein höchstes Verdienst war, daß ich allein gehen lernte, -- nicht
+auf den Stelzen fremder Anschauungen, die unbrauchbar werden, sobald es
+gilt, über Felsen zu klettern --, so ist doch die Seele des Kindes zu
+weich, zu schutz- und anlehnungsbedürftig, als daß sie auf einsamer
+Wanderung durch das fremde Leben nicht Wunden über Wunden davontragen
+müßte und ihr beim Sammeln von Blumen und Beeren nicht allzuviel giftige
+in die Hände fielen.
+
+Ich war ein frommes Kind gewesen -- mit jener Frömmigkeit, die an den
+lieben Gott und an die Engel und an den Herrn Jesus ebenso innig glaubt,
+wie an die sieben Zwerge, an die Knusperhexe und an die kleine
+Seejungfrau; mit jenem Glauben, der gar kein Glauben ist, weil noch
+kein Schatten eines Zweifels ihn erprobte.
+
+Bei mir wie bei jedem Kinde wiederholte sich, was die Kindheit der
+Völker kennzeichnet: ihre Phantasie ist das Mittel, durch das sie sich
+mit dem ungeheuern Geheimnis des Lebens und des Schicksals
+auseinandersetzen. Sie überwinden die Furcht vor dem Unbegreiflichen
+durch den Glauben an die waltenden Wesen über ihnen. Schon als kleines
+Kind flüchtete ich, wenn irgend ein Ereignis mich aus dem Gleichgewicht
+brachte, in die Stille, um inbrünstig den Vater im Himmel um Hilfe zu
+bitten. Auf meine religiösen Empfindungen blieben die Gebete, Sprüche
+und Gesangbuchverse, die ich in der Schule gelernt hatte, und der
+Luthersche Katechismus vor allem, der, wäre er chinesisch geschrieben,
+den Kindern nicht weniger verständlich sein würde, so einflußlos wie die
+nüchterne Ode der protestantischen Kirche. Die Heiligenbilder, das
+geweihte Wasser, die durch rotes Glas mystisch schimmernde ewige Lampe
+unter dem geheimnisvollen Bilde der schwarzen Madonna von Ezenstochau,
+die die Wände in der Kammer unsrer polnischen Köchin schmückten, zogen
+mich weit mehr an.
+
+Das Licht des grellen Tages fiel nun in diese unberührte traumdunkle
+Märchenwelt meiner Religion.
+
+In der Geschichtsstunde, zu der in spätern Jahren ein besondrer
+religionsgeschichtlicher Unterricht hinzukam, lernte ich, wie nicht nur
+innerhalb des Christentums eine Kirche, eine Sekte die andre auf das
+heftigste bekämpfte, wie jede im Besitz des alleinseligmachenden
+Glaubens zu sein behauptete, und für jede Märtyrer geblutet hatten, ich
+sah auch, daß Juden, Muhamedaner und Buddhisten nicht weniger fromm
+waren als die Nachfolger Christi und mit derselben Hingabe wie sie für
+ihren Glauben lebten und starben. Die Fabel von den drei Ringen kannte
+ich noch nicht, aber ich empfand schon die Schwere ihrer Fragestellung.
+Mein Lehrer, der dem Mißtrauen meiner Mutter, als er sich weigerte, mir
+Religionsstunden zu geben, dadurch begegnet war, daß er versprochen
+hatte, keinerlei Glaubenszweifel in mir zu erwecken, beschränkte sich im
+wesentlichen auf die Darstellung historischer Ereignisse und wich meinen
+bohrenden Fragen so lange aus, bis ich es aufgab, sie zu stellen. In
+meinem Innern aber wurden sie zu Quadersteinen eines babylonischen
+Turms, von dem auch ich über die Wolken zu sehen hoffte. Da ich noch zu
+schwach und ungeschickt war, sie ohne Hilfe fest und sicher aufeinander
+zu schichten, brach mein Bau frühzeitig zusammen. Nicht zu neuen Wundern
+hatte er mich emporgeführt, doch meinen Kinderglauben begrub er unter
+seinen Trümmern.
+
+Im mystischen Dunkel der Tempel und Kirchen waltet die Phantasie
+ungestört, die große Bannerträgerin allen Glaubens, und flößt den
+Marmorsteinen der Götter und den Bildern der Heiligen rotes, warmes
+Leben ein. Dringt aber Licht und Lärm durch zerrissene Vorhänge und
+zerbrochene Scheiben, so wandeln sie sich wieder zu toten Gebilden von
+Menschenhand. Die Phantasie aber baut in stillen Winkeln neue Tempel für
+die glaubensdurstigen Kinderseelen, die Denker und Dichter noch nicht
+sind, oder niemals werden können.
+
+Einmal, nach der Rückkehr von einer längeren Sommerreise, führte mich
+mein Vater mit besondrer Feierlichkeit in unsre Wohnung. Hatte ich
+bisher ein Zimmer neben der Schlafstube der Eltern bewohnt, in dem sich
+tags über meist auch die Jungfer aufzuhalten pflegte, so öffnete er mir
+jetzt die Tür zu einem bis dahin unbenutzten Raum. »Das ist dein Reich,
+mein Kind,« sagte er. Ich konnte das Glück kaum fassen: ein eignes
+Zimmer! Dieser Traum jedes zu selbständigem Leben reifenden
+Menschenkindes sollte mir so wundersam in Erfüllung gehen! Keine
+rasselnde Nähmaschine durfte mich hier mehr stören, niemand konnte mir
+den Platz am eignen Schreibtisch streitig machen! Nur das alte braune
+Sofa erinnerte trotz seines neuen blau-weißen Kleides noch an die
+Kinderstube. Die erste Nacht unter dem schneeigen Betthimmel und der
+roten Ampel fand ich keinen Schlaf: mein Zimmer, und doch -- das
+allereigenste fehlte ihm noch, das geheimnisvolle, das niemand sehen
+durfte als ich allein. Ich richtete mich auf, zündete die Ampel an und
+schlüpfte aus dem Bett. Bunte Seidenreste und einen großen gelben Schal
+holte ich aus meinem Wäscheschränkchen und kauerte damit am Fenster
+nieder, wo zwischen dem Sofa und der Wand eine Ecke leer war. Mit Nadeln
+und Reißnägeln spannte ich den gelben Schal wie ein Zeltdach zwischen
+der hohen Seitenlehne des Sofas und der Fensterwand, fütterte die Wände
+innen mit rotem Atlas und breitete himmelblauen Sammet als Teppich auf
+dem Boden aus. Einen weißen, mit Blumen bemalten Kasten stellte ich wie
+einen Altar in die Mitte, bunte Kerzen von meinem Geburtstagskuchen
+befestigte ich ringsum, und eine kleine Schale von Malachit, mit
+Rosenblättern gefüllt, legte ich als Opferstein davor. Nur der Gott
+fehlte noch, dem der Weihrauch duften sollte. Leise, mit angehaltnem
+Atem, schlich ich zum Eßzimmer hinüber, holte vom Ofensims die kleine
+Statuette des Apoll vom Belvedere und erhob ihn zum Heiligen meines
+farbenglühenden Tempels. Tief mußt ich mich neigen, um hineinzusehen;
+aber daß ich fast die Erde mit den Lippen berührte, entsprach nur meiner
+feierlichen Andacht. »Baldur« nannte ich den Apollo, denn die Götterwelt
+der Germanen war mir vor allem vertraut geworden, und mit einer ersten
+instinktiven Auflehnung gegen die Schmerzensgestalt des Gekreuzigten
+betete ich den blühenden Gott des steigenden Lichtes an.
+
+Kindisch mags denen erscheinen, die nichts wissen von den Tiefen der
+Kindesseele, ich aber weiß, daß keines gläubigen Christen Frömmigkeit
+inniger sein konnte als die, die mich erfüllte, wenn ich vor dem
+selbstgeschaffnen Heiligtum in die Knie sank.
+
+Meiner Mutter erzählte ich herzklopfend, daß ich den Apollo »zerbrochen«
+hätte, und bat sie, wie alle Hausbewohner, die mit einem dunkeln Tuch
+sorgfältig verhüllte Ecke meines Zimmers nicht zu untersuchen, der
+»Weihnachtsüberraschungen« wegen, die ich dort verwahrt hätte. Als aber
+Weihnachten vorüber war, machte ich keinerlei Anstalten, meinen
+geheimnisvollen Bau dem Besen und dem Scheuertuch zu opfern. Heimlich
+kaufte ich mir Blumen, um ihn stets frisch zu schmücken, und eine kleine
+ewige Lampe, an deren Brennen und Erlöschen sich allmählich allerlei
+abergläubische Vorstellungen knüpften, und Räucherkerzchen, die
+allabendlich den Gott auf dem Altar in bläuliche Wolken hüllten. Schon
+oft hatte Mama mich gemahnt, das »unnütze Zeug« fort zu räumen;
+schließlich, als ich eines Morgens von der Klavierstunde kam, trat sie
+mir mit hochrotem Gesicht entgegen. »Wirst du dir denn nie das Lügen
+abgewöhnen?!« rief sie und zog mich in mein Zimmer. Mein Tempel war
+verschwunden, in wirrem Durcheinander lagen Stoffe und Blumen, Lichter
+und Räucherwerk auf dem Tisch, erloschen stand das Lämpchen neben
+Baldur-Apoll. »Weißt du, wie man das nennt, wenn man sich fremdes
+Eigentum aneignet?!« Vor diesen Worten wich die Erstarrung des ersten
+Entsetzens von mir. Aufschreiend warf ich mich vor meinem Bett in die
+Kniee; meine Glieder flogen, und mein Herz klopfte, als wollte es mir
+die Brust zersprengen. Meine Mutter hielt diesen Ausbruch der
+Verzweiflung offenbar für Reue. »Na, beruhige dich, Alixchen,« sagte
+sie, mir die Hand auf den Kopf legend, eine Berührung, die mich zwang,
+ihn nur noch tiefer in die Kissen zu vergraben, »ich will die ganze
+Geschichte noch einmal als bloße Kinderei betrachten. Belügst du mich
+aber noch ein einziges Mal, so muß ich andre Saiten aufziehen.«
+
+Ich baute von nun an keine Tempel mehr. Mein äußeres Leben war das einer
+korrekten Schülerin und wohlerzogenen Tochter. In der schwülen
+Treibhausluft meines Innern aber wucherten die Wunderblumen meiner
+Träume, und berauschend umwehte mich ihr Duft, wenn ich allein war und
+zu mir selber kam. Oft hielt ich mich krampfhaft wach, bis alle
+schliefen, um dann bei der trübe flackernden Kerze noch lange am
+Schreibtisch zu sitzen, wo ich mit glühendem Kopf und frostbebendem
+Körper Verse zu Papier brachte, die nach Freiheit schrieen und nach
+Liebe.
+
+Nur der Unterricht meines Lehrers wirkte noch beruhigend auf die Stürme
+meines Innern und lenkte mein Interesse in andere Bahnen. Die
+Literaturgeschichte besonders fesselte mich mehr und mehr. Sie bestand
+nicht nur aus den Namen der Dichter, den Titeln ihrer Werke und fix und
+fertigen Urteilen über sie, mit denen ausgerüstet unsere Jugend Bildung
+zu heucheln pflegt, sie vermittelte mir vielmehr, soweit es meiner
+geistigen Entwicklung entsprach, die Kenntnis der Werke selbst. In
+kleinen gelben Heftchen brachte sie mir mein Lehrer, der nicht die
+Mittel hatte, kostbarere Ausgaben anzuschaffen. Die nordische und die
+ältere deutsche Literatur, die griechischen und römischen Klassiker
+lernte ich auf diese Weise kennen; mit der Lektüre wuchs mein Verlangen
+nach immer neuen Büchern, und statt des Weihrauchs und der Blumen für
+meinen Tempel kaufte ich mir ein Reklamheft nach dem andern. Nachdem ich
+erst den Katalog in Händen hatte, ließ es mir keine Ruhe mehr: ich mußte
+lesen, lesen -- alles lesen. Was mir der Lehrer empfahl, genügte meinen
+von Neugierde und Wissensdurst aufgepeitschten Wünschen längst nicht
+mehr, noch weniger, was mir die Eltern gaben und erlaubten. In acht
+Tagen pflegte ich meine Weihnachts- und Geburtstagsbücher auszulesen,
+und wenn ich mich auch immer aufs neue in Grubes »Charakterbilder« --
+meine Fundgrube, wie Papa sagte -- und in Gustav Freytags »Bilder aus
+der deutschen Vergangenheit« vertiefte, so füllte das alles die freie
+Zeit doch nicht aus.
+
+Andere Kinder meines Alters spielten; meine Puppen und mein Kochherd
+wurden nur dann der Vergessenheit entrissen, wenn ich Besuch hatte, was
+ich darum zumeist nur als unangenehme Störung empfand. Was hatte ich
+gemeinsames mit den »dummen Schulgöhren«? Ihren Schulklatsch verstand
+ich nicht, und ließ ich mich hinreißen, ihnen meine Interessen zu
+verraten, so lachten sie mich aus. Mama hielt es für ihre Pflicht, mir
+Verkehr mit Altersgenossen zu verschaffen, auch ich empfand ihn nur als
+eine Pflicht, die nach meiner Erfahrung stets das Gegenteil des
+Vergnügens war. Mit in die Höhe gezogenen Beinen in der Sofaecke kauern,
+vertieft in ein Buch, vor dessen Zauber die ganze Welt um mich versank,
+-- diesem Genuß glich kein andrer! Nur die ständige Angst, entdeckt zu
+werden, beeinträchtigte ihn. Denn, was ich las, -- dessen war ich sicher
+--, gehörte nicht zu der erlaubten »Mädchenlektüre«, und doch fühlte ich
+instinktiv, daß es tausendmal wertvoller war als die zuckersüßen
+Backfischgeschichten von Clementine Helm, für die sich meine Freundinnen
+damals begeisterten.
+
+In dem neuen Bezug meines alten Sofas hatte ich eine Naht aufgetrennt;
+hörte ich Schritte draußen, so verschwand mein gelbes Heft in dies
+sichere Versteck, und ich beugte mich rasch andachtsvoll über Webers
+Weltgeschichte, die auf dem Tische bereit lag. Nach und nach wurde das
+gute verschwiegene Möbel meine Schatzkammer. Da lagen sie alle friedlich
+beisammen, deren Gestalten in meinem Hirn und Herzen in tollen Tänzen
+durcheinanderwirbelten: Die Arnim und Brentano, die Hauff und Zschokke,
+die Scott und Bulwer, die Gogol und Turgenjeff. Sie ließen mich nachts
+oft nicht zur Ruhe kommen, und wenn ich schlief, verfolgten sie mich bis
+in meine Träume.
+
+Eines Winterabends war mir der Lesestoff ausgegangen. Meine Eltern
+waren nicht zu Haus; ich konnte unbemerkt zum nächsten Buchhändler
+laufen, um zu holen, wonach ich Verlangen trug. Von E. T. A. Hoffmann
+hatte ich in der Literaturgeschichte gelesen -- »das ist noch nichts für
+dich« war mir geantwortet worden, als ich, in der Meinung, es handle
+sich um Kindermärchen, den Lehrer darum gebeten hatte. Und dies »das ist
+nichts für dich« war mir längst zum Empfehlungsbrief der Bücher
+geworden. Mit »Klein-Zaches« und dem »Goldnen Topf« in der Tasche kam
+ich zurück. Dann fing ich an zu lesen. Mein Abendbrot, das man mir
+brachte, blieb unberührt, die Mahnung der Jungfer, schlafen zu gehen,
+unbeachtet. -- Saß ich nicht selbst unter dem Holunderbusch und sah die
+grüne Schlange, und hörte die klingenden Glöcklein? Grinste mir nicht
+von der Tür her das Bronzegesicht der zauberhaften Äpfelfrau entgegen?
+-- Da öffnete sich die Tür. »Wie, du bist noch nicht im Bett?!« tönte
+mir die Stimme meines Vaters entgegen. »Ich muß wohl eingeschlafen
+sein,« stotterte ich und versteckte hastig mein Buch. »So zieh dich
+rasch aus -- ich werde Mama nichts sagen -- gute Nacht.« Damit schloß er
+die Türe wieder. Ich löschte die Lampe und kroch mit den Kleidern ins
+Bett; als Mama leise eintrat, glaubte sie mich schlafend. Und dann las
+ich weiter: von Klein-Zaches mit den drei goldnen Haaren, von der
+Nachtigall und der Purpurrose, von der Lotosblume und dem Goldkäfer. Es
+ließ mich nicht los, bis ich zu Ende war, und ich lebte von da an in der
+Welt Hoffmanns, so daß mir jede Berührung der Wirklichkeit weh tat, wie
+ein Nadelstich. Schwerer als je wurde mir jetzt der Unterricht, der mir
+schon immer qualvoll gewesen war: die Musikstunde. Ich liebte die Musik;
+durch Hoffmann erschien sie mir wie ein Himmelszauber; -- schon als
+kleines Kind konnte ich stundenlang still zuhören, wenn jemand sang oder
+spielte, -- meine eigne Klimperei, bei der ich nie über den Kampf mit
+der Technik hinauskam und vor Noten und Vorsatzzeichen von der Musik
+nichts hörte, wurde mir immer unerträglicher. Vergebens bat ich Mama,
+mich meiner offenbaren Talentlosigkeit wegen davon zu befreien --
+Klavierspielen gehörte zur guten Erziehung, also bliebs dabei. Ich
+suchte mir selbst einen Ausweg: statt zur Lehrerin, ging ich spazieren,
+oder ich entschuldigte mich mit »Kopfweh«. Um niemanden von den Meinen
+zu begegnen, mußt ich dann freilich abgelegene Wege suchen.
+
+In einem regenreichen Frühjahr des Jahres 1877 war der polnische
+Stadtteil Posens, wo die Ärmsten wohnten -- die Walischei -- durch die
+aus den Ufern tretende Warthe vollkommen unter Wasser gesetzt
+worden. Krankheit und Not nahmen überhand, so daß auch in den
+Gesellschaftskreisen meiner Eltern auf dem üblichen Wege der
+Wohltätigkeitsvorstellungen Hilfe geschaffen werden sollte. Ich wirkte
+nicht mit, wie früher in Karlsruhe, -- mit dem langen, dünnen, blassen
+Mädchen war wohl kein Staat zu machen --, aber den Proben und
+Aufführungen wohnte ich bei, weil meine Mutter zu den Hauptdarstellern
+gehörte. Da erfuhr ich denn mancherlei von den Unglücklichen, denen der
+Ertrag dieser Eitelkeitsparaden zugute kommen sollte. Armut -- was wußte
+ich von ihr? Sie hatte mich bis zu Tränen erschüttert, als sie mir in
+den hungernden Sklaven Roms zur Zeit Neros, in den um Brot schreienden
+Weibern von Paris zu Beginn der großen Revolution, in den
+Jammergestalten der schlesischen Weber in den Elendsjahren Preußens
+entgegengetreten war. Aber jetzt, in der Herrlichkeit des Deutschen
+Reichs, unter dem Zepter des guten alten Kaisers -- jetzt gab es doch
+keine Armut mehr! Daß uns gegenüber in der polnischen Kneipe Tag für Tag
+Betrunkene vor der Türe saßen, daß selbst Weiber im Rausch in den
+Rinnstein fielen, erregte nur meinen Ekel, nicht mein Mitleid. Ihr
+Laster wars ja und nicht ihr Elend, dem sie verfallen waren. Ich
+beschloß, die Armut, die ich nicht kannte, zu suchen; und die Angst, die
+mich angesichts des Abenteuers zittern ließ, erhöhte noch die Romantik
+meines Unternehmens. All die phantastischen Irrwege der Helden
+Hoffmannscher Erzählungen standen mir lockend vor Augen.
+
+Es war ein naßkalter Märzmorgen, als ich, mit der Musikmappe am Arm,
+über den Wilhelmsplatz zum Markt hinunterging. Ein bekanntes Gesicht
+trieb mich in den dunkeln Dom, wo mir eine schwere Wolke von
+verbrauchter Winterluft, von Menschendunst und Weihrauch entgegenschlug.
+Die Tapsen vieler schmutziger Füße hatten den Boden mit einer schwarzen
+klebrigen Schicht überzogen. Von ein paar dicken Altarkerzen flackerte
+das Licht bläulich in den Raum, und die Züge des Priesters, der mit
+heiserem Krächzen in der Stimme die Messe zelebrierte, erschienen fahl,
+wie die eines Toten. Von unbestimmten Grauen getrieben, lief ich der
+nächsten Türe zu; kurz vorher aber glitt ich aus und fiel auf die
+Fliesen. Der zähe Schmutz blieb an Händen und Knien kleben, mühsam nur,
+unter aufsteigender Übelkeit, rieb ich ihn ab. Ein böser Anfang! dachte
+ich, als ich durch immer engere und dunklere Straßen meinem Ziele
+zustrebte. Schon sah ich hie und da, wie das Wasser aus den Kellern
+gepumpt und mit Eimern heraufgetragen wurde; dann wurden die Häuser
+immer kleiner, so daß die Dächer fast mit den Händen zu fassen waren,
+und über immer breitere Wasserrinnen vermittelten primitive Brücken den
+Übergang. In den tiefer gelegenen Gassen stand das Wasser so hoch, daß
+Flöße aus Brettern die Passanten hin und her führten. Auf den
+schwarzgelben Fluten schwammen Küchenabfälle, zerbrochene Töpfe,
+übelriechende Kehrichthaufen, in denen dürftig gekleidete Kinder, oft
+bis zu den Knieen im Wasser watend, mit schmutzigen Fingern nach
+Spielzeug suchten. Mir wars, als stiege eine Kälte an mir empor, mich
+umwindend wie eine graue, feuchte Schlange. Der gellende Ton eines
+Glöckchens ließ mich zur Seite sehen: ein Chorknabe schwang es, dem der
+Geistliche folgte. Vor der Tür des grellgelben Häuschens, hinter der sie
+verschwanden, drängten sich Weiber und Kinder, barfüßig, schmutzig,
+zerlumpt; nur ein paar faltige rote Röcke und bunte Kopftücher zeugten
+von einstigen, besseren Zeiten. Ihr Schwatzen wurde allmählich zum
+Gekreisch, ihre Gebärden machten, je lebhafter sie wurden, den Eindruck
+konvulsivischer Zuckungen; aus allen Häusern der Straße strömten sie
+zusammen, -- wie war es nur möglich, daß ihrer so viele darinnen wohnen
+konnten?! Angstvoll hatte ich mich in einen Torweg verkrochen, als sich
+neben mir eine Tür knarrend öffnete: rückwärts torkelnd, fluchend und
+schimpfend kam ein Mann heraus, eine Flasche als Waffe gegen seine
+Verfolger schwingend. Da klang der gellende Ton des Glöckchens wieder,
+und jeder andere verstummte vor ihm; die schwatzenden Weiber, die
+betrunkenen Männer und die johlenden Kinder sanken in die Kniee, wo
+irgend ein Stein oder eine Stufe aus dem Wasser hervorsah. An ihnen
+vorüber schritt der Gebete murmelnde Priester; schwarz und schwer
+breitete sich sein Talar hinter ihm auf den Fluten aus.
+
+Ein Mann und ein Weib folgten ihm, hager und gebückt alle beide; in
+wirren Strähnen hingen strohgelbe Haare ihr in das von Weinen
+aufgedunsene Gesicht; ihre grauen knochigen Finger umklammerten den
+Griff des schmalen schwarzen Schreines, den sie gemeinsam trugen; ein
+Myrtenkränzlein aus Papier, mit dem Bilde der schwarzen Madonna war sein
+einziger Schmuck. Stumm, wie die beiden, folgte ihnen die Menge, -- ein
+langer Zug des Elends, den der Betrunkene, die leere Flasche zwischen
+den gefalteten Händen, schwankend beschloß. Kein Laut war mehr hörbar,
+als das Plätschern des Wassers zwischen den vielen, vielen Füßen der
+langsam Schreitenden.
+
+Wie aus bösem Traum erwachend, fuhr ich zusammen. An der weit offnen Tür
+des Hauses, aus dem der Sarg getragen worden war, mußt ich vorüber. Es
+war ganz dunkel darin, und doch sah ich, daß etwas am Boden hockte und
+mich anstarrte mit großen, leeren Augen, -- die Armut. -- So rasch meine
+zitternden Beine mich tragen konnten, entfloh ich. Frostgeschüttelt warf
+ich mich zu Hause auf mein Bett. Am nächsten Morgen erkannte ich
+niemanden mehr.
+
+Viele Wochen schwebte ich zwischen Tod und Leben. Noch Jahre darnach
+konnte ich mich nicht ohne Entsetzen der wilden Fieberträume erinnern,
+die mich damals gepeinigt hatten. Den Dom sah ich, und der Priester am
+Altar war ein Gerippe, und in den unergründlich tiefen schwarzen Schlamm
+des Bodens zogen mich lauter schmutzige Knochenhände; -- durch gelbe
+Fluten lief ich atemlos, hinter mir endlose Scharen von Männern und
+Weibern, denen Hunger, Betrunkenheit, Mordlust aus den rot unterlaufenen
+Augen glühte. Dazwischen tanzte Klein-Zaches auf der Bettdecke und
+bohrte mir seinen winzigen Degen ins Gehirn, und Serpentine mit den
+großen blauen Augen ringelte sich erstickend um meinen Hals.
+
+»Wie kommt sie nur zu solchen Phantasien?« hörte ich dazwischen meine
+Mutter sagen, die in aufopfernder Pflichterfüllung nicht von meinem
+Lager wich.
+
+»Wie ists nur möglich, daß die Malaria sie packen konnte?« sagte wohl
+auch der Arzt, der dem mörderischen Sumpffieber nur unten bei den
+Überschwemmten begegnet war.
+
+Ich schwieg, viel zu müde, viel zu apathisch zum Sprechen; denn einer
+großen Schwäche machte das Fieber Platz. Ich glaubte fest an meinen
+baldigen Tod, wunschlos, widerstandslos. Auch durch meiner Mutter
+gleichmäßig-freundliches Lächeln, das so beruhigend auf einen Kranken
+wirken konnte, wollte ich mich nicht täuschen lassen. Die Angst, die
+sich in meines Vaters Zügen malte, wenn er an mein Bett trat, schien mir
+mehr der Wahrheit zu entsprechen.
+
+Und doch erholte ich mich, und langsam, ganz langsam kam mit der
+wachsenden Kraft die Freude am Leben wieder. Als ob er mir Dank schuldig
+wäre, weil ich lebte, so überschüttete mich mein Vater nun mit
+Geschenken: erwartungsvoll sah ich schon nach der Tür, wenn ich mittags
+den Schritt des Heimkehrenden hörte; Bücher, Blumen, Obst, Bonbons, --
+irgend etwas brachte er mir täglich. Wie gut waren überhaupt die
+Menschen, sie kümmerten sich alle um mich: jeden Tag hatte mein Lehrer
+den Arzt vor dem Hause erwartet, um direkte Nachricht zu haben, und
+jetzt schickte er mir seine schönsten Bücher; kein Regiment in der Stadt
+gab es, dessen Musikkorps der Genesenden nicht ein Ständchen gebracht
+hätte, und der gute alte General Kirchbach kam selbst in mein
+Krankenzimmer, um mir eine -- Puppe auf die Kissen zu legen.
+
+»Mit der Puppe, Mama, soll mal mein Töchterchen spielen!« sagte ich
+lächelnd, als er weg war, -- denn mit dem Spielen war es für mich
+endgültig vorbei.
+
+Nach drei Monaten sollte ich aufstehen; als ich mich grade erheben
+wollte und, von heftigem Schwindel gepackt, nach dem Bettpfosten griff,
+sah ich Blut auf dem Laken. Ich erschrak, denn ich wollte gesund sein.
+Aber schon hatte der Arzt mich umfaßt und sanft in die Kissen
+zurückgedrückt. Er lachte: »Also so stehts mit dem kleinen Fräulein! Die
+Kinderschuhe hat es richtig ausgetreten.« Verständnislos sah ich die
+Mutter an, der das Blut in die Schläfen gestiegen war. »Alles Nötige
+werden Sie Ihrer Tochter erklären,« damit wandte er sich zum Gehen. »Sie
+ist erst zwölf Jahre, Herr Doktor --« entgegnete sie zögernd. »Tut
+nichts -- tut nichts -- so schwere Krankheiten bedeuten immer eine
+große Umwälzung«; er drückte mir nochmals die Hand: »Nun stehen wir
+hübsch ein paar Tage später auf.«
+
+»Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Alixchen,« damit wandte Mama sich
+mir wieder zu, als er fort war, und erklärte mir mit wenig Worten meinen
+Zustand. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte mich: nun war ich also wirklich
+kein Kind mehr, -- und meine Träume suchten die Zukunft: so kam denn
+endlich das Leben, das lockende, zauberreiche!
+
+Während meiner Krankheit hatte ich mich so sehr gestreckt, daß kein
+Kleid mir mehr paßte. In den Wochen, die ich noch zwischen Bett und Sofa
+verlebte, trug ich meiner Mutter schleppende Schlafröcke, was mir sehr
+gefiel. Mein Bild im Spiegel, das mir so lange gleichgültig gewesen war,
+suchte ich wieder; und so blaß und so schlank ich auch war, es gefiel
+mir nicht übel: die großen dunkeln Augen, die schwarzen Locken über der
+weißen Stirn, die schmalen Hände mit den rosigen Fingerspitzen, -- wer
+weiß, ob nicht doch noch etwas aus mir werden konnte!
+
+Als wir mit unsern Koffern zum Bahnhof fuhren, von wo der Zug uns wieder
+gen Süden tragen sollte, hatte ich kein einziges verbotenes Buch mit
+durchzuschmuggeln versucht; mich verlangte es nicht, zu lesen, denn
+leben -- leben und genießen -- wollte ich!
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+Nach monatelangem Aufenthalt in den Bergen kehrten wir heim. Der Wind,
+der um den weißen Schaum der Gießbäche und über das blauschimmernde
+Firneis fegt, bringt soviel frische Kühle zu Tal, daß krankhafte
+Fieberhitze ihm nimmer stand hält; und der friedliche Klang der
+Herdenglocken und das nächtliche Zirpen der Grillen im Gras zaubert den
+ruhigen Schlaf zurück, auch wenn er noch so lange untreu war. Ein
+überraschtes »Aber, Alixchen!« von einem strahlenden Lächeln begleitet,
+war alles, was mein Vater zu sagen vermochte, als er uns in Posen wieder
+in Empfang nahm. Am nächsten Tage besuchten uns Verwandte, die dorthin
+versetzt worden waren; meine Kusine, die so alt war wie ich, ein kleines
+unansehnliches Geschöpfchen im kurzen Kinderkleid, sah staunend zu mir
+empor und sagte: »Du bist ja ein Fräulein!« Bald darauf kam mein Lehrer.
+Wortlos blieb er einen Augenblick an der Türe stehen. »Wie -- wie geht
+es -- Ihnen?« kam es dann zögernd über seine Lippen. Noch nie hatte er
+mich bis dahin »Sie« genannt! Der Sepp von Grainau fiel mir ein, den ich
+in diesem Sommer nur mit Mühe dazu gebracht hatte, bei dem gewohnten
+»Du« zu bleiben, und der Hans Guntersberg, der wieder in Garmisch
+gewesen war, und dessen huldigende Gedichte mir nur darum keinen
+Eindruck machten, weil ich die unreine Haut und die Schweißhände ihres
+Verfassers nicht vergessen konnte.
+
+Ich war wirklich kein Kind mehr! Stillschweigend packte ich all mein
+Spielzeug in einen großen Korb und ließ ihn auf den Boden schaffen.
+
+Die neugewonnene Lebenskraft war wie ein Motor, der das ganze Räderwerk
+der Maschine auf einmal in Bewegung setzt: mit Feuereifer stürzte ich
+mich über meine Studien; dabei galt mir jeder Tag für verloren, an dem
+ich nicht ein Gedicht gemacht oder an irgend einem meiner Dramenentwürfe
+gearbeitet hätte, zugleich aber schmückte ich mich mit Vergnügen für die
+Tanzstunde, und genoß die Erlaubnis, an der Geselligkeit im Hause der
+Eltern teilzunehmen, mit vollen Zügen...
+
+Da liegen sie vor mir mit vergilbtem Umschlag und verblaßter Schrift,
+die alten Aufsatzhefte jener Tage, in denen ich vom Lehrer gestellte
+oder selbstgewählte Themen behandelte: kindischer Unsinn und frühreife
+Weisheit in buntem Gemisch. Daß meine Ansichten denen des Lehrers oft
+widersprachen, beweisen seine kritischen Randbemerkungen; trotzdem
+findet sich meist ein »Gut« oder »Recht gut« darunter, -- als ein
+Zeugnis für seine Objektivität mehr als für die Richtigkeit meiner
+Auffassungen. Meine Frondeurnatur, die mich dazu trieb, allem, was ich
+hörte, zunächst einmal meinen Widerspruch entgegenzusetzen, zeigt sich
+fast in jeder dieser Arbeiten. Während mein Lehrer z. B. Schiller über
+alles liebte, pries ich Goethe; so heißt es in einem Aufsatz über die
+Balladen der beiden Dichter: »Goethe ist ein Naturdichter, das heißt
+ein Dichter von Gottes Gnaden. Daß das Werk, welches er schafft, ein
+Kunstwerk sein wird, ist ihm die Hauptsache. Schiller dagegen ist von
+andrer Art, denn ihm ist das Werk nur ein Mittel zum Moralpredigen,« --
+hier steh ein »Oh!!« des Lehrers daneben -- »das sieht man an allen
+seinen Balladen, denen alle möglichen Lehren zugrunde liegen: Der Gang
+nach dem Eisenhammer lehrt, daß Gott die Unschuld beschützt; der Kampf
+mit dem Drachen, daß der Sieg über sich selbst größer ist als der über
+das Ungeheuer; die Bürgschaft und Ritter Toggenburg zeigen den Wert der
+Treue, und die Glocke ist fast ganz ein Lehrgedicht. Vergleichen wir
+damit Goethes Erlkönig, der nicht einen reflektierenden Gedanken
+enthält, aber den Hergang so plastisch malt, daß wir ihn mit erleben,
+oder seine prachtvollste Ballade, Die Braut von Korinth, woraus uns der
+vernichtende Gegensatz des Heidentums gegenüber dem Christentum deutlich
+entgegentritt,« hier steht ein Fragezeichen, »so sehen wir ein, daß
+Goethe mehr ein Dichter und Schiller mehr ein Prediger ist.« -- An einer
+andren Stelle sage ich über den Meistersang, den mein Lehrer sehr
+schätzte: »Er war trocken und langweilig und zeigte deutlich den
+Gegensatz des braven, aber engherzigen Handwerkertums gegenüber der
+ritterlichen Bildung der Minnesänger«; und über Luther, für den mein
+Lehrer mich trotz aller Mühe nicht erwärmen konnte, heißt es: »Er hat
+das große Verdienst, die Macht des Papsttums gebrochen zu haben, aber
+seine Roheit, sein Unverständnis für die Kunst hat seiner Kirche den
+Charakter des Gewöhnlichen und Nüchtern-Häßlichen aufgeprägt«, --
+daneben steht: »Der Kölner Dom?« »Dürer?« »Bach?« -- In den zahlreichen
+historischen Aufsätzen schwelgte ich förmlich im »Tyrannenhaß«. In einer
+Arbeit von nicht weniger als vierundsechzig Seiten, die die politischen
+Umwälzungen in Europa vom Dreißigjährigen Krieg bis zur französischen
+Revolution zum Gegenstand hatte, suchte ich nachzuweisen, »wohin
+ungerechte Regierung, Volksbedrückung, Verachtung alles Göttlichen führt
+... Schlechte, nur auf ihr Vergnügen bedachte Fürsten, eine verdorbene
+Aristokratie, ein armes, durch übertriebene Aufklärungsschriften
+irregeleitetes Volk standen sich gegenüber. Alles bereitete eine Zeit
+vor, die schrecklich, aber notwendig war.« Unter den Fürsten der Neuzeit
+beehrte ich Friedrich Wilhelm III. mit meinem ganz besondern Zorn, den
+»die Taten seiner Untertanen berühmt gemacht haben, und der sich dadurch
+bei ihnen bedankte, daß er sein Versprechen brach ...« Stein feierte ich
+als den »Retter des Vaterlandes, der in Frieden erreichen wollte, was
+der Zweck der französischen Revolution gewesen war.«
+
+Häufig pflegte mein Vater meine Aufsätze einer Kritik zu unterwerfen,
+die fast immer dem Stil, sehr selten nur der Gesinnung galt. Nach
+rückwärts radikal zu sein, wie sein Töchterchen, sich für vergangene
+Völkerfreiheitskämpfe zu begeistern, sich über die Schandtaten der
+Fürsten, die lange schon moderten, zu entrüsten, widersprach im
+allgemeinen nicht den Ansichten der Offizierskreise, in denen wir
+lebten. Sie befanden sich damals, besonders in der Provinz, in einem
+scharfen Gegensatz zu den Ideen und Gewohnheiten, die an unsern
+Fürstenhöfen herrschten. Der Luxus galt als verächtlich, die Ehrbarkeit
+eines einfachen Familienlebens als größtes Gut. Das persönliche
+Verhältnis, in dem der unbemittelte Linienoffizier noch oft zum Soldaten
+stand, war die Brücke des Verständnisses für viele Wünsche und
+Bedürfnisse des Volks. Mit wieviel Heftigkeit hörte ich oft darüber
+reden, daß es »oben« an der nötigen Sorge für vorhandene Not fehle, daß
+das »Hofgeschmeiß« vor lauter Lustbarkeit die preußische Tradition der
+Pflichterfüllung immer mehr vergesse. Als mein Vater einmal von
+irgendeiner Meldung aus Berlin zurückkam, vermochte kein warnendes »Aber
+Hans!« meiner Mutter, keiner ihrer bedeutungsvollen Seitenblicke auf
+mich seine Empörung zu besänftigen, die sich in drastischen Erzählungen
+über das, was er gehört und gesehen hatte, Luft machte. Der zunehmende
+Einfluß der Finanzkreise, die Demoralisierung der Garde durch ihre
+Intimität mit »Theaterprinzessinnen« und ihre Verschwägerung mit
+»Börsenjobbern«, der unpreußische Prunk der Hoffeste, die
+Vetternwirtschaft, wo es sich um Avancements handelte, -- das alles
+wurde immer wieder besprochen, und ein »Da wird noch was Gutes dabei
+herauskommen« blieb der Refrain. Aber Hand in Hand mit dieser abfälligen
+Kritik derer »oben«, ging eine schroffe Verurteilung jeder
+Auflehnungsversuche derer, die »unten« sind. Das patriarchalische
+Verhältnis war das Ideal, was dagegen verstieß, ein Verbrechen. So war
+mein Vater ein grimmiger Feind des großindustriellen Unternehmertums, --
+Worte wie »Ausbeuter« und »Blutsauger« hörte ich oft von ihm --, mit
+derselben Heftigkeit aber verurteilte er die Ausgebeuteten und
+Ausgesogenen, die sich selbst Recht verschaffen wollten. Beide standen
+nach seiner Auffassung auf demselben Standpunkt materiellen
+Lebensgenusses; nur daß die einen ihn besaßen, ihn bis zum letzten
+Tropfen auskosten wollten, die andern mit allen Mitteln um seinen Besitz
+kämpften. Inhalt und Ziel des Lebens war für beide gleich; -- so schien
+es auch mir nach allem, was ich hörte und las, darum habe ich bei all
+meiner Begeisterung für die Freiheitshelden der Geschichte, die
+Sozialdemokraten nicht mit ihnen zu identifizieren vermocht, und meine
+Abneigung stieg zu fanatischem Abscheu, als Kaiser Wilhelm, der für uns
+alle das geweihte Symbol der Einheit und Größe Deutschlands war, von
+Hödel bedroht und von Nobiling verwundet wurde.
+
+Oben auf dem Fort Winiary, wo ein großer schattiger Kasinogarten die
+Posener Offizierskreise im Sommer zu vereinigen pflegte und ich, die
+verwöhnte Tochter des allmächtigen Korpschefs, mit den Erwachsenen
+Krocket und Boccia spielt, saßen wir gerade fröhlich um den Kaffeetisch,
+als ein blutjunger Leutnant atemlos auf uns zugestürzt kam. »Herr
+Oberst, Herr Oberst --« mehr brachte er nicht heraus, die dicken Tränen
+liefen ihm über die Wangen. »Zum Donnerwetter, was gibts denn?«
+herrschte mein Vater ihn an. »Seine Majestät unser allergnädigster
+Kaiser --« er versuchte stramm zu stehen wie zur Meldung, aber die Knien
+zitterten ihm -- »ist -- ist erschossen.« Mit einem wilden Aufschluchzen
+brach er ab. Mein Vater wurde aschfahl. »Das ist nicht wahr,« schrie er.
+Stumm reichte ihm der Unglücksbote ein halb zerknülltes Papier, -- das
+Extrablatt. Aus dem ganzen Garten waren inzwischen die Menschen
+zusammengelaufen, Soldaten und Offiziere, Männer und Frauen, jung und
+alt. Alle weinten. Mein Vater allein stand wie erstarrt zwischen ihnen,
+nur das stahlblaue Funkeln seiner Augen verriet, wie es in ihm aussah.
+Wortlos, von jener gemeinsamen Empfindung getrieben, die uns angesichts
+erschütternder Ereignisse stets beherrscht: daß etwas geschehen müsse --
+irgend etwas, das die gräßliche Spannung löst --, eilten wir alle dem
+Ausgang zu. Als wir uns der Stadt näherten, -- aus den Fenstern der
+ersten Häuser wehten vereinzelt schon schwarze Tücher, vom Turm der
+Garnisonkirche läuteten die Glocken --, und wir die weite Sandfläche des
+in der Sonne glühenden Kanonenplatzes betraten, kam uns ein Mann mit
+einem Stelzbein entgegen, auf dem abgetragnen Arbeitsrock ein sichtlich
+in aller Eile befestigtes eisernes Kreuz. »Der Kaiser lebt, der Kaiser
+lebt,« rief er, eine neue Depesche hochhaltend. Wir hatten das Neue,
+Überraschende noch kaum gefaßt, als er seinen schäbigen Hut zwischen die
+harten Fäuste preßte: »Lieber Vater im Himmel«, -- alle Mützen flogen
+von den Köpfen, alle Hände falteten sich --, »schütze unsern guten
+Kaiser!«
+
+Mein Vater war in jenen Tagen in unbeschreiblicher Aufregung; mitten im
+Gespräch oder bei der Lektüre konnte er auffahren und zähneknirschend
+murmeln: »Aufhängen soll man die Kerle -- einen neben den andern!« Ich
+aber verkroch mich in mein Zimmer und versuchte die große Erschütterung
+dadurch zu bemeistern, daß ich sie in Worte faßte. In Versen und in
+Prosa brachte ich meine Empfindungen zu Papier, und eines Morgens legte
+ich meinem Vater das Niedergeschriebene auf den Schreibtisch. Seine
+Freude war so groß, daß er es kopieren ließ und Bekannten und Freunden
+zeigte; auch mein Lehrer, der entzückt schien, verbreitete es. Wenn auf
+einen Punkt konzentrierte, fieberhaft gesteigerte Empfindungen die
+Massen beherrschen, so wird von ihnen stets begrüßt, was diesen Gefühlen
+Ausdruck verleiht. So kommts, daß oft künstlerisch Wertloses in
+aufgeregten Zeiten Bedeutung erlangt; so kam es wohl auch, daß meine
+Verse mich über den engern Kreis der Freunde hinaus bekannt machten.
+Begegnete man mir schon anders als sonst dreizehnjährigen Mädchen, weil
+ich erwachsen aussah und hübsch und meines Vaters Tochter war, so umgab
+man mich jetzt mit einer Treibhausluft, in der Eitelkeit und Hochmut wie
+Tropenpflanzen wuchern konnten. In der Tanzstunde, die ich besuchte,
+nahm ich die Huldigungen der Gymnasiasten entgegen, die nicht nur meiner
+frischen Jugend galten, sondern auch den literarischen Leistungen, die,
+wie ich erfuhr, in Gestalt meiner Aufsätze durch meinen Lehrer in der
+Klasse bekannt wurden. In den häuslichen Gesellschaften und auf dem Fort
+Winiary suchten die jungen Offiziere die Unterhaltung des
+»interessanten« Backfischs, und meine einzige Freundin Mathilde -- jenes
+blasse Kusinchen, das mich bei der Heimkehr begrüßt hatte, -- war eine
+Bewunderung für mich. Meine Mutter war die einzige, die ernüchternd
+wirken wollte. Da sie aber meine Interessen in Bausch und Bogen als
+»dummes Zeug« bezeichnete und die Methode hatte, jede, auch die reinste
+Flamme meiner Begeisterung mit dem kalten Wasser ihrer sarkastischen
+Kritik zu begießen, so erreichte sie das Gegenteil von dem, was sie
+bezweckte, und entfremdete mich ihr dadurch vollkommen. So allein wurde
+es möglich, daß sie ahnungslos neben mir hergehen konnte, als die
+schwersten körperlichen und geistigen Kämpfe mich zu vernichten
+drohten.
+
+Seit meiner Krankheit hatte ich allerlei Beschwerden, die sich von Jahr
+zu Jahr steigerten. Blutwallungen, die mir den Kopf zu sprengen drohten
+und den Herzschlag bis in die Kehle hinauf trieben, hatten mich schon in
+Grainau gequält. Instinktiv war ich dann auf die Berge gelaufen, oder
+war beim ersten Morgengrauen heimlich im eisigen Wasser des Rosensees
+untergetaucht. In Posen aber war ich fast immer zu Haus; die kleinen
+Spaziergänge, das in Rücksicht auf meinen stets empfindlichen Hals nur
+bei Sonnenschein und Windstille gestattete Schlittschuhlaufen halfen mir
+natürlich nichts; turnen durfte ich nicht, weil das -- wie Mama sagte --
+die Hände breit macht; und die Tanzstunde mit der guten Bowle, an der es
+nie fehlte, steigerte nur das Quälende meines Zustands. Etwas Heißes,
+Dunkles beherrschte mich mehr und mehr; abends, wenn ich schlafen
+wollte, flogen Glutwellen über meinen Körper. Meine tobenden
+Freiheitsgesänge machten Liebesliedern Platz, die ich aus Scham und
+Furcht zu tiefst in meinem Schreibtisch versteckte. Ihr Gegenstand war
+zuerst ein Phantasiegebilde, ein erlösender Lohengrin, wie in meiner
+frühen Kindheit, bald aber wurden es Menschen von Fleisch und Blut.
+Nicht aus der Schar meiner Tanzstundenfreunde wählte ich sie, sondern
+aus dem Bekanntenkreise meiner Eltern. Die Schönheit gab dabei allein
+den Ausschlag, mit allem übrigen -- dem Glanz der Geburt, dem
+überragenden Geist und der Güte des Herzens -- schmückte sie meine
+Phantasie verschwenderisch. Ganze Romane erlebte ich in wachen Träumen;
+alle Stadien der Leidenschaft empfand ich: Abschied und Wiedersehen,
+Eifersucht und Untreue, Besitz und Verlust; und mit fieberheißen Händen
+füllte ich Bücher um Bücher mit meinem erträumten Glück und Leid.
+
+Wie sie mich seltsam anmuten, die alten Poesiealbums mit ihren bunten
+geschmacklosen Einbänden: Asche, die von verpufftem Feuerwerk stammt.
+Der Schmerz bildet überall den Grundakkord, die Qual der Verlassenheit
+kommt immer wieder zum Ausdruck, und der Wunsch, zu sterben, steigert
+sich oft zu brennendem Verlangen nach dem Tod:
+
+ Einstmals blühtest du wunderbar,
+ Rose, du prächtige, süße,
+ Sandtest zum Himmel blau und klar
+ Duftend-berauschende Grüße.
+
+ Einstmals füllte der Liebe Macht
+ Mich mit Wonnen und Schmerzen,
+ Und es strahlte des Lenzes Pracht
+ Wider in meinem Herzen.
+
+ Jetzt ist die Rose verwelkt, verweht,
+ Herbstlich umbraust mich das Wetter;
+ Eines nur blieb, das den Sturm besteht:
+ Dornen und dürre Blätter.
+
+ * * * * *
+
+ Im dunklen Buchengang
+ Zur schönen Frühlingszeit
+ Hast du mich heiß geküßt
+ Voll Liebesseligkeit.
+
+ Im dunklen Buchengang
+ Fielen die Blätter ab,
+ Als ich zum Abschied dir
+ Weinend die Hände gab.
+
+ Im dunklen Buchengang
+ Liegt unter Eis und Schnee,
+ Begraben all mein Glück --
+ Wach blieb mein Weh.
+
+ * * * * *
+
+ Ich möchte zu Roß durch die Wälder jagen,
+ Ich möchte, der Meersturm umbrauste mich,
+ Ich möchte jauchzen und schluchzend klagen,
+ Zu deinen Füßen, ach, stürbe ich!
+
+ Ich möchte entfliehen und dich vergessen,
+ Den Lippen fluchen, die ich dir bot.
+ Ich möchte noch einmal ans Herz dich pressen,
+ Und dann umarmen den Bräut'gam Tod.
+
+ * * * * *
+
+In artigen Reimen mit wohlerzogenen Gefühlen stellte ich zu gleicher
+Zeit meine arme Muse zu allen Festtagen in den Dienst der Familie und
+nahm für mein »hübsches Talent« die allgemeine Anerkennung entgegen. Nur
+eine erfuhr zuweilen von den Geheimnissen meines Schreibtisches:
+Mathilde, das blasse Kusinchen, die allsonntäglich zu mir kam, und zu
+der ich lief, wenn das Herz mir gar zu voll war. Sie war, als ich sie
+kennen lernte, noch ein Kind ihrem Alter, ihrer geistigen und
+körperlichen Entwicklung nach, und ich hätte sie nicht beachtet, wenn
+sie mir nicht in einem Moment begegnet wäre, wo ich einen Menschen
+brauchte, wie der schmelzende Schnee auf den Bergen ein Bett, in das er
+sich ergießen kann. Ich hatte kein andres Interesse für sie als das, daß
+sie mich aufnahm. Abends in der Dämmerstunde, oder in den Zeiten, wo ich
+zu Bett lag, halb verhüllt von den weißen Vorhängen, während das rote
+Licht der Ampel über mir strahlte, mußte sie bei mir sitzen. Dann
+erzählte ich von meiner Liebe, meiner Sehnsucht. Was ich im Traum
+erlebte, gestaltete sich vor ihr wie Wirklichkeit. Sie glaubte mir
+alles, sie weinte und seufzte mit mir; und je mehr sie es tat, desto
+mehr verwischte sich vor mir selbst Phantasie und Leben, desto mehr
+verirrte ich mich in den Irrgängen meiner Einbildungen.
+
+Um jene Zeit war es, daß meine Mutter eine neue Kammerjungfer
+engagierte, die, im Gegensatz zu der entlassenen, auch mich anzuziehen
+und zu frisieren hatte. Sie war ein hübsches, blondes Ding mit einem
+unschuldigen Madonnengesichtchen, Tochter einer ehrbaren Beamtenwitwe,
+die durch Zimmervermieten ihre große Familie erhielt und ihre Kinder in
+strenger Zucht und Frömmigkeit erzog, weshalb sie meiner Mutter ganz
+besonders empfohlen worden war. Anna -- so hieß unsre neue Hausgenossin
+-- fand besonderes Gefallen an mir und wiederholte mir täglich, wie
+hübsch ich sei, wobei sie es nicht unterließ, jeden einzelnen meiner
+Vorzüge zu preisen und mir alle Mittel anzugeben, um sie ins rechte
+Licht zu setzen. Ich war eitel, aber es war mir von selbst nie
+eingefallen, auf gut sitzende Korsetts, enge Schuhe und feine Strümpfe
+irgend ein Gewicht zu legen. Jetzt wurde ich Annas gelehrige Schülerin,
+und freudeheiß stieg mir das Blut ins Gesicht, wenn sie nicht müde
+wurde, mir zu versichern, daß der und jener mich bewundernd ansähe, daß
+ich die Herzen einmal im Sturm erobern werde. Allmählich nahm sie die
+Gewohnheit an, bei mir zu bleiben, wenn ich nicht schlafen konnte und
+die Eltern nicht zu Hause waren. Flink, wie ihre geschickten Hände die
+Nadel führten, um aus einem scheinbaren Nichts immer noch ein hübsches,
+kokettes Etwas zu machen, war ihre Zunge im Erzählen. Aber sie kannte
+nur ein Thema: Liebesgeschichten, die sie gelesen oder erfahren hatte.
+Von der unnahbaren Höhe ihrer Tugend herab war ihre Entrüstung über das,
+was sie berichtete, eine ganz ehrliche, und doch schwelgte sie mit kaum
+versteckter Lüsternheit in ihren Schilderungen. Und so riß sie nach und
+nach einen Schleier nach dem andern von all den Dingen, die mir trotz
+meiner heimlichen Lektüre doch unbekannt geblieben waren. Schon als Kind
+hatte sie durchs Schlüsselloch die Zimmerherrn ihrer Mutter beobachtet,
+hatte Damen aller Art bei ihnen aus und ein gehen sehen. Sie selbst, --
+das erzählte sie voll Stolz --, war niemals den Verführungskünsten der
+Herren erlegen, wie die dummen, jungen Dinger, die sie mit aufs Zimmer
+nahmen. Aber all die guten Sachen, den Sekt und die Austern, hatte sie
+servieren helfen und neugierig beobachtet, wie die Mädels sich an Liebe
+und Alkohol berauschten. Freilich -- nachher mußten sie ihre Dummheit
+büßen; denn sobald das Kind da war, ließen die Herren sie laufen. -- Das
+Kind! -- Noch fühle ich, wie etwas Schreckhaft-Geheimnisvolles mir die
+Glieder lähmte, als mir, der Dreizehnjährigen, dies Wort aus Annas Mund
+feuerrot entgegensprang. -- Das Kind! -- An den Storch glaubte ich
+längst nicht mehr, aber wie die Liebe in meinen Augen immer von
+überirdischem Strahlenglanz umgeben erschien, so schwebte um das
+Geheimnis des der Liebe entspringenden Lebens ein mystischer
+Heiligenschein.
+
+Wie Anna mich auslachte, mit einem hellen quiekenden Lachen, als ich
+zögernd meine Unkenntnis gestand! Und wie das junge Ding mit den naiven
+blauen Frageaugen mich aufklärte! -- -- Sie war so vertieft in alle
+Details der Beschreibung, daß sie gar nicht bemerkte, wie das Entsetzen
+mich schüttelte und meine Brust vor verhaltenem Schluchzen flog; das
+fröhliche Kichern, mit dem sie ihre Rede begleitete, verriet ihre Freude
+an ihrem Gegenstand, so daß sie schließlich ratlos und kopfschüttelnd
+vor der Verzweiflung stand, die mich gepackt hatte. »Am Ende« -- so
+mochte sie denken -- »fürchtet sie jetzt schon den Moment des Gebärens,
+dessen Analen ich beschrieb?!« Und mit noch größrer Zungenfertigkeit
+erzählte sie von den Vorsichtigen und Klugen, die sich vor solchen
+Konsequenzen zu hüten verstehen, und von den Dirnen, die in die Gefahr
+gar nicht kommen und von den Männern darum am meisten begehrt werden.
+
+Ich hörte zu weinen auf und horchte hoch auf. O, die Kleine war gut
+orientiert! War sie doch oft genug zu Botengängen benutzt worden und zur
+intimsten Kenntnis des Lebens und Treibens der Halbwelt gelangt! Feine
+Damen gab es darunter, die in Samt und Seide gingen und sich teuer
+bezahlen ließen. »Bezahlen?!« -- ich kämpfte schon wieder mit den
+Tränen. »Liebe bezahlen?!« Anna kicherte: »Liebe! --« und sie verfiel
+wieder in Detailschilderungen. »Pfui! -- Pfui!« schrie ich auf und
+preßte die Hände um den Kopf; mir war, als brächen dröhnend die Mauern
+über mir zusammen. Halb von Sinnen richtete ich mich auf im Bett und
+stieß mit der Faust gegen das Mädchen, so daß es aufheulend vom Stuhle
+fiel.
+
+Mama erkundigte sich am nächsten Morgen teilnehmend um ihr
+geschwollenes Gesicht; sie sprach von »Zahnschmerzen«, ich schwieg.
+Nicht ein Wort von dem, was geschehen war, hätte ich zu sagen vermocht.
+Ich ging umher, und meine Scham war wie ein glühender Mantel, der meinen
+ganzen Körper dicht umschloß. Ich wurde die Bilder nicht los, während
+der Ekel mir die Kehle zukrampfte. Das -- das war Liebe -- Liebe, von
+der ich geträumt hatte, an der alle meine Gedanken sich entzündeten, die
+alle Dichter als das Schönste und Höchste priesen! -- Ich wollte nicht
+mehr daran denken, -- ich wollte nicht. Aber dann stiegen neue Fragen
+auf, und Zweifel, und an leise Hoffnungen klammerten sich die alten
+Ideale. An wen hätte ich mich wenden sollen, als an Anna, vor der die
+Scham am leichtesten überwunden war? »Nur die ganz schlechten, ganz
+gemeinen Männer, nur die Verbrecher sind -- so?« Welch eine Erlösung
+wäre ein Ja gewesen! Aber Anna unterstrich und erläuterte das »Nein«
+doppelt und dreifach. Und nur in ganz hellen, frohen Stunden, -- sie
+waren selten genug --, triumphierte mein Idealismus, und die alte
+Schöpferkraft meiner Phantasie schuf sich reine Lichtgestalten.
+
+Wenn aber nachts mein Herz und mein Blut mir keine Ruhe ließen, so
+verfolgten mich unablässig die gräßlichsten Träume. Verzweifelt kämpfte
+ich dagegen an, -- wie um meiner zu spotten, kamen sie mit doppelter
+Gewalt wieder. Am Tage war ich totmüde, dunkle Ringe umschatteten meine
+Augen, und die Überzeugung meiner abgrundtiefen Schlechtigkeit machte
+mich scheuer und verschlossener noch als vorher. Wenn meine Mutter
+abends an mein Bett trat und, dunkelrot im Gesicht, mit drohender Stimme
+sagte: »Hüte dich vor der geheimen Sünde!« so verstand ich sie zwar gar
+nicht, senkte aber doch schuldbewußt die Augen.
+
+Mehr als je war ich damals mir selbst überlassen, aber nur ein Zufall
+ließ mich erfahren, warum. Das Flüstern um mich her, das vielsagende
+Lächeln, all die weißen Linnenhaufen, die genäht und sorgfältig vor mir
+versteckt wurden, hatten mich schon neugierig gemacht. Daß Mama vielfach
+leidend war, jeder Frage danach aber auswich und tief errötete, wenn sie
+dennoch antworten mußte, erschien mir auch seltsam genug. Ein Satz in
+einem Brief der Großmutter, den man mir achtlos zu lesen gegeben hatte,
+klärte mich auf: Mama war guter Hoffnung. »Guter Hoffnung«, -- beinahe
+komisch kam mir der Ausdruck vor, wenn ich sie beobachtete: ihre
+zusammengezogenen Brauen, ihre aufeinandergepreßten Lippen, die sich
+kaum mehr zu einem Lächeln öffneten, ihr Klagen und Seufzen. Nein, die
+Hoffnung war für sie keine gute. Es schien fast, als schäme sie sich
+ihrer, da sie sie sorgfältig verbarg. Und in Gedanken an Annas
+Erzählungen errötete auch ich, wenn ich in Gegenwart der Eltern daran
+dachte. Sie sprachen niemals von dem, was sich vorbereitete; und erst
+als mein Schwesterchen geboren worden war, wurde mir das Ereignis vom
+Vater angekündigt. Seine rührende Freude wirkte ansteckend auf mich, und
+es gab Stunden, wo der Gedanke an das hülflose kleine Wesen in der Wiege
+wie eine Erlösung über mich kam: hier war eine Aufgabe für mich, die
+mich mir selbst entreißen konnte. Und hielt ich es in den Armen, das
+süße weiße Körperchen, so gingen mir die Augen über vor zärtlicher
+Liebe, und heimlich schwor ich mir zu: dich will ich behüten vor all der
+Qual, die ich erlitt. Aber die polnische Amme, ein leidenschaftliches
+Geschöpf, das mit der angstvollen eifersüchtigen Liebe wilder Tiere an
+dem Säugling hing, als wäre er ihr eignes Kind, tat, was sie konnte, um
+mich fernzuhalten; auch meine Mutter schien mich in der Kinderstube
+ungern zu sehen, und so ging ich bald wieder meine einsamen äußeren und
+inneren Wege.
+
+Eines Tages, als ich verspätet wie immer an den Frühstückstisch trat, --
+ich pflegte erst gegen Morgen tief und ruhig zu schlafen --, belehrte
+mich ein Blick auf die Eltern, daß sie eine heftige Auseinandersetzung
+gehabt hatten. Das war mir zwar nichts Neues, denn Mama sah neuerdings
+häufig verweint aus, und Papa wurde beim kleinsten Anlaß heftiger denn
+je, -- an der kurzen Begrüßung merkte ich aber, daß ich die Ursache
+ihres Streits gewesen sein mußte.
+
+»Da lies!« sagte mein Vater und reichte mir ein längeres Schreiben mit
+der Unterschrift unseres Garnisonpfarrers. Es lautete:
+
+ Posen, den 6. Januar 1879
+Hochverehrter Herr Oberst!
+
+Sie werden es mir nicht verübeln können, wenn ich als Seelsorger unsrer
+Gemeinde, dem das ewige Heil aller ihrer Glieder am Herzen liegt, im
+Interesse Ihrer Tochter diese Zeilen an Sie richte.
+
+Schon seit längerer Zeit habe ich beobachtet, und aus vielen mir
+zugegangenen Berichten wohlwollender Männer und Frauen schließen
+können, welch ernster Gefahr Alix entgegen geht. Das vielleicht durch
+eine größere geistige Begabung irre geleitete Kind hat viel von jener
+echten jungfräulichen Demut und Bescheidenheit, die der Schmuck jeder
+christlichen Familie ist, verloren, und ihre junge Seele dem Teufel des
+Hochmuts zu überliefern schon begonnen. Ich hätte mich aber trotzdem in
+Ihre Entschlüsse und die Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin noch nicht
+einzumischen gewagt, wenn mir nicht kürzlich eine Mitteilung gemacht
+worden wäre, deren Richtigkeit ich nicht anzweifeln kann. Darnach hat
+Ihre Tochter einem jungen, noch ganz unverdorbenem Mann gegenüber
+erklärt, daß der Opfertod unsers Herrn und Heilandes ihr nicht
+anbetungswürdig erscheine; jeder Mensch würde freudig zu sterben bereit
+sein, wenn er wüßte, daß er dadurch die Menschheit erlösen könne. Für
+einen Gottessohn, der seiner ewigen Seligkeit gewiß sei, wäre dies also
+keine bewundernswürdige Tat. Sie fügte noch hinzu, daß Unzählige aus
+weit geringeren Ursachen ruhig in den Tod gegangen wären.
+
+Es ist mir, Gott sei Lob und Dank, mit des Herrn gnädiger Hilfe
+gelungen, den jungen in seiner christlichen Überzeugung durch Ihre
+Tochter erschütterten Mann auf den Weg des Glaubens zurückzuführen;
+nunmehr aber habe ich die Pflicht, Sie, hochverehrter Herr Oberst,
+inständig zu bitten, Ihr irregeleitetes Kind dem Einfluß eines
+Seelsorgers anzuvertrauen, der diese Menschenblume in das Licht des
+Gotteswortes rückt, und sie von all dem bösen Ungeziefer befreit, das an
+ihr nagt.
+
+Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich in persönlicher Unterredung
+meinen Rat zu einer Tat werden lassen könnte.
+
+Genehmigen Sie, hochverehrter Herr Oberst, den Ausdruck meiner
+ausgezeichneten Hochachtung,
+
+ mit der ich verbleibe
+ Ihr ganz ergebener
+ Eberhard
+ Pfarrer
+
+»Nun, was sagst du dazu?« fragte mein Vater, der immer ungeduldiger mit
+den Fingern auf dem Tisch trommelte, so daß Gläser und Tassen klirrten.
+
+»Gemein!« war das einzige, was ich zunächst hervorbringen konnte.
+
+»Genau dasselbe habe ich gesagt!« polterte Papa. »Ein netter
+unverdorbener Jüngling, der mit frommen Augenverdrehen hingeht und meine
+Tochter beim Herrn Oberbonzen verpetzt. Ich hätte Lust, dem Kerl die
+Hosen stramm zu ziehen und dem Eberhard die blauen Flecke als einzige
+Antwort zu zeigen!«
+
+»Du solltest aber doch erst hören, lieber Hans, wie weit Alix schuldig
+ist,« warf Mama erregt ein.
+
+»Ich habe gesagt, was er schreibt, und bin bereit, es ihm ins Gesicht zu
+sagen!« rief ich und warf trotzig den Kopf zurück.
+
+Mama preßte die Lippen zusammen, was ihrem schönen Gesicht etwas
+Grausames gab. »Da hörst du es,« sagte sie; »das sind die Früchte der
+religionslosen Erziehung. Du hast es nicht anders gewollt, und ich habe
+um des lieben Friedens willen nachgegeben. Jetzt aber hab ich genug,
+übergenug davon! Pfarrer Eberhard werde ich antworten.«
+
+Damit ging sie hinaus. Mein Vater sprang wütend auf. Mich packte die
+Angst: nur keine neue Szene! Und all die Sünden fielen mir ein, deren
+ich mich tatsächlich schuldig fühlte. Ich trat Papa in den Weg. »Sei
+nicht böse, bitte, bitte nicht,« bat ich schmeichelnd, »es ist
+vielleicht wirklich das Beste, wenn ich Religionsstunden bekomme. Ich
+bin ja doch bald vierzehn Jahre alt. Und schaden werden sie mir gewiß
+nichts!« Mein Vater, der mit ein wenig Zärtlichkeit gelenkt werden
+konnte wie ein Kind, zog mich gerührt in die Arme, als ich, um meiner
+Bitte Nachdruck zu geben, meine Wange auf seine Hand preßte. »Und der
+Bengel, das schwatzhafte alte Weib?« brummte er noch. »Den strafe ich
+mit Verachtung,« lachte ich.
+
+Meine Mutter trat wieder ein. »Hier ist meine Antwort,« sagte sie: »Sehr
+geehrter Herr Pfarrer! Sie sind unsern Wünschen zuvorgekommen. Die
+rasche Entwicklung unsrer Tochter macht eine frühere Einsegnung nötig,
+als es sonst üblich ist. Wir haben sie daher auf das nächste
+Jahr festgesetzt und bitten Sie, uns mitzuteilen, wann der
+Vorbereitungsunterricht beginnt, zu dem wir Ihnen unsre Alix anvertrauen
+wollen. Auf die Klatscherei des jungen Mannes einzugehen, widerspricht
+unsern elterlichen Empfindungen ...
+
+»Ich habe damit nicht etwa dich, sondern unseren guten Ruf in Schutz
+genommen,« fügte sie rasch, zu mir gewendet hinzu.
+
+Bald darauf begann der Unterricht. Sehr befriedigt, von einer neuen
+frohen Hoffnung erfüllt, kam ich aus der ersten Stunde nach Hause.
+»Meine Türe und mein Herz stehen Euch jederzeit offen,« hatte der
+Pfarrer gesagt, »Ihr könnt mit allem, was Euch bedrückt, mit Euren
+Leiden und Zweifeln zu mir kommen. Ich werde mich immer bemühen, Euch zu
+verstehen und Euch zu helfen.« Die harmlosen Kindergesichter meiner
+Mitschülerinnen -- Offizierstöchter wie ich, die natürlich von den
+übrigen Gemeindekindern gesondert unterrichtet wurden -- legten mir
+unwillkürlich während unseres Zusammenseins bei ihm Schweigen auf. Um so
+häufiger wollte ich allein zu ihm gehen. Herzklopfend trat ich das erste
+Mal bei ihm ein. In vagen Andeutungen, die gewiß nur ein guter und
+gütiger Physiologe hätte verstehen können, sprach ich ihm von den bösen
+Gedanken und häßlichen Phantasien, die ich vergebens zu vertreiben
+versuchte. Ein »hm, hm,« und »so, so« und ein erstauntes Kopfschütteln
+war zunächst die einzige Antwort. In sichtlicher Verlegenheit, die
+Handflächen nervös aneinanderreibend ging er im Zimmer auf und ab, blieb
+abwechselnd vor dem Gummibaum am Fenster, dem Stahlstich des
+Gekreuzigten über seinem Schreibpult und der Sammlung von
+Familienphotographien auf dem Bücherbrett stehen, die er eingehend zu
+betrachten schien, um sich endlich, wie unter dem Einfluß eines raschen
+erleuchtenden Gedankens, mir wieder zuzuwenden. Über den Tisch hinweg
+streckte er mir beide Hände entgegen, fleischige, weiche Hände, die sich
+anfühlten, als hätten sie weder Knochen noch Muskeln. Eine physische
+Abneigung ließ mich zögern, die meinen hineinzulegen. »Nun, mein Kind,«
+sagte er und hob sie auffordernd, »habe Vertrauen zu Deinem Seelsorger!
+Wie ich jetzt Deine Hände fasse,« -- seine runden Finger legten sich um
+die meinen, als wären es lauter nackte, klebrige Schnecken, -- »so wird
+Gott die flehend zu ihm erhobenen Hände deiner Seele ergreifen und dich
+aufrichten vom Staube! Das sind Versuchungen des Bösen, denen du
+ausgesetzt bist. Je mehr dein Glaube lebendig werden wird, je inniger du
+zu beten lernst, desto sicherer wirst du ihn überwinden.« -- Ich zog
+leise meine Hände aus den seinen und rieb sie unter dem Tisch heimlich
+an meinem Kleide ab. Er fing an, mich zu examinieren, ob, wie
+oft und wann ich bete, ob ich zu unserm Herrn und Heiland in
+kindlich-vertrauendem Verhältnis stünde, ob ich fleißig die Bibel läse.
+Nach kurzem Kampfe gegen ein starkes inneres Widerstreben antwortete ich
+ihm, wie es der Wahrheit entsprach, war ich doch zu ihm gekommen,
+beseelt von dem aufrichtigen Wunsch, erlöst zu werden von meinen Qualen,
+getrieben von der Sehnsucht, mir einen neuen, dauernden Tempel bauen zu
+können, wo ich zu einem lebendigen Gott zu beten vermöchte! Er runzelte
+die Stirn, »das ist ja sehr, sehr traurig und unerhört für eine
+christliche Familie!« rief er aus. Ich beeilte mich, die Eltern zu
+verteidigen: »O wir beten immer bei Tisch, Mama liest jeden Morgen eine
+Andacht, und in die Kirche gehen wir auch jeden Sonntag!« -- »Um so
+unbegreiflicher, daß ein so junges Kind, wie du, der Verführung des
+Bösen erliegen konnte.« Ein neuer Gedanke schien ihm durch den Kopf zu
+gehen, scharf sah er zu mir hinüber; »Was liest du denn?« frug er. Ich
+erschrak; sollte ich ihm das Geheimnis meiner schönsten Stunden
+verraten?! Ein tiefes, schmerzliches Aufatmen -- es mußte sein -- mußte
+sein, um meines Heiles willen! Zu jener Zeit hatte ich angefangen, mir
+aus Papas Bücherschrank Goethes Werke zu holen, -- einen Band nach dem
+anderen. Wenn ich mich darin vertiefte, so war ich am sichersten vor mir
+selbst: wie hatte ich mich für Iphigenie begeistert, um Gretchen
+geweint, und Werthers Leiden hatte ich mir gekauft, um sie immer in der
+Tasche tragen zu können. Ich pflegte sie heraus zu ziehen, wie der
+katholische Priester sein Brevier, wenn er sich vor Anfechtungen
+schützen will.
+
+»Das ist ja unerhört, unerhört!« unterbrach der Pfarrer meine Beichte,
+und seine Stimme überschlug sich, wie in der Kirche, sobald er von der
+Fleischeslust sprach. »Da es dein ernster Wille zu sein scheint, dich zu
+bessern,« sagte er dann so laut, als hätte er die Rekruten der ganzen
+Garnison vor sich, »so wirst du tun, was ich von dir verlangen muß:
+du rührst diese verwerflichen Bücher während der Zeit des
+Konfirmandenunterrichts nicht mehr an. Du liest nur, was ich dir gebe.
+Du kommst jedesmal eine Viertelstunde früher zur Stunde zu mir als die
+andern Kinder, damit sie in ihrer Unschuld nicht gefährdet werden.
+Versprichst du mir das?« Ich senkte stumm den Kopf; noch einmal legten
+sich seine Finger um die meinen, dann war ich entlassen. Wie zerschlagen
+schlich ich nach Hause. Aber ich war fest entschlossen, zu tun, was er
+verlangt hatte.
+
+Am nächsten Morgen gab es zu Haus eine böse Szene: Pfarrer Eberhard
+hatte meinen Eltern über meinen Besuch Bericht erstattet und sie
+aufgefordert, sein »schweres Rettungswerk« zu unterstützen. Ich sah
+wohl, daß meines Vaters Zorn sich mehr gegen den Pfarrer, als gegen mich
+richtete, aber wie immer, wenn Mama mit ihrer ganzen Energie auftrat,
+überließ er ihr das Feld, mir nur unter heftigem Händedruck ein
+»verdammte Pfaffen« zuflüsternd. Alle meine Schubfächer wurden
+untersucht, alle Bücher konfisziert, die in die Rubrik: Lehrbücher und
+Backfischliteratur nicht hineinpaßten; der Schlüssel vom Bücherschrank
+wurde abgezogen, -- nur die verborgenen Schätze im Sofa blieben
+unentdeckt. Ich befand mich in einer unbeschreiblichen Aufregung: Der
+erste Mensch, an den ich mich hilfesuchend gewandt, vor dem ich mein
+Inneres enthüllt hatte, wie vor keinem bisher, vertraute mir so wenig,
+daß er mich überwachen ließ wie einen Verbrecher! Auch mit meinem Lehrer
+hatte Mama an demselben Tage eine längere Unterredung, von der er sehr
+rot und verschüchtert zu mir kam. Er umging von da an noch vorsichtiger
+als sonst jede Berührung religiöser Fragen. Er wurde überhaupt immer
+scheuer vor mir und war seltsam zerstreut.
+
+Eine unüberwindbare Bitterkeit ließ diese erste Erfahrung mit dem
+Pfarrer in mir zurück; das persönliche Vertrauen war ein für allemal
+vernichtet, aber ich hoffte trotzdem, daß das, was er lehrte, mir
+Befreiung bringen würde. Und ich klammerte mich an diese Hoffnung. Ich
+las in den Büchern, die er mir gab, und in der Bibel, ich klagte mich
+vor mir selber an, wenn ich eine rechte Andachtsstimmung nicht
+festhalten konnte und immer wieder an den Widersprüchen und
+Unwahrscheinlichkeiten, die mir aufstießen, Anstoß nahm.
+
+War die Bibel von Gott inspiriert, so mußte die Schöpfungsgeschichte
+wahr sein; und war sie es, warum lehrte man uns dann die
+naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Gelehrten kennen? Bei
+allen Wundern, an die ich glauben sollte, stießen mir dieselben
+Bedenken auf; und ebensowenig kam ich über die Lehre hinweg, daß der
+Gott der Liebe, der Vater im Himmel mit dem grausamen, rachsüchtigen
+Jehova des Alten Testaments identisch sein sollte. Furchtbarer aber als
+alles bedrückte mich der Zweifel an der Erlösung der Menschheit durch
+Christi Leiden und Sterben. Weder die Sünden noch die Sorgen der
+Menschheit waren seit seinem Tode aus der Welt verschwunden, und jeder
+büßte, -- wie schmerzvoll empfand ich es selbst --, nach wie vor seine
+eigene Schuld. Ich sprach meine Zweifel und Bedenken offen aus -- wir
+waren ja ausdrücklich dazu aufgefordert worden! -- und erwartete
+sehnsüchtig, widerlegt, in unanfechtbarer Weise eines Besseren belehrt
+zu werden. Pfarrer Eberhard wurde immer nervöser, sobald ich den Mund
+auftat, und die andern starrten mich an, und stießen sich kichernd mit
+den Ellbogen, wenn ich eine Frage stellte. Schließlich wurde mir ein für
+allemal verboten, in ihrer Gegenwart meine Gedanken laut werden zu
+lassen; ich benutzte zunächst die Viertelstunde des Alleinseins dazu,
+für die der Pfarrer immer seltener Zeit zu haben vorgab, und besuchte
+ihn schließlich außerhalb der Stunde, wenn meine Zweifel mir gar keine
+Ruhe mehr ließen. Er wurde von einem Mal zum anderen ungeduldiger, und
+warf mir meinen »geistigen Hochmut«, der mich verführe, mit den
+unzulänglichen Mitteln menschlichen Verstandes an göttliche Geheimnisse
+zu rühren, in immer heftigerer Weise vor. Auf all mein Warum? war seine
+Antwort: darüber darf man nicht nachdenken, denn der Glaube allein
+versetzt Berge, der Glaube allein macht selig, und so wir nicht werden
+wie die Kinder, werden wir das Reich Gottes nicht schauen. -- Danach muß
+geistiges Streben, Forschungstrieb, Wissenschaft ein Werk des Teufels
+sein, -- folgerte ich. Unsere Unterhaltungen -- das sah ich endlich ein
+-- waren zwecklos. Ich gab sie auf. In dem Bedürfnis, mich
+auszusprechen, machte ich meine Kusine, die ich schon mit meinen
+Herzensgeschichten aus allem Gleichgewicht gebracht haben mochte, zur
+Vertrauten meiner religiösen Kämpfe. Es waren Monologe, die ich vor ihr
+führte, und ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, daß ich gar
+nicht bemerkte, wie das arme Ding unter mir litt: wie eine Blume war
+sie, die in der Knospe welkt, wenn sie zu früh dem Schutz des Schattens
+und der Kühle entrissen wird.
+
+Zuweilen frug mein Vater mich nach meinen Stunden; er, der menschlicher,
+feiner dachte, und der mich so lieb hatte wie niemand sonst, hätte mir
+vielleicht helfen können, wenn nicht eine tiefe, innere Entfremdung
+zwischen uns eingetreten wäre. Hatte seine aufbrausende Heftigkeit, die
+zwar weniger im Verkehr mit mir, als der Dienerschaft und den
+Untergebenen gegenüber hervortrat, ein inniges Verhältnis zwischen uns
+schon nicht aufkommen lassen -- jedes laute Wort ließ mich erzittern --,
+so machte meine allmähliche Erkenntnis unserer pekuniären Lage, als
+deren Ursache ich ihn allein ansah, mich hart und unnahbar. Ich sah, wie
+oft meine Mutter weinte, wenn unerwartete Rechnungen kamen; ich las in
+den Briefen meiner Großmutter an Mama, die mir zuweilen gegeben wurden,
+zwischen den Zeilen, wie die Geldsorgen auf der ganzen Familie lasteten.
+Ich fing an zu begreifen, warum Mama sich über Geschenke ihres Mannes
+nicht freute, was mir früher so herzlos erschienen war. Es kam vor, daß
+ich ihr darin schon nachahmte, und erst ein Blick auf Papas trauriges
+Gesicht, auf seine vor Enttäuschung zuckenden Lippen, löste meine
+natürliche Freude über hübsche Dinge aus. Mitleid aber ist kein Mittel
+des Vertrauens, besonders nicht bei einem Kinde und einem Weibe; Mitleid
+erhebt über den Bemitleideten; das Kind, wie das Weib, muß emporsehen
+können zu dem Menschen, dem sein ganzes Vertrauen gehören soll. So blieb
+ich allein, auch in diesem, dem schwersten Kampf meiner Kindheit.
+Niemand half mir, selbst Gott nicht, so oft und so verzweifelt ich ihn
+auch anrief.
+
+Um diese Zeit war es, daß meine englische Lehrerin mir von Shelley
+erzählte, der mit sechzehn Jahren schon seiner antichristlichen
+Ansichten wegen von der Schule entfernt worden war, später aus denselben
+Gründen England verlassen mußte und, kaum dreißig Jahre alt, in den
+Wellen des Adriatischen Meeres seinen Tod fand. Sein Schicksal ergriff
+mich tief. Der Überzeugung Stellung, Wohlleben, Familie und Heimat
+opfern, -- das erschien mir stets als ruhmwürdigste Tat.
+
+Mit der Versicherung, daß ich sie doch nicht verstehen würde, gab mir
+die lange, blonde Miß, die für mich bis dahin nur die Verkörperung der
+Grammatik gewesen war, auf mein dringendes Bitten Shelleys Werke.
+
+»Queen Mab« war das erste, was ich aufschlug. In einer Nacht las ich es
+zweimal. Mir war, als wäre ich selbst Janthe, der Geist, dem die
+Feenkönigin des Weltalls wundervolle Pracht, die Schauer der
+Vergangenheit, das Elend der Gegenwart und das verklärte Bild der
+Erdenzukunft zeigte: Ich sah die Reichen schwelgen, die Armen hungern;
+die Toten sah ich auf den Schlachtfeldern, hingemordet um der Ländergier
+der Könige willen, und sah, wie die Menschen einander zerfleischten wie
+wilde Tiere, im Namen ihrer Götter! Und dann verklangen in weiter Ferne
+all die Laute der Qual, das Weinen der Verlassenen, das Stöhnen der
+Hungernden, Verzweiflungsschreie und Todesröcheln. »Die Wirklichkeit des
+Himmels, die selige Erde« zeigte sich, die Welt der Zukunft, wo niemand
+vergebens mehr nach Brot verlangen, niemand nach Erkenntnis verdursten,
+wo die Menschheit sich selbst erlöst haben wird aus der Hölle irdischer
+Verdammnis. »Spirit, behold thy glorious destiny!«, -- rief Mab, die
+Königin, es mir nicht zu? Galt nicht mir ihre Mahnung: Fürchte dich
+nicht! Führe den Krieg gegen Herrschsucht und Falschheit und Not, schlag
+durch die Wildnis den Pfad hinüber in die Welt, die da kommen soll!
+
+Ich empfand Shelleys Atheismus nicht, ich fühlte nur, daß er den Gott
+verleugnete, an den auch ich nicht zu glauben vermochte, und wie eine
+Offenbarung wirkte auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher
+Idealismus, sein Vertrauen in der Menschen eigene Kraft, sein feuriger
+Appell an die Macht des Willens.
+
+In langen Nächten voll innerer Kämpfe suchte ich mir klar zu werden über
+den Weg, den ich zu gehen hatte, und baute mir langsam, Stein um Stein
+mühselig zusammentragend, die Kirche meiner Religion auf. Ein heißes
+Glücksgefühl erfüllte mich, als ich mein Werk vollendet sah und der
+Entschluß in mir fest stand, mich zu keinem andern Glaubensbekenntnis
+als zu meinem eigenen zwingen zu lassen, -- koste es, was es wolle.
+
+Um die Weihnachtszeit 1879 besuchte ich Pfarrer Eberhard und erklärte
+ihm, daß ich außerstande sei, das Apostolikum vor dem Altar zu
+beschwören, daß er mich daher von der Einsegnung dispensieren möge.
+Zugleich legte ich ihm eine schriftliche Zusammenfassung meiner
+religiösen Ansichten vor, -- ein persönliches Glaubensbekenntnis, das
+jeder der Konfirmanden niederzuschreiben verpflichtet war. Es lautet:
+
+ »'Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und der
+ Erden.'
+
+Ich glaube nicht an diesen Gott. Ich glaube nicht, daß er in sechs Tagen
+die Welt geschaffen hat, daß er ihm zum Bilde den Menschen schuf. Ich
+glaube der Wissenschaft mehr als den unbekannten Fabelerzählern des
+Alten Testaments.
+
+ 'Ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, unsern
+ Herrn, der empfangen ist von dem Heiligen Geiste, geboren von der
+ Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben
+ und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden
+ ist von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten
+ Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu
+ richten die Lebendigen und die Toten.'
+
+Ich glaube nicht an diesen Christus, denn ich halte es für heidnisch, an
+eine Menschwerdung Gottes zu glauben. Ich glaube weder an seine
+wunderbare Geburt, noch an seine Höllen-, noch an seine Himmelfahrt,
+noch an seine Wunder.
+
+ 'Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche,
+ die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des
+ Fleisches und ein ewiges Leben.'
+
+Ich glaube nicht an diesen Heiligen Geist, ich glaube nicht an eine
+heilige, christliche Kirche, die mordet, brennt, verfolgt, steinigt, die
+Seelen martert, die Wahrheit leugnet. Ich glaube nicht an Vergebung der
+Sünden, weil Sünde sich nur durch bessere Taten vergibt. Ich glaube
+nicht an Auferstehung des Fleisches, denn das ist wissenschaftlich
+unmöglich.
+
+Ich glaube an eine höhere Gewalt, die wir Gott nennen, die der Ursprung
+des ersten Lebens ist, die die Kraft des Werdens in das erste Atom
+gelegt hat. Mein Geist ist ein Teil dieses Gottesgeistes.
+
+Ich glaube an Jesus, als an einen edlen Menschen, der zuerst das Gebot
+der Menschenliebe predigte und danach lebte. Ich glaube, daß er in
+Niedrigkeit geboren wurde, damit wir daran erkennen sollen, daß die
+Geburt nicht den Menschen macht, sondern eigene Arbeit und eigenes
+Streben. Christi Gebot der Menschenliebe wird die nach ihm benannte
+Kirche richten.
+
+Ich glaube an den Geist Gottes, der sich in allem Schönen und Großen
+offenbart, der nach dem Tode des Körpers in andern fortlebt, sei es auf
+oder über der Erde. Die Kirche und ihre Dogmen halte ich für menschliche
+Einrichtungen, denen ein freier Geist sich nicht zu beugen braucht.
+
+Sollte dennoch die mir gelehrte christliche Religion die wahre sein, so
+hoffe ich das mit der Zeit zu erkennen. Wenn es ein Verbrechen ist, daß
+ich mich jetzt von ihr lossage, so scheint es mir ein noch größeres
+Verbrechen zu sein, mich zu ihr zu bekennen, wo mein Herz nichts davon
+weiß.«
+
+Pfarrer Eberhard war zuerst keines Wortes mächtig. Dann aber entlud sich
+sein Zorn schrankenlos über mir. Jede Selbstbeherrschung vergessend,
+schlug er mit Anklagen, Vorwürfen, Drohungen auf mich ein, -- es war wie
+eine Bastonnade! Aber ich ergab mich nicht. Durch Wochen und Monate
+setzte der Kampf zwischen uns sich fort, von dem niemand wußte als wir
+beide. War es Rücksicht, oder war es die Sorge, seine Niederlage
+einzugestehen, -- er weihte diesmal auch meine Eltern nicht ein.
+Zwischen jeder Zusammenkunft sammelte ich mein Rüstzeug aus meinem
+verborgenen Bücherschatz, der um vieles gewachsen war, und grübelte zu
+gleicher Zeit über die Ausführung abenteuerlicher Pläne. Gab der Pfarrer
+nicht nach, so war ich entschlossen, zu fliehen. Um mir das nötige Geld
+zu verschaffen, schickte ich Gedichte und Aufsätze an die
+verschiedensten Zeitschriften -- natürlich vergebens! -- und verkaufte
+in obskuren Läden ein Schmuckstück nach dem anderen. Als ich gerade im
+Begriffe stand, das Kostbarste, -- eine alte Brillantbrosche, die meine
+Großmutter mir einmal geschenkt hatte, -- fortzutragen, hörte ich im
+Vorübergehen einen heftigen Wortwechsel zwischen meinen Eltern.
+Aufhorchend blieb ich stehen: es handelte sich wieder einmal um eine
+unbezahlte Rechnung. Mama schluchzte; Papa rief aufgeregt: »Ich brauche
+mir deine Vorwürfe nicht gefallen zu lassen. Ich saufe nicht, ich rauche
+nicht, ich rühre keine Karte an, ich habe keine Weibergeschichten -- was
+willst du eigentlich von mir?!« -- »Du hast immer zwei Pferde zu viel
+im Stall --« antwortete Mama heftig, »und Alix Privaterziehung, die
+Tausende verschlingt, war auch überflüssig --.« »Laß mir das Kind in
+Frieden!« brauste Papa auf -- »die einzige Freude, die ich habe, laß ich
+mir nicht vergällen -- --.«
+
+Jedes Wort traf mich ins Herz; mir hatten sie so große Opfer gebracht --
+mir, die ich das Schwerste über sie heraufbeschwor; -- ich war meines
+Vaters einzige Freude -- ich, die ihm das Herz brechen wollte! -- Ich
+lief davon, verkaufte mein Schmuckstück und kam hochrot und atemlos nach
+Hause zurück, nur von dem Gedanken getrieben, den armen Eltern eine Last
+abzunehmen. Sie saßen versöhnt nebeneinander und sahen mich verwundert
+an, als ich Mama hastig ein paar Goldstücke in die Hand drückte. »Was
+soll denn das?« frug sie, und »Woher hast du das Geld?« mein Vater. Ich
+erschrak; ich hatte in meinem Eifer an die Möglichkeit dieser Frage
+nicht gedacht. Sollte ich die Wahrheit sagen? Das hieße auch meine
+übrigen Verkäufe verraten und meine Flucht von vornherein unmöglich
+machen. Mein Blick fiel auf das »Daheim« mit dem Anfang einer neuen
+Erzählung an der Spitze. »Es ist -- es ist -- das Honorar für -- diese
+Geschichte,« kam es mühsam und stockend von meinen Lippen. Nun war ich
+im Netz meiner eigenen Lüge gefangen, und die Furcht vor den Folgen
+hinderte mich, es zu zerreißen. Die Eltern glaubten mir; mein Vater
+umarmte mich voll Rührung, und wenn er auch meine flehentliche Bitte,
+das Geheimnis meiner Autorschaft zu wahren, zu erfüllen versprach, so
+war er doch viel zu stolz auf den Erfolg seiner Tochter, als daß er
+nicht wenigstens den nächsten Freunden und Verwandten davon Mitteilung
+gemacht hätte. Die Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. Eine
+Kusine meines Vaters war mit der Verfasserin des Romans, den ich vorgab,
+geschrieben zu haben, befreundet und frug ihn brieflich nicht wenig
+erstaunt nach dem Zusammenhang dieser seltsamen Historie. Es kam zu
+einem furchtbaren Auftritt. Mein Vater kannte sich selbst nicht mehr.
+»Mein guter Name! Mein guter Name!« stöhnte er immer wieder und lief wie
+wahnsinnig im Zimmer hin und her. »Ich muß mich erschießen! Ich überlebe
+die Schande nicht!« schrie er dazwischen, während Mama still vor sich
+hin weinte. Stumm und regungslos stand ich mitten im Zimmer und rührte
+mich auch dann nicht, als Papa mit funkelnden, rot unterlaufenen Augen
+vor mir stehen blieb und die hoch erhobene Faust klatschend auf meine
+Wange niedersausen ließ.
+
+Stumpfsinnig vor mich hinbrütend, lag ich ein paar Tage im Bett. Niemand
+kümmerte sich um mich als die Anna, die mir auch mitleidig in die
+Kleider half, als Pfarrer Eberhards Besuch mir gemeldet wurde. Mit
+gefalteten Händen und tief bekümmerter Miene trat er ein. Daß sie keinem
+echten Gefühle Ausdruck gab, sah ich an den Lichtern leisen Triumphs,
+die in seinen Augen glänzten: Endlich war der Sieg sein -- endlich! Er
+hielt mir eine wohlvorbereitete Rede, die ich mit keiner Silbe
+unterbrach. Das furchtbare Ereignis habe hoffentlich, so sagte er,
+meinen Hochmut gebrochen und mich belehrt, daß Gott seiner nicht spotten
+ließe. Noch sei es Zeit für mich, umzukehren vom Wege der Sünde, und
+demütig dem zu folgen, der allein Wahrheit, Licht und Leben wäre. »Nach
+all dem Kummer, den du deinen Eltern bereitet hast, wirst du ihnen die
+Schande nicht antun, vom Altar des Herrn fern bleiben zu wollen.« Ich
+schwieg auch jetzt, trotz der beziehungsreichen Pause, die er eintreten
+ließ. »Du wirst die Zeit bis dahin zur Einkehr, zur Buße, zum Gebet
+verwenden.« Wieder eine Pause. »Und wie Gott im Himmel seine Hand nicht
+von dir abziehen, und Jesu Christi Blut auch dich rein waschen wird von
+deinen Sünden, so werden deine lieben Eltern dir verzeihn. Ich werde mit
+Gottes Hilfe die Schwergeprüften aufrichten und dich ihnen wieder
+zuführen.« Ich schwieg noch immer. »Wirst du tun, was ich, der Diener
+deines Herrn und Heilandes, von dir fordere?« Ein mechanisches »Ja« war
+meine Antwort.
+
+Während der Wochen bis zu meiner Einsegnung lebte ich wie ein Automat;
+ich fühlte weder Reue noch Kummer, und die Gedanken waren wie
+ausgelöscht. Nur als ich zum erstenmal das lange weiße Konfirmandenkleid
+anprobierte, zuckte mir ein krampfhafter Schmerz durch den Körper. Den
+Mund kaum zu einem Lächeln verziehend, begrüßte ich die vielen
+Verwandten, die zu dem feierlichen Tage nach Posen kamen: Onkel Walter
+aus Pirgallen mit seiner jungen Frau, die eben auf der Hochzeitsreise
+waren, Onkel Kleve aus Bayern, Tante Klotilde aus Augsburg, die
+befriedigt die »würdige Stimmung« ihrer Nichte anerkannte. Als aber am
+Sonnabend vor Pfingsten, einem herrlichen lachenden Maientag, vor dem
+ich mich verschüchtert in mein dämmriges Zimmer verkrochen hatte, die
+Türe aufging und wie getragen von einem breiten Strom von Licht, meine
+Großmutter in ihrem Rahmen erschien, war mir plötzlich, als fiele ein
+schwerer, eiserner Panzer von mir ab, der mich eingezwängt und aufrecht
+erhalten hatte. »Großmama, liebe Großmama,« rief ich und brach
+aufschluchzend vor ihr zusammen. Ach, warum war ich nicht zu ihr
+geflüchtet, warum kam sie erst jetzt, -- jetzt, da es zu spät war?! Tief
+erschüttert schloß sie mich in ihre Arme, und ich weinte mich aus. Aber
+dann kam Mama, und der Abend im Kreise der Familie, und die Nacht ...
+
+Widerstandslos ließ ich mich am nächsten Morgen schmücken, nahm den
+Strauß weißer Rosen in die Hand und stieg mit den Eltern in den Wagen.
+Die ganze Straße stand voll Menschen, -- wie bei einem Begräbnis, dachte
+ich. Auch vor der Kirche sammelten sich die Neugierigen in ihren bunten
+fröhlichen Festtagskleidern. Durch die Fenster flutete die Sonne, so daß
+ich geblendet die vom Weinen heißen Augen schloß, als ich zwischen Vater
+und Mutter auf rotem Teppich durch die weite, weiße Säulenhalle schritt.
+Die Glocken läuteten, brausend setzte die Orgel ein, laut dröhnten über
+mir die kräftigen Stimmen des Soldatenchors. Jeder Ton schnitt mir
+messerscharf in die Seele. Es blitzte und funkelte ringsum von Uniformen
+und Orden und raschelte von seidenen Kleidern. Ich sah nicht auf. Da
+schlug ein ganz leiser, weher Laut, wie »Alix« an mein Ohr. Ich hob den
+Kopf. Es war mein Lehrer, der mich mit einem Blick ansah, -- einem
+Blick, der mir rätselhaft schien. Und dann standen wir vor dem Altar. Er
+war ringsum mit einem Wald von Palmen umgeben, ohne eine einzige Blume
+dazwischen. »Wie beim Begräbnis,« dachte ich noch einmal. Ich hörte
+nicht, was der Pfarrer sprach; mir war plötzlich, als stünde ich dicht
+vor dem Felsentor des Höllentals, und der brausende Bach drohte, mich zu
+verschlingen. Mein Strauß entfiel mir; der ihn aufhob, war mein Lehrer;
+ich begegnete seinen Augen dabei, -- seltsam, wie er mich ansah!
+Verwirrt blickte ich um mich; meine Mitschülerinnen sprachen schon das
+Apostolikum, und ein strenger Blick des Pfarrers mahnte mich an meine
+Pflicht. Einem aufgezogenen Uhrwerk gleich, sagte ich, ohne zu stocken,
+die drei Artikel auf. Und währenddessen fühlte ich die vielen hundert
+Augen auf mich gerichtet, -- gespannt, höhnend, triumphierend. Darnach
+war es einen Atemzug lang totenstill, ehe der Pfarrer von jeder
+einzelnen das persönliche Bekenntnis zu den gesprochenen Worten abnahm
+und den Segen erteilte. Ich war die letzte. Er erhob die Stimme
+bedeutungsvoll, als er sich mir zuwandte. Sage nein -- sage nein --
+klang es in mir. Angstvoll, hilfesuchend sah ich um mich: auf das
+gütige, verzeihende Lächeln meines Vaters fiel mein Blick, auf den
+leisen liebevollen Gruß meiner Mutter -- -- --
+
+»Bekennst du dich von ganzem Herzen zu unserm allerheiligsten Glauben,
+so antworte: Ja.« -- -- --
+
+Irgendwo fiel ein Schirm -- ein Säbel rasselte -- jemand schluchzte auf,
+-- und die vielen, vielen Augen durchstachen mich.
+
+»Ja!« klang es laut und rauh durch die Kirche. War das wirklich meine
+Stimme gewesen?! Mechanisch kniete ich nieder, wie die andern. Ob wohl
+die Schleppe richtig lag, dachte ich stumpfsinnig, und etwas wie
+Neugierde nach dem Spruch, den der Pfarrer mir geben würde, regte sich
+in mir.
+
+»Darinnen freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind, sondern
+daß eure Namen geschrieben sind im Himmel.«
+
+Das fuhr wie ein Peitschenhieb auf mich nieder. Mein Name -- und im
+Himmel geschrieben!! Hatte ich nicht eben vor Gottes Altar einen Meineid
+geschworen?! -- --
+
+Unter Tränen und Glückwünschen und Schmeichelworten umdrängte mich
+alles. Zu Hause empfing mich ein Aufbau von kostbaren Geschenken, von
+duftenden Blumen; Militärmusik spielte unter den Fenstern, und um die
+geschmückte Tafel versammelte sich eine glänzende Gesellschaft. Mir
+galten die Reden und Toaste, und immer aufs neue perlte der Sekt in
+meinem Glase. In halber Betäubung kam ich abends in mein Zimmer; die
+rote Ampel brannte über dem Bett; seltsam bedrückend war nach all den
+wirren Geräuschen des Tages die Stille. Mein Blick fiel auf ein kleines
+Paket, durch dessen Schnüre ein paar gelbe Rosen gezogen waren.
+Verwundert öffnete ich das Geschenk, das nicht auf dem Tisch der
+allgemeinen Gaben gelegen hatte. Es enthielt ein schmales Buch in blauem
+Einband -- »Deutsche Liebe« von Max Müller, und einen Brief:
+
+»Gnädiges Fräulein!
+
+Da ich gezwungen bin, schon morgen Posen zu verlassen, und vor Ihrer
+Abreise nicht zurück sein kann, gestatten Sie mir, Ihnen schriftlich
+Lebewohl zu sagen und beifolgendes Buch als Andenken zu überreichen.
+Seien Sie recht, recht glücklich!
+
+ In aufrichtiger Freundschaft
+ Ihr
+ Hugo Meyer.«
+
+Ich strich mir über die Stirn, -- träumte ich denn? Aber nein, das Buch,
+das ich las, bestätigte mir, was mich plötzlich seinen Blick in der
+Kirche hatte verstehen lassen. Und ich -- ich war blind neben ihm
+hergegangen, hatte nicht nach seiner Hand gegriffen, die mir aus dem
+Abgrund herausgeholfen hätte, in den ich versank! Schwarz,
+unergründlich, unüberbrückbar sah ich ihn vor mir: Ich hatte heute einen
+Meineid geschworen, -- und mein Freund, mein einziger Freund hatte mich
+verlassen!
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+Wenn der Sommer im Samland Einzug hält, dann kommt er nicht als ein
+züchtig Werbender, der sich die Erde in zäher Treue allmählich erobert;
+er kommt vielmehr, ein stürmischer junger Held, der dem Freiwerber
+Frühling gar nicht Zeit läßt, ihm den Weg zu bereiten. Die Sonne, die
+eben noch umsonst mit den Winternebelwolken kämpfte, schießt, wenn er
+naht, plötzlich mit glühenden Pfeilen vom blauen Himmel herab, und auf
+einmal erwacht Wald und Feld und Wiese und gibt sich schrankenlos dem
+ungestümen Liebhaber hin. Die Blumen, die das Jahr, als ein karger
+Weiser, sonst über viele Monde verteilt, blühen hier zu gleicher Zeit in
+verschwenderischer Fülle; das Schneeglöckchen begrüßt noch das Veilchen
+und die gelbe Butterblume; üppig und grade im prangenden Schmuck ihrer
+leuchtenden Farben stehen Malven und Georginen im Garten, während weiße
+und gelbe und rote Rosen ihnen den Preis der Schönheit streitig machen.
+Mit dem herben Duft des Hollunders eint sich der süße, zarte der Linden,
+der schmeichelnde der blauen Fliederdolden und der berauschende,
+liebeskranke des Jasmins.
+
+Weit, weit hinab, bis zu den graublauen Fluten des Kurischen Haffs
+dehnen sich saftgrüne Wiesen und gelbe Kornfelder; wenn der Wind darüber
+streicht, ist es wie ein einziges wogendes Meer, aus dem nur hie und da
+die Strohdächer dürftiger Häuser hervorlugen. Aber auch ihr Elend hat
+der Sommer, als könnte er nichts Trauriges sehen, mit rasch wucherndem
+Schlingkraut verschleiert, so daß ihre trüben Scheiben wie verschlafene
+Augen verwundert darunter hervorsehen. Es ist so ruhig hier wie im
+Dornröschenzauber; nur hie und da unterbricht das klägliche Weinen eines
+verlassenen Säuglings die tiefe Stille. Was Füße und Arme regen kann,
+ist hinaus mit Harke oder Sense, Spaten oder Beil, Ruder oder Fischnetz.
+Der heiße Sommer weckte jung und alt aus dem langen, dumpfen
+Winterschlaf, und von früh bis spät gilt es schaffen, um seiner Gaben
+Reichtum rasch, wie er sie brachte, zu bergen. Wie sie alle lebendig
+geworden sind, diese schwerblütigen Menschen: sie gehen nicht -- sie
+springen --, sie lachen nicht -- sie kreischen, und der Haffwind, des
+Samlandsommers treuer Knecht, peitscht ihre strohgelben Haare, daß sie
+rings von den breiten Schädeln abstehen, wie Blätter der Sonnenblume um
+den Kelch, und bläht die roten Röcke der Weiber, daß die nackten Beine
+bei jeder Bewegung darunter hervorleuchten. Sie sind mit der Natur noch
+eins, diese Männer und Frauen: sie schlafen auch den Winterschlaf mit
+ihr; denn nach der langen Tagesarbeit klingts und singts noch durch die
+helle warme Sommernacht; es kichert und raschelt zwischen den Garben, es
+atmet heiß und schwer in den Geißblattlauben. Vom Dorfkrug aber lärmt
+und tobt es herüber: da sitzen sie hinter schwälender Lampe, vertrinken
+und verspielen ihre Habe, und wenn sie glühend vom Branntwein
+heimkehren, mischt sich wohl auch wilder Wehlaut aus Weiberkehlen in all
+die vielen wirren Töne der Nacht.
+
+In solch eines Sommers heißes Leben kam das blasse Stadtkind mit den
+trüben Augen und dem matten Lächeln. Das Turmzimmer von Pirgallen nahm
+es wieder auf, wo es zuerst das von der alten Linde vor dem Fenster grün
+verschleierte Licht des Tages erblickt hatte. »Hier soll mein Alixchen
+wieder rund und rosig werden,« sagte die Großmama bei der Begrüßung, das
+Enkelkind bekümmert musternd. »Und all die Gelehrsamkeit soll sie
+vergessen,« fügte Onkel Walter lachend hinzu. »Und trinken und tanzen
+soll sie, bis sie schwindlig wird,« rief Tante Emmy, seine Frau, während
+in ihren lustigen braunen Augen alle Kobolde des Frohsinns ein Feuerwerk
+entzündeten. Seit sie vor kaum einem halben Jahr hier Einzug gehalten
+hatte, mochte das alte Schloß sich selbst kaum wieder erkennen: Die
+Gäste kamen und gingen, helle Kleider raschelten durch die sonst so
+einsamen Gänge, die Mauern hallten wider von Lachen und Scherzen.
+
+Wenn morgens der Rasenteppich, der hinter dem Schloß bis zum Wasser
+herunterführt, unter Tauperlen und Sonnenstrahlen glänzte und glitzerte
+wie ein Riesensmaragd, dann gingen die Gäste von der breiten Terrasse
+die hohe Steintreppe hinab und verteilten sich in Park und Wald; die
+einen träumten still in der Hängematte, die andern lockte das Haff,
+dessen weiße Schaumköpfchen vom Horizont herüberglänzten, zum Bad und
+zur Segelfahrt; die Ruhigen liebten es, am Strande Muscheln zu suchen;
+die Waghalsigen wollten, mit Kutschern und Reitknechten um die Wette,
+junge Pferde hinter Zaum und Zügel zwingen. Freiheit der Bewegung war
+Gesetz für alle. Nur wenn laut der Gong durch Schloß und Hof und Garten
+gellte, fanden sie sich allmählich wieder zusammen.
+
+Allabendlich füllte sich der dunkle Speisesaal, in dem so lange nur
+Mutter und Sohn einander schweigsam gegenübergesessen hatten, mit
+lebenslustiger Jugend, und die kulinarischen Genüsse, die der
+französische Koch zu bereiten verstand, steigerten mit dem perlenden
+Sekt, den der alte Haushofmeister unermüdlich in die Gläser schenkte,
+die lebendige Stimmung. Wenn dann hinter den Flügeltüren die
+zärtlich-lockende Weise des Donauwalzers klang, gab es ein heftiges
+Stühlerücken, und gleich darauf flogen die Paare durch den hohen weißen
+Saal. Viele schmale Spiegel, von Goldleisten eingefaßt und von
+musizierenden Amoretten bekrönt, warfen das Bild immer wilder tobender
+Tänzer zurück, während so manche durch das Alter blind gewordene
+Scheiben heimlich die Erinnerung an graziös und feierlich im Menuett
+sich schlängelnde und wiegende Rokokopaare zu bewahren schienen. Mit
+leisem Klirren schlugen die Kristallprismen des Kronleuchters
+aneinander, und die Lichter flackerten im Takt, als hätte die Tanzweise
+auch ihnen Leben verliehen; sie bewegten sich noch lange hin und her,
+wenn die duftende Schwüle der Sommernacht die Tanzenden durch weit
+offene Türen in den dämmernden Park gelockt hatte. Da gab es
+verschnittene Laubengänge und weiße Bänke im Jasmingesträuch, und auf
+stillen Weihern kleine Kähne. Spät erst, wenn feuchte Nebel vom Haff
+herüber die nackten Schultern der Frauen unter den Spitzengeweben
+zittern ließen, gingen Pirgallens Bewohner zur Ruhe.
+
+Unaufhaltsam riß mich das Leben in seinen Strudel. Geistig müde und
+stumpf, getrieben von dem Wunsch, nur nicht zu mir selbst kommen zu
+können, war es mir zuerst der Rausch, der Vergessen bringt. Aber dann
+siegte Jugend und Lebenslust, und der Genuß wurde zum Selbstzweck.
+Niemand dachte angesichts des großen reifen Mädchens an ihre vierzehn
+Jahre; ich galt allen als erwachsene junge Dame, als Tochter des Hauses
+überdies, und was an männlicher Jugend ins Schloß kam, das teilte seine
+Huldigungen zwischen der lustigen Hausfrau und ihrer Nichte. Zuweilen,
+das merkte ich wohl, war ich der Tante, die gewohnt war, der Mittelpunkt
+der Gesellschaft zu sein, ein Dorn im Auge. Dann begann jener stille
+Frauenkampf um den ersten Platz, der, mit allen Waffen der Koketterie
+geführt, nicht minder aufregend ist als der der Männer im Fechtsaal oder
+beim Hasard. Triumphierte meine Jugend über ihre Grazie und ihren Witz,
+so behandelte sie mich plötzlich als das Kind, das zur Strafe nicht
+mitgenommen wird, wenn die Großen sich amüsieren; doch »das Kind«
+durchkreuzte nur zu rasch ihre pädagogischen Einfälle. So wurde ich
+einmal von einer Segelpartie ausgeschlossen -- aus Mangel an Platz,
+sagte sie --; im Augenblick aber, als die Jacht den Hafen
+verließ, erschien ich hoch zu Roß in Begleitung des feschesten
+Kürassierleutnants, den meine Tante -- ich wußte es genau! -- von allen
+Gästen am meisten entbehrte. Und ein andermal, als ihre neuste Pariser
+Toilette mich ausstechen sollte, zog ich durch einen rasch
+zusammengestellten phantastischen Schmuck von Vogelbeeren auf meinem
+weißen Kleid und in meinen schwarzen Haaren alle Blicke zuerst auf mich.
+Es war gerade von der großen Dampferfahrt die Rede, die der konservative
+Verein des Kreises mit seinen Damen durch den Friedrichskanal zum
+Moorbruch unternehmen wollte. Wir freuten uns alle darauf, ein Stück
+altlitauer Landes und Lebens kennen zu lernen.
+
+»Schade, daß Alix zu Hause bleiben muß,« hörte ich plötzlich die hohe
+scharfe Stimme der Tante sagen; »nur persönlich Geladene haben Zutritt.«
+Mir stiegen Tränen der Enttäuschung und des Zorns in die Augen. Onkel
+Walter, der den Zusammenhang nicht begriff, sah mich an und rief über
+den Tisch hinüber: »Beruhige dich, Alix, das ist eine bloße Formalität,
+die ich rasch erledigen werde.«
+
+Tante Emmys gereizte Stimmung verriet mir am nächsten Morgen, daß es
+zwischen dem Ehepaar noch eine Szene gegeben hatte und der Sieg nicht
+auf ihrer Seite gewesen war. Die offizielle Einladung wurde mir mit
+einer gewissen Absichtlichkeit überreicht, und ich konnte das leise
+Lächeln nicht unterdrücken, mit dem ich die Tante dabei ansah.
+
+Am frühen Morgen des großen Tages fuhren wir in zwei Vierspännern gen
+Labiau, die Kreisstadt. Als die Wagen über das holprige Pflaster
+rollten, flogen links und rechts die Fenster auf, und neugierige
+Gesichter starrten den berühmten Gespannen Pirgallens nach. Auf der
+Straße blieben die Leute stehen, zogen die Mützen oder knixten
+respektvoll; und am Anlegeplatz, wo der Dampfer schon fauchte und
+prustete, wartete die Menge der Geladenen auf den vornehmsten Mann, den
+größten Besitzer und den eben zum Reichstagskandidaten des Kreises
+aufgestellten Freiherrn. Er und seine Frau wurden umringt, ich stand
+abseits und musterte mit heimlichem Naserümpfen die Gesellschaft: Die
+Frauen, fast alle groß und hager, in seidene Staatskleider gezwängt,
+über den kantigen Gesichtern und den glatten Scheiteln kleine
+Kapotthütchen, mit allen Zeichen jener nicht zu überwindenden
+Verlegenheit, die ungewohnte, mit Wetter und Tagesstunde unvereinbare
+Kleidung hervorruft; die Mädchen, hochrot vor Erregung, in
+steifgestärkten Kattunfähnchen, Zwirnhandschuhe über den Händen,
+klirrende Armbänder über den breiten Gelenken, in einem dichten Haufen
+ängstlich zusammengeschart, als gelte es, sich gegenseitig vor den
+Angriffen der Männer zu schützen. Die hatten sich schwarz und dicht
+gegenüber postiert, nur hier und da von einer Reserveleutnantsuniform
+irgend eines hundertsten Infanterieregiments unterbrochen. Sonst lauter
+Bratenröcke und Zylinder. Mich grauste es; ganz anders hatte ich mir die
+Sache gedacht, und beinahe wäre ich rasch wieder in unseren Wagen
+gesprungen, als Onkel Walter sich nach mir umdrehte: »Erlaube, daß ich
+dir einige der Herren vorstelle: Herr v. Trebbin, v. Wanselow, v.
+Warren-Laukischken.« So alte Namen und solche Bauern! dachte ich,
+während mein Blick auf ihren roten Händen sekundenlang haften blieb.
+
+»Ah, da sind Sie ja auch, mein lieber Rapp,« hörte ich meinen Onkel
+lachend sagen, »trauen Sie sich wirklich einmal in Damengesellschaft?!«
+Ich wandte mich rasch nach dem Angeredeten um: das also war der
+Frauenfeind, von dem Tante Emmy im Wagen gesagt hatte, er sei der
+einzige, der sie interessiere. Sie hatte zweifellos vor, den
+wunderlichen Einsiedler zu bekehren und freund-nachbarliche Beziehungen
+anzuknüpfen. Ich dachte nicht mehr daran, davon zu fahren, sondern
+folgte dem Menschenstrom, der über den Schiffssteg zum Dampfer flutete.
+Die Labiauer Stadtkapelle konzertierte, als hätten alle verstimmten
+Flöten und Trompeten sich hier ein Stelldichein gegeben, und zwischen
+den Eichenlaubgewinden knisterten die grellbunten Papierblumen. Das
+kleine Schiff schien die Geladenen kaum fassen zu können. Nur die
+Honoratioren, darunter auch meine Verwandten, wurden an einen gedeckten
+Tisch genötigt, auf dem ein kreisrunder Strauß in weißer
+Papiermanschette prangte. Alle anderen suchten sich eilig einen Platz;
+wie aufgescheuchte Vögel liefen die Mädchen umher, bis sie glücklich
+wieder eng gedrängt in einer Ecke beieinander saßen. Ich blieb ruhig
+stehen; Laufen und Hasten war mir immer antipathisch, und aufs
+Geradewohl mich irgendwo einklemmen, vollends. Das Schiff setzte sich
+schon in Bewegung, als ich Herrn von Rapp in meiner Nähe sah, sichtlich
+unschlüssig, in welchen Winkel er sich mit seiner Menschenfeindschaft
+flüchten sollte. »Wir sind Leidensgefährten,« sprach ich ihn an, »ich
+glaube, in der Kajüte sind Sessel, wollen Sie so gut sein, mir einen
+bringen?« Mit zweien kam er zurück, -- ich wußte, als höflicher Mann
+konnte er mich nicht allein lassen. Wir unterhielten uns, zuerst gequält
+und konventionell, dann immer lebhafter. Der kleine Mann mit dem
+frühzeitig kahlen Schädel hatte seine Landeinsamkeit ausgenutzt: er war
+belesen, und -- was in dieser Umgebung noch erstaunlicher schien -- er
+hatte selbständig über Welt und Menschen nachgedacht. Was ich geplant
+hatte, um die Tante zu ärgern und mir die Zeit zu vertreiben, war rasch
+vergessen, -- so sehr fesselte mich unser Gespräch. Inzwischen fuhren
+wir im leuchtenden Sonnenschein den Friedrichskanal entlang, durch das
+dunkelgrüne Moosbruch, an niedrigen Häuschen vorbei, um die verkrüppelte
+Obstbäumchen blühten, vorüber an Agilla und Juwendt, uralten litauer
+Ansiedlungen, wo die Strohdächer fast zur Erde reichten und die kleinen
+struppigen Pferdchen, denen des Litauers zärtlichste Sorgfalt gilt,
+lustig zwischen den Scharen schmutziger Blondköpfchen umhersprangen.
+Mein Nachbar kannte Land und Leute gut; er wußte von den hartnäckigen
+Kämpfen gegen die Ordensritter zu erzählen, die mit einer -- was die
+Religion betrifft, freilich nur scheinbaren -- Unterwerfung der Litauer
+erst dann endeten, als die Zahl ihrer Männer auf das äußerste dezimiert
+war, und kannte all ihre seltsamen Gebräuche, die sich noch aus der Zeit
+des Heidentums erhalten hatten.
+
+Ein heftiger Stoß, der unseren Dampfer erzittern ließ, unterbrach seine
+Schilderungen: wir saßen fest, vergebens arbeitete die Maschine, der
+Kapitän, der gestand, hier noch nie gefahren zu sein, war ratlos, und
+alles Geschrei vermochte niemanden ans Ufer zu locken als die Kinder.
+
+»Setzen Sie ein Boot aus und fahren Sie hinüber,« damit wandte sich mein
+Onkel an den Kapitän. Unter dem Vorwand, sich mit den Litauern nicht
+verständigen zu können, lehnte er es ab. »Begleiten wir ihn!« sagte
+ich, entzückt von der Aussicht auf ein Abenteuer, leise zu Rapp, der
+mir eben klangvolle Strophen litauischer Dainos zitiert hatte. Rasch
+entschlossen verständigte er sich mit dem Kapitän, und ebenso
+rasch folgte ich den Männern in den Kahn, begleitet von dem
+erstaunt-unwilligen Gemurmel der Zurückbleibenden. Am Ufer angelangt,
+traten wir in eines der ersten Häuser und stießen die Türe auf, als uns
+auf unser Klopfen niemand antwortete.
+
+Der Raum war fast dunkel, und beißender Rauch hinderte uns überdies, die
+Augen zu öffnen; ein paar Hühner flogen vor uns auf, Schweinegrunzen
+tönte uns aus dem äußersten Winkel entgegen, auf dem Herd, dessen
+Glutaugen uns ansahen, wurde hastig ein Topf beiseite gerückt, dann
+näherten sich uns schlurfende Schritte. Ein Weib, dem weiße lange Haare
+wirr und tief über die Schultern fielen, trat uns entgegen, kreuzte die
+Arme über das grobe Hemd, das mit einem dicken gelben Wollrock ihre
+einzige Bekleidung bildete, und küßte mit einer Gebärde demütiger
+Unterwürfigkeit den Saum meines Kleides. Rapp erklärte ihr rasch die
+Situation. War sie es, oder war es der Klang der eigenen Sprache, der
+ihr ein Lächeln in das Antlitz trieb? Ablehnend zuckte sie die Schultern
+und wies auf die Bank in der Ecke, auf der ein Mann, in eine Pferdedecke
+gehüllt, schnarchend lag.
+
+»Wenn der Litauer nicht trinkt, dann stiehlt er, und wenn er nicht
+stiehlt, dann schläft er,« sagt das Sprichwort. Rapp wurde ungeduldig
+und sprach lauter. Inzwischen hatten sich die Kinder aus der Türe
+hereingeschlichen und umringten die Mutter; in all den vielen Augen --
+graublau wie das Haff -- spielten feindselige Lichter; und je heftiger
+Rapp wurde, desto straffer richtete sich das Weib aus ihrer gebeugten
+Stellung auf, bis ihre Stirn den niedrigen Balken der Hütte fast
+streifte. »Wie eine verwunschene Schicksalsgöttin,« dachte ich und wich
+scheu vor ihr zurück. Rapp aber war an ihr vorbei an den Herd getreten
+und hatte den Kessel aus Licht gerückt. »Rehbraten!« rief er. »Dacht'
+ichs mir doch! Also ein Wilddieb.« Schon lag die Frau ihm jammernd zu
+Füßen, und, sich die Augen reibend, war der Mann bei dem Lärm vom Lager
+gesprungen. Es bedurfte nur noch einer kurzen Unterhandlung, um sie
+gefügig zu machen. Kaum zum Dampfer zurückgekehrt, entwickelte sich ein
+merkwürdiges Schauspiel vor unsern Augen: lange schmale Kähne umringten
+ihn von allen Seiten, in jedem stand aufrecht, mit dem Ruder kräftig
+stoßend, ein Weib. Eine sah aus wie die andere: groß, schlank,
+helläugig, mit buntem Rock, einem Hemd, das oft reiche Stickerei
+aufwies, ein grelles Tuch um die weißblonden Haare geschlungen. Sie
+wußten so genau Bescheid in ihren heimatlichen Gewässern wie der beste
+Lotse, und bald waren wir wieder flott und fuhren in gutem Fahrwasser
+den voranrudernden Frauen nach. Allmählich wurde ihre Zahl immer
+kleiner, und nur die grauhaarige Schicksalsgöttin blieb übrig, um uns
+den Weg zu der Mittagsstation, wo das ersehnte Diner unsrer wartete, zu
+zeigen. Schließlich verschwand auch sie, nachdem der Weg, wie sie sagte,
+nicht mehr zu fehlen sei; irgendwo aus der Ferne hörten wir noch das
+Rufen und Lachen, mit dem die Heimkehrende von den Gefährtinnen
+empfangen wurde. Aber zu unserm Mittagessen gelangten wir nicht -- für
+die entdeckte Wilddieberei hatte die Alte sich gerächt! Unser Schiff
+enthielt Proviant; aber man hatte mehr an den Durst als an den Hunger
+der Passagiere gedacht; und da bei stundenlanger Fahrt auch so ergiebige
+Gesprächsstoffe wie Getreidepreise, Leutemangel, Erntesorgen und
+Viehzucht schließlich erschöpft waren, so blieb den biederen
+Vereinsgenossen nichts übrig, als zu trinken und Skat zu spielen. Um dem
+Sehbereich ihrer teuren Ehehälften zu entgehen, zogen sie sich, soweit
+es der Raum erlaubte, in die Kajüten zurück. Zigarrendampf, knallende
+Pfropfen, ein immer brüllenderes Gelächter, hier und da aus der Tiefe
+auftauchende blaurote Köpfe kündigten an, wie es dort unten aussah. Die
+Frauen, bei denen die drei berühmten Gesprächsthemen -- Klatsch, Küche
+und Kleider -- zwar etwas länger vorhielten, waren bald übel daran.
+Vorsorgliche Hausfrauen zogen resigniert eine Häkelarbeit aus der
+Tasche, die jungen Mädchen, zu denen ein paar unternehmende Jünglinge
+sich gesellt hatten, spielten kindliche Spiele, wobei ihr Kichern den
+Grad ihres Amüsements bezeichnen sollte; viele schliefen mit
+Mäntelpolstern unter den Köpfen.
+
+Indessen glitt unser Dampfer mit leisem Plätschern durch die traumhafte
+Stille endloser gleichmäßig grüner Einsamkeit.
+
+Seltsam, wie wenig Menschen schweigend genießen können, wie der Begriff
+der Unterhaltung sich bei den meisten mit Schwatzen deckt und ein
+Unbeschäftigtsein der Zunge oder der Hände ihnen gleichbedeutend ist mit
+Langerweile. Ich saß stundenlang still und sah in die Ferne, wo das Grün
+der Wiesen mit dem Blau des Himmels zusammenstieß und sich in
+schimmerndem Silberglanz aufzulösen schien. Ich träumte von andern
+Menschen als diesen hier: von Menschen, die die Kultur ihrer Zeit
+verkörpern, Menschen, denen Natur, Kunst und Wissenschaft unendlicher
+Gegenstand ihres Genießens, ihres Nachdenkens, ihrer Unterhaltung ist.
+Herrn von Rapps Stimme rief mich in die Wirklichkeit zurück. Ich
+lächelte: der kleine Mann mit dem glatten Schädel war gewiß unter diesen
+der beste, aber er sah aus wie ein Bauer, und zu meinem Begriff der
+Menschenkultur gehörte das Aussehen eines Märchenprinzen.
+
+Es fing an zu dämmern als der Nemonien uns aufnahm, ein breiter Strom,
+dessen Wellen so weich und melodisch fließen wie sein Name. Wir
+erreichten das Haff, von einem Lotsen geführt. Groß und rot versank der
+Sonnenball langsam hinter dem schmalen gelben Streifen der Nehrung, eine
+lange goldene Straße auf dem Wasser malend. »Der Weg zum Himmel!« sagte
+Herr von Rapp, von dem wundervollen Anblick ergriffen wie ich. »Zwei
+Fischerkinder von Nemonien sind einmal des Abends auf dieser Straße
+davongerudert. Sie bekamen daheim nur Schläge und böse Worte und wollten
+zum lieben Gott. Sie kamen niemals wieder -- ob sie ihn wohl gefunden
+haben?!« Wie er mich ins Herz traf mit dieser Zweifelfrage, wie er die
+alten Wunden aufriß! -- »Ich glaube es nicht,« antwortete ich mit
+zuckenden Lippen. Dann schwiegen wir wieder. Die Nacht brach an, die
+Sterne glänzten vom hellen Himmel und die Mondsichel warf lauter Perlen
+auf das Haff. Mich fror. Auf eine so lange Fahrt waren wir nicht
+vorbereitet gewesen. Herr von Rapp hüllte mich sorglich in seinen Mantel
+und brachte mir Tee und Wein. Eigentlich ist es doch seltsam, dachte
+ich, daß die Menschen uns so rücksichtsvoll allein lassen. Ich hatte
+mich ja freilich auch nicht um sie gekümmert.
+
+Um Mitternacht waren wir wieder im Hafen von Labiau. Ich war sehr müde
+und fühlte nur noch den Druck einer Hand, den ich herzhaft erwiderte.
+Schweigsam fuhren wir nach Hause.
+
+Am nächsten Morgen neckte mich Onkel Walter mit meiner »Eroberung«,
+während Tante Emmy behauptete, ich hätte mich kompromittiert.
+Nachmittags fuhr ein Wagen durchs Tor, dem Herr von Rapp, mit einem
+Rosenstrauß bewaffnet, entstieg. Er war noch verlegener als ich, und sah
+in diesem Kreise, wie ich fand, recht plebejisch aus. Während der ganzen
+folgenden Woche kam er täglich. Ich lief oft davon, aber auch auf
+einsamen Wegen, zu Pferd und zu Fuß, wußte er mich einzuholen, und
+schließlich ließ ich mir seine Nähe mit einer gewissen Herablassung
+gefallen. Als ich eines Morgens auf die Terrasse zum Frühstück kam, fand
+ich Onkel und Tante in ausgelassenster Heiterkeit: Herr von Rapp hatte
+um mich angehalten. Soll ich leugnen, daß meine erste Empfindung die
+geschmeichelter Eitelkeit gewesen ist?! Der erste Antrag -- und kaum
+fünfzehn Jahre alt! Dann aber dachte ich an den schwerblütigen Mann, der
+sich aus seiner menschenscheuen Einsamkeit herausgerissen hatte, um eine
+so bittere Erfahrung zu machen. Die Vorwürfe meiner Mutter verschärften
+meinen Kummer: meine Koketterie, sagte sie, sei schuld an der ganzen
+Sache. Ich war sehr unglücklich und malte mir des armen Abgewiesenen
+Zustand in so düsteren Farben aus, daß ich mich verpflichtet fühlte, ihn
+zu »retten«, -- ich wollte ihn um Verzeihung bitten, mich ihm heimlich
+verloben, ihm ewige Treue schwören.
+
+In aller Herrgottsfrühe ließ ich mir die »weiße Dame« satteln und ritt
+durch einen feuchtkalten Septembermorgen zu ihm hinüber. Vor der
+Stalltür sprang ich vom Pferde und warf dem ersten erstaunt
+herbeieilenden Knecht die Zügel zu. Mit wild klopfendem Herzen zog ich
+die Glocke an dem einstöckigen, einfachen Herrenhaus. Wie heldenhaft kam
+ich mir vor, wie ungeheuer das Opfer, das ich brachte! Eine dicke
+Wirtschafterin trat mir entgegen. Stotternd frug ich nach dem Herrn. Mit
+offnem Munde starrte sie mich an, um dann spornstreichs im Hintergrunde
+zu verschwinden. Gleich darauf stand Rapp vor mir. In äußerster
+Verlegenheit vermochte ich nur das eine Wort »Verzeihung« zu murmeln. »O
+gnädiges Fräulein hatten einen Ohnmachtsanfall!« rief er so laut, daß
+die Mamsell, die den Kopf neugierig durch die nächste Türe steckte, es
+hören konnte, »ich werde sofort für eine Erfrischung sorgen.« Er holte
+ein Glas Wein und flüsterte mir, während ich trank, mit scharfer Stimme
+zu: »Ich kann Ihnen nur raten, schleunigst in die Kinderstube
+zurückzukehren. Spielen Sie vorläufig mit Puppen, statt mit Menschen!«
+Langsam und müde ritt ich nach Pirgallen zurück.
+
+Mein heimlicher Spazierritt und sein Ziel blieben nicht unbekannt, sogar
+Papa erfuhr davon, als er auf Urlaub nach Pirgallen kam. »Hast du denn
+gar keine Scham im Leibe?« schrie er mich wütend an. Großmama suchte
+mich zu schützen, aber ihre dauernde stille Sorge um mich empfand ich so
+sehr als einen Vorwurf, fürchtete so sehr, daß sie, die fromme Christin,
+mich nach meinem Seelenzustand fragen und Schmerzen und Erinnerungen
+heraufbeschwören könnte, die ich so tief als möglich vergrub, daß ich
+jetzt auch jedem Alleinsein mit ihr aus dem Wege ging. Der traurige
+Blick, mit dem sie mir folgte, tat mir schon weh genug.
+
+Ich atmete auf, als wir Pirgallen verließen und der alte Turm, um den
+die gelben Blätter im Herbstwind tanzten, meinen Blicken entschwand. Und
+ohne ein anderes Gefühl als das der Erleichterung schied ich kurze Zeit
+darauf auch von meinen Eltern. Papas Schwester in Augsburg erwartete
+mich; sie hatte schon längst mit den Eltern abgemacht, daß ich ihr zum
+letzten »Erziehungsschliff« anvertraut werden sollte. Mir war es ganz
+gleichgültig, wohin ich ging.
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+Ein Oktoberabend war es wieder, wie vor neun Jahren, als ich in Augsburg
+ankam. Aber diesmal empfing mich die Tante selbst am Bahnhof.
+Silbergraue Seide schmiegte sich eng um ihre hohe, volle Gestalt; unter
+dem großen gleichfarbigen Federhut quollen die roten Locken üppig
+hervor, stahlblau glänzten ihre Augen in dem weißen Gesicht. Noch nie
+war ich mir der Schönheit dieser reifen Frau so bewußt geworden. Als
+unser Wagen den Königsplatz erreichte, den ich einst als öde Sandwüste
+gesehen hatte, spielten die letzten Goldstrahlen der Herbstsonne mit dem
+bunten Laub seiner Bäume und den fallenden Tropfen seiner Springbrunnen.
+Und nicht in die enge Gasse, zu dem alten düsteren Hause ging es, -- vor
+einem Park, dessen Blumenpracht dem Herbst zu spotten schien, öffneten
+sich vielmehr die breiten Flügel des Torwegs, und zwischen den alten
+Linden lugten die hellen Mauern eines Gebäudes hervor, das in seiner
+lichten Vornehmheit an altitalienische Villen erinnerte. Ich hatte es
+noch nicht gesehen, aber genug davon gehört, denn mein Vater war gar
+nicht damit einverstanden gewesen, daß seine Schwester das alte
+Stadthaus verkauft und diesen Landsitz, der wie viele seiner Art vor den
+Stadttoren ein Sommeraufenthalt augsburger Patrizier gewesen war, mit
+großen Kosten ausgebaut hatte. Mich umfing die Atmosphäre von Schönheit
+und Reichtum gleich beim ersten Eintritt wie ein weicher, wohliger
+Mantel. Das strahlend erleuchtete Treppenhaus glich mit seiner Fülle von
+exotischen Pflanzen einem Palmengarten, und der süße Duft, der die
+vielen Räume durchzog, legte sich mir wie ein berauschender Traum auf
+die Stirne. Ich wurde in den zweiten Stock in meine Zimmer geführt: auch
+hier Blumen und viel Licht und fröhliche Farben. Viel weiter noch als
+von der Warthe bis zum Lech fühlte ich mich fern von all den Sorgen des
+Elternhauses und all den Herzens- und Gewissensschmerzen, die mich
+niedergedrückt hatten. Zufrieden und dankbar, in der Erwartung lauter
+schöner Dinge, schmiegte ich mich abends in die weichen Kissen meines
+Betts.
+
+Es dämmerte, als ich geweckt wurde. »Frau Baronin wünschen, daß das
+gnädige Fräulein früh aufsteht,« sagte die Jungfer. Nicht wenig
+erstaunt, erhob ich mich und fing an auszupacken. Der knurrende Magen
+trieb mich schließlich herunter; ich holte mir ein Brötchen aus der
+Küche, da ich noch eine Stunde bis zum Frühstück zu warten hatte.
+Endlich kam der Diener mit dem Teewasser, und das Klappern hoher Absätze
+und Rauschen seidener Röcke kündigte die Tante an. Statt eines
+Morgengrußes lachte sie mir hell ins Gesicht: »Ja wie schaust du denn
+aus?! So ein Fratz, und fagotiert sich wie eine junge Frau auf der
+Hochzeitsreise.« Tief gekränkt biß ich mir auf die Lippen; ich war so
+stolz auf den weichen schleppenden Morgenrock, den mir mein Vater
+geschenkt hatte! »Daß du mir diese Theatertoilette nicht mehr
+anziehst!« sagte die Tante stirnrunzelnd, während sie sich setzte und
+die Spitzenflut ihres Kleides sich um ihren Stuhl ausbreitete.
+
+»Hast du deine Zimmer gemacht?« mit dieser verblüffenden Frage begann
+sie aufs neue ein Gespräch, in das ich noch mit keinem Wort eingegriffen
+hatte. »Meine Zimmer?!« Ich glaubte mich verhört zu haben. In diesem
+eleganten Haushalt, angesichts einer zahlreichen Dienerschaft männlichen
+und weiblichen Geschlechts sollte ich die Zimmer machen?! »Es ist doch
+selbstverständlich, daß ich für dich keine Kammerjungfer halten werde.
+Außer der groben Arbeit hast du selbst Ordnung zu halten. Und zwar muß
+vor dem Frühstück alles fix und fertig sein.« Die Bissen blieben mir im
+Halse stecken, -- so etwas hätte ich mir niemals träumen lassen! Aber es
+kam noch besser: aus Schränken und Schubladen wurden meine Sachen
+herausgezogen; kaum ein Hut oder ein Kleid fand Gnade vor den Augen der
+Tante; und meine Art, die Dinge einzuräumen, erklärte sie für skandalös.
+Dann forderte sie den Schlüssel zum Schreibtisch -- »ein Kind hat nichts
+zu verschließen« -- und geriet in helle Empörung über meine poetischen
+Manuskripte, die sie durchstöberte, und meine Lieblingsbücher, von denen
+ich mich nicht hatte trennen wollen.
+
+»Eine nette Erziehung!« rief sie, »und ich kann meine Zeit und meine
+Kräfte opfern, um so ein von Grund aus verdorbenes Geschöpf wie dich zu
+einem anständigen Menschen zu machen!« Ich zitterte vor Aufregung, aber
+kein Wort kam über meine Lippen, -- das einzige, was ich durch die
+Erziehung meiner Mutter bis zur Vollendung gelernt hatte, war die
+Selbstbeherrschung. Erst abends im Bett, nach einem Tag, an dem ich
+nicht einen Augenblick mir selbst gehört hatte, kam die Verzweiflung
+über mich und fassungslos schluchzte ich in die Kissen. Aber auch die
+Möglichkeit, mich auszuweinen, sollte mir genommen werden. Sah ich
+morgens verweint aus, oder zeigten sich dunkle Ränder um meine Augen, so
+erregte das den heftigsten Zorn der Tante, -- »ein junges Ding hat
+frisch und rosig auszusehen«, erklärte sie; und da der bloße Befehl
+nichts helfen wollte, kam sie abends, wenn ich zu Bett war, wiederholt
+in mein Zimmer, um zu kontrollieren, ob ich schlief. So gewöhnte ich
+mich rasch an die große Kunst, nach innen zu weinen. Grund genug hatte
+ich dazu. Es verging kein Tag, ohne daß ich gescholten worden wäre: wenn
+an ihrem behandschuhten Finger, mit dem sie über jede Leiste in meinem
+Zimmer fuhr, Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht richtig
+gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgfältig ausgereckt in der
+Schublade lagen, wenn ihre scharfen Augen einen Fleck auf dem Kleide
+entdeckten, oder wenn ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich
+Strümpfe stopfen sollte! Briefe, die nicht die Handschrift der Eltern
+aufwiesen, wurden von ihr zuerst geöffnet und gelesen. Dadurch erfuhr
+sie, daß ich meiner Kusine Mathilde mein Leid geklagt hatte. »Es ist
+sehr traurig, daß Deine geistigen Bedürfnisse so wenig berücksichtigt
+werden und Deine Begabung keine Anerkennung findet,« hatte sie mir
+daraufhin geschrieben; höhnend las die Tante mir die Stelle vor und
+erklärte dann: »Ich verbiete dir jede Korrespondenz, außer der mit
+deinen Angehörigen. Das fehlte mir noch, daß dein dummer Hochmut
+heimlich unterstützt wird, statt daß du endlich einsiehst, wie viel dir
+noch fehlt, um nur den guten Durchschnitt zu erreichen.« Sie unterließ
+nichts, um mir zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, und beleuchtete
+möglichst grell alle schwachen Seiten meiner Ausbildung: die
+musikalische, die fremdsprachliche, die praktische. Stundenlang quälte
+ich mich täglich am Klavier; englische und französische
+Konversationsstunden wechselten daneben mit Koch- und Nähunterricht ab.
+Ein paar Musterexemplare vollendeter junger Damen wurden mir des guten
+Beispiels wegen zum Verkehr zugewiesen. Sie konnten alles in der
+Perfektion, was ich nicht konnte, sie sangen und spielten, stickten und
+schneiderten, und immer war ihre Toilette tadellos. Natürlich fand ich
+sie gräßlich und träumte mich immer mehr in die tragische Rolle einer
+verwunschenen Prinzessin.
+
+Ich war klug genug, um bald einzusehen, welches die Triebkraft der
+Handlungsweise meiner Tante mir gegenüber war: eine grenzenlose, von
+allen Menschen, die sich ihr näherten, sorgfältig genährte Eitelkeit.
+Wie ihr Haus und ihr Park die schönsten, ihre Equipage und ihre
+Toiletten die elegantesten Augsburgs waren, so sollte ihre Nichte -- am
+Maßstab Augsburgs gemessen -- die vollendetste junge Dame sein. Es
+gehörte eine intensive geistige und körperliche Umwandlung hierzu, um
+dieses Ziel zu erreichen.
+
+Wurde die gute Gesellschaft in Norddeutschland durch den
+alten ritterbürtigen Adel repräsentiert mit seiner Auffassung
+von Ebenbürtigkeit, mit seinen kirchlich-orthodoxen und
+politisch-konservativen Gesinnungen, seiner damals noch ausgesprochenen
+Geringschätzung jeden Berufs, der außerhalb der Laufbahn des
+Gutsbesitzers, des Offiziers oder des höheren Staats- und Hofbeamten
+lag, so setzte sie sich hier, getreu den Traditionen, aus dem alten und
+dem neuen Patriziertum zusammen, das mit wenigen Ausnahmen nach wie vor
+bürgerlichen Berufssphären angehörte. Zur Zeit, da die Ahnherren der
+preußischen Junker wider Heiden und Türken kämpften, handelte der
+Stammvater der Fugger mit Leinwand, segelten die Kauffahrteischiffe der
+Welfer nach Westindien, saßen die ersten Stettens in der
+Goldschmiedzunft. Ihre Nachkommen betrachteten die Fröhlich und Forster
+und Schätzler -- Industriebarone des neunzehnten Jahrhunderts -- als zu
+sich gehörig, während der Offizier als solcher ebensowenig eine
+gesellschaftliche Stellung besaß wie der Landsknecht des Mittelalters.
+
+So groß wie der Gegensatz der Herkunft war der der wirtschaftlichen
+Interessen, die in meinem bisherigen Lebenskreise wesentlich agrarische
+gewesen waren und hier ausschließlich großindustrielle. Die
+verschiedenartige politische Stellung folgte daraus: die gute
+Gesellschaft Augsburgs war nationalliberal, und lehnte mit der
+politischen auch die kirchliche Orthodoxie ab. Ein lebhafteres Interesse
+für Kunst und Wissenschaft ging damit Hand in Hand, und wurde von der
+Allgemeinen Zeitung und den Männern, die durch sie nach Augsburg kamen,
+stets rege erhalten. Unterhielt man sich in den Schlössern Ostpreußens
+von Literatur und Theater, so geschah es nur unter dem Gesichtswinkel
+des größeren oder geringeren Amüsements; in Augsburg gehörte es zum
+guten Ton, Neues zu kennen und vom künstlerischen Standpunkt aus
+darüber zu urteilen.
+
+Die breite Mittelstraße, auf der sich von rechts und links immer die
+Leute zusammenfinden, die den Mut nicht aufbringen, vom Wege ihrer alten
+Anschauung die entgegengesetzte Grenze zu überschreiten, und die zu
+ihrer eigenen Beruhigung jene Straße die »goldene« tauften, war das
+Symbol des ganzen geistigen Lebens. In Preußen vermied man es, über
+ernstere Fragen zu sprechen, weil dabei die Ansichten aufeinanderplatzen
+könnten und das nicht zum guten Ton gehört, hier war man soweit, alles
+zum Gegenstand bloßer Konversation zu machen.
+
+Wurde es mir sehr schwer, bürgerliche Hausfrauentugenden zu lernen, und
+noch schwerer, jenen tief gewurzelten Hochmut nieder zu drücken, der
+sich durchaus nicht dazu verstehen wollte, einen Fabrikanten oder einen
+Bankier als gleichgestellt anzusehen, so war die politische und
+religiöse Richtung der Umgebung im Einklang mit meiner Entwicklung. Und
+von dieser Seite aus eroberte mich Augsburg und machte mich schließlich
+zum gefügigen Zögling meiner Tante.
+
+Kaum hatte sie mich äußerlich ausreichend umgemodelt -- eine kunstvolle
+Frisur und ein Pariser Korsett waren ebenso das Attribut süddeutscher
+Vornehmheit, wie der glatte Scheitel und das deutsche Mieder das der
+norddeutschen waren --, als ich in den Kreis ihrer Verwandten und
+Freunde eingeführt wurde. Was mich zunächst in Erstaunen setzte, war,
+bei anerkanntem Reichtum, die große Einfachheit des äußeren Lebens. In
+dem alten hochgiebeligen Stettenhaus am Obstmarkt gab es noch
+gescheuerte Dielen und servierende Dienstmädchen. In der Zeit der
+Renaissancemöbel und verdunkelnden Gobelinvorhänge behauptete hier die
+weiße Mullgardine neben dem leichten Biedermeierstuhl ihren Platz. Im
+Hause der Schätzler, dessen herrlicher Rokokosaal jedem Königsschloß zur
+Ehre gereichen würde, buk die Hausfrau selbst den Weihnachtskuchen und
+machte das Obst ein. Ich verlernte allmählich, über dergleichen die Nase
+zu rümpfen; die Vereinigung von Fleiß, Einfachheit und Reichtum hatte
+etwas imponierendes, und die Erkenntnis, daß es außerhalb der Welt
+meiner bisherigen Umgebung noch Menschen gab, mit denen »man« verkehren
+konnte, war epochemachend für mich. Aber noch überraschender war der
+Eindruck, den das geistige Leben auf mich machte. Zu den Intimsten im
+Hause meiner Tante gehörte der Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung,
+Dr. Otto Braun, der Oberbürgermeister von Augsburg, Ludwig Fischer, und
+der Pfarrer von St. Anna, Julius Haberland. Mit einem kleinen Kreis
+anderer Gäste -- aus dem die männliche Jugend streng ausgeschlossen war
+-- kamen sie regelmäßig einmal in der Woche bei uns zusammen. Der
+Musiksaal, der mit seinen Goldornamenten und rotseidenen Möbeln dem
+brutalen Prachtgeschmack des bayrischen Königs zu huldigen schien, war
+dem Wagner-Kultus geweiht. Im grünen Rokokoboudoir trafen sich die
+Plaudernden; in der ernsten dunkeln Bibliothek unter der zimmerhohen
+Fächerpalme pflegte Otto Braun vorzulesen.
+
+Er war ein außerordentlich lebhafter untersetzter, kleiner Mann, dessen
+Interessen wesentlich literarische waren, und dessen jugendliche
+Begeisterung für seine Lieblingsdichter ansteckend wirken mußte. Trotz
+des Gegengewichts der Tante, die meine Lektüre auf das notwendigste und
+kindlichste beschränken wollte, verstand er es, meine zerfahrenen
+Neigungen in feste Bahnen zu lenken, und erschloß mir Gebiete der
+Literatur, die mir, und damals wohl auch der Mehrzahl des lesenden
+Publikums, noch vollkommen fremd geblieben waren. Hatte ich bisher die
+Bücher der Modedichter, eines Heyse, Dahn oder Ebers, andächtig
+verschlungen, so wurden mir jetzt die von Gottfried Keller, von Conrad
+Ferdinand Meyer und Marie von Ebner-Eschenbach zu künstlerischen
+Offenbarungen. Daß Braun den Allerjüngsten verständnislos
+gegenüberstand, sich gegen radikale Ausländer, wie Zola, Ibsen und
+manche der großen Russen ablehnend verhielt, vermochte auf mich um so
+weniger nachteilig zu wirken, als der Eintritt in seine Interessensphäre
+schon einen großen Schritt vorwärts bedeutete.
+
+Für das Gebiet der Politik und der Religion galt dasselbe wie für das
+der Literatur. Wenn Ludwig Fischer, der als einflußreiches Mitglied der
+nationalliberalen Partei auf der Höhe seines parlamentarischen Ruhmes
+stand, seine Ansichten entwickelte, so erschienen sie mir, der die
+konservative Politik stets als die eines anständigen Menschen allein
+würdige dargestellt worden war, beinahe als revolutionär. Die Erinnerung
+an den revolutionären Liberalismus von 1848, der mich in der
+Geschichtsstunde einmal begeistert hatte, verstärkte diesen Eindruck;
+von Freihandel und Schutzzoll verstand ich nichts, hatte also von dem
+Umfall der Mehrzahl der Liberalen in jener Schutzzollperiode Bismarcks
+keinen Begriff, sondern empfand, was ich hörte, wie eine innere
+Befreiung: es gab Menschen, es gab eine große Partei, die die Ideale
+der Freiheit und der Menschenrechte hochhielten, ich konnte mich zu
+ihnen bekennen, ohne, wie sonst immer, bei den Meinigen auf heftigen
+Widerstand zu stoßen. »Konservativ kann ich nicht sein,« schrieb ich im
+Frühjahr 1881 an meine Kusine, mit der ich, seitdem die Tante befriedigt
+die guten Resultate ihrer Erziehung konstatierte, wieder korrespondieren
+durfte, »das wäre dasselbe, als wenn ich für die Prügelstrafe und die
+Unterdrückung jedes wissenschaftlichen Fortschritts eintreten wollte.
+Der Nationalliberalismus, der nicht eine Kaste und ihre veralteten
+Privilegien, sondern die Interessen des ganzen Volkes vertritt, der die
+wissenschaftliche Erkenntnis stets zu fördern bereit ist, und daher auch
+der religiösen Orthodoxie energisch gegenüber steht, entspricht meinen
+Ansichten.«
+
+Der kirchliche Liberalismus, den kennen zu lernen mir noch interessanter
+war, und der in Augsburg allgemein vorherrschte, wurde im Kreise meiner
+Tante durch den Pfarrer ihrer Gemeinde auf das eindrucksvollste
+vertreten. Der sonntägliche Kirchgang -- hier ebenso eine
+selbstverständliche Pflicht wie zu Hause -- hatte darum nichts
+abschreckendes mehr für mich. Wenn Julius Haberlands schöne
+Apostelgestalt auf der Kanzel erschien und seine sonore Stimme die
+Kirche mit Wohlklang erfüllte, war ich vom ersten Augenblick an
+gefesselt: hier fehlte jede dogmatische Schroffheit; Verständnis und
+Milde fand ich hier für menschliche Fehler und Irrtümer, wo mir in Posen
+nichts als Verurteilung und Härte begegnet war.
+
+Alle Wunden öffneten sich wieder, die die religiösen Kämpfe mir
+geschlagen hatten; sie waren nur mühselig überklebt, aber nicht geheilt
+worden, und ich sehnte mich mehr denn je nach der Heilung. Auf meinen
+dringenden Wunsch bat meine Tante den Pfarrer, mir privaten
+Religionsunterricht zu erteilen; er war bereit dazu, und so ging ich
+denn allwöchentlich ein paarmal in das stille Haus an der Fuggerstraße.
+In seiner sonnigen Studierstube saß ich dem gleichmäßig gütigen Mann mit
+den seinen, von blondem Vollbart umrahmten Zügen und den weißen,
+schmalen, gepflegten Händen viele Stunden gegenüber, und ganz, ganz
+langsam gelang es ihm, aus meinem ängstlich verschlossenen Inneren all
+meine Zweifel und Verzweiflungen herauszulocken. Sein Christentum, das
+den religiösen Glauben weit mehr im Sinne des Vertrauens, statt in dem
+des Für-wahr-haltens, auffaßte, wirkte zunächst auf mich, wie der
+Eintritt in die freie Natur auf einen Menschen wirkt, der zwischen den
+Mauern enger Gassen lange zu leben gewohnt war.
+
+Mein Glaubensbekenntnis konnte zu Recht bestehen, und ich war doch ein
+Christ. Ich brauchte nicht an die göttliche Inspiration der Bibel, an
+die Wunder des Alten Testaments, an die Jungfräulichkeit der Mutter des
+Heilands zu glauben und war doch keine aus der Kirche Ausgestoßene. Als
+heiliges Symbol konnte aufgefaßt werden, was ich wörtlich für wahr zu
+halten verpflichtet worden war, -- demnach hatte ich vor dem Altar
+keinen Meineid geschworen! Mein Verstand beruhigte sich dabei. Ich hatte
+auch hier die »goldene« Mittelstraße erreicht, auf der so viele, selbst
+alte Leute gehen, die keine Heuchler zu sein brauchen, die aber,
+beherrscht von jener gefährlichsten Eigenschaft unserer Denkkraft -- der
+Bequemlichkeit -- da einen Punkt machen, wo die eigentliche Arbeit erst
+anfangen sollte.
+
+Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die Dauer über den
+Hunger des Gemüts nicht hinwegtäuschen. Es blieb leer in mir, viel
+leerer als zu der Zeit, wo der alte strenge Gott der orthodoxen Kirche
+sich noch nicht in einen so milden, hinter fernen Nebeln fast
+verschwindenden väterlichen Greis verwandelt hatte. In kalte Schauer des
+Entsetzens hüllte mich diese trostlose Öde, je länger ich in dem
+glänzenden Blumenhaus am Königsplatz wohnte, je mehr ich mich unter den
+rastlos formenden Händen der Tante der Idealgestalt, die ihr
+vorschwebte, näherte. Nie ließ sie mir Zeit für mich selbst; mein Tag
+war, was das Arbeitpensum und die Art der Erholung betrifft, so genau
+eingeteilt, daß für meine persönlichen Neigungen kein Platz übrig blieb.
+Wenn mich aber einmal in den langen Stunden, die ich bei irgend einer
+Handarbeit saß, die Gestalten meiner Träume überwältigten und ich mich
+ihrer nicht anders zu erwehren vermochte, als daß ich heimlich nachts
+darauf zu Feder und Tinte griff, um mit klopfenden Pulsen in Worte und
+Reime zu fassen, was mich erfüllte, so konnte ich sicher sein, daß die
+Tante oder die Jungfer mein streng verbotenes Tun entdeckten. »Unnütze
+Phantasien« hatte ich zu beherrschen; mußte durchaus gedichtet werden,
+so boten Familienfeste Gelegenheit genug dazu.
+
+Einmal, im Frühjahr wars, als die Tante zu einer ärztlichen Konsultation
+nach München hatte fahren müssen. Da benutzte ich die Erlaubnis eines
+Besuchs bei einer Freundin, um allein nach Herzenslust in der Stadt
+umherzustreifen. Einem tiefen inneren Bedürfnis folgend, das sich aus
+künstlerischen und religiösen Motiven merkwürdig zusammensetzte, war es
+mir schon zur Gewohnheit geworden, bei jedem Ausgang in irgend eine der
+alten Kirchen einzutreten, wo ich im weihrauchduftenden Dämmer
+wenigstens zu Augenblicken stiller Sammlung kam. Heute durfte ich mir
+ein paar Stunden gönnen, nachdem ich den Besuch möglichst abgekürzt
+hatte. Das Portal des Doms stand offen, als ich näher trat, und Scharen
+kleiner Kinder trugen lange Girlanden bunter Frühlingsblumen hinein, um
+die vielhundertjährigen Säulen und Altäre zu den Maiandachten der
+heiligen Jungfrau zu schmücken. Königlich und liebreich zugleich schien
+sie vom Pfeiler des großen Tores auf all die jungen Gläubigen
+herabzulächeln. Innen, in den weiten Hallen, die so wunderbar deutlich,
+und eindringlicher als irgend ein gelehrtes Buch, von der Entwicklung
+deutscher Kunst erzählen, verklangen die vielen trippelnden Füßchen, und
+es war ganz still. Die helle Nachmittagssonne glänzte durch die alten
+gemalten Fenster, so daß Daniel und Jonas, Moses und David von neuem
+Leben durchglüht erschienen. Im Gegensatz zu diesem Licht waren die
+schwarzen Schatten des dunkeln Querschiffs um so tiefer, und wie hinter
+grauen Florschleiern schimmerten die Grabsteine in den Seitenschiffen.
+Dumpfkalte Winterluft schwebte noch um die Mauern. Dem hellen Chorgang
+schritt ich daher zu, aus dem die Kinder mir gerade entgegenströmten;
+sie hatten ihm schon sein frisches Festkleid angetan, und es trieb mich,
+zu sehen, wie sie der Mutter Gottes als heidnischer Frühlingsgöttin die
+Erstlinge des Lenzes geopfert hatten. Da stockte mein Fuß vor einem
+steinernen Grabmal: ein Totenschädel mit breitem Mund und leeren Augen
+grinste mich an, lang gestreckt dehnte sich der ausgedörrte Leib auf dem
+Sarkophag, von Kröten und Schlangen ringsum gräßlich benagt. Entsetzt
+floh ich hinaus; aber in der Erinnerung verstärkte sich nur noch der
+Eindruck: die steinerne Maria am Portal, die blumentragenden Kinder aus
+Fleisch und Blut, und der tote Peter von Schaumburg, der lebenslustige
+Kardinal, der sich selbst, da er noch im Golde wühlte und Augsburgs
+schönsten Töchtern die Beichte abnahm, dieses furchtbare Denkmal gesetzt
+hatte, gingen neben mir her, traten mir in den Weg, oder folgten mit
+leisen Sohlen meinen Schritten. Oben in meinem Zimmer angekommen, warf
+ich hastig Hut und Mantel von mir, setzte mich an den Schreibtisch und
+schrieb -- schrieb -- schrieb, ohne die wiederholte Mahnung zum
+Abendessen zu berücksichtigen, eine phantastische Geschichte, in der der
+Kirchenfürst zu der holdseligsten Jungfrau der Stadt in sündiger Liebe
+entbrannte und die sittsame Maid auf ihr Gebet zum Steinbild auf dem
+Pfeiler verwandelt wurde, während er in ihrer Nähe sich bußfertig dieses
+dauernde memento mori schuf. Ich achtete nicht der Stunde, ich hörte
+nicht die Schritte der Tante hinter mir, erst als sie sich über mich
+beugte und ihr warmer Atem meine Stirne streifte, fuhr ich erschrocken
+aus meinem wachen Traum.
+
+»Also nur den Rücken zu kehren brauche ich, und die alte Geschichte
+fängt von neuem an,« rief sie empört und nahm die beschriebenen Blätter
+vom Schreibtisch. »Statt deinen englischen Aufsatz zu machen, treibst
+du Narrenspossen.« Damit zerriß sie meine Kardinalsnovelle in tausend
+Stücke. Ich fühlte, wie alles Blut mir aus den Wangen wich; mit der
+Selbstbeherrschung war es vorbei. »Du willst mich umbringen -- langsam
+zu Tode martern« -- stieß ich hervor; »tue ich nicht alles, was du
+willst, lasse mich sogar einsperren und kontrollieren, wie einen
+Verbrecher? Gönne mir doch mein bischen eigenes Leben -- schenk mir ein
+paar Stunden am Tag --. Gefällt Dir nicht, was ich schreibe, so laß es
+mir wenigstens. Ich werde ja niemanden damit quälen. --« »Das wäre auch
+noch schöner, wenn du mich mit dem eiteln Herumzeigen solchen
+Geschreibsels blamieren wolltest!« entgegnete sie. »Ich kann
+tintenklexende Frauenzimmer bei mir nicht dulden. Und du willst, ich
+soll dir noch extra Freistunden dafür ansetzen! Eine Frau hat überhaupt
+nicht für sich zu leben, sondern für andere.« Gequält lachte ich auf --
+ich dachte daran, wie die Tante »für andere« lebte! »Ich halte es aber
+nicht aus, ich muß los werden, was mich gepackt hat. Andere denken auch
+nicht wie du. Großmama ist immer dafür gewesen, daß ich dem inneren
+Zwang gehorche.«
+
+»Deine Großmama!« -- höhnisch schürzte die Tante die vollen Lippen; »ich
+will ja gewiß der alten Dame nicht zu nahe treten, aber du solltest doch
+besseres tun, als sie zum Kronzeugen anzurufen!«
+
+Empört fuhr ich auf: »Großmama ist die beste Frau, die ich kenne, der
+einzige Mensch, der mich lieb hat und mich versteht!«
+
+»Mag sein, daß sie dich versteht!« rief die Tante. »Sie ist gerade so
+überspannt wie du. Kein Wunder -- bei der problematischen Herkunft!«
+Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, daß mir die Nägel ins Fleisch
+drangen und warf hochmütig den Kopf zurück: »Mit deinen Augsburgern
+Krämern kann sie sich freilich nicht messen!« Kochender Zorn verzerrte
+die Züge der Tante. »Wirst du sofort wegen dieser unerhörten Frechheit
+um Verzeihung bitten?!« schrie sie mich an. Mit einem kurzen »Nein«
+wandte ich mich ab und ging in mein Schlafzimmer.
+
+Ich warf mich aufs Bett und biß die Zähne zusammen, um nicht laut auf zu
+schreien: krampfhafte Schmerzen in der Seite ließen mich die seelischen
+Leiden momentan vergessen. Andeutungen davon hatte ich schon in
+Pirgallen beim Reiten gespürt; jetzt, in Augsburg waren sie immer
+stärker geworden, und steigerten sich nach jeder großen Erregung zu
+einem heftigen Anfall. Schließlich hatte ich mich entschlossen gehabt,
+der Tante davon zu sprechen; sie hatte es zum Anlaß genommen, mir zu
+erklären, daß ein gut erzogenes junges Mädchen nicht krank zu sein
+hätte, und ihr Hausarzt hatte mir dann, nach einem kurzen Blick auf mein
+blasses Gesicht »Beefsteak und Rotwein« empfohlen. Daraufhin sagte ich
+nichts mehr, auch wenn ich mich vor Schmerzen krümmte. So wie diese
+Nacht war es freilich noch nie gewesen. Ich tat kein Auge zu.
+
+Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich oben zu bleiben hätte.
+Auch vor den Dienstboten sollte ich gedemütigt und so zur Abbitte
+gezwungen werden. Als auch der zweite Tag verstrich, ohne daß ich dazu
+Miene machte, kam Pfarrer Haberland zu mir. Er sprach mir viel von
+Tantens Liebe zu mir, ihrer Sorge um mich, den Opfern an persönlichem
+Behagen, die sie mir ständig brächte, ihrem Alter und meiner zur
+Unterordnung verpflichteten Jugend. »Zeigen Sie, daß Sie jetzt wirklich
+eine Christin sind!« sagte er. »Demütigen Sie sich, auch wenn Ihnen
+wirklich Unrecht geschehen wäre! Bringen Sie freudig das Opfer Ihrer
+selbst -- Sie werden reichen Lohn davon haben!« »Vielleicht hat er
+wirklich recht«, dachte ich; und in dem stolzen Bewußtsein, einen Sieg
+über mein böses Ich errungen zu haben, ging ich mit ihm herunter, und es
+gab eine rührende Versöhnungsszene mit viel Tränen, Küssen und
+Segenswünschen. Ich hatte mich wieder einmal unterworfen. Als eine Art
+Selbstkasteiung sah ich es an, wenn ich nunmehr mit Feuereifer alle mir
+unangenehmen Arbeiten übernahm: ich stickte »altdeutsche« Deckchen, als
+ob ich es bezahlt bekäme, kämpfte stundenlang am Klavier mit meiner
+Talentlosigkeit, strickte unentwegt Strümpfe für die Negerkinder,
+während die Tante nach dem Abendbrot spielte und sang. Aber die Leere im
+Innern blieb, und wenn abends die Nachtigallen vor meinen Fenstern
+flöteten und der Duft der weißen Akaziendolden hereinströmte, dann
+erfaßte mich eine Sehnsucht, eine tiefe, heiße -- wonach, ach wonach?!
+
+Im Sommer fuhren wir nach Grainau. Ich freute mich kindisch darauf, aber
+durch die strenge Abgeschlossenheit des Lebens wurde mir der Aufenthalt
+sehr verbittert. Ich durfte nicht einmal mit dem Sepp auf die Hochalm,
+und als Hellmut Besuch machte, der inzwischen ein flotter Gardeleutnant
+geworden war, und seinen Urlaub in Partenkirchen bei der Mutter
+verlebte, nahm ihn die Tante allein an; sie mußte ihm wohl bedeutet
+haben, daß sie den Verkehr mit »dem Kinde« nicht wünsche, denn er kam
+nicht wieder.
+
+Wir fuhren täglich spazieren, -- wie ich von meinem Wagen aus die
+Touristen beneidete, die mit dem Rucksack auf dem Buckel frisch und
+fröhlich in die Welt hineinmarschierten!
+
+Nach Augsburg zurückgekehrt -- ich war inzwischen sechzehn Jahre alt
+geworden -- eröffnete mir die Tante, daß ich mich nunmehr, nachdem sie
+einen Rückfall nicht wieder beobachtet habe, freier bewegen dürfe. Da
+ich aber weder einen Schreibtisch-, noch einen Stubenschlüssel bekam,
+beschränkte sich die »Freiheit« nur auf ein geringeres Maß von
+Kontrolle, auf den Besuch von Gesellschaften, die nicht ausschließlich
+aus Damen und alten Herren bestanden, und auf den des Theaters, wo zwei
+Logenplätze uns jeden Abend zur Verfügung standen. Die Konferenz und
+Energie meiner Tante, ihre unablässigen, in den verschiedensten Formen
+sich wiederholenden, und neuerdings durchaus freundschaftlich gehaltenen
+Auseinandersetzungen über die Pflichten eines jungen Mädchens von
+vornehmer Geburt, hatten überdies allmählich auf mich gewirkt wie ein
+Opiat, das die Seele stumpf macht. Wachte irgend etwas wieder auf in
+mir, so hielt ich es selbst schon für ein Unrecht, und beeilte mich, es
+wieder einzuschläfern. An meine Kusine schrieb ich damals: »Du fragst,
+ob ich irgend etwas schreibe? Es lebt vieles in meinem Kopf und Herzen,
+aber ich finde keine Zeit dazu, es zu gestalten. Das ist ein wunder
+Punkt in meinem Leben. In mir kocht und glüht es, und ich glaube wohl,
+daß ich Talent habe, und daß es hinausstürmen will. Da muß ich denn
+doppelt hohe Barrieren bauen. Ich muß soviel Prosaisches tun, -- und
+wenn ich erst zu Hause bin, wo ich Mama viel abnehmen muß, wird meine
+Zeit vollends ganz ausgefüllt sein. Es mag Menschen geben, die für die
+Prosa des Lebens geboren sind; ihnen werden die gewöhnlichen Pflichten
+nicht schwer; mir werden sie schrecklich schwer ... Mein armer Pegasus
+hat zuerst daran glauben und am Altar der Pflicht verbluten müssen! ...
+Es ist am Ende das Beste so. Was soll ein armes Mädel mit ihm anfangen?
+Die Phantasie war das Unglück meines Lebens; sie aus mir
+herauszuschneiden war eine gräßlich schmerzhafte Operation. Nun, da sie
+gelungen ist, will ich das, was blieb, nur benutzen, um Haus und Leben
+damit zu schmücken, meinen Eltern und einmal meinem Mann zu dienen.«
+
+Ich war wirklich eine »junge Dame« geworden; ich fühlte nicht einmal
+mehr, daß die hoffnungsvollen Triebe meines Lebensbodens
+niedergetrampelt waren. »Man beurteilt ein junges Mädchen nach seinem
+Aussehen, weniger nach seinem Wissen«, schrieb ich, mir die Ansichten
+der Tante zu eigen machend, »sie wird mit Recht für arrogant gehalten,
+wenn sie schon eine eigne Meinung haben will«. Mein Tagebuch, das ich
+seit dem Augsburger Aufenthalt nicht berührt hatte, weil ich es nicht
+durfte, blieb auch jetzt unausgefüllt, obwohl mich niemand mehr daran
+hinderte. Großmama frug einmal brieflich danach, und ich antwortete mit
+schnippischem Selbstbewußtsein: »Ich schreibe keins, weil ich finde, daß
+man sich in meinem Alter darin Dinge vorlügt, die man nicht denkt, und
+aus Ereignissen wichtige macht, die man besser vergißt. Mein Leben
+brauche ich nicht aufzuschreiben, denn die Nachwelt wird es nicht
+kümmern. Auch Verse mache ich nicht mehr, denn mein Streben ist darauf
+gerichtet, mein eignes Ich und die Welt um mich so poetisch wie möglich
+zu gestalten« -- durch bemalte Teller und Schachteln, bestickte Deckchen
+und ein mißhandeltes Klavier! -- »damit ich einmal meinem Mann eine
+hübsche Häuslichkeit schaffen kann.«
+
+Mein Mann! -- Die Tante sorgte dafür, daß meine Träume sich mehr und
+mehr um ihn drehten und meine Phantasie, die wir so tief eingesargt
+wähnten, nach dieser Richtung üppigste Blüten trieb. War nicht das Ziel
+all ihrer Erziehungskünste der Mann? War es nicht wie ein glattes
+Rechenexempel, wenn sie mir auseinandersetzte, warum und wann und wen
+ich heiraten sollte? »Da ich kinderlos bin, wird für dich reichlich
+gesorgt sein,« sagte sie, als wir einmal im Siebentischwald spazieren
+gingen und ihr Arm schwer und schmerzhaft wie stets auf dem meinen
+ruhte, »aber natürlich erst nach meinem Tode. Jetzt bist du arm und bei
+der schlechten Wirtschaft deiner Eltern kannst du kaum auf eine Zulage
+rechnen. Mach also keine Dummheiten. Sorgen treiben gewöhnlich die Liebe
+zum Hause hinaus. Und wenn ich versucht habe, dich aus deinem
+Wolkenkuckucksheim in die nüchterne Alltäglichkeit zurückzuführen, so
+doch nur, damit du dich nicht mit irgend einer konfusen Leidenschaft
+verplemperst. Du kannst jetzt die größten Ansprüche machen -- verscherze
+dir das nicht!« Ich hörte ruhig zu, ich war so gut erzogen, daß mir das
+alles selbstverständlich klang.
+
+Nur einmal wars, als zerrisse ein dunkler Vorhang vor meinen Augen, und
+ich sah plötzlich, wie eine Vision, die tiefe, dunkle, kalte Leere
+meines Herzens. Ich suchte spät Abends im Park nach einem Tuch, das
+ich irgend wo liegen gelassen hatte, als ich vor mir, eng
+aneinandergeschmiegt, zwei Menschen gehen sah: unsre Lina, das
+Stubenmädchen, und Johann, den Kutscher. Von Zeit zu Zeit blieben sie
+stehen und küßten sich -- endlos verzehrend. »Maria und Josef«, schrie
+die Lina als sie mich sah, »das gnä Fräuln!« Mit Wangen, die glühten und
+Augen, die glänzten, mehr vor Glück als vor Scham, streckte sie die
+Hände nach mir aus: »Gnä Fräuln werdens nit der Frau Baronin sagen, gel
+ja?« bat sie schmeichelnd, »de Liab is ja koan Unrecht nöt. Wers freili
+so noblich haben kann wie das gnä Fräuln, der ka ruhig aufn Prinzen
+warten, der glei mitn Trauring kimmt und gradaus in die Kirch eini
+führt. Aber mir --« sie lächelte den verlegen daneben stehenden Johann
+zärtlich an, »mir haben nix als das bissel Liab -- und dös -- dös müssen
+wir haben ... So red doch auch was, Hannsl!« Sie stieß ihn aufmunternd
+in die Seite. »Recht hast!« stotterte er, »a Freud muß der Mensch haben,
+so a rechte herzklopfete Freud!« Es dunkelte mir vor den Augen, laut
+aufgeschluchzt hätte ich am liebsten. Wie arm, wie schrecklich arm war
+ich! Aber ich war ja so gut erzogen! So versicherte ich denn das Paar
+meiner Verschwiegenheit und kehrte in meine »nobliche« Gefangenschaft
+zurück.
+
+Während der folgenden Monate in Augsburg wurde meiner Erziehung durch
+die Einführung in die Wohltätigkeitsbestrebungen der guten Gesellschaft
+der letzte Schliff gegeben. Meine Tante war Vorstandsmitglied der
+verschiedensten Vereine und galt allgemein für äußerst hilfsbereit. Mir
+waren darüber schon oft Zweifel aufgestoßen, wenn arme Leute, deren
+Unglück sichtlich rasche Hilfe verlangte, von der Schwelle des
+glänzenden Hauses abgefertigt und ihre Angelegenheit dem Bureaukratismus
+irgend eines Vereins überwiesen wurde. Aber meine Tante wußte so viel
+von der Großartigkeit der augsburger Armenfürsorge -- sowohl der
+kommunalen, als der privaten -- zu erzählen, daß ich meine Bedenken
+zurückhielt und mir von dem, was geleistet wurde, die glänzendsten
+Vorstellungen machte. Schon meine erste Teilnahme an der Sitzung eines
+Krippenvereins ließ mir die Dinge in anderem Licht erscheinen. Da saßen
+lauter reiche Frauen in seidenrauschenden Kleidern um den Tisch; keine
+einzige unter ihnen hatte keine Loge im Theater, keine Equipage vor der
+Türe, -- und doch berieten sie stundenlang, auf welche Weise die zur
+Erweiterung der Anstalt notwendigen paar hundert Mark aufgebracht werden
+könnten. Ein Bazar wurde beschlossen. Schon auf der Heimfahrt jammerte
+meine Tante über all die damit verbundenen Mühen und Scherereien, über
+ein neues Kleid, das ich -- als Verkäuferin -- notwendig dafür haben
+müßte, über einen neuen Hut, den sie nur in München bekommen könnte, --
+kurz, ich konnte die Frage nicht unterdrücken, ob nicht die Kosten
+erheblich geringer sein würden, wenn jede der Damen durch Zahlung von
+fünfzig Mark die ganze Sache rasch und glatt erledigt hätte. Aber da kam
+ich schön an. »Du hast doch gar keinen Begriff von Geld und Geldeswert«
+sagte sie, »wenn du meinst, wir könnten alle Augenblicke solche Summen
+einfach hergeben. Was wir für uns tun und unsere Toilette, ist unsere
+Sache, für die Bedürftigen aber muß die ganze Bevölkerung herangezogen
+werden.«
+
+Auch zu Recherchen wurde ich mitgenommen oder durfte sie hie und da
+selbst machen. So kam ich einmal zu einer armen Witwe in die
+Wertach-Vorstadt, die sich und ihre vier Kinder mit Wäschenähen zu
+ernähren bemühte und um Unterstützung nachgesucht hatte. Durch einen
+engen, dunkeln Hof mußte ich gehen, in dessen dumpfer Kellerluft eine
+Schar blasser, kleiner Buben und Mädeln sich herumtrieb. Sie scharten
+sich alle mit offnen Mäulchen um mich, als ich nach Frau Hard frug.
+»Über drei Stiegen links wohnt Mutta,« sagte ein blasser Junge mit einem
+ernsthaften Altmännergesicht, und die Schwester, deren Züge auch vom
+Lachen so wenig zu wissen schienen wie dieser Hof vom Sonnenschein,
+führte mich hinauf.
+
+Mit jenem angstvoll nervösen Ausdruck gehetzter Tiere, der sich den
+Gesichtern all der Menschen einprägt, die den Kampf ums tägliche Brot
+jeden Morgen in gleicher Schärfe aufs neue beginnen müssen, sah die arme
+Frau mir entgegen. Während sie Heftfäden aus all den vielen weißen
+Wäschestücken zog, die fast das ganze winzige Zimmer füllten, und
+dazwischen hie und da aufsprang, um nach dem brodelnden Topf in der
+dunkeln Küche nebenan zu sehen, von dem ein widerlicher Geruch nach
+schlechtem Fett sich allmählich überallhin ausbreitete, erzählte sie mir
+ihre Leidensgeschichte. Der Mann, ein Maler, war vor drei Jahren an der
+Schwindsucht gestorben, -- »ka Wunder nöt bei dera Fabrik am Stadtbach
+draußen« --, die Direktion hatte ihr eine einmalige Unterstützung von
+hundert Mark zugewiesen. »Gott vergelts ihna viel tausendmal« fügte sie
+tief gerührt hinzu, als sie davon sprach; trotz allem Fleiß konnte sie
+aber doch nicht das Nötigste schaffen. Inzwischen kamen die Kinder
+herein und drängten sich halb neugierig halb eingeschüchtert in einer
+Zimmerecke zusammen. »Mit die Kinder is halt a Kreuz,« sagte die Mutter
+seufzend, »eins -- das ginge noch an, aber vier, da weiß man nicht aus
+noch ein vor Sorg und Kummer.« Der Kleinste stolperte in diesem
+Augenblick über seine eignen dünnen rachitischen Beinchen und fiel auf
+einen der Leinwandhaufen. Die Mutter patschte ihm erregt auf die
+Händchen, zankte gleich alle Vieren, daß sie »so arg im Wege« stünden
+und stieß sie unsanft in die Küche, mit der Mahnung, dort ganz still zu
+sitzen. Mir krampfte sich das Herz zusammen vor Mitleid mit diesen armen
+Geschöpfen, die der eignen Mutter nur eine Last waren und es mit
+brutaler Deutlichkeit von ihr selbst erfahren mußten. Fast war ich schon
+fertig mit meinem Urteil über die Hartherzigkeit der armen Näherin, als
+sie mir weinend erzählte, wie sie des besseren Verdienstes wegen ein
+Jahr lang in die Fabrik gegangen wäre, da sei aber ihr Jüngstes aus dem
+Fenster gestürzt, während sie abwesend war, und seitdem könne sie die
+Kinder nicht allein lassen. Aus lauter Angst um sie nähme sie alle Vier
+sogar mit, wenn sie liefern ginge. »Glei spräng i nach, wenn noch eins
+da nunter fiele!«
+
+Ich verlor alle Selbstbeherrschung, -- nie hatte ich auch nur im
+entferntesten von solch einem Elend gewußt --, die Tränen strömten mir
+aus den Augen. Ein schwaches Lächeln huschte über die verhärmten Züge
+der Frau; sie ließ die Arbeit sinken und streichelte mir tröstend die
+Hände: »So a guts Herzerl sans -- das hat mir gwiß der liebe Herrgott
+geschickt!« -- mich durchstach das Wort mit Messerschärfe: Ja, war es
+denn möglich, daß Gott solchen Jammer mit ansehen konnte?! Was hatte die
+Mutter, was hatten die kleinen Kinder getan, daß sie so leiden mußten?
+Warum lebten sie denn eigentlich, da doch ihr Leben gar keins war? Und
+wie kam ich dazu, nicht zu sein wie sie? Dunkel errötend sah ich an
+meinem eleganten Kleide hinab und blickte scheu zu den vielfach
+geflickten dürftigen Röckchen der Kinder hinüber, die sich wieder der
+Türe genähert hatten, um mich anzustaunen. Und ich fühlte plötzlich die
+Spitzen meines Hemdes auf meinem Körper brennen, -- hatten nicht am Ende
+ebenso arme durchstochene Finger sie genäht, wie die der Witwe vor mir?
+O, wie ich mich schämte! Wären die Kinder auf mich zugestürzt und hätten
+mir das weiche Tuch meines Kleides vom Leibe gerissen, hätte die Mutter
+sich mit meinem Mantel bekleidet, -- ich hätte es in diesem Augenblick
+ganz natürlich gefunden. Statt dessen ruhten die Augen der Kleinen mit
+keinem andern Ausdruck als dem der Bewunderung auf mir, und die Mutter
+pries überschwenglich mein »gutes Herz«.
+
+Ich zog den gedruckten Bogen aus der Tasche, um das Notwendigste
+einzutragen. Mechanisch stellte ich meine Fragen. »Wie alt sind Sie?« --
+»Sechsundzwanzig.« -- Erschrocken sah ich auf: dies gelbe, faltige
+Gesicht, der krumme Rücken, die dünnen Haare, der erloschene Blick, --
+und sechsundzwanzig Jahre! Ich sah plötzlich meine Tante vor mir, die
+vierzigjährige -- und ein dumpfer Zorn bemächtigte sich meiner. »Wie
+lange arbeiten Sie am Tage?« -- »I steh halt um fünfe auf und leg mich
+um zwölfen nieder!« -- Und das alles nur um das elende Leben am nächsten
+Tag weiter zu fristen!
+
+»Was verdienen Sie in der Woche?« -- »Sechs Mark, und wanns arg gut
+geht, achte. In der stillen Zeit gibts oft keine drei und vier. Und fünf
+-- sechs Wochen im Jahr is die Arbeit rar.« -- Also hatte sie für sich
+und die ihren weniger, als mein Taschengeld betrug, -- und ich
+gebrauchte für bloßen Toilettentand mehr als sie mit den Kindern zum
+Leben hatte!
+
+Ich ertrug es nicht länger. Das Weltbild verschob sich mir, und seine
+Farben flossen zusammen, so daß nichts als ein schmutziges Grau übrig
+blieb. Ich griff in die Tasche, und in der Empfindung etwas zu tun, was
+für mich weit beschämender war, als für die arme Frau, schüttete ich ihr
+den Inhalt meiner Börse in den Schoß und lief, so rasch ich konnte,
+davon. Als ich, trotz aller Mühe, mich zu beherrschen, atemlos und
+erregt von dem Erlebten berichtete, erklärte die Tante mich für
+»überspannt«. »Wie kannst du die Dinge nur von unsern Empfindungen aus
+bewerten. Die Leute sind das nicht anders gewöhnt, und wenn für das
+Notwendigste gesorgt wird, sind sie zufrieden. Sie übermäßig zu bedauern
+heißt, sie zu Sozialdemokraten machen.«
+
+Ein andermal kam ich zu einem alten Manne, dessen Tochter
+Fabrikarbeiterin war. Die Armenunterstützung, die er erhielt, reichte zu
+seiner Erhaltung nicht aus, und sie hatte erklärt, von ihrem Lohn nur
+wenig erübrigen zu können. Der Alte saß am Fenster eines reinlichen
+Zimmerchens, als ich eintrat; er hustete beinahe ununterbrochen,
+rauchte aber trotzdem die Pfeife, und fast undurchdringliche Wolken
+umgaben ihn. Meinem Wunsch, ein Fenster zu öffnen, widerstand er heftig.
+»I hobs auf der Brust und vertrag ka Zugluft nöt,« sagte er. Unter
+Räuspern und Husten begann ich mein Verhör. Er beklagte sich lebhaft
+über die Tochter, die »a schön's Stück Geld« verdiene, aber »alleweil
+mehr an Putz denkt als an den alten Vater,« und lieber auf »die
+Tanzböden umanand hupft« als bei ihm zu sein, der »dös ausgeschamte Ding
+doch nu amal in die Welt gesetzt hat.« Grade ging die Türe und »d' Resi«
+kam nach Haus, ein schmalbrüstiges junges Mädchen mit hektischem Rot auf
+den Wangen und fiebrig glänzenden Augen. Sie hustete. »Kannst nit a
+bissel s' Fenster auftun,« bat sie nach einer verlegnen Begrüßung, »wenn
+man eh' den ganzen Tag gar nix wie Staub schluckt.« Aber der Alte gab
+nicht nach, sondern eiferte bloß über die ungeratenen Kinder -- »zu
+meiner Zeit gab's koanen eignen Willen nöt bei die Madl. Heut zu Täg is
+aus mit'n schuldigen Respekt.« Die Resi bat mich, ihr mit meinem
+Fragebogen in die Küche zu folgen. Dort riß sie das Fenster auf, und ein
+Hustenanfall erschütterte ihre Brust, so daß ihr vor Anstrengung die
+Schweißtropfen auf der Stirne standen. Seit vier Jahren arbeitete sie,
+die eben erst achtzehn geworden war, in der großen Spinnerei, zu deren
+Aktionären auch meine Tante gehörte, wie ich aus ihrem eifrigen Studium
+der betreffenden Kurszettel erfahren hatte. Sie verdiente sieben Mark in
+der Woche, wovon sie dem Vater die Hälfte abgab. »Für mehr langt's gewiß
+nit, Fräulein,« fügte sie mit tränenden Augen hinzu, »i brauch a bissel
+was für's Gewand, und dann, -- schauen's, wie's mi grad gepackt hat --
+dös kommt alle Tag' a paar Mal -- der Herr Doktor hat gesagt, i soll
+viel Milli trinken, da hol' i mi heimli an halben Liter am Tag« -- aus
+dem Winkel des Schränkchens suchte sie ein Töpfchen hervor, dabei
+ängstlich nach der Türe schielend, ob auch der Vater nichts merken
+könne. »Recht a gute Luft, meint der Herr Doktor, wär' halt auch nötig«
+-- ein bittres Lächeln huschte um ihre Lippen -- »Sie merkend ja selber,
+wie's hier damit steht, und schlafen muß i a no bei ihm drinnen! Wie's
+aber in der Fabrik is, das wissen's gewiß nit, -- da schluckt einer
+weiter nix wie Baumwolle.«
+
+Zu Hause meinte ich, es wäre am besten, der Alte käme ins Spital. Die
+Tante war empört über meine Herzlosigkeit. »Ein Kind gehört zu seinen
+Eltern,« sagte sie, »und dann am sichersten, wenn sie alt und krank
+sind.« Nach einer neuen, »fachverständigeren« Untersuchung wurde
+festgestellt, daß die Resi am Sonnabend stets auf dem Tanzboden zu
+finden sei und für bunte Bänder immer Geld übrig zu haben scheine. Diese
+Entdeckung wurde mir mit allen Zeichen einer Entrüstung mitgeteilt, die
+ich beim besten Willen nicht zu teilen vermochte. »Wir gehen doch auch
+in Gesellschaften -- noch dazu ohne die ganze Woche gearbeitet zu
+haben,« sagte ich naiv, »und die Resi ist jung wie wir, dazu arm und
+krank -- laßt ihr doch das bißchen Lebensfreude.«
+
+Von da an wurden mir die Armenbesuche verboten. Nur zu Weihnachten
+durfte ich an der allgemeinen Bescherung des Krippenvereins teilnehmen.
+In einem langen niedrigen Saal standen hölzerne Tafeln mit
+geschmacklosen bunten Wollsachen, Schuhen, derben Wäschestücken, ein
+paar Pfefferkuchen und verschrumpelten Äpfeln bedeckt; ein dürftig
+geschmückter Baum streckte seine großen Zweige wie lauter wehklagend
+erhobene Arme nach der Zimmerdecke. Lieblos und nüchtern -- gar nicht
+nach Weihnachten -- sah es aus, und ich mußte der Großmutter denken, die
+selbst den Ärmsten immer irgend eine »Überraschung« bereitete, denn »les
+choses superflus sont des choses très nécessaires« Pflegte sie mit ihrem
+gütigsten Lächeln zu sagen. Auf der einen Seite drängten sich die Frauen
+und Kinder eng zusammen, auf der anderen saßen die Damen des Vorstands,
+und unter dem Baum stand Pfarrer Haberland, der die Festpredigt hielt.
+Er war mir völlig fremd diesen Abend, als er so viel vom »Vater im
+Himmel« sprach, »der die Armen nicht verläßt,« von »den wahrhaft
+christlichen Seelen der gütigen Geberinnen,« von der gebotenen
+»Dankbarkeit und Zufriedenheit der Empfangenden.« Dann wurde gesungen
+und dann beschert, wobei die Mütter ihre Kinder immer wieder ermahnten
+»vergelts Gott« zu sagen, obwohl die kleine Gesellschaft offenbar nicht
+recht wußte, warum. -- Über eine Gummipuppe und ein Holzpferdchen hätten
+sie sich tausendmal mehr gefreut, als über all die prosaischen
+Nützlichkeiten.
+
+Trotzdem von der Riesentanne in unserm Musiksaal wenige Stunden später
+hunderte von Kerzen ein warmes strahlendes Licht verbreiteten und alle
+Geschenke meiner Eitelkeit zu schmeicheln schienen, verlebte ich noch
+nie ein so trauriges Weihnachtsfest. Ich sei »schlechter Laune«, meinte
+die Tante ärgerlich, der mein Dank nicht stürmisch genug war. Nachts
+darauf hatte ich wieder einen heftigen Anfall von Seitenschmerzen und
+wußte bald nicht mehr, ob meine Tränen um das körperliche Leid oder um
+die Zerrissenheit meines Innern flossen.
+
+Ich mochte die Sitzungen der Vereine nicht mehr besuchen, trotzdem mir
+dringend empfohlen wurde, mir die gute Gelegenheit, so viel zu lernen,
+nicht entgehen zu lassen. Nur nichts hören und sehen von dieser Hölle,
+in die die Armen mir rettungslos verdammt erschienen!
+
+Ich ging aufs Eis, und in Gesellschaften und ins Theater, und je mehr
+die natürliche Lebenslust befriedigt und die Eitelkeit genährt wurde,
+desto leichter wurde mir ums Herz. Fuhren wir spazieren, die Tante und
+ich, und unser blauer Wagen rollte in der Vorstadt mitten durch den Zug
+der heimkehrenden Arbeiter, so schloß ich am liebsten die Augen, nachdem
+meine Bitte, diese Gegend zu meiden, als »sentimental« unerfüllt
+geblieben war. Aber grade wenn ich nicht hinsah und nur die müden
+Schritte hörte und das freudlose Gemurmel vieler Stimmen, war es mir,
+als ginge ich mitten unter ihnen und sähe meinen Doppelgänger bequem in
+die seidenen Kissen gelehnt an mir vorüber rollen. Und dann packte mich
+eine Wut -- eine Wut, daß ich am liebsten den nächsten Stein genommen
+und ihn den vornehmen Faullenzern ins Gesicht geschleudert hätte!
+
+Sah ich dann, wie aus wüstem Traum erwachend, um mich, so fiel mein
+Blick nur auf gleichgültige oder bewundernde Mienen -- es gab sogar
+Männer, die die Mütze zogen vor uns. Ich wandte jedesmal den Kopf ab.
+
+Im Mai kam mein Vater, um mich heimzuholen. Er war von überströmender
+Freude und Zärtlichkeit, die ich gerührt und dankbar empfand. Seine
+Schwester rühmte mich als das Produkt ihrer Erziehung, wobei sie ihrer
+Mühen und Opfer ausgiebig gedachte und es an Seitenhieben auf die Eltern
+nicht fehlen ließ, die mich in so »verwahrlostem« Zustand ihr übergeben
+hatten. Seltsam, wie mein sonst so heftiger Vater sich das alles
+gefallen ließ; zwar schwollen ihm oft die Adern auf der Stirn, aber er
+schwieg. Ich freute mich auf Zuhause, auf die Liebe, die mich umgeben,
+die Freiheit, die ich genießen sollte, auf die Pflichten, von deren
+Erfüllung ich mir Befriedigung versprach. Alles Böse wollte ich den
+Eltern vergessen machen, was sie durch mich erfahren hatten! Meine
+Gedanken und meine Empfindungen waren schon lange, lange vor mir daheim.
+
+Als ich zum stillen Abschied am letzten Abend im dämmernden Park auf und
+nieder ging, kam es über mich, wie eine Vision. Ein großes, dunkles Tor
+sah ich und eine endlose schwarze Schlange langsam gleichender Menschen,
+die daraus hervorkroch: Mädchen, wie die Rest, und Frauen, wie die arme
+Witwe, und viele, viele Kinder mit sonnenlosen Gesichtern. -- Ich warf
+mich ins Gras und weinte bitterlich. Als ich dann ins helle Licht der
+Lampen trat, schlang die Tante, beim Anblick meiner tränenfeuchten
+Augen, gerührt über so tiefen Abschiedsschmerz, die Arme um mich.
+
+»Bleibe mein gutes Kind,« sagte sie beim Abschied mit Betonung.
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Es war eine mondhelle Mainacht, als wir in Brandenburg ankamen, mein
+Vater und ich. Über das holprige Pflaster rasselte die große alte
+Mietkutsche durch die schlafende Stadt. Der steinerne Roland am Rathaus
+warf einen langen schwarzen Schatten auf die einsame Straße, und in dem
+grünen Dachlaubkrönchen auf seinem Haupte spielte leise der Wind. Unter
+der weiten Wasserfläche am Mühlendamm, der zur Dominsel hinüber führt,
+breitete der Nebel leichte duftige Schleier aus, die ein zitternder
+Streifen silbernen Mondlichts mitten durch gerissen hatte, so daß sie
+flatterten, wie grüßend von unsichtbaren Händen bewegt.
+
+Durch einen schmalen Torweg polterte der Wagen auf den Domhof. Dunkel
+und wuchtig wie eine Burg ragte das uralte Gotteshaus zum Himmel empor,
+das den engen Platz und die einstöckigen Häuschen ringsum, aus deren
+tiefen roten Dächern erstaunte Fensteraugen verschlafen blickten, mit
+seinem Schatten zu erdrücken schien. Nur das größte der Gebäude, das
+breit und massig an der andren Seite den Hof abschloß, war wach: helles
+Licht strömte daraus hervor und verscheuchte den Schatten; um das weit
+offene Tor über der grauen Steintreppe schlang sich ein Kranz bunter
+Frühlingsblumen, und auf der obersten Stufe erschien, als habe die
+größte davon sich losgelöst, und sei vom Mondzauber getroffen zu
+nächtlichem Elfenleben erwacht, ein kleines, schneeweißes Geschöpfchen,
+Stirn und Wangen von goldenen Locken umwallt. Erst als ihre Ärmchen warm
+meinen Nacken umschlangen, fühlte ich, daß es ein Menschlein war, das
+mich willkommen hieß: mein Schwesterchen. Mit ungewohnter Zärtlichkeit
+begrüßte mich die Mutter, mit einem: »Nun bist du endlich daheim,« aus
+dem die ganze vergangene Sehnsucht klang, küßte mir der Vater die Stirn,
+und die Freude hielt mich noch wach, als die Kissen meines Bettes mich
+schon lange weich und wohlig umfingen.
+
+Mit dem dämmernden jungen Tage trieb die Erregung mich zum Tore hinaus.
+Still und verträumt lag der Hof im Morgenglanze, und die stummen Steine
+der Mauern erzählten von der Vergangenheit. An unseres Hauses Platz
+mochte Pribislavs, des letzten Wendenherzogs, Fürstensitz sich erhoben
+haben, als er Albrecht, dem askanischen Bären, Krone und Land überließ
+und Triglaff, den dreiköpfigen Götzen, dem Christengott zu Ehren
+verbrannte. Sieben Jahrhunderte hatten zusammengewirkt, um des
+Gekreuzigten Haus zu errichten, und viele wilde Kämpfe um Glauben und
+Macht, die seiner Friedensbotschaft und Liebespredigt spotteten, hatten
+auf dem Raum zu seinen Füßen getobt. Jetzt nisteten die Schwalben an
+Giebel und Dachfirst, und auf dem Hof, der vor Zeiten von klirrenden
+Kettenpanzern und Sporen widerhallte, pickten weiße Tauben die Körnlein
+auf, die sich in dem wuchernden Unkraut zwischen den Pflastersteinen
+verloren hatten.
+
+In tausend und abertausend Lichtern tanzte die Morgensonne auf den
+blauen Wassern der Havel rings um die Dominsel und malte alle Farben des
+Regenbogens auf die Tautropfen der Wiesengräser. Der Garten hinter
+unserem Hause, wo die Obstbäume weiß und rosenrot blühten, reichte bis
+hinab an das Ufer. Ein Kahn lag im Schilf vor dem weißem Pförtchen, das
+die alte verwitterte Mauer hier unterbrach, und eine Bank lehnte sich
+außen an die epheuumsponnene Wand. Von den wuchernden Ranken fest
+umschlossen, lag ein kleiner, pausbäckiger Liebesgott aus grauem
+Sandstein daneben; wie lange schon mochte er vom Sockel gestürzt sein
+und die schelmischen Blicke grad auf das Himmelsgewölbe richten!
+Mitleidig stellte ich ihn auf die runden Beinchen und steckte ihm statt
+des verlorenen Pfeils einen Hollunderzweig in die winzige Faust. Mir
+wars, als lachte er -- ein helles, zwitscherndes Lachen --, vielleicht
+warens auch nur die lustigen Vogelstimmen im Gezweig. Ein feuchter Wind,
+der den Duft frischer, lebenschwangerer Erde mit sich trug, strich mir
+lind um die Stirne. Es war der Mai, der mich grüßte, der Mai, dem mein
+Herz stürmisch entgegenschlug!
+
+Zu sieben feierlichen Schlägen holte die Uhr im Domturm langsam aus. Und
+mit einemmal ward es lebendig: die späten Nachfolger der Mönche im
+Stiftshaus gegenüber, das sich im Lauf der Jahrhunderte in eine
+Ritterakademie verwandelt hatte, stürmten über den Hof, -- lauter kecke
+brandenburgische Junker, deren harte Schädel der Weisheit der Magister
+trotzten, wie die ihrer Vorfahren von je den friedsamen Bürgern Trotz
+geboten hatten. Sie stutzten, als sie mich sahen, -- die neue
+Nachbarin, -- und musterten mich halb neugierig, halb bewundernd; einer,
+ein langer, blonder, streckte mir die Hand entgegen und warf mir mit der
+anderen lachend einen ganzen Strauß von Vergißmeinnicht zu, so daß die
+blauen Sternchen mir in Haar und Kleid hängen blieben. Noch ehe ich eine
+Antwort fand, flog mir mein Schwesterchen in die Arme, und im Torweg
+tauchten blitzende Helme auf: das Musikkorps von meines Vaters Regiment.
+Mich zu empfangen, kamen sie, und all die Lieder von Glück und Liebe,
+die sie spielten, schmeichelten sich in mein Herz, und die
+Walzermelodien waren wie ein starker Duft von Jasmin, der mich in einen
+Rausch seliger Träume hüllte. Es war der Mai, der Mai, der mich grüßte!
+
+Hat sich die Natur seitdem so verändert, ist das Sonnenlicht trüber,
+sind die Farben der Blumen matter geworden, oder waren es meine siebzehn
+Jahre, die ihren Glanz der Sonne und den Blumen liehen?
+
+Morgens spielte ich mit dem Schwesterchen in Hof und Garten. Wie sie
+erstaunt und gläubig die blauen Augen aufriß, wenn ich ihr die
+schattigen Winkel zeigte, wo die Zwerglein hausen, und sie in jedem
+Blütenkelch nach den Elfen suchen ließ! Beladen mit allem, was strahlte
+und duftete im Garten und auf der Wiese, stiegen wir dann die weiße
+Treppe zur Diele hinauf, um dort alle Vasen und Gläser zu füllen, die
+die Zimmer schmücken sollten. Gegenüber, an den Fenstern der
+Ritterakademie, pflegten zu gleicher Zeit viele Knabenköpfe
+aufzutauchen, und es gab ein lustiges Lachen und Nicken hin und her.
+Bald kannte ich die, die zur Freistunde den Platz am Fenster dem Spiel
+im Schulgarten vorzogen. Unsere Sonntagsgäste waren die meisten von
+ihnen, und der lange blonde, der Fritz, der mir die Vergißmeinnicht
+zugeworfen hatte, war mein Vetter. Die Tertia ließ ihn noch immer nicht
+los, trotz seiner achtzehn Jahre; sein schmaler Schädel war offenbar
+nicht der Sitz seiner besten Kraft. Aber rudern und reiten, tanzen und
+Schlittschuh laufen konnt' er dafür, wie kein anderer; und zum Fenster
+hinaus und hinein konnt' er klettern, wenn es galt, zu verbotener
+Abendstunde unseren Garten zu erreichen, oder mir vor Tau und Tage
+Blumen von den Wiesen zu holen. Seit ich da war, lebte er mit den
+Wissenschaften auf noch feindseligerem Fuß als vorher. Die Junker von
+drüben waren alle meine Ritter, aber er allein war es mit der ganzen
+Hingabe seines treuen Herzens. All meinen Übermut ließ er über sich
+ergehen, um so dankbarer, je mehr ich von ihm forderte. Geduldig hütete
+er mein Schwesterchen, wenn ich zum Lesen Ruhe haben wollte; waghalsig
+kletterte er über die Mauer, um Rosen aus dem Nachbargarten zu holen,
+die mir duftiger schienen als die unseren; weit lief er in die Felder,
+um Kornblumen zu pflücken, die er, von seidenem Band umwunden,
+frühmorgens, ehe ich erwachte, in mein offenes Fenster warf; mit den
+Havelschwänen bestand er so manchen Kampf, weil ich mir die gelben
+Mummeln so gern in die Haare steckte. Den köstlichen Genuß heimlich
+gerauchter Zigaretten gab er auf, um mir statt dessen für sein
+Taschengeld allerlei Zuckerwerk zu kaufen, das ich liebte.
+
+Am Sonntag morgen pflegte mein Vater ihm eins seiner Pferde zur
+Verfügung zu stellen. Ehe ich noch die Treppe hinab kam, die lange
+Schleppe meines Reitkleides stolz hinter mir schleifend, stand er schon
+rot vor Erregung wartend im Hof, und seine Hände, die er mir unter den
+Fuß schob, um mir hilfreich in den Sattel zu helfen, zitterten jedesmal.
+Unterwegs strahlte er vor Freude, wenn er sich zum Blitzableiter irgend
+einer Heftigkeit meines Vaters machen konnte. Vermied ich sonst
+angstvoll jede Ungeschicklichkeit, weil sie unweigerlich einen Sturm
+heraufbeschwor, so ließ ich, wenn der Fritz dabei war, die Peitsche oft
+absichtlich fallen, um zu sehen, wie seine schlanke Jünglingsgestalt
+sich geschmeidig aus dem Sattel schwang, um mir das verlorene
+wiederzubringen. Vergrößerte sich unsere Kavalkade, so kam es wohl vor,
+daß seine Mundwinkel zuckten, wie die eines kleinen Kindes, das weinen
+will, und er wortlos kehrt machte, um in gestrecktem Galopp nach Hause
+zu reiten.
+
+Das alte Städtchen war erfüllt von Jugend. Es gab gar keine alten Leute,
+glaube ich; vielleicht daß sie sich wie die Maulwürfe vor dem lachenden
+Tag grämlich verkrochen. Auch nur wenig junge Mädchen gab es in unserem
+Kreise, dafür um so mehr junge Männer. In meines Vaters Regiment war ich
+die einzige meiner Art, und daß alle Leutnants dem Regimentstöchterlein
+huldigten, war eigentlich selbstverständlich. Sie waren zumeist berliner
+Kaufmannssöhne, die bei den 35ern eintraten, weil ihnen trotz
+reichlicher Zulage die Garde verschlossen blieb und sie sich doch nicht
+zu weit von der Vaterstadt entfernen wollten. Manch einer unter ihnen
+hielt sich eigene Pferde und suchte durch seinen Aufwand wie durch
+seinen Hochmut die feudalen Kameraden von der Kavallerie zu
+übertrumpfen. Das Offizierkorps der weiß-blauen Kürassiere dagegen
+setzte sich aus dem alten Adel Brandenburgs und Pommerns zusammen, und
+zwischen ihnen und den Füsilieren bestanden vor unserer Zeit so gut wie
+keine gesellschaftlichen Beziehungen. Die einen verkehrten auf den
+Rittergütern der Umgegend, mit deren Besitzern Familienbeziehungen sie
+verbanden, die andern zogen den gewohnten Gesellschaftskreis der
+Kaufleute und Fabrikanten vor. Das änderte sich bald, als meine Eltern
+nach Brandenburg kamen. War meines Vaters Adelsstolz durch das
+bürgerliche Regiment verletzt worden, so half ihm seine altpreußische
+Auffassung von der Vornehmheit des Offiziers als solchen darüber hinweg,
+und er setzte alles daran, diese Idee auch in den äußeren Fragen des
+Verkehrs zur Geltung zu bringen. Leicht war es nicht, denn Bürgerstolz
+ist oft so hartnäckig wie Adelsstolz, und manch einer der Besten mußte
+es als Kränkung empfinden, wenn gesellige Beziehungen als eines
+Offiziers unwürdig bezeichnet wurden, die doch seiner eigenen Herkunft
+entsprachen. Aber der daraus entstehende Widerstand gegen meines Vaters
+Wünsche wurde reichlich aufgewogen durch jene unausrottbare neidvolle
+Bewunderung des Bürgerlichen für den Aristokraten, die oft die Maske des
+Hochmuts trägt, meist aber kein andres Ziel kennt, als selbst unter
+demütigender Selbstverleugnung im Kreise der Bewunderten Aufnahme zu
+finden. Unsere eigenen vielfachen freundschaftlichen und
+verwandtschaftlichen Verbindungen mit dem Landadel und seinen Söhnen im
+Kürassierregiment unterstützten überdies die Durchsetzung der
+Erziehungsprinzipien meines Vaters.
+
+Das Unerhörte geschah: zu Pferd und zu Wagen, wenn es aufs Land hinaus
+ging zu den Rochows und Bredows und Itzenplitz, oder zu lustigem
+Picknick im Walde, tauchte der rote Kragen des Infanteristen immer
+häufiger neben dem hellen blauen des Kavalleristen auf, und nur der
+aufmerksame Beobachter bemerkte, daß sich hinter der tadellosen
+gesellschaftlichen Form eine tiefe innere Feindseligkeit verbarg. Grade
+die vollendete Höflichkeit, mit der der Kürassier den kleinen Leutnant
+von den Füsilieren behandelte, richtete die Schranke auf, die den
+Eintritt in das intime Leben unbedingt verwehrte, -- dieselbe
+Höflichkeit, die so aufreizend wirken kann, weil ihre kühle Glätte
+keinerlei Angriffsfläche gewährt.
+
+Mein Vater hatte mir zur Pflicht gemacht, seinen Offizieren ebenso
+freundlich entgegen zukommen, wie den andern: »Daß sie Müller und
+Schultze heißen, muß dich nicht stören; sie tragen alle denselben Rock,
+und heiraten brauchst du sie ja nicht!« Nein, gewiß nicht! Der bloße
+Gedanke kam mir komisch vor! Heiraten --! Der Vornehmste und Schönste
+war mir dafür in meinen Zukunftsträumen nur grade gut genug! Warum auch
+ans Heiraten denken, wo lachend und lockend ein ganzes freies
+Jugendleben vor mir lag! Glücklich und harmlos ließ ich mich von den
+schmeichelnden Wogen der Bewunderung tragen; bei manchem glühenden Blick
+und heißen Händedruck bebte mir wohlig das Herz. Ich sah den einen
+lieber als den andern, ich dachte nicht daran, meine Empfindungen zu
+verstecken, denn ich liebte dankbar strahlende Augen und zeichnete
+freudig den aus, der mir am meisten huldigte.
+
+Entzückend war's, wenn die halbwüchsigen Knaben der Ritterakademie sich
+im Garten um den Platz neben mir rauften; hoch auf klopfte mein Herz,
+wenn der blonde Vetter mich beim Greifspiel stürmisch an sich riß;
+weiche süße Gefühle beschlichen mich, saßen wir, lauter lebensprühende
+Jugend, im Kahn eng beieinander, und streifte meine Hand im Wasser die
+des schwarzäugigen Leutnants, meines getreuesten Kavaliers.
+Triumphierende Siegesfreude trieb mir das Blut wild durch die Adern,
+wenn meine braune Stute mich früh im Morgennebel über den Exerzierplatz
+trug, wo rote Sonnenstrahlen auf den Stahlhelmen der Kürassiere blitzten
+und Blicke mir folgten und Degen sich vor mir senkten, deren Gruß mehr
+bedeutete als bloße Höflichkeit.
+
+Und einmal kam ein Tag, heiß und gewitterschwül, der uns alle, eine
+große lustige Gesellschaft, in blumengeschmückten und buntbewimpelten
+Wagen hinausführte in den Wald, wohin unsere jungen Offiziere uns
+geladen hatten. Unter grünen Bäumen in hellen Zelten waren Tische
+gedeckt, Schieß- und Würfelbuden mit allerlei beziehungsvollen Gewinnen
+standen im Hintergrund, auf kurzgeschorenem Rasenplan war durch bunte
+Fahnenmasten der Tanzplatz abgesteckt. Mit einem Tusch empfing uns die
+Musik, und Fredy, mein treuster Kavalier und meines Vaters jüngster
+Leutnant, begrüßte mich mit einem Strauß dunkler, duftender Rosen. Er
+wich nicht mehr von meiner Seite. Ich suchte mich zu befreien, aber --
+war's Absicht oder Zufall -- man ließ uns immer wieder allein; niemand,
+so schien's, wollte dem jungen Mann den Platz neben mir streitig machen.
+Es wurde dämmernder Abend. Müde von Scherz und Spiel lagerten wir unter
+den Bäumen und schöpften aus großen Kupferkesseln kühle, duftende
+Erdbeerbowle, die den Durst nicht löschte und das Blut nicht kühlte, es
+vielmehr unruhig pochend gegen die Schläfen trieb. Eine halbwelke gelbe
+Rose löste sich mir vom Gürtel, -- der Mann zu meinen Füßen griff
+danach, und ich sah seine Hände zittern, als er sie an die Lippen
+drückte.
+
+Es wurde Nacht. Bunte Lichterketten zogen sich von Baum zu Baum, Raketen
+und Leuchtkugeln flogen zum Himmel empor, wie lebendig gewordene,
+zuckend heiße Empfindungen unserer Herzen. Immer weicher und
+sehnsüchtiger klang die Musik. Wir tanzten, eng aneinander geschmiegt;
+selig erschauernd fühlte ich das pochende Herz an dem meinen schlagen,
+den heißen Atem meine Stirne streifen. Tiefer in den Wald ließ ich mich
+in halbem Traume führen. Erst als es still, ganz still um mich wurde,
+sah ich auf -- in zwei Augen, die sich verzehrend auf mich richteten.
+Stumm lehnte ich mich in den Arm, der sich um mich schlang, und mir war,
+als versänke ich in ein Meer von rotem Feuer, als zwei Lippen sich
+glühend auf die meinen preßten. Die Betäubung schwand nur halb, als
+Geschwätz und Gelächter, Pferdestampfen und Peitschenknallen mir ans Ohr
+tönten und die Wagen durch die Nacht heimwärts fuhren. Es
+wetterleuchtete am Horizont.
+
+Gewitterregen klatschte gegen die Fensterscheiben und weckte mich am
+anderen Morgen. Trübselige Alltagsstimmung lagerte über Haus und Garten,
+und mich fröstelte, wie immer, wenn mir ein Traum verloren ging. Mittags
+kam der Vater aus dem Bureau herauf; sein erregtes Räuspern, sein
+schwerer Tritt kündigten nichts Gutes an.
+
+»Du bist ja eine nette Pflanze!« rief er, kaum daß er eingetreten war
+»hinter dem Rücken deiner Eltern bändelst du mit meinen Leutnants an und
+setzt ihnen Flausen in den Kopf. Hast du denn gar keine Ehre im Leibe?!«
+Verständnislos starrte ich ihn an. »Tu doch nicht so naiv,« schrie er
+wütend. »Du weißt ganz gut, was los ist, und meinst wohl, ich würde
+meine Tochter jedem hergelaufenen Ladenschwengel in die Arme werfen!«
+Ich erschrak -- war das möglich: der Fredy hatte um mich angehalten!
+»Aber ich will ja gar nicht!« stotterte ich. Ein halbes Lächeln huschte
+über das rote Gesicht meines Vaters: »Ja, zum Donnerwetter, was bildet
+sich denn dann der Kerl ein --, er versichert hoch und teuer, deiner
+Zustimmung gewiß zu sein!«
+
+Es half nichts -- nun mußt' ich beichten. Und als ich so im grauen
+Tageslicht den süßen, heißen Traum der Nacht mit kalten Worten wie mit
+Messern zerschneiden mußte, faßte mich ein tiefer Groll gegen den Mann,
+dessen rasches Vorgehen mich dazu zwang. Ein Kuß in der Julinacht, --
+und früh tritt er an mit Helm und Schärpe und begehrt mich zum Weibe für
+ein ganzes langes Leben!
+
+»Man küßt doch nicht, wenn man nicht heiraten will!« sagte meine Mutter
+kopfschüttelnd, als der Sturm des väterlichen Zorns sich etwas gelegt
+hatte.
+
+»Heiraten -- so einen fremden Mann!« kam es darauf zögernd über meine
+Lippen. Die Wirkung meiner Worte war verblüffend: mein Vater lachte --
+lachte, bis ihm die dicken Tränen über die Backen liefen. Und abends
+schenkte er mir einen goldgelben Sonnenschirm, den ich mir schon lange
+gewünscht hatte.
+
+Um jede Klatscherei im Keime zu ersticken, verlangte Papa von dem
+abgewiesenen Freier, daß er sich benehmen müsse, als sei nichts
+geschehen. Fredy folgte, aber er folgte in einer Weise, die das
+Gegenteil von dem erreichte, was beabsichtigt war: sein
+finster-verkniffenes Gesicht, das er zu Schau trug, sobald er sich neben
+uns zeigte, die offenbare Verachtung, mit der er mich strafte, fielen
+weit mehr auf, als seine Abwesenheit aufgefallen wäre. »Du hast dem
+Fredy einen Korb gegeben!« rief mir Vetter Fritz eines Tages strahlend
+vor Freude zu, und bald pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Mit
+jenem Solidaritätsgefühl, das den preußischen Offizier charakterisiert
+und sich selbst stärker erweist als die Subordination gegenüber dem
+Vorgesetzten, wurden Fredys Kameraden nun zu seiner Partei: sie sprachen
+nur das Notwendigste mit der Tochter ihres Kommandeurs; und tanzten sie
+mit ihr, so waren es nur Pflichttänze. Selbst wenn ich gewollt hätte, --
+diese geschlossene Phalanx würde allen Eroberungsversuchen getrotzt
+haben. Aber ich wollte gar nicht; zähneknirschende Empörung erfüllte
+mich, nicht, weil die Kurmacher mir verloren gegangen waren, sondern
+weil ich zum erstenmal die Ungerechtigkeit empfand, mit der mein
+Geschlecht im Vergleich zum männlichen behandelt wurde.
+
+Als ich einmal wieder »pflichtschuldigst« von einem der Offiziere des
+väterlichen Regiments bei einem Diner zu Tisch geführt worden war und
+mich tödlich gelangweilt hatte, trat ein alter Major, der mir sein
+besonderes Wohlwollen zugewendet hatte, lächelnd auf mich zu.
+
+»Sie müssen sich darein finden, Kleine,« sagte er »das Kokettieren ist
+nun mal eine böse Sache und straft sich immer.«
+
+»Kokettieren?! Ich habe gar nicht kokettiert!« rief ich in dem
+Bedürfnis, einmal auszusprechen, wie ich empfand, »ich hab' ihn gern
+gehabt, sehr gern sogar, aber doch lange, lange nicht so, um seine Frau
+zu werden.«
+
+»Ein junges Mädchen darf es nicht so weit kommen lassen --«
+
+»Wenn sie nicht heiraten will!« unterbrach ich den braven Mann lachend,
+dessen spitze Schnurrbartenden zu zittern begannen. »O ich kenne die
+Weise, und weiß daher, daß die ganze Musik falsch ist, grundfalsch!
+Warum soll denn ein Mädchen sich gleich mit Leib und Seele verschreiben,
+wenn sie Einen freundlicher anlächelt als den andern? Warum soll der ein
+Recht haben auf ihre Hand, dem sie an einem schönen Julitag einmal von
+Herzen gut war? Verlangen Sie etwa dasselbe von Ihren Leutnants, die
+manch armes Ding durch ganz andere Liebesbeweise an die Echtheit ihrer
+Gefühle glauben lassen?!«
+
+»Aber -- mein gnädigstes Fräulein --« unterbrach der Major mit einer
+verzweifelnden Gebärde meinen Redefluß und richtete sich steif und
+gerade auf, so daß sein Kahlkopf mir bis an die Nasenspitze reichte.
+Seine kleinen wasserhellen Augen drückten dabei ein so komisches
+Entsetzen aus, daß meine Empörung verflog und ich das Lachen nicht
+unterdrücken konnte. »Beruhigen Sie sich nur, Papa Schrott« -- damit
+streckte ich ihm begütigend die Hand entgegen -- »wenn ich mal so alt
+bin, wie Sie, werd' ich gewiß gerad' so moralisch sein!« Aber er nahm
+meine Hand nicht --
+
+Was gings mich an?! Mochten sie alle die Gekränkten spielen! Mein Vater
+irrte sich offenbar: der gleiche Rock macht nicht zu Gleichen! Die
+Kürassiere tanzten und ritten nicht nur viel besser, sie waren auch
+fröhlichere Partner bei jenem Spiel mit dem Feuer, -- dem einzigen, das
+ich mit steigender Leidenschaft spielte, je mehr Gefahr es in sich
+schloß, und je höher der Einsatz war. Wie ein Raubvogel mit weit
+gestreckten schwarzen Schwingen schwebte die Phantasie über den grünen
+lachenden Blumenmatten meines Lebens. Stark genug wäre sie gewesen, mich
+empor zu tragen in ihr Höhenreich, wo ich zu ihrem Herrn geworden wäre;
+aber zur Furcht vor dieser Fahrt mit ihr hatte man mich dressiert, nun
+lauerte sie hungrig und rachgierig auf tägliche Beute, und ich mußte
+mich ihr unterwerfen.
+
+Das gleichmäßige Tiktak des Alltags vertrug ich nicht, beschleunigt
+mußte es werden bis zum Fiebertempo, oder übertönt von Fanfaren der
+Freude. Wenn ich den Pflichten des Hauses nachkam, so umwand ich ihre
+langweilige Dürre mit Blumen, wenn ich mit meinem Schwesterchen spielte,
+so spielte ich nicht mit ihr, mich ihrer Kindlichkeit unterwerfend,
+sondern führte vor ihr meine bunten Träume auf. Mir genügte nicht ein
+kurzes, harmlos improvisiertes Tänzchen, es mußte ein wogender,
+leidenschaftlicher Tanz bis zur Erschöpfung daraus werden. Und eine
+Stunde zu Pferde in der Morgenkühle stachelte nur mein Verlangen nach
+wilden Ritten über Stock und Stein.
+
+Ich glaube, mein Vater war auf nichts so stolz als auf meine Reitkunst,
+die das Ergebnis seiner eigensten Erziehung war, und nie so geneigt, mir
+nachzugeben, als wenn meine Wünsche dieses Gebiet berührten. Schon früh
+am Morgen begleitete ich ihn, aber am Nachmittag durfte ich mir die
+Stute wieder satteln lassen, oder den großen Braunen mit der
+sternzackigen weißen Blässe auf der Stirn, dessen spielende Ohren sich
+auf jeden leisen Zuruf verständnisvoll spitzten, der schon dem
+sanftesten Druck nachgab und wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil über
+Hecken und Gräben flog. Fast immer hatte ich Schmerzen, wenn ich ritt,
+jene alten Schmerzen in der rechten Seite, die sich in Augsburg so
+gesteigert hatten, aber der Genuß ließ mich die Zähne zusammenbeißen. Im
+Sattel fühlte ich mich frei; und wie meine Füße nicht den Staub der
+Straße berührten, so war meine Seele fern von allem, was grau und
+schmutzig unten liegt. Ich habe mich nie in der Mark heimisch zu fühlen
+vermocht, aber wenn ihr weicher Sand den Hufen meines Pferdes nachgab,
+so daß das Reiten war wie ein sanftes Wiegen und ihre Wiesen und Wälder
+sich schier endlos vor mir dehnten, eine wundervolle Bahn für einen
+langen Galopp, -- dann liebte ich sie, dann ergriff ich Besitz von ihr
+und träumte mich als Herrin des Bodens, den mein Brauner trat.
+
+Freiheits- und Herrschaftsgefühl, -- das ists, was nur der Reiter kennt,
+darum war Reiten von je her Herrenrecht. Im Schweiße seines Angesichts,
+wie ein Sklave, schwer mit den Muskeln arbeitend, wie er, treibt der
+Radler sein Stahlroß vorwärts; nur auf gebahnten breiten Wegen vermag
+der Kraftwagen ratternd und pustend durch die Welt zu rasen, indes der
+Reiter sich leise durch tiefe Waldeinsamkeit tragen läßt und das edle
+Tier unter ihm den reinen ruhigen Genuß der Natur nicht stört. Lockt ihn
+die Ferne, begehrt er, seine Kräfte zu erproben, um seinem Mute vor sich
+selbst ein Zeugnis abzulegen, so genügt ein Druck der Sporen, und er
+spottet aller Hindernisse. Er ist der Künstler, der freie, starke, --
+arme Arbeiter aber sind jene anderen, abhängig von ihrer Maschine, ihr
+untergeben. Wir ritten oft weit: bis nach Rathenow hinüber, wo der tolle
+Rosenberg seine Husaren zu lauter Meistern der Reitkunst erzog und trotz
+Sekt und Morphium von keinem der Schüler je übertroffen wurde, oder
+westwärts zu den blauen Potsdamer Havelseen, wo die Berliner Touristen
+uns freilich oft genug die Laune verdarben. Ein Mensch, der sich auf
+Schusters Rappen vorwärts bewegt, ist der geborene Feind dessen, der
+vier Pferdebeine unter sich hat, und der strengste Vater steht ohne ein
+Scheltwort mit heimlicher Befriedigung seinem Sprößling zu, wenn er mit
+Steinchen nach den Reitern wirft oder durch lautes Indianergeheul die
+Pferde zum Scheuen bringt. Die einstige Identität von Reiter und Ritter
+ist unvergessen, und unter der Schwelle des Bewußtseins schlummert
+vielleicht irgend eine altmärkische Erinnerung an die Krachts und
+Quitzows, die den Haß steigern hilft.
+
+Im Spätherbst wars, an einem jener lichtfunkelnden Oktobertage, wo die
+Buchen im Schmuck ihres roten Goldlaubs glänzen und die dunkeln
+Silhouetten der Kiefern sich vom hellen Himmel phantastisch abheben. Ein
+paar Rathenower Husaren begleiteten uns, und die Eitelkeit reizte mich,
+vor ihnen zu zeigen, was ich konnte. Die Stoppelfelder boten freie Bahn,
+und kein Hindernis im Gelände war mir fremd. Bis zur alten Eiche im
+Plauer Wald, schlug ich vor, sollten wir reiten.
+
+»Der Schleier an Ihrem Hut sei der Preis!« rief lachend einer der
+Herren. »Sie vergessen, daß ich siegen werde!« antwortete ich, den Kopf
+in den Nacken werfend, und klopfte meinem Braunen aufmunternd auf den
+schlanken Hals. »Für den Fall wünschen Sie sich ruhig die Krone vom
+Kaiser von China!« spottete ein anderer, und fort gings in gestrecktem
+Galopp. Dicht nebeneinander nahmen wir den ersten Graben, -- aber schon
+flog ich voraus, eine halbe Pferdelänge hinter mir der Fuchs meines
+Vaters, der unter Vetter Fritzens leichtem Gewicht gewaltig ausgriff.
+Über die Mauer setzte ich und wieder über eine, die das Gehöft eines
+armen Käthners umschloß. Ich war allein. Jauchzen wollte ich im
+Vollgefühl nahen Sieges -- aber der Ton blieb mir in der Kehle stecken
+--, ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen Körper. Unwillkürlich
+fuhren die Sporen meinem Gaul in die Flanke. Überrascht von der
+unverdient schlechten Behandlung, stieg er mit den Vorderbeinen hoch in
+die Luft, um im nächsten Moment in wahnsinniger Pace vorwärts zu jagen.
+Jeder Sprung steigerte meine Schmerzen, es dunkelte mir vor den Augen,
+-- ich hing nur noch im Sattel. Mit dämmerndem Bewußtsein sah ich eine
+große blaue Wasserfläche dicht vor mir: den Plauer See. Wie eine Bitte
+stieg es auf in mir: trag' mich hinein, mein treues Roß, trag' mich
+hinein -- daß die brennenden Schmerzen sich kühlen! Und mir war, als
+schlügen die Wellen über mir zusammen.
+
+Im grünen Rasen lang ausgestreckt, kam ich zu mir und sah in das guten
+Vetters verängstigtes Gesicht, das sich dicht über mich beugte. Tränen
+standen in seinen Augen, und unterdrücktes Schluchzen erschütterte seine
+Stimme, als er rief: »Du lebst! Gott Lob -- du lebst!« Als mein Vater
+kam, stand ich schon auf den Füßen und machte krampfhafte Anstrengungen,
+ihm möglichst sorglos entgegenzulächeln.
+
+Ein Wagen vom Planer Schloß brachte mich nach Hause, und der rasch
+geholte Arzt machte mit der Morphiumspritze meinen Qualen ein Ende.
+
+Zwischen Bett und Liegestuhl spielte sich von nun an mein Leben ab. Mein
+Lieblingsplatz war draußen vor der Mauer, wo der Hollunderbusch geblüht
+hatte, als ich im Mai gekommen war. Der kleine Liebesgott stand immer
+noch grade auf den dicken Beinchen, aber die Vöglein zwitscherten nicht
+mehr im Weinlaub. Dunkelrot hatte der Herbst es gefärbt. Darunter lag
+ich und sah in den Himmel und hörte die Blätter fallen. Vetter Fritz war
+fast immer neben mir, meiner Wünsche gewärtig, -- er hatte das Lernen
+nun wohl ganz aufgegeben.
+
+Mit dem berauschenden Gift, nach dem ich immer heftigeres Verlangen
+trug, kam der Arzt zweimal des Tages, und süße, traumhafte Stunden waren
+es, wenn der Körper schwer und schwerer und der Geist immer leichter
+wurde. Zu überirdischer Größe fühlte ich ihn wachsen, und Kräfte
+durchströmten mich, stark genug, mit einer ganzen Welt den Kampf zu
+bestehen. Panzerumgürtet sah ich mich wieder, wie einst, wenn ich zur
+Jungfrau von Orleans mich träumte, und ich schämte mich des tatenlosen,
+bunten Spiels, das ich getrieben hatte. Aber auch andere Träume kamen,
+die mich streichelten oder mir heiß das Blut in die Wangen trieben; dann
+ließ ichs geschehen, daß der Knabe neben mir meine Hände küßte und von
+der Glut seiner Liebe unsinnige Dinge sprach.
+
+»Erlaube nur, daß ich dich liebe und daß ichs dir sagen kann --« flehte
+er -- »bald werde ich dich nicht mehr sehen dürfen wie jetzt, ferner und
+ferner wirst du mir sein, -- eine Balldame, und ich -- ein Schuljunge!«
+Stöhnend vergrub er den Kopf in meine Kleiderfalten, um gleich darauf
+mit heißen Augen wieder zu mir aufzusehn: »Aber lieben -- lieben werd'
+ich dich immer!«
+
+»Immer?!« -- Wird nicht ein einziger Herbststurm den kleinen Liebesgott
+wieder vom Sockel werfen? -- Ich lächelte wehmütig. Kühl wehte der
+Abendwind vom Wasser, das die Nebel schon zu verhüllen begannen, und
+fröstelnd wickelte ich mich dichter in mein Tuch.
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+»Nun wird sie schlafen -- --« hörte ich in halbem Traum den Arzt zu
+meiner Mutter sagen, während sich leise die Türe hinter ihnen schloß.
+Seit vier Tagen hatte ich mich in Schmerzen gewunden, die selbst der
+Morphiumspritze stand hielten. Heute war ich chloroformiert worden.
+Durstig hatte ich unter der Gazemaske den süßen Duft wachsender
+Betäubung eingesogen. Jetzt lag ich schwer, wie in Ketten gebunden, auf
+dem Bett, -- schmerzlos, schlaflos. Ein mattes, rosig flackerndes Licht
+ging von dem Nachtlämpchen neben mir aus. Die gelben Blätter auf der
+Tapete zuckten hin und her -- zuerst langsam, dann immer schneller,
+schneller --, mir wurde schwindlig dabei. Ich schloß die Augen. Gott,
+war ich müde! -- Plötzlich sprang die Türe auf, und es schwebte herein,
+groß, weiß und kalt; Augen sahen mich an, ohne Farbe, wie Mondlichter,
+-- und andere tauchten wie aus Nebelschleiern auf, blutunterlaufene, --
+in schmerzverzerrten Gesichtern, -- hungrige, die gierig nach Beute
+suchten, -- lüsterne, in denen kleine, rote Flammen tanzten. Dabei
+rauschte es wie von vielen Gewändern, und tappte und klapperte, wie von
+zahllosen Tritten ... Die Wände rückten auseinander vor der schiebenden
+drängenden Masse gräßlicher Gespenster ... Nun stand sie vor mir, ganz,
+ganz dicht, die Weiße mit den Mondaugen, und eine Hand, wie von Eis und
+zentnerschwer, legte sich auf mein Herz. »Queen Mab« schrie ich auf --
+jetzt saß sie schon auf meinem Bett, und ihre Finger bohrten sich in
+meine Seite ... Ich aber lag in Ketten gebunden und konnte sie nicht von
+mir stoßen.
+
+Wir kämpften miteinander -- Tage -- Wochen. Meine Jugend besiegte sie.
+Es kamen ganz stille Zeiten, wo die Schneeflocken leise vor meinen
+Fenstern niederfielen und nur hie und da von weitem ein lauter Ton an
+mein Ohr schlug: das Stampfen der Pferde im Stall, der Schlag der
+Domuhr, das lustige Lachen Klein-Ilschens.
+
+Nun wußten die Arzte endlich, woran ich litt: die Nierenentzündung, die
+mich so überwältigt hatte, ließ keinen Zweifel mehr daran. Ich mußte
+bewegungslos, grade gestreckt im Bette liegen, auch dann noch, als die
+Weiße mit den Mondaugen mich längst verlassen hatte. Statt ihrer spitzen
+Eisfinger in meinem Körper bohrten sich viele kalte Gedanken in mein
+Hirn.
+
+Wo war ich? Hatte nicht der Morphiumrausch des Leichtsinns alles Gute,
+Starke in mir eingeschläfert? War ich nicht meinen großen
+Kinderhoffnungen untreu geworden? Oder: sie mir?! Tanzen, reiten,
+lachen, mit Herzen spielen, wie mit Federbällen -- das Schwesterchen ein
+bißchen hätscheln, das Haus ein bißchen schmücken --, sollte das des
+Lebens einziger Inhalt sein? War ich mit sechs Jahren nicht reicher
+gewesen, wo ich mich als Jungfrau von Orleans träumte, als heute, nach
+einem Jahrzehnt? Und viel reicher damals, da ich mir den Baldurtempel
+baute? Ich grub -- grub rastlos im verschütteten Schacht meines Innern.
+Halb verhungert im dunkelsten Winkel, saß sie in sich versunken und
+grau, meine arme Seele. Wie arm, wie elend war ich! Wo war ein Ziel für
+mich, des Ringens wert? Wo eine große Flamme, um des Lebens dunkle Asche
+wieder anzufachen?!
+
+Ein schmales, blasses Antlitz, von schwarzen Spitzen umschlossen, beugte
+sich über mich. »Großmama,« flüsterte ich, und es war, als ob die
+Hoffnung eine Türe öffnete, die ins Helle führte. »Nur still, mein
+Liebling, ganz still --« sagte sie lächelnd, und eine Träne fiel mir auf
+die Stirn, eine Freudenträne.
+
+Mit einer Pflichttreue, die keine Schwäche aufkommen ließ, hatte meine
+Mutter mich Tag und Nacht gepflegt. Großmama war gekommen, sie
+abzulösen. Sie war es auch, die, wie immer, wenn es zum Wohle ihrer
+Kinder und Enkel notwendig war, die Mittel hergab, durch die ich gesund
+werden sollte. Als der Arzt mir eine karlsbader Kur verordnete, wußte
+ich wohl, warum Mama die Lippen zusammenpreßte und Papa sich unruhig
+räusperte: was sie hatten, verschlang des Lebens notwendiger Aufwand.
+
+So fuhr ich denn mit Großmama, sobald ich transportfähig war, nach
+Karlsbad, wo sie selbst so oft schon Heilung gefunden hatte. Ihr alter
+Arzt, zu dem sie mich brachte, schüttelte den Kopf über mich, einen
+dicken kahlen Mönchskopf, der auf einem dünnbeinigen Zwergenkörper saß.
+»Nur Seelenaufruhr, wo es nicht das Alter ist, führt zu solchen
+Körperkatastrophen« -- ein fragender Blick aus kleinen blitzenden
+Äuglein richtete sich auf mich. »Wie alt ist denn das Fräulein?«
+
+»Siebzehn Jahr!«
+
+»Siebzehn Jahr!« Er sprang auf vom Stuhl und durchmaß das Zimmer mit
+kleinen hastigen Schritten, wobei der runde Kopf sich immer von einer
+Schulter zur andern neigte.
+
+»Liebesschmerzen?!« -- Dabei bohrte sich sein Blick in den meinen. Ich
+lachte verneinend und schwieg. Hätte er andere Schmerzen verstanden,
+auch wenn ich sie ihm erklärt haben würde?
+
+Mit jener taktvollen Zurückhaltung, die jeden Zwang auf das Vertrauen
+eines Menschen, -- auch des Nächsten, -- sorgfältig vermeidet, forschte
+auch Großmama nicht weiter, und ich, so gar nicht gewöhnt, mich
+auszusprechen, fürchtete mich fast davor. Aber wenn wir im
+Morgensonnenschein unsre Spaziergänge machten, auf bequemen Wegen durch
+duftenden Tannenwald, der grade seine grünen Frühlingskerzchen
+aufgesteckt hatte, und die Gipfel der sanft geschwungenen Höhenzüge
+erreichten, die dem Kranken Kraftleistungen so freundlich vortäuschen,
+dann durchströmte mich linde, lösende Lenzluft, und schüchtern tastend
+wagten sich Fragen hervor und Geständnisse.
+
+»Ich kann nicht glauben, Großmama,« sagte ich einmal, als sie von dem
+inneren Frieden durch den Glauben gesprochen hatte. Wir saßen grade vor
+der großen, alten Fichte, mit dem verwitterten Muttergottesbild daran,
+die auf dem Wege zum Freundschaftstempel den ganzen Wald zu beherrschen
+scheint.
+
+»So laß alle Fragen des Glaubens dahingestellt, und handle nur im Geiste
+Christi, erfülle deine Pflichten, diene den Menschen, unterdrücke die
+bösen Triebe in dir und pflege die guten, dann wird der Glaube von
+selbst kommen, und es wird stille werden in dir.«
+
+Ich schwieg, mechanisch zeichnete mein Schirm Kreise in den Sand. War
+der Baum vor mir nicht auf Kosten derer, die er besiegte, denen er die
+Sonne nahm, so gewaltig emporgewachsen? Ein lebendiger Protest erschien
+er gegen das Madonnenbild mit den Schwertern im Herzen, das sich in
+seine Rinde grub. Etwas in mir empörte sich gegen die gütige alte Frau
+neben mir. Meine Kraft täglich in kleinen Opfern verbluten lassen, hieß
+das nicht schließlich mich selber morden? Und ich begehrte ja gar nicht
+des Ziels, ich wollte nicht stille werden, ich wollte den Kampf und das
+laute, sprühende Leben. Aber der Mut fehlte mir, zu sagen, was ich
+dachte. Darum frug ich nur leise: »Und das Glück, Großmama?«
+
+Sie lächelte, und eine ganz kleine, wehe Falte erschien zwischen ihren
+Brauen.
+
+»Das Glück! -- Wir sitzen, wenn wir jung sind, immer wie vor einem
+Vorhang und starren gebannt darauf hin und erwarten ein Zaubermärchen
+von dem Augenblick, wo er aufgeht. Indessen versäumen wir all die echten
+Gaben des Glücks, die es um uns ausstreut: die Liebe der Unseren, die
+Gaben des Geistes, die Frühlingsblumen und den Sommerhimmel. Mache nur
+die Augen auf und strecke die Hände aus, dann hast du sie.«
+
+»Ist das alles?!«
+
+»Nein, mein Kind,« entgegnete die Großmutter, und ein feierlicher Ernst
+legte sich über ihre Züge. »Du wirst Weib werden und Mutter, und Liebe
+empfangen und tausendfältige Sorgen. Und dann wirst du wissen, daß sie
+auf sich nehmen und Liebe geben, mehr als dir gegeben wurde, das Glück
+ist.«
+
+Wir gingen weiter; ich kämpfte mit den Tränen. Meine Mutter fiel mir
+ein: sie erfüllte bis zur Erschöpfung ihre Pflicht, aber ihre Lippen
+preßten sich immer enger aufeinander, als müßten sie krampfhaft die Qual
+zurückdrängen, die nach Ausdruck verlangte. Und an Onkel Walter dachte
+ich und an jenen unvergessenen Auftritt mit seiner Mutter in Berlin; und
+an all die leisen Zurücksetzungen und Kränkungen, die sie, die immer
+Gute, von ihren Kindern zu ertragen hatte. Ich wußte: auch sie hatte
+gelebt und geliebt und nach schwindelnden Höhen gestrebt, und dies war
+das Ende, das von ihr gepriesene, von all dem Sehnen, all den heißen
+Hoffnungen, die einzige Frucht, die aus dem blühenden Leben so vieler
+Talente, so vieler Kräfte hervorging? Mich überliefs, wenn ich mein
+Leben an diesem maß. Ich fühlte schmerzhaft die große Kluft zwischen
+ihrem abgeklärten Alter und meiner gährenden Jugend. Liebe und Verehrung
+kann bestehen zwischen beiden, auch wohlwollendes Verständnis, und
+starke Wirkungen können ausgehen von einem zum anderen, aber jene
+magnetischen Ströme fehlen, durch die das Feinste und Tiefste lebendig
+vom Menschen zum Menschen flutet. Auf dem Wege zu schwindelnden
+Bergeshöhen kann der Greis nicht mehr Schritt halten mit dem Jüngling,
+und grausam ist es, wenn er ihn an sich fesselt, aber noch viel
+grausamer gegen sich selbst, wenn Jugend, ihre Triebe hemmend, sich
+freiwillig dem Alter unterwirft. Trennung -- auch wenn sie Wunden reißt
+-- ist eine Bedingung des Lebens.
+
+Sich beherrschen, sich unterwerfen war die Quintessenz meiner -- und
+aller -- Erziehung gewesen. Darum schämte ich mich meines inneren
+Widerstandes, sprach nicht von ihm und versuchte, ihn unter der reifen
+Weisheit, die mir zufloß, zu ersticken. Großmama verlangte es freilich
+nicht von mir: sie gab nur, wie sie stets nichts als das eine Bedürfnis
+hatte, mit dem Besten, was sie besaß, andere zu überschütten. Aber ein
+junges Pflänzlein ertrinkt nur zu leicht unter der warmen Fülle des
+Frühlingsregens, die dem starken Baum zur Quelle üppigen Lebens wird.
+
+Mit meiner fortschreitenden Genesung flohen wir die Nähe der Menschen
+allmählich immer weniger, und ein großer Kreis von Bekannten und
+Verwandten fand sich allmählich zusammen, aber nur wenige wurden zu
+unserm ständigen Verkehr und zu Begleitern unsrer langen Spaziergänge.
+Einen von ihnen hatte ich in Augsburg kennen gelernt: es war Baron Franz
+Stauffenberg, der gerade damals wegen seiner scharfen oppositionellen
+Stellung gegen die Wirtschaftspolitik Bismarcks eine in unsern Kreisen
+berüchtigte und gemiedene Persönlichkeit war. Daß er, der
+Großgrundbesitzer, Freihändler war und blieb, daß er, der Aristokrat,
+sich der Fortschrittspartei näherte, machte ihn »unmöglich«.
+
+Großmama stand jenseits solcher Vorurteile. Geist und Bildung zog sie
+an, gleichgültig, wer ihr Träger auch sein mochte, und Stauffenberg
+gehörte zu jenen immer seltener werdenden Menschen, die sie an ihre
+Jugend in Weimar gemahnen konnten, wo der Beruf den Einzelnen noch nicht
+mit Haut und Haaren auffraß und die Vielseitigkeit lebendiger Interessen
+einen geselligen Verkehr höherer Art möglich machte. Stauffenberg
+vermied es sogar, über Politik zu sprechen, während er auf jedem
+anderen Gebiet, das berührt wurde, zu Hause zu sein schien. Noch nie
+war ich mir so klein und unwissend vorgekommen wie im Verkehr mit ihm.
+In seiner Vorliebe für englische Literatur traf er sich mit Großmama;
+dabei schlugen Namen an mein Ohr, und von geistigen Strömungen war die
+Rede, von denen ich noch nie gehört hatte: Robert Browning -- Ruskin --
+William Morris.
+
+Die bildende Kunst pflegte man in den achtziger Jahren außerhalb der
+Museen nicht zu suchen; die Beziehung zu ihr war für die meisten
+dieselbe, wie die zur Religion: sie hörte auf, sobald die Türen der
+Galerien und der Kirchen sich hinter ihnen schlossen. Daß Leben und
+Kunst eins sein können, fiel in unseren Kreisen niemandem ein. Eine
+gewisse Leichtigkeit der Existenz, ein durch Generationen sich
+fortpflanzender Wohlstand ermöglichen erst ihr Ineinanderfließen;
+Preußen hatte keine künstlerische Kultur. Was ich von Ruskin, und
+besonders von Morris, erfuhr, zauberte phantastische Bilder in mir
+hervor: ein perikleisches Zeitalter, ein Florenz der Mediceer. Die
+Wirklichkeit voll Not, voll Ungerechtigkeit und Häßlichkeit, die
+Großmama demgegenüber heraufbeschwor, weckte mich unsanft aus meinen
+Träumen. Es sei so viel, so schrecklich viel zu tun, um für die Masse
+der Menschen nur das nackte Leben möglich zu machen, sagte sie, daß es
+ihr vermessen erschiene, Bedürfnisse nach Schönheit zu wecken, wo die
+vorhandenen Bedürfnisse nach Nahrung und Obdach nicht im entferntesten
+gestillt wären. Und meine Phantasie zerflatterte vor den Empfindungen
+meines Herzens, die Großmama ohne weiteres recht gaben. Ich blieb auch
+dann auf ihrer Seite, wenn sie von diesem Standpunkt aus Bismarcks
+Sozialpolitik verteidigte, und ihre innere Erregung, Stauffenbergs
+Einwendungen gegenüber, sich in der leichten Röte kund gab, die das
+feine Elfenbeinweiß ihrer Wangen färbte. Warum, wie Stauffenberg sagte,
+die Schutzpolitik die möglichen Vorteile der Versicherungsgesetzgebung
+illusorisch machen würde, darüber grübelte ich um so vergeblicher nach,
+als national-ökonomische Terminologie für mich Hieroglyphen bedeutete.
+Zu fragen hatte ich nicht den Mut; es gehört echte Bildung dazu,
+Unwissenheit einzugestehen. Mein Bedürfnis nach Heldenverehrung war
+überdies zu groß, als daß ich Verlangen nach Mitteln getragen hätte, die
+Bismarck hätten entgöttern können. Von Politik wurde von jener
+Unterhaltung ab kaum mehr gesprochen.
+
+Irgend eine naturwissenschaftliche Broschüre, wie sie damals, wenige
+Monate nach Darwins Tod zahlreich erschienen, brachte die Rede auf den
+großen Forscher. Nichts hätte mich mehr verblüffen können, als daß ein
+ernster Mann wie Stauffenberg, dessen Wissen ich bewunderte, ihn nicht
+nur verteidigte, sondern die Ergebnisse seiner Untersuchungen ernst
+nahm. Bei Erwähnung seines Namens hatte man doch sonst immer nur
+spöttisch gelacht, und daß wir, nach ihm, vom Affen abstammen sollten,
+hatte zu nichts als zu zahllosen Witzen und Karikaturen den Anlaß
+gegeben. Für mich persönlich kam hinzu, daß meine naturwissenschaftliche
+Bildung gleich Null war, mir also zu selbständigem Nachdenken alles
+geistige Rüstzeug fehlte. Großmama ging es nicht viel besser: zu ihrer
+wie zu meiner Zeit war die Bildung der Frauen eine rein schöngeistige
+gewesen. Stauffenberg hielt uns daher förmliche kleine Vorträge zur
+Einführung in die Ideenwelt Darwins, -- im Ton des geistvollen
+Plauderers, wie immer, und doch so klar und durchdacht in der
+Gedankenfolge, daß kein Buch aufklärender hätte wirken können. Großmama
+war auffallend still und nachdenklich nach solchen Gesprächen und warf
+nur immer wieder die Frage auf, mit welchen Gründen die Gegner Darwins
+seinen Anschauungen entgegenzutreten pflegten. Erst allmählich hellten
+sich ihre Züge wieder auf, und einmal sagte sie mit dem ihr eignen, das
+ganze Antlitz durchleuchtenden Lächeln:
+
+»Sie haben mich alte Frau auf dem gewohnten Wege förmlich taumeln
+lassen, lieber Baron. Aber nun gehe ich dafür um so sichrer. Ich empfand
+in allem, was Sie sagten, das heraus, was Sie nicht sagten, und wohl
+auch gar nicht sagen wollten, was aber, meiner Ansicht nach, der
+Grundzug der Lehre Darwins ist: ihre Gegnerschaft zum Christentum. Daß
+Gott den Menschen schuf nach seinem Bilde, daß die Sünde die Ursache
+alles menschlichen Elends ist und es keine Erlösung daraus gibt, als
+durch die göttliche Gnade, -- daß es unsre höchste Aufgabe ist, zu leben
+wie Jesus, den Schwachen zu helfen, den Niedrigen und Verachteten
+beizustehen, und daß der rohe Kampf ums Dasein überwunden werden wird
+durch die Liebe, -- widerspricht das nicht bis ins Kleinste den Lehren
+Darwins? Der Glaube an das christliche Evangelium aber, die Befolgung
+dessen, was es verlangt, hat mich nach den Kämpfen meiner Jugend zu
+innerem Frieden geführt, und die Überzeugung lebt unerschüttert in mir,
+daß die tragischsten Probleme der Welt, Armut und Unglück, gelöst wären,
+wenn nur alle Menschen echte Christen wären. Soll ich mir am Ende
+meines Lebens diesen Glauben nehmen lassen? Eine Anerkennung Darwinscher
+Theorien bedeutet doch für uns, die wir Laien sind, auch nichts anderes
+als Glauben an ihn. Und Sie sagen selbst, daß Koryphäen der Wissenschaft
+ihn mit wissenschaftlichen Gründen bekämpfen. Wäre es nicht heller
+Wahnsinn, wenn ich, wie ein ungeübter Schwimmer, mich vom sicheren Port
+erprobten Glaubens in die brandenden Wogen fremder Ideen stürzen wollte,
+nur weil vielleicht -- vielleicht! -- irgendwo in weiter Ferne ein neues
+festes Land zu finden ist?! Ich bin zu alt dazu -- --«
+
+Statt aller Antwort küßte Stauffenberg Großmama stumm die Hand. Meine
+Erregung war aber so stark, daß sie nach Ausdruck verlangte.
+
+»Und wenn ich das neue feste Land nie erreichen sollte, -- ich würde
+lieber im Meere untergehen, als immer nur sehnsüchtig vom sicheren Port
+aus zusehen, wie es tobt und schäumt«, sagte ich, und meine Stimme
+zitterte dabei.
+
+Ein Schatten flog über Großmamas Züge. Sie legte ihre schmale kühle Hand
+auf meine heißen Finger. »Das Leben wird schon dafür sorgen, daß es beim
+bloßen Wünschen nicht bleibt, mein Kind«, dann sich wieder zu
+Stauffenberg wendend, fügte sie hinzu: »Sie sehen, wie wenig unsere
+Lebenserfahrungen unseren Enkeln nützen. Jeder fängt von vorn an, und
+wir können schließlich nur Tränen trocknen und Wunden verbinden.«
+
+Bald darauf reiste Stauffenberg ab, und ein andrer trat mehr und mehr an
+seine Stelle. Es war Karl von Gersdorff, ein Neffe meiner Großmutter,
+der auch zu jenen aus der Art geschlagenen Sonderlingen gehörte, die
+aristokratische Familien sich gern von den Rockschößen abschütteln. Wie
+oft hatte ich in Pirgallen über ihn spotten hören, der »wie ein
+Schulmeister« aussah, ein »Fräulein so und so« geheiratet hatte, und mit
+»Kreti und Pleti« befreundet war, wie geringschätzig zuckten sie die
+Achseln, wenn Großmama ihn verteidigte. Er war ein begeisterter Freund
+Friedrich Nietzsches, hatte ihm sogar einmal, zum Entsetzen der
+Verwandtschaft, sein Gut zum Asyl angeboten. Durch Nietzsches Abkehr von
+Richard Wagner war eine leise Entfremdung zwischen beiden eingetreten,
+denn Gersdorff wurde ein um so leidenschaftlicherer Wagnerianer, je mehr
+sich der Meister zu den Ideen seines Parsifal entwickelte. Als wir in
+Karlsbad zusammentrafen, war Wagner kaum ein Jahr tot, und sein Wesen,
+seine Werke, seine Weltanschauung bildeten den Inhalt fast aller
+Gespräche. Hatte seine Musik mich in jenen Zustand höchster Ekstase
+versetzt, der das ganze Ich in Andacht und Entzücken auflöst, so
+erschienen mir seine Gedanken überraschend und doch vertraut. Sein Groll
+gegen die bestehende Zivilisation mit ihrem Inhalt an materieller und
+geistiger Not, sein Glaube an die Möglichkeit einer künftigen
+Regeneration, seine Kritik des gegenwärtigen Christentums, mit dem
+wahren Geiste des Evangeliums verglichen, und seine Erhebung der Kunst
+zur Höhe lebendig dargestellter Religion, -- hatte nicht irgendwo, tief
+verborgen, all das auch in mir geschlummert? Ich begrüßte es jetzt mit
+der freudigen Überraschung, wie wir längst vergessene alte Freunde, die
+plötzlich aus dem Gewühl der Gleichgültigen vor uns auftauchen, zu
+begrüßen pflegen. Im stillen verurteilte ich Nietzsche, -- dessen Namen
+ich übrigens zum elften Male hörte, -- der dem großen Freunde hatte
+untreu werden können, und begriff nicht Gersdorffs Anhänglichkeit an
+ihn.
+
+Eines schönen Maienmorgens saßen wir in großer Gesellschaft eben
+eingetroffner Verwandter auf der »alten Wiese« vor dem »Elefanten«;
+Großmama war mit ihnen in die Besprechung alter und neuer
+Familiengeschichten vertieft, die mich immer sehr langweilten; Gersdorff
+las in einem der vielen Bücher, ohne die er das Haus nicht zu verlassen
+pflegte. Ich machte mich im stillen über die bademäßig herausgeputzte,
+mit rosa Brottüten bewaffnete, rührig, wie zum ernstesten Geschäft,
+ihrem Ziel, dem lockenden Frühstück, zustrebende Menge lustig, die an
+uns vorüberflutete. Mir war sehr wohl, sehr behaglich zumute, wie nur
+einem jungen Gesundgewordnen sein kann, der die gekräftigten Glieder in
+der warmen Frühlingssonne dehnt. Da fiel mein Blick auf die »Fröhliche
+Wissenschaft«, Nietzsches jüngstes Werk, das neben Gersdorffs Tasse lag.
+Er hatte Großmama zuweilen einzelne Abschnitte daraus vorgelesen, von
+denen mir die Empfindung des unheimlich Fremden zurückgeblieben war.
+Mechanisch fing ich an, darin zu blättern, bis ein Satz mir ins Auge
+sprang: »Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; -- sondern dir! sondern
+dir! Leidenschaft ist besser als Stoizismus und Heuchelei, Ehrlichsein,
+selbst im Bösen, besser, als sich an die Sittlichkeit des Herkommens
+verlieren ...«
+
+Wenn ein eisiger Luftstrom durch plötzlich weit aufgerißne Fenster den
+im warmen Zimmer Sitzenden trifft, so schauert er zuerst frierend und
+angstvoll zusammen, um im nächsten Augenblick mit tiefen durstigen
+Zügen den reinen Quell einzusaugen, der ihm die dunstig-schwere Schwüle
+ringsum erst zum Bewußtsein bringt. Wie solch einem war mir zumute.
+Kämpfte ich nicht ständig, um mich dem Leben und dem Herkommen
+unterzuordnen? Versuchte ich nicht, mir einzureden, jeder Sieg über
+meine innersten Triebe sei ein Zeichen wachsender Tugend? Und hatte doch
+stets ein schlechtes Gewissen dabei!
+
+Lustige Stimmen schlugen an mein Ohr:
+
+»Auf Wiedersehen beim Konzert nachmittag ...«
+
+»Gehst du zur Reunion heut abend? ...«
+
+»Wir gehen ins Theater ...«
+
+Halb abwesend starrte ich von einem zum andern.
+
+»Alix hat Tagesträume,« hörte ich Großmama sagen; verwirrt schlug ich
+das Buch zu. Abends vor dem Schlafengehen trug ich den Satz aus dem
+Gedächtnis in mein Notizbuch ein -- zwischen lauter Adressen, Gedichten
+und Rezepten. Mit Großmama wechselte ich kein Wort darüber; ich
+fürchtete mich; wie ein Dieb kam ich mir vor, der ängstlich den
+gestohlenen Brillanten hütet, und instinktiv fühlte ich, daß es keinen
+größeren Gegensatz geben könne, als den zwischen diesen Worten und der
+Lehre von der Nachfolge Christi, zu der Großmama sich bekannte. Ein
+Schleier war zwischen uns niedergefallen, der nicht trennt, aber die
+Klarheit der Züge verwischt.
+
+Ende Mai machten wir unserem Arzt die Abschiedsvisite.
+
+»Na also!« sagte er zufrieden, »da wären die roten Backen wieder! Aber
+nun gilts brav sein und gehorchen und das Herzchen festhalten! ...«
+
+Nachdem er eine Reihe von Verordnungen gegeben hatte, hielt er zögernd
+inne. »Und nun das Schlimmste für so ein junges, hübsches Fräulein: für
+die nächsten sechs -- acht Monate ist jede Art starker Bewegung
+verboten. Also kein Reiten -- kein Tanzen --«
+
+Er erwartete offenbar meinen heftigsten Widerspruch und sah mich auf
+mein freimütiges »Gewiß, Herr Doktor« mit unverhohlenem Erstaunen an.
+
+»Du bist ein tapfres Kind!« sagte Großmama, als wir die Treppe
+hinuntergingen.
+
+»Gar nicht, Großmama!« erwiderte ich. »Denn nur eins wünsch ich mir,
+Ruhe zum Lernen, zum Lesen und Arbeiten.«
+
+Ein Besuch in Weimar, den wir vorhatten, und der dem langen Aufenthalt
+in Pirgallen vorausgehen sollte, erschien mir zunächst nur wie eine
+Störung. Aber je mehr wir uns der Stadt Goethes näherten, desto mehr
+freute ich mich darauf. Während Großmama versuchte, das Enkelkind mit
+dem, was ihrer an Menschen und Dingen dort wartete, vertraut zu machen,
+verlor sie sich in den Erinnerungen ihrer Jugend. Und ich sah sie vor
+mir, die Männer mit den feinen glatten Gesichtern über den hohen
+Vatermördern, die Frauen mit den kunstvoll frisierten Köpfchen und den
+schlichten Mullfähnchen, wie sie auf den Wiesen von Tiefurt Blindekuh
+spielten und zierlich-gravitätisch im Schloßsaal die Gavotte tanzten;
+ich hörte, wie sie mit Lamartine und mit Byron weinten und schwärmten,
+ich fühlte, wie ihre Gemüter sich tiefer Freundschaft erschlossen, wie
+ihre Herzen schlugen in Liebesglück und Leid. Zu Goethes Füßen sah ich
+die Großmutter sitzen, stumm, ehrfurchtsvoll -- ein Lauschen, ein
+Empfangen. Zur ärmsten Zeit Deutschlands, -- wie reich war sie gewesen!
+Und eine Heimat hatte sie gehabt, aus der die Wurzeln ihrer Seele noch
+heute Lebenskräfte sogen.
+
+Ich saß am Kupeefenster im Abenddämmerlicht; Großmama schlummerte mir
+gegenüber, noch ein Lächeln der Erinnerung auf den Zügen. Wälder und
+Felder, Häuser und Gärten flogen an mir vorbei. So ist mein Leben,
+dachte ich. Alles entschwindet mir, kaum daß ichs betrachten konnte;
+nirgends wurzle ich. Dabei fielen mir Verse ein, die ich hastig in mein
+Notizbuch kritzelte:
+
+ Ein Vagabund bin ich genannt,
+ Will niemand von mir wissen;
+ Die Sohlen hab ich durchgerannt,
+ Mein Wams ist längst zerschlissen.
+
+ Zur Arbeit ruft man mich umsunst,
+ Trag nicht danach Verlangen,
+ Steh bei der Lerche hoch in Gunst,
+ Die läßt sich auch nicht fangen;
+
+ Die singt ihr Lied auf freiem Feld
+ Mit freier, lustger Kehle,
+ Die schmettert hoch in alle Welt,
+ Und hörts auch seine Seele.
+
+ Doch eines ist, das wurmt mich schwer:
+ Sie hat ein Nest, ein kleines; --
+ Ich zog die Lande hin und her --
+ Wo aber, sagt, ist meines?!
+
+In Weimar wohnten wir bei Großmamas Bruder an der Ackerwand, dicht
+neben dem Hause der Frau von Stein, wo die Lorbeerbäume in ihren großen
+Kübeln noch ebenso auf dem Vorplatz standen, wie zu der klassischen
+Zeit, da die »liebe Lotte« unter ihnen zum Nachmittagtee ihre Freunde
+empfing. Aus unseren Fenstern sah man weit hinein in den Park.
+
+Am ersten Morgen, als die Sonnenstrahlen nur gerade die Wipfel der alten
+Bäume trafen, schlüpfte ich hinaus. Zauberhaft still und einsam war es;
+nur ein heimliches Vogelzwitschern, ein fernes Flüstern der Ilm verriet
+das Leben. Auf dem grünen Wiesenplan vor dem Hochmeisterhaus funkelten
+die Tautropfen an den Zittergräsern; die roten und weißen, die gelben
+und blauen Blüten an den Büschen strahlten im Glanze eben entfalteter
+Pracht. Weiter unten, wo im Felsen die steile Treppe abwärts führt zum
+Ilmtal, stieg feuchter würziger Erdgeruch zu mir empor. Die
+geschlossenen Fensteraugen der Einsiedelei sahen aus wie die eines
+Schlafenden, minutenlang stand ich davor, traumbefangen, und wartete auf
+den geheimnisvollen Bewohner, der sie öffnen sollte. Aber die Ilm
+plätscherte, als lachte sie mich aus.
+
+Über der Brücke, hinter den dunkeln Büschen und Bäumen, lag die Erde
+noch eingehüllt in ein durchsichtig-weißes Nebeltuch, das kecke
+Sonnenstrahlen zu zerreißen sich bemühten. Und ein helles Häuschen
+schimmerte lockend vom jenseitigen Hügel, das mir vertraut entgegensah,
+als wäre ich drüben daheim. War es nicht aus dem Rahmen getreten, der in
+Pirgallen in Großmamas Zimmer hing? Dort hatte ich es gesehen von klein
+auf, und wenn ich vom Zuckerhäuschen im Walde hatte erzählen hören,
+konnte ich mirs nie anders vorstellen. Ob ich mich wohl hinüber wagen
+könnte durch den Nebel? Erlkönigs Töchter tanzten hier, wie einst, da
+sie den hellsehenden Augen des Dichters erschienen.
+
+Und nun war ich drüben. Aber die weiße Tür zwischen den grünen Hecken
+verschloß das stille Reich hinter ihr. Scheu sah ich mich um; niemand
+weit und breit! Der niedrige Holzzaun hinter der zweiten breiteren
+Pforte war kein unüberwindliches Hindernis -- ein paar Risse im Rock,
+eine Schramme am Arm --, und in Goethes Garten stand ich. Der Ton
+knarrender Wagenräder trieb mich den langen, Unkraut bewachsenen Weg
+hinunter bis hinter das Haus. Grünes Dämmerlicht nahm mich auf, kein
+Blättchen rührte sich über mir; auf der Lehne der morschen Bank saß
+regungslos mit hochgestellten Flügeln ein großer blauschwarzer
+Schmetterling. Die Stille herrschte -- eine Stille, als wäre die Erde
+versunken --, und nur dieser Raum mit dem toten Hause davor schwebte in
+der ungeheueren Weite des Weltraums. Ich preßte meine Hände auf das
+wildklopfende Herz, und große Tränen tropften unaufhaltsam aus meinen
+Augen. Aber dann schämte ich mich: wie konnte ich -- ich! mit meinem
+unnennbaren Weh diesen heiligen Ort entweihen! Leise auf den
+Zehenspitzen, das Kleid gerafft, damit sein Rascheln nicht störe,
+schlich ich davon.
+
+Auf den mächtigen Würfel aus Granit mit der Kugel darauf lehnte ich mich
+und vergrub, bitterlich weinend, das Gesicht in den Händen. Da stimmte
+ein Vöglein über mir sein Morgenlied an, und aus dem nächsten Baum
+antwortete ihm ein anderes, bis es zwitschernd, tirlierend und flötend
+von allen Zweigen klang, -- ein jubelnder Gruß an die siegende Sonne.
+Tief aufatmend streckte ich die Arme und dehnte die Brust, und plötzlich
+freute ich mich, daß ich gar nichts war als ein junges Menschenkind mit
+dem ganzen reichen großen Leben vor mir. In schwärmerischer Verzückung
+sank ich vor dem Altar des guten Glücks in die Kniee und betete den
+Unsterblichen an, dessen Atem ich zu fühlen meinte.
+
+Noch am selben Tage ging ich mit Großmama nach dem Frauenplan, um in
+Goethes Stadthaus den letzten seines Namens zu besuchen, der ihr
+Jugendfreund war. Still und zurückgezogen, sich ängstlich vor der
+Berührung mit der Welt hütend, lebte Walter Goethe oben in den
+Giebelzimmern seiner verstorbenen Mutter. Ein großes Bild des Dichters
+hing im Empfangsraum; es erdrückte die kleine Stube und noch mehr den
+kleinen, armen Nachkömmling darin. Ich konnt es nicht fassen, daß dies
+ein Goethe war! Erst als die beiden Freunde miteinander sprachen, fühlte
+ich die andere Welt, aus der sie stammten. Wie warm und echt waren die
+Empfindungen, denen sie Worte liehen, wie lebendig die Interessen, an
+denen sie Anteil nahmen, -- so sprach man heute nicht mehr miteinander,
+wo Gefühl ein Spott und Blasiertheit Trumpf war.
+
+Je länger wir in Weimar blieben, desto mehr empfand ich seinen Geist.
+Freilich, die Menschen, mit denen Großmama verkehrte, waren alle alt,
+alles ihre Zeitgenossen, und doch, weil sie treu ihrer Jugend waren,
+seelenjung. Da war der Onkel, bei dem wir wohnten, ein Mann von jener
+schlichten Vornehmheit, die allein das Zeichen echter Kultur ist; da
+war der Großherzog mit seiner leidenschaftlichen Liebe für Weimars
+Tradition, der er bescheiden sich selbst unterordnete, überall nach
+geistigen Werten Umschau haltend und sich der Funde freuend, wie ein
+Sammler an seinen Schätzen; da waren Frauen, die begeistert und
+begeisternd nicht Namen und Titel und bunte Uniformen zu Gaste luden,
+sondern führende Geister, werdende und gewordene. Ich taute allmählich
+auf in dieser Umgebung und lernte, ohne Scheu vor dem Ausgelachtwerden
+oder dem erstaunten Verstummen der andern, von dem reden, was mich
+interessierte, und fragen nach dem, was ich zu wissen begehrte. Der
+Vorsatz befestigte sich in mir: ich wollte nicht mehr zurück in die Welt
+der Konvention und der kühlen Phrase, wo feste Schlösser vor Herz und
+Mund Bedingung guter Erziehung sind.
+
+Großmama sprach von einem künftigen Hofdamenposten für mich. So ganz
+nach meinem Geschmack war das allerdings nicht; von all den Tanten und
+Kusinen, die ihn inne hatten, wußte ich, wie viel drückende
+Dienstbarkeit er mit sich brachte. Aber viel besser erschien es mir
+immerhin, in Weimar abhängig zu sein, als von einer Garnison zur andern
+stets in derselben Leutnantsatmosphäre leben. Meine heimlich gehegten
+Dichterträume würden hier vielleicht reifen können, und ganz im
+Verborgenen tauchte dazu eine romantische Hoffnung auf: ihn hier zu
+finden, den märchenhaften Schwanenritter, dem mein Herz gehören sollte!
+
+Gegen Ende unseres Aufenthalts ging ich noch einmal mit Großmama zu
+Walter Goethe. Er war ungewöhnlich freundlich zu mir und erfüllte ohne
+weiteres meinen Wunsch, allein in Goethes Zimmer gehen zu dürfen. Ich
+schloß sie mir auf und öffnete die kleinen Läden und stand dann still
+und stumm mit gefalteten Händen vor dem Stuhl, in dem er gestorben war,
+an seinem Bett. Wie einem, der auszieht zum Kampf und Abschied nimmt,
+unsicher, ob er jemals wiederkehrt, war mir zumute. Goethes Gebet kam
+mir unwillkürlich auf die Lippen: Gib mir große Gedanken und ein reines
+Herz.
+
+Ich mochte blaß und verweint genug aussehen, als wir abreisten;
+sorgenvoll sah mich Großmama an: »Bist du nicht wohl, mein Kind?«
+
+Da kam mir zum Bewußtsein, was ich ihr alles verdankte: Zu dem heißen
+Wunderquell hatte sie mich geführt, der meinen Körper heilte, und
+erschlossen hatte sie die Quellen, die meine Seele nährten. Mit beiden
+Händen griff ich nach ihrer Hand und preßte die Lippen darauf: »Ich bin
+ganz, ganz gesund, Großmama!«
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Auf dem Wege nach Pirgallen machten wir bei einer Reihe von Verwandten
+Station. Ich kam mir vor, als wäre ich von luftiger Bergeshöhe in
+schwüle Niederung geschleudert worden. »Wir haben eine Vetternreise
+hinter uns: in Sachsen, in der Mark, in Pommern -- überall derselbe
+Schlag Krautjunker, je nach der Größe der Geldbeutel echt oder unecht
+überfirnißt, bei allen dieselbe souveräne Verachtung geistiger Werte --«
+schrieb ich an meine Kusine Mathilde. »Meine Vettern in Ingershausen --
+übrigens ein pompöses Schloß, das August dem Starken, seinem Erbauer,
+alle Ehre macht --, die früher an beängstigender Wasserscheu litten,
+sind Gigerl par excellence geworden, gardereif. Ihre Schwester, eine
+Venus von Milo, hat schon mit siebzehn Jahren geheiratet, kriegt ein
+Kind nach dem andern und den fatalen Zug um den Mund, den ich noch bei
+jeder jungen Frau entdeckt habe: ich glaube, es ist der der
+Enttäuschung. Ein paar Kindheitsfreundinnen, die ich wiedersah, und die
+mir vor Jahr und Tag mit allen Zeichen des Triumphes -- sie hatten mich
+ja im Rennen um den Mann um ein paar Pferdelängen geschlagen! -- ihre
+Verlobung mitgeteilt hatten, traten mir jetzt als hochschwangere Frauen
+entgegen: blaß, mißmutig. Ich hätte nun gern meinerseits triumphiert,
+aber das Mitleid mit den armen Würmern, die sie mit solcher Giftlaune
+unter dem Herzen tragen, überwog. Ein Weib, das ein Kind erwartet,
+sollte sein wie eine Siegerin!«
+
+Ich atmete auf, als wir endlich in Pirgallen waren, wo ich hoffte, mich
+meinen Studien und Arbeiten ganz überlassen zu können. Dort hatte sich
+inzwischen mancherlei verändert. Mein Onkel hatte sich in den Reichstag
+wählen lassen, -- auf vieles Zureden seiner Parteigenossen, denn in ihm
+selbst regte sich zu stark das alte Herrengefühl des ostdeutschen
+Junkers, als daß es ihm nicht widerstrebt hätte, die durch das
+allgemeine Wahlrecht nun einmal festgesetzte Gleichheit zwischen Herr
+und Knecht auch nur äußerlich anzuerkennen. Daß er, dessen Verkehr mit
+den Untergebenen nur im Befehlen, Tadeln und Strafen bestand, von ihrer
+Gunst abhängig war, ja sogar um sie werben mußte, erschien ihm als eine
+Entwürdigung. Er war dabei ein so ehrlich überzeugter Konservativer, so
+durchdrungen davon, daß jede Erweiterung der Freiheit und der Rechte der
+unteren Volksklassen zu ihrem eigenen Verderben ausschlagen würde, daß
+er sich vollkommen berechtigt glaubte, auch durch ungesetzliche Mittel
+den Einfluß liberaler oder gar sozialdemokratischer Strömungen zu
+bekämpfen. Seinen ehemaligen Viehhirten, einen notorischen Säufer, der
+sozialdemokratisch gestimmt hatte, weil »der Herr Baron dem Krugwirt
+verboten hatte, ihm mehr als zwei Glas Schnaps zu geben,« pflegte er
+seiner Mutter gegenüber immer wieder zu zitieren, wenn sie das »Recht
+auf die persönliche Überzeugung« verteidigte. »Gar nichts wußte der
+Kerl sonst von der Sozialdemokratie,« sagte er, »er konnte weder lesen
+noch schreiben. Jeder, der ihm Fusel gibt, dessen 'Überzeugung' hat er.
+Stellt Euch vor, alle Viehhirten und Konsorten stimmten wie er und kämen
+zur Macht, -- eine nette Wirtschaft würde das.« Und als Großmama
+einwarf: »So gebt dem Volk eine bessere Bildung,« antwortete er: »Damit
+jeder Instmannsjunge Professor werden und keiner mehr arbeiten will!
+Dann sollen wir wohl unsere Frauen vor den Melkeimer setzen und uns
+hinter den Pflug stellen?«
+
+»Vielleicht entspräche solch ein Wechsel der göttlichen Gerechtigkeit,«
+meinte Großmama lächelnd, »seit Jahrhunderten gingen sie hinter dem
+Pfluge -- am Ende ist jetzt die Reihe an Euch!« Mit hochgeschwollener
+Stirnader sprang der Onkel vom Stuhl und warf die Türe hinter sich zu.
+Er war reizbarer als sonst. Zu deutlich pochte die neue Zeit an das
+schwere Burgtor von Pirgallen, und er selbst hatte die Zugbrücke, die
+unliebsamen Gästen den Eingang wehrte, in eine feste, steinerne
+verwandelt. Er selbst hatte bei der Regierung all seinen Einfluß daran
+gesetzt, damit die Eisenbahn bei ihm vorbei gelegt, der Hafen am
+Kurischen Haff an seine Gutsgrenze gebaut werde. Nun konnten seine
+Steine zu fernen Bauten über die Ostsee entführt werden, und die
+Erträgnisse seines Gutes fanden in Berlin zahlungskräftige Käufer, --
+aber neue Gedanken waren mit den fremden Ingenieuren und Arbeitern
+eingeführt worden. Er selbst strebte danach, sein Besitztum, das seine
+Väter schlecht und recht ernährt hatte, in eine kapitalistische
+Unternehmung zu verwandeln, von der er Millionen erwartete. Aber mit den
+Maschinen, mit den Kanälen, den Wiesenmeliorationen, den neuen
+Bebauungsweisen, der ganzen intensiven Art der Bewirtschaftung kamen
+Scharen neuer Arbeitskräfte ins Land, von denen die Alteingesessenen
+Ansichten und Bedürfnisse rasch, Handfertigkeit und Verständnis aber um
+so langsamer lernten. Die Unzufriedenheit wucherte wie Unkraut, und am
+üppigsten in den kleinen strohgedeckten Katen, deren Bewohner seit
+Generationen im Dienste der Golzows standen.
+
+In einer der ältesten hauste die alte Maruschka mit Kindern und Enkeln,
+ein verhutzeltes, zitteriges Weiblein. Wie braune Fichtenrinden waren
+ihre Wangen und ihre Stirn, die Augen eingesunken, weiß und gelb wie
+versteckte Harzlöcher. Nur wenn sie Großmama sah, verzog sie die dünnen
+Lippen zu einem Grinsen. Vor Jahren hatte ich sie, die seit ihrer
+frühsten Mädchenzeit in der Burg diente, noch in einem der dunkelsten
+Räume, dicht über dem Wassergraben, von morgens bis abends vor dem alten
+mächtigen Webstuhl sitzen sehen. Alle Mägde trugen die Stoffe, die sie
+wob: feste harte, aus groben blauen und roten Fäden. Die »junge Frau
+Baronin« hatte sie aufs Altenteil gesetzt, -- sie brauchte das Zimmer,
+und die hübschen Dienstmädchen trugen das altmodische Zeug nicht mehr.
+Nun haßte die Alte die neue Zeit und alles, was sie mit sich führte. An
+ihrem schwälenden Herdfeuer in der engen Stube mit dem grauen
+schmierigen Lehmboden, wo Hühner, Gänse, Ferkel und Kinder durcheinander
+gackerten, quiekten und schrieen, war die Freistatt aller Murrenden. Sie
+hetzte die Schüchternen auf, die noch in blinder Unterwürfigkeit an der
+Herrschaft hingen, sie lobte die Unbotmäßigen und hatte trotz all ihrer
+Armseligkeit stets den Schnaps bereit für die, die im Krug mit den
+»Neuen«, den »Städtischen« nicht zusammen sitzen mochten.
+
+Ihr Jüngster, der Franz, war Stallknecht, dem mein Onkel seiner
+Gewandtheit wegen häufig die wertvollsten Pferde überließ. Eines abends
+sah er, daß die »Delilah«, die der Franz hatte bewegen sollen,
+schweißtriefend und ohne Decke in ihrer Box stand, während er auf seinem
+Bett daneben seinen Rausch ausschlief. Ehe ich, die ich dabei stand, es
+verhindern konnte, sauste meines Onkels Reitpeitsche ihm quer übers
+Gesicht. Taumelnd erhob er sich, sah meinen Onkel mit blöden Augen an
+und fiel ihm heulend zu Füßen. Ich wollte mich schon empört abwenden, --
+empörter noch über den Feigling, der vor mir winselte, als über den
+Onkel --, als mich aus dem Augenwinkel des auf dem Boden Kauernden ein
+Blick traf, wie der eines wilden Tieres. Am nächsten Morgen lag eine der
+Zuchtstuten verendet im Paddock. Keiner von uns zweifelte, daß Franz der
+Täter war, ich, die ich hartnäckig schwieg, am wenigsten. All seine
+Arbeitskollegen jedoch standen auf seiner Seite und lenkten den Verdacht
+auf die Kanalarbeiter. Zu beweisen aber war nichts. Onkel Walter entließ
+den Knecht und verbot ihm mit allem Nachdruck, den Boden Pirgallens
+wieder zu betreten. Wir saßen gerade in der Halle beim Frühstück, als
+die alte Maruschken unangemeldet auf der Freitreppe erschien, die
+verschrumpelten braunen Hände über ihrem Krückstock gefaltet, im
+selbstgewebten Sonntagsstaat, den eisgrauen Kopf von einem schwarzen
+Tuch umwunden, die kleinen Bernsteinaugen funkelnd auf uns gerichtet,
+wie die Waldhexe aus dem Märchen.
+
+»Verzeihen die gnädige Herrschaft«, hob sie mit stockender Stimme an --
+
+»Was willst du, Maruschken?« frug Großmama, ihr gütig die Hand
+entgegenstreckend, während Onkel sich ungeduldig räusperte.
+
+»O mai allerkutestes gnädiges Frauchen«, -- schluchzend stürzte die Alte
+vor ihrer einstigen Herrin nieder und zog demütig ihren Rock an die
+Lippen, »mai Jung hat das Perdchen, das liebe kute Perdchen, nich
+erstochen! Schickens ihn nich in die Fremde! Mai Vater, mai Großvater,
+mai Ahne -- alle, alle haben der gnädigen Herrschaft gedient mit Leib
+und Leben -- schickens uns nich fort!« Ihre Stimme wurde krächzend wie
+Rabenstimmen, wenn sie im Herbst auf den Stoppelfeldern sitzen.
+
+»Mein Sohn schickt euch ja nicht fort, Maruschken,« antwortete Großmama.
+»Nur den einen von deinen Kindern, und -- wenn er sich draußen gut führt
+--« bittend sah Großmama zu Onkel Walter herüber -- »darf er gewiß
+wieder nach Hause kommen.«
+
+Die Alte richtete sich auf. Stumm sah sie von einem zum anderen.
+
+»Nimmt der gnädige Herr Baron den Befehl zurück?« kam es leise und
+zischend über ihre halbgeöffneten Lippen.
+
+»Nein!« Ein Faustschlag auf den Tisch bekräftigte Onkel Walters heftige
+Antwort. »Und nun geht, Maruschken. Mein letztes Wort habt Ihr!«
+
+Fest auf den Stock gestützt, reckte die Alte den krummen Rücken und hob
+den Kopf, daß die Sehnen an ihrem Halse wie braunrote Stricke
+hervortraten.
+
+»Die alte Maruschken geht, mai kutestes Herrchen, -- geht weit -- weit
+weg und nimmt mehr mit, viel mehr, als bloß ein Perdchen! -- -- Auf
+diesen alten Armchen trug ich den jungen Herrn -- gab ihm die Brust,
+statt dem eignen Jungchen. Und gearbeitet hab ich an die vierzig Jahr
+auf Pirgallen -- und Söhne und Töchter hab ich geboren und aufgezogen in
+Gehorsam vor der Herrschaft und Gottesfurcht, und sie arbeiten auch auf
+Pirgallen, für die gnädige Herrschaft« -- --
+
+Ungeduldig unterbrach der Onkel ihren Redefluß. »Ich bin der letzte, der
+deine treue Arbeit nicht anerkannt und redlich belohnt hat. Aber einen
+widerhaarigen Trunkenbold -- und wenn er zehnmal dein Sohn ist -- kann
+ich nicht brauchen. Meine Geduld ist erschöpft -- hüte dich, Alte, mich
+noch zu reizen. Ich weiß recht gut, wo die Stänker und Hetzer zu Hause
+sind!«
+
+»Gar nichts weiß der Herr Baron, gar nichts« eiferte sie. »Im Krug, wo
+die Kanalarbeiter sitzen, beim neuen Inspektor, wo die fainen Herren aus
+der Stadt morgens und abends Wein trinken, in der Gesindestube, wo die
+vornehmen Diener mit die Stadtmächens schäkern, da sind die Stänker; --
+bei der alten Maruschken nich! Wir halten noch auf alte Art und Zucht,
+wir lieben das liebe Landchen, die Burg, und die Kirche und die Kate.
+Aber die anderen, das sind Ausländsche, die blos aufs Geld sind und
+keinen Glauben nich haben. Warum holt sie der Herr Baron und unsere
+Jungchens schickt er weg, daß sie auch so werden wie die Fremden? -- --
+Zu Haus wollen wir bleiben --« ihre Stimme kreischte -- »mit die
+Kindersch. Aber wo die rechte Liebe weg is, geht auch die Ehrfurcht und
+der Gehorsam ... Die Peitsche ins Gesicht, -- das haben der alten
+Maruschken ihre Jungchen nich verdient um die Herrschaft --«
+
+Wütend erhob sich der Onkel: »Nun hab ich die Komödie satt, scher dich
+zum Teufel.«
+
+Mit aufgerissenen Augen starrte die Alte ihn an und beachtete Großmama
+gar nicht, die begütigend ihre Hand auf ihre Schulter legte.
+
+»Ich scher mich, ich scher mich, aber zum Teufel nich!« schrie sie, »der
+Teufel is zu Haus jetzt auf Pirgallen, -- alle bösen Geister gehen um,
+-- im Turm krachts, wo die gnädige Herrschaft die faulen Insten in
+Ketten legte, und aus dem Haff steigen die toten Fischer auf -- die alte
+Maruschken geht -- das liebe Herrgottche suchen --«
+
+Wie unter einem Zwang waren wir alle verstummt. Die Steintreppe humpelte
+sie hinab -- sie wandte den Kopf nicht mehr -- sie war jetzt ganz klein
+und zusammengesunken. Am folgenden Tage stand ihre Kate leer, -- bei
+Nacht und Nebel war sie mit ihren Kindern und Enkeln davongegangen,
+ihren armseligen Hausrat auf zwei Karren mit sich schleppend. Die Leute
+flüsterten noch lange mit leisem Grauen davon, wie sie drohend den
+Krückstock erhoben habe, als sie an der Burg vorbeikam, und unaufhörlich
+vor sich hinmurmelnd dem Zuge der ihren voran geschritten sei, vor jeder
+Hütte am Wege inne haltend, um den aus dem Schlaf geschreckten Bewohnern
+zu erzählen, daß der Herr von Pirgallen sie von Haus und Hof vertrieb.
+
+Auch für mich war der Eindruck ein unverwischbarer. Ich ging oft ins
+Dorf hinab und in die Ortschaften am Strande, und lernte die harten,
+einsilbigen Menschen kennen, die für unaufhörliche Arbeit ein
+spärliches freudloses Leben gewannen. Die meisten nahmen es noch hin wie
+etwas Selbstverständliches, aber schon zuckte in ihren Augen hie und da
+dieselbe Flamme auf, die in dem Blick der alten Maruschken gebrannt
+hatte. Die Zeit, da sie sich vor dem Herren fühlten wie stumme Sklaven
+oder wie willenlose Kinder, war vorüber. Es gingen wirklich böse Geister
+um, auch in der alten Ordensburg.
+
+Mein Onkel war, so viel er sich auch zu bilden strebte, den
+Anforderungen moderner Landwirtschaft geistig nicht gewachsen. »Man
+müßte Chemiker, Ingenieur, Naturforscher sein, um nicht von jedem Hans
+Narren übersehen und betrogen zu werden; statt dessen hat unsereins nur
+Leutnant gelernt,« sagte er einmal bitter. Er entschloß sich sogar zum
+Verkehr mit einem alten Gegner aus der Nachbarschaft, einem
+Freisinnigen, der der beste Landwirt im Lande war. Ich begleitete die
+Herren zu Pferde bei ihren Inspektionsritten und hörte oft, wie der alte
+Mann das Neue, das der junge schuf und plante, rückhaltlos gut hieß.
+»Nur eins kann ich Ihnen nicht verhehlen, Herr Baron, mit der Angst
+würde ichs kriegen, wenn ich Sie nicht für einen bedachtsamen Mann
+hielte, der weiß, daß er Hunderttausende hier hineinstecken muß, ehe die
+Millionen herausspringen.« Ich sah, wie Onkel Walter um einen Schein
+blasser wurde, und erschrak mit ihm.
+
+Er war sehr ernst geworden in den letzten Jahren. Sein fröhlicher
+Leichtsinn brach nur dann immer wieder hervor, wenn seine Frau ihn
+umschmeichelte -- wegen neuer Toiletten, neuem Schmuck oder neuen Hunden
+-- und sein Söhnchen, das sie ihm vor drei Jahren geschenkt hatte, auf
+seinen Knieen ritt. Dieser Stammhalter war der Mittelpunkt des Lebens.
+Er besaß schon seinen eigenen kleinen Hofstaat, und zwei
+Miniaturpferdchen -- Shetland-Ponies, die der Vater direkt hatte kommen
+lassen -- spürten bereits, wenn er in seinem winzigen Wagen durch den
+Park fuhr, die Peitsche des kleinen Junkers. Alle tyrannisierte er; für
+mein Schwesterchen, das selbst gewöhnt war, daß die anderen sich ihr
+unterordneten, war er der gefürchtetste Quälgeist, und vor ihm
+flüchtend, klammerte sie sich leidenschaftlich an mich an. Mein
+liebebedürftiges Herz empfand das sehr wohltätig, und mein, eingedenk
+der eigenen Kinderqualen, leicht erregtes Mitleid kam ihren Wünschen
+rasch entgegen. Schon früh morgens pflegte ich mit ihr in den
+verstecktesten Teil des Parks zu fliehen; ich erfand die
+phantastischsten Spiele und die buntesten Märchen, und der halbe Tag
+ging vorüber, ehe ich zu mir selbst kam. Dann geschah es wohl, daß mich
+heftiger Groll gegen die kleine Tyrannin erfaßte, die mich so in
+Anspruch nahm; aber ein bittender Blick ihrer großen Blauaugen, ein
+zärtlicher Druck ihrer runden Ärmchen um meinen Hals machte mich wieder
+gefügig. Nein, sie sollte, sie durfte nicht erleben, was ich erlebt
+hatte! Allmählich lernte ich sogar, ihr dankbar sein: die anderen
+nannten mich einen »Blaustrumpf« -- »überspannt« -- »verdreht«, dem
+süßen sechsjährigen Blondkopf aber konnte ich gar nicht phantastisch
+genug sein. Sie wollte immer neue Märchen hören -- »ganz neue, die noch
+kein Kind gehört hat« --, und unsere ganze Umgebung wurde zum
+Ausgangspunkt meiner Geschichten, in die ich Götter- und Heldensagen
+verflocht. Sie glaubte an mich -- felsenfest: wenn wir auf dem Haff
+segelten, warf sie heimlich mitgebrachten Kuchen ins Wasser, -- für
+Neringa, die Hafffrau, die drunten hungert, -- zwischen die Steine der
+Parkmauer schob sie Töpfchen mit Milch, -- für die Wichtelmännchen, die
+dort ihr Wesen treiben.
+
+Ließ sie mich frei, so vergrub ich mich in die Bibliothek. Unter dem
+Vorwand, die Bücher ordnen zu wollen, hatte ich mir dieses Asyl, das nur
+selten jemand betrat, gesichert. Es war dunkel und roch nach moderndem
+Papier; aber was kümmerte das mich, die ich tief im Ledersessel kauerte
+und über dem Lesen alles vergaß! Eine kuriose Sammlung enthielten die
+Schränke: alte landwirtschaftliche Broschüren und Zeitschriften,
+Reichstagsprotokolle der jüngsten Zeit, Modeblätter, die sich seit
+Jahrzehnten angesammelt hatten, französische Romane verfänglicher Art,
+-- Zolas »Nana« und »Assommoir« mitten darunter, -- deutsche moderne
+Familienromane und schließlich in billigen, schlecht gebundenen Ausgaben
+die deutschen Klassiker. Mit der Hast einer Heißhungrigen verschlang ich
+alles: von den Memoiren der Cora Pearl bis zu Wieland und Herder. Ich
+muß aber wohl in jener Zeit weder für die Schlüpfrigkeit noch für den
+Realismus sehr empfänglich gewesen sein; was ich von dieser Art las,
+interessierte mich kaum, es rief höchstens ein Gefühl des Ekels in mir
+wach. Noch weniger fesselten mich die deutschen Romane. »Unsere
+Unterhaltungsliteratur ist flach, kraft- und saftlos,« schrieb ich an
+meine Kusine, »sentimental und nüchtern, weil die Schriftsteller sich
+nach ihrem fast nur aus Frauen bestehenden Publikum richten. Männer
+lesen keine Romane mehr, weil sie zu weibisch geschrieben sind, und
+Frauen werden immer weibischer, weil sie sich mit dem faden Zeug ihren
+geistigen Magen verderben. Am schlimmsten ists, wenn auch noch Frauen
+die Romane schreiben: mit der gestohlenen Gloriole der Poesie verklärte
+Klatschgeschichten. Ein neuer Grund für meine Antipathie gegen die
+Frauen. Ich frage mich nur: sind wir so klein, so leer, so unweiblich --
+oder hat man uns so gemacht?«
+
+Mit um so heißeren Wangen und klopfenderem Herzen vertiefte ich mich in
+Goethe. Auch das, was ich schon längst kannte, war voll neuer
+Offenbarungen für mich. In ein kleines Heft, das ich ständig bei mir
+trug -- sorgfältig in ein grünseidenes Tüchlein gewickelt --, schrieb
+ich ein, was mir am besten gefiel und schlug es in stillen Stunden auf,
+wie der Priester sein Brevier, um zu lesen und wieder zu lesen, bis ich
+Satz für Satz auswendig konnte. Zwei standen doppelt unterstrichen an
+der Spitze: »Er gehörte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate
+gibt und die sich daher im Einzelnen vor wie nach abmühen;« -- -- und:
+»Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen,
+Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.« Der eine
+sollte sein, wie ein drohend aufgerichtetes Zeichen, eine stete Warnung,
+das Leben nicht zu verzetteln, sondern ihm nach großen Zielen die feste
+Richtung zu geben, -- der andere ein Tröster in Zeiten der Mutlosigkeit,
+wenn ich zu mir selbst das Vertrauen verlor oder andere mich dessen zu
+berauben versuchten. Mit bewußter Auflehnung gegen die asketischen
+Erziehungsmaximen meiner Mutter schrieb ich mir vor allem solche
+Stellen ab, die das Recht auf Persönlichkeit und den Wert der Freude
+betonten; »Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihren eigenen Wegen irre
+gehen, sind mir lieber, als manche, die auf fremden Wegen recht
+wandeln;« -- »Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden;« -- »ein
+glücklicher Mensch, ein Wesen, das sich seines Daseins freut, ist das
+Endziel der Schöpfung.«
+
+Erfüllt von dem, was ich innerlich erfuhr, konnte es nicht ausbleiben,
+daß ich zuweilen auch davon sprach. Meine Begeisterung konnte nicht
+immer stumm bleiben; ich sehnte mich nach Menschen, um mich ihnen
+mitzuteilen, nach jungen vor allen Dingen, bei denen weder Spott noch
+die Weisheit des Alters mich hätte zurückstoßen können. »Ich suche
+Menschen, wie Diogenes,« schrieb ich an meine Kusine, mit der ich aus
+demselben inneren Bedürfnis heraus lebhaft korrespondierte, »und sehe
+dabei immer deutlicher, daß unsere miserable Erziehung uns um das Beste
+im Leben betrogen hat. Das bißchen Kunst und Wissenschaft hat man uns
+nur gelehrt, damit wir darüber schwatzen können. Es ist kein Teil
+unserer selbst geworden; es bleibt in Museen und Büchern wie die
+Religion in der Kirche. Hätten wir den rechten Ernst, das tiefe
+Verständnis für sie, -- Geist und Herz würden so sehr davon erfüllt
+sein, daß sie am Gemeinen oder Oberflächlichen gar keine Freude
+empfänden.«
+
+Kamen junge Leute nach Pirgallen, die, wie Onkel Walter spottend zu
+sagen pflegte, beim »Alix-Examen noch nicht durchgefallen waren,« so
+streckte ich vorsichtig die Fühlhörner meines Geistes aus. Meist
+begegnete ich einem verlegenen Lächeln, einem erstaunten Blick, und
+meine Mutter, die solch einem mißglückten Versuch zuweilen zuhörte,
+sagte mir einmal:
+
+»Daß du das Nüsseknacken gar nicht aufgeben magst! Du stehst doch, daß
+sie alle taub sind.«
+
+»Ich glaubs aber nicht -- ich will es nicht glauben,« antwortete ich,
+»mein eigene Existenz bürgt mir dafür, daß es noch andere meiner Art
+geben muß!« Mama kräuselte spöttisch die Lippen: »Die Mehrzahl ist
+gemein -- die Dummen sind noch die besten.« Aber je häufiger sie ihrer
+tiefen Menschenverachtung Ausdruck verlieh, desto empörter lehnte ich
+mich dagegen auf, desto übertriebener wurde mein Triumphgefühl, wenn
+irgend eine Wesenssaite des Anderen, die ich berührte, leise zu klingen
+begann.
+
+Da war besonders einer, ein junger Nachbar, der oft herübergeritten kam.
+Tiefere Bildung besaß er nicht, aber das einsame, durch keine
+Abwechselung unterbrochene Leben an den grauen Wassern des Haffs hatte
+ihn nachdenklich gemacht, so daß es uns nie an Gesprächsstoff fehlte.
+Unser Verkehr dauerte nicht lange. Onkel Walter nahm mich eines Tages
+beiseite und erklärte mir, daß der Brandenstein keine »Partie« für mich
+wäre.
+
+»Ich denke ja auch gar nicht daran, ihn zu heiraten,« rief ich.
+
+»So benimm dich nicht so dumm! Die ganze Gegend spricht schon davon, und
+er selbst muß sich Hoffnungen machen, wenn du dich stundenlang mit ihm
+allein abgibst,« entgegnete er. Ich war außer mir: ein junges Mädchen
+benimmt sich also unpassend, wenn es länger als fünf Minuten mit einem
+und demselben Herrn redet. -- »Die lieben Nächsten drücken nur dann ein
+Auge zu, wenn sie dabei eine Verlobung wittern,« heißt es in einem
+Brief an Mathilde. »Fühlst du, wie ekelhaft das ist? Welch eine
+faustdicke Beleidigung unseres ganzen Geschlechts darin liegt? Die
+Hündin wertet man nicht anders als uns. Pfui Teufel!«
+
+Ich zog mich nach jenem Erlebnis immer mehr zurück und unterdrückte
+meinen Menschenhunger, bis Onkel Walter seinem Unwillen über meine
+»Haberei« energischen Ausdruck gab. Ich kam grade dazu, als er mit Mama
+über mich sprach.
+
+»Sie wird sich die besten Aussichten verscherzen und eine verdrehte alte
+Schraube werden,« sagte er. »Oder willst du am Ende nicht heiraten?«
+Damit wandte er sich an mich.
+
+»Gewiß will ich -- sehr gern sogar, wenn der Mann danach ist!« lachte
+ich.
+
+Mama sah von ihrer Handarbeit auf: »Du weißt, daß ich dich nicht zwingen
+werde. Ein Mädchen, das wie du, eine gesicherte Zukunft hat, ist viel
+glücklicher, wenn sie nicht heiratet.«
+
+»Mit eurer Zuversicht auf Alixens Zukunft!« warf Onkel Walter ärgerlich
+dazwischen. »Die berühmte Tante Klotilde kann noch zehn Mal heiraten,
+oder hundert Jahre alt werden, oder ihr Geld den Hottentotten vermachen.
+Wir müssen sie unter die Haube bringen, solange sie hübsch ist, -- das
+allein ist eine Gewähr für die Zukunft. Sie darf sich freilich nicht mit
+Flausen den Kopf verdrehen und verzauberte Prinzessin spielen, sonst
+nimmt ein vernünftiger Kerl von vorn herein Reißaus.«
+
+Hochmütig warf ich den Kopf zurück und sagte spöttisch: »Beruhige dich,
+lieber Onkel, ich kriege noch zehn für einen. Ich werde dir den Kummer
+nicht antun, eine alte Jungfer zur Nichte zu haben.«
+
+Und nun nahm ich wieder an der Geselligkeit teil, -- nicht allein, weil
+ich ihm beweisen wollte, daß ich recht hatte, sondern auch, weil die
+Tante mich ärgerte, die -- wie ich herausfühlte -- aus reinem Egoismus
+das Einsamkeitsbedürfnis ihrer Rivalin zu fördern suchte. »Laß sie doch,
+wenn es ihr kein Vergnügen macht, -- wir werden auch ohne sie fertig!«
+hatte sie erst kürzlich ihrem Mann zugerufen, als er noch vom Wagen aus
+mich zur Teilnahme an einem Ausflug nötigen wollte. Außerdem -- wer
+weiß?! -- konnte der Gralsritter, von dem ich doch immer wieder heimlich
+träumte, nicht auch hier, am grauen Gestade der Ostsee landen?!
+
+Picknicks und ländliche Feste, wo schrecklich viel gegessen, noch mehr
+getrunken und wenig geredet wurde, Jagd- und Manöverdiners und
+häuslicher Trubel fingen an, mir sogar wieder Spaß zu machen. Wenn ein
+paar lustige Leutnants, um vom Manöver aus Pirgallen zu erreichen,
+meinetwegen ein paar Nächte um die Ohren schlugen; wenn abends am
+Strande von Kranz, dem nahen Seebad, wohin wir häufig fuhren,
+prasselndes Feuerwerk mir zu Ehren in die Luft stieg; wenn Blicke mir
+folgten, die mehr sagten als schmeichelnde Worte, -- dann schlürfte ich
+mit wonnigem Wohlgefühl den berauschenden Trank der Bewunderung, und die
+kleinen Teufel der Eitelkeit triumphierten über die guten Geister im
+Bücherschrank von Pirgallen. Aber »er« blieb unsichtbar, und so war
+meine Gesellschaftspassion immer nur ein Wechselfieber. »Die
+Gesellschaft ists gar nicht, die mich amüsiert, sondern die Rolle, die
+ich in ihr spiele,« schrieb ich an Mathilde, »denn an sich ist sie
+tödlich langweilig und leer -- leer -- leer wie ein ausgeblasenes Ei.
+Damit es was taugt, muß ich es erst mit meinen Farben bemalen.«
+
+Ein paar Wochen vor unserer Abreise kam ein Freund meines Onkels, Herr
+von Ollech, Rittmeister bei den Gardedragonern, nach Pirgallen. Schon
+auf den Königsberger Rennen hatte ich ihn kennen gelernt, und als wir
+abends zum Souper in großer Gesellschaft, die aus lauter Dohnas,
+Eulenburgs und Lehndorfs bestand, zusammen saßen, war er der
+Rettungsring gewesen, an den ich mich gehalten hatte, um nicht in dem
+unvermeidlichen Meer kindlicher Spiele unterzugehen. Er war eben in
+Bayreuth gewesen und hatte den Parsifal gehört. Das allein hätte genügt,
+um ihn mir interessant zu machen; sein ernstes musikalisches Verständnis
+war eine weitere starke Anziehungskraft. Ich freute mich, daß er mit uns
+heimwärts fuhr.
+
+Abend für Abend saß er dann im Halbdunkel des großen leeren Saals und
+entlockte dem alten Klavier klagende und jauchzende, zärtliche und
+sehnsüchtige Töne. Die kleinen Amoretten über den Türen, auf deren runde
+Körperchen das Licht weniger Kerzen einen rosigen Schein warf, schienen
+zu atmen, und die Blätter der Linden draußen bebten im Takt. Ich saß vor
+der offnen Türe, den mondhellen Garten vor mir, und das Zaubernetz
+wogender Rhythmen umspann mir dichter -- immer dichter Herz und Sinne.
+Dankbar hingerissen erwiderte ich den Druck der Hand des Spielers, wenn
+er schließlich zu mir heraustrat und mir Gute Nacht bot. Sah ich ihn
+morgens wieder, den überschlanken, großen Mann, mit den wässerigen
+Augen, der roten Nase und den ergrauenden Haaren, hörte ich seine rauhe
+Stimme, sein Lachen, das wie tonlos war, so war er mir ein Fremder, --
+eine Seele voll Wohlklang, die sich auf der Suche nach Menschwerdung in
+den Körper eines Dekadenten verirrt hatte.
+
+Angstvoll empfand ich, daß er mich liebte, und sah zugleich an der
+Selbstverständlichkeit, mit der man mich mit ihm allein ließ, was alle
+erwarteten. Ich fürchtete die Aussprache -- aber nicht weniger die
+Trennung. Ich kürzte den Augenblick des Gutenachtsagens mehr und mehr
+ab; ich wußte, daß ich in seiner Macht war, wenn der Zauber seiner Musik
+mich gefangen genommen hatte.
+
+Sein Urlaub ging zu Ende; ich fesselte mein Schwesterchen so sehr als
+möglich an mich, um ein Alleinsein zu verhindern. Aber eines schönen
+Morgens lief sie mir davon, als wir grade im Begriffe waren, in den Kahn
+zu steigen. Stumm ruderte er mich auf dem schmalen Kanal, der sich, von
+Bäumen und Büschen dicht umstanden, durch den Park zog. Schon tanzten
+gelbe Blätter auf seinen dunkelgrünen Spiegel nieder, während die Glut
+des Spätsommertages wie eingeschlossen unter dem Laubdach lag. Ich
+starrte ins Wasser und spielte mit der Hand darin. Ein »Fräulein von
+Kleve«, mit rauherer Stimme als sonst hervorgestoßen, ließ mich
+zusammenfahren. »Wollen Sie meine Frau werden?« -- -- Ich antwortete
+nicht. »Ich bin nicht jung, nicht schön,« fuhr er nach einer Pause leise
+fort. »Ich habe Ihnen nichts zu bieten, als --« er zögerte, und eine
+flüchtige Röte stieg ihm heiß in die Stirn -- »meinen Namen, mein
+Vermögen und -- meine Liebe.« Wieder eine lange Pause -- ich brachte
+keinen Ton über die Lippen. Mein Gegenüber seufzte tief auf. »Ich will
+keine rasche Antwort, wenn Ihr Herz Sie nicht dazu zwingt. Nur eins
+sagen Sie mir, bitte: lieben Sie einen andern?«
+
+»Nein!« entgegnete ich, ihm grade in die Augen sehend. Seine Züge
+leuchteten so hell auf, daß ich erschrak. Er griff nach meiner Hand.
+»Dann will ich warten, und -- hoffen. Es ist ja so wie so vermessen, daß
+ein alter Knabe wie ich so viel Jugend und Schönheit begehrt. Ich reise
+morgen früh -- in vier Wochen kommen Sie durch Berlin. Ihre verehrte
+Frau Mutter soll mich Ihre Ankunft wissen lassen, wenn -- wenn Sie für
+mich entschieden haben; -- ists recht so?«
+
+»Ja,« war alles, was ich hervorbringen konnte. Wir landeten. Als er mir
+beim Aussteigen die Hand reichte, traf mich ein Blick, -- ein Blick so
+voll Liebe, so voll Leid, daß ich ihm aus lauter Mitgefühl fast in die
+Arme gesunken wäre. Abends saß er zum letztenmal am Klavier und ließ
+seinen Phantasien freien Lauf; ich konnte der aufsteigenden Tränen nicht
+Herr werden, lief fort und verschloß mich in mein Zimmer, um es erst zu
+verlassen, als ich am nächsten Tag den Wagen über den Burghof rollen
+hörte.
+
+Es verletzte mich, daß jedermann um unsere Beziehungen zu wissen schien.
+Ich wurde rücksichtsvoll behandelt, wie eine Kranke, während
+widerstreitende Empfindungen mir alle Ruhe raubten. Mußte ich wirklich
+mit meinen achtzehn Jahren über solch eine Lebensfrage nachdenken wie
+über ein Rechenexempel? Wenn mein Verstand zehnmal ja gesagt hatte, so
+warf das Nein meiner Sinne all seine Weisheit über den Haufen. Meiner
+Sinne -- nicht meines Herzens. Allzu häufig floß es von Mitleid über,
+das der Liebe so ähnlich sieht; wenn ich mir dann aber vorstellte: der
+Mann soll dich küssen, soll von dir Besitz ergreifen -- körperlich! --,
+dann haßte ich ihn beinahe.
+
+Wir waren noch in Pirgallen, als ein Telegramm meines Vaters eintraf.
+»Brigade in Schwerin« -- nichts weiter stand darin. Die Freude war
+allgemein und bei mir am größten; meine Abneigung, nach Brandenburg
+zurückzukehren, beeinflußte im Stillen meine Entscheidung Ollech
+gegenüber. Die neue Garnison, der kleine Hof, die fremde, Neugier und
+Hoffnung in gleicher Weise wachrufende Umgebung gaukelten mir lauter
+lichte Zukunstsbilder vor. Als wir auf dem Wege nach Berlin im Zuge
+saßen und meine Mutter die Schicksalsfrage stellte: »Soll ich Ollech
+benachrichtigen?« bedurfte es keiner Überlegung mehr. Ordentlich komisch
+kam mirs vor, daß ich jemals zwischen »Ja« und »Nein« hatte schwanken
+können.
+
+Während der Übersiedelung der Möbel blieben wir in Berlin. Meine Mutter
+kannte keine größere Freude, als ohne Haushaltungs- und
+Gesellschaftszwang in der Hauptstadt zu sein. Während sie unermüdlich
+von einem Museum, einem Theater zum anderen ging, jede Ausstellung
+durchwanderte, die Läden von innen und außen betrachtete, verschwanden
+die scharfen Linien um ihren Mund und machten dem Ausdruck kindlichen
+Genießens Platz. Sie vergaß dabei sogar ihre Erziehungsgrundsätze und
+nahm mich in Possen und Operetten mit, die sich im Grunde gar nicht
+»schickten«.
+
+Im Oktober kamen wir nach Schwerin. Der erste Eindruck war ein
+deprimierender: ein Bahnhof wie in einem abgelegenen Provinznest, dicht
+daneben eine riesige Holzbaracke -- das Interims-Theater --, enge,
+holprige Straßen, kleine Häuser mit niedrigen Fenstern, Menschen, deren
+Aussehen einen um Jahre zurückversetzte. Aber schon unser neues Heim
+veränderte das Bild: eine kleine Villa, dicht am Park, die in fröhlichem
+Weiß zwischen Bäumen und Büschen einladend hervorlugte. Und ich hatte
+zwei Zimmer darin: das Schlafstübchen, weiß und blau wie einst, der
+kleine Salon in mattem Grün, -- eine Überraschung meines Vaters.
+Glückselig war ich: zur Arbeit und zum Träumen ein stiller,
+abgeschloßner Winkel für mich! Nicht rasch genug konnte ich meine Bücher
+in die zierlichen Etageren räumen, meinen Schreibtisch mit Bildern
+schmücken. Viele verborgene Schätze kamen ans Licht, die teils aus
+Mangel an Platz, teils aus Angst vor Mama in Koffern und Kisten
+verborgen gewesen waren. Da waren Makarts Fünf Sinne in großen
+Photographien, Böcklins Insel der Seligen. Ich hatte mich berauscht an
+der glänzenden Schönheit Makartscher Frauengestalten, ich hatte die
+Wirklichkeit vergessen gehabt vor dem dunkelblauen Wasser und der
+leuchtenden Ferne auf Böcklins vielgeschmähtem Bild. Mitten auf meinem
+Schreibtisch prangten sie nun. Eine bunte Gesellschaft, von denen jeder
+einzelne vom anderen weiter entfernt war als Böcklin von Makart,
+versammelte sich auf meinem Bücherregal: Goethe und Julius Wolff, dessen
+sentimentale Sinnlichkeit mich vorübergehend fesselte, Gottfried Keller
+und Felix Dahn, dessen germanische Götter- und Heldengeschichten meiner
+alten Neigung begegneten, Scherers Geschichte der Deutschen Literatur,
+die eben erschienen war, und die ich eifrig studierte, Webers Welt- und
+Lübkes Kunstgeschichte und daneben in wirrem Durcheinander griechische
+Klassiker, russische Novellisten, altdeutsche Heldenlieder in braunen
+Reclambänden, moderne Lyriker in goldüberladenem Prachtgewand.
+
+Noch spät am Abend kramte ich in meinem Zimmer, überzeugt, daß niemand
+mich stören würde, da sich die Schlafstuben der Eltern ein Stockwerk
+höher befanden, als meine Mutter eintrat. »Noch nicht zu Bett?!« rief
+sie und musterte ärgerlich meine Umgebung. Dabei fiel ihr Blick auf
+Bilder und Bücher. »Du bildest dir doch nicht ein, daß ich dergleichen
+dulden werde: diese schamlosen nackten Frauenzimmer und dies Bild eines
+Verrückten?«
+
+Mir stieg das Blut zu Kopf. »Das ist mein Zimmer, so viel ich weiß,«
+sprudelte ich hervor, meine Worte überstürzend, wie stets, wenn die
+Erregung mir den Mut zur Rede gegeben hatte, »und ich bin alt genug,
+meinem Geschmack zu folgen. Soll ich vielleicht Thumann aufbauen, der
+Germanen malt wie Salonhelden, und dessen Frauen aussehen wie lauter
+wohl erzogne und gut toilettierte Bazardamen? Solche Verlogenheit mag
+ich nicht, -- sie ist schamloser, als nackte Schönheit. Es ist mir auch
+ganz gleichgültig, ob die Leute Böcklin für verrückt halten. Ich finde,
+es wäre zum davonlaufen in der Welt, wenn nicht die paar Verrückten sie
+noch erträglich machten.«
+
+»Das magst du halten, wie du willst«, antwortete Mama, und nur ihre
+heißen Wangen verrieten ihren Zorn. »Solange du im Elternhause bist,
+hast du dich mir zu fügen, und zwar lediglich in deinem Interesse. Was
+meinst du wohl, was man von dir sagen würde, wenn man solche Dinge auf
+deinem Schreibtisch sähe?!« Damit ging sie hinaus, und ich nahm tief
+verletzt meine Bilder, um sie im Schlafzimmer aufzustellen, -- hier
+sollte sie mir niemand verekeln dürfen.
+
+Früh am Morgen weckte mich Papa:
+
+»Du, Alixchen -- wie wärs mit einem Ritt? Die kleine Braune wartet!« Mit
+einem Sprung war ich aus dem Bett und in wenigen Minuten in den
+Kleidern. Vergessen hatte ich den Ärger, noch mehr die Vorschrift des
+Arztes. Ein herrlicher Herbsttag war es, mit jenem geheimnisvoll blauen
+Dunst zwischen den Bäumen und jenem leisen Rieseln und Tanzen goldener
+Blätter darin. Durch eine grade Allee ritten wir an beschnittenen
+Laubengängen und verwitterten Götterbildern vorbei, vorüber an einem
+kleinen Gartenhäuschen, das zwischen welkenden Rosen träumte, und hinein
+in den Dom gewaltiger grauer Buchenstämme, durch deren hohe gelbgrüne
+Wölbung nur hie und da ein Sonnenstrahl bis zur Erde drang. Wir ritten
+langsam und sprachen kein Wort, selbst der Hufschlag der Pferde klang
+gedämpft, als ob sie auf tiefen Teppichen gingen. Plötzlich, wo der Weg
+sich jäh zur Seite wandte, empfing uns ein blendender Strom flimmernden
+Lichts: Vergißmeinnichtblau dehnte sich der See bis zum nebelgrauen
+Horizont, und aus ihm empor stieg mit Türmen und Zinnen, Erkern und
+Balkonen, funkelnd und blitzend im hellsten Morgenglanz, ein
+Märchenschloß.
+
+Uns heimwärts wendend, verfolgten wir die Uferstraße bis zur Stadt. Das
+Wasser, die feierlich breite Brücke darüber; ein öder, sandiger Platz
+trennte sie vom Palast des Herrschers. Demütig und zusammengeduckt, in
+nüchternem Werktagskleid, scheu und anbetend, aus kleinen Fenstern
+hinüberblinzelnd, lag sie zu seinen Füßen.
+
+»Das ist Mecklenburg!« sagte mein Vater.
+
+Die ersten Wochen in Schwerin waren ausgefüllt mit offiziellen Besuchen
+und Gegenbesuchen, die für mich lauter Enttäuschungen waren. Die
+Menschen entsprachen der Stadt, ob es nun Hofmarschälle, Minister oder
+Kammerherrn und Leutnants waren. Das Resultat »guter« Erziehung sprang
+in die Augen: vollkommene Gleichartigkeit des Wesens, der Ansichten, der
+Bildung; unerschütterlicher Gleichmut, selbstverständliche Kirchlichkeit
+-- eine Vornehmheit, die, in ihrem Abscheu vor jeder Extravaganz,
+äußerlich und innerlich vollkommen farblos machte. Und die Frauen! Glatt
+gescheitelt, streng und kühl die Verheirateten; eine Schar alternder
+Mädchen -- das Kennzeichen jeder kleinen Residenz -- mit dem bitteren
+Zug enttäuschter Erwartungen um blutleere Lippen; wenige junge, und auch
+die sich zu vorschriftsmäßigem Gleichmaß zwingend. Der Hoftrauer wegen
+-- im Frühjahr war der alte, sehr geliebte Großherzog gestorben, sein
+kränklicher Nachfolger war noch im Süden -- gab es keine großen
+Gesellschaften, dagegen zahllose Nachmittagstees von gähnender
+Langerweile und steife Abendgesellschaften, die ihnen nichts nachgaben.
+Kleine Diners bei der alten Großherzogin-Mutter, der Schwester Kaiser
+Wilhelms, bildeten eine wohltätige Ausnahme. Die originelle alte Dame
+liebte die Jugend und war, bei allem strengen Urteil über Manieren, die
+ihr nicht vollkommen schienen, ihr gegenüber nachsichtig und
+freundlich, dabei voll sarkastischen Witzes. In ihrem kleinen »Palais«,
+einem baufälligen Häuschen, das sie zu verlassen sich standhaft
+weigerte, klang an einem Nachmittag oft mehr frohes Lachen, als an zehn
+geselligen Abenden bei den übrigen Würdenträgern der Stadt. Was den
+Verkehr noch besonders erschwerte, war die Abneigung der eingesessenen
+Mecklenburger Familien gegen die Preußen und die strenge Scheidung der
+Gesellschaft nach der Herkunft. Nur der Adel war hoffähig; mühsam hatte
+Preußen es durchgesetzt, daß wenigstens der Offizier, auch wenn er
+unadlig war, empfangen wurde. Seine Frau jedoch empfing man nicht, die
+nicht adlig geborene Frau eines Adligen ebensowenig.
+
+Die Rolle der duldenden Teilnehmerin in der Öde dieser Gesellschaft
+hielt ich nicht lange aus. Mich ganz zurückziehen, was ich am liebsten
+getan hätte, war bei der Stellung meines Vaters, mit der die
+Verpflichtung, »ein Haus auszumachen«, unweigerlich verbunden war, nur
+soweit möglich, als die Rücksicht auf meine Gesundheit es verlangte.
+Getanzt aber wurde nicht, also blieb mir kein Vorwand; nur hie und da,
+wenn ich in ein Buch besonders vertieft war, oder eine Phantasie
+unbedingt zu Papier bringen mußte, schützte ich Schmerzen vor, legte
+mich zu Bett, und stand, im köstlichen Besitz ungestörter Freiheit,
+wieder auf, sobald die Eltern das Haus verlassen hatten.
+
+Dann kamen sie, die holden Gestalten meiner Träume, und viele blaue
+Hefte füllten sich allmählich mit Gedichten und Betrachtungen, Märchen
+und Geschichten.
+
+Ging ich aus, so setzte ich alle Hebel in Bewegung, um der Langenweile
+Herr zu werden. Zum Kampf gegen sie zettelte ich unter meinen wenigen
+Altersgenossinnen eine förmliche Verschwörung an: wir »schnitten« die
+Alten und Grämlichen, wir protestierten durch die Tat gegen die
+Gewohnheit der Trennung der Geschlechter, sobald das Essen vorüber war,
+wir spielten Theater und stellten lebende Bilder, wozu ich die
+verbindenden Texte zu dichten pflegte. Und unsere Jugend siegte
+allmählich; meine geselligen Künste fanden Anerkennung, und ich mußte
+sie überall glänzen lassen. Aber solche Erfolge genügten mir nicht. Ich
+»suchte Menschen« -- verlangender und sehnsüchtiger denn je --, und wenn
+ich mich scheinbar am besten amüsiert hatte, kam ich oft heim, um
+verzweifelt in mein Bett zu schluchzen.
+
+»Du hast das beste Leben von der Welt. Warum bist du nicht zufrieden?«
+schrieb mir meine Kusine, die kurze Zeit bei uns gewesen war und meine
+Zerfahrenheit nicht begriff.
+
+Ich antwortete ihr:
+
+»Du sagst, und zwar mit dem Ton moralischen Vorwurfs, daß ich nur darum
+die hiesige Gesellschaft so abfällig beurteile, weil ich noch niemanden
+fand, der mich persönlich interessiert. Das ist doch selbstverständlich!
+
+Oder gehst du der vielen Gleichgültigen wegen in Gesellschaft, die sich
+nach deinem Befinden erkundigen, obwohl es ihnen ganz einerlei ist, wie
+du dich befindest, die die kostbare Zeit mit Geschwätz totschlagen, von
+dem du absolut gar keine Anregung empfängst, die ein verbindliches 'Auf
+Wiedersehen' flöten und schon am nächsten Tag an deiner Leiche
+gleichgültig vorübergehen würden?! Aber du treibst deinen Vorwurf noch
+weiter und sagst entrüstet, ich wäre wieder einmal reif, mein Herz
+wegzuwerfen. Ich gebe das ohne weiteres zu: findet mein Geist kein
+Interesse, so muß das Herz daran glauben. Hier im heiligen Mecklenburg
+ist kein Mensch, den ich nicht schon ausgepreßt hätte wie eine Zitrone,
+und der nicht immer sauer geblieben wäre wie sie. Nun gilts, ihm das
+Zuckerwasser der Verliebtheit beizumengen, um ihn überhaupt genießbar zu
+machen. Deine Moralpauke schließt mit den Worten: nicht wieder
+'sträflich' mit dem Feuer zu spielen. Sei beruhigt: ich bin grade auf
+das intensivste mit dem Schüren der Flamme beschäftigt. Und _wie_ sie
+brennt!! 'Er' ist hübsch, elegant, leichtsinnig, oberflächlich, --
+kurz, ganz was ich brauche! 'Er' ist Löwe, Herzensbrecher, -- kurz, ein
+Holz, aus dem ich mit Vergnügen meine Ritter schnitze! Du hast natürlich
+wieder Mitleid mit ihm, wie mit Vetter Fritz, mit Fredy usw. _Warum hat
+denn niemand Mitleid mit mir_?! Oder ist es nicht vielleicht
+mitleidswürdig, daß ich mein heißes Herzblut tropfenweise mit dem
+Allerweltsleitungswasser des Flirts verdünne?! Ich lechze nach Licht,
+flammendem Geisteslicht, selbst wenn ich bei seinem Anblick erblinden
+sollte, und nach einer Leidenschaft, an der ich mich verzehren kann.«
+
+Es kamen Stunden, in denen mein pochendes Herzblut mich in wild
+aufwallende Gefühle verstrickte. Dann flatterte es mir vor den Augen in
+tausend Flämmchen, heiße Schauer liefen mir über den Rücken, und
+feuriger begegnete mein Blick dem des Mannes, der grade neben mir über
+die spiegelnde Eisfläche glitt oder beim Diner klingend sein Sektglas an
+das meine stieß. Ich galt für kokett; die jungen Mädchen zogen sich von
+mir zurück; ich hatte immer eine Korona von Kavalieren um mich.
+
+In grausamer Selbstzerfleischung schrieb ich in eines meiner blauen
+Hefte:
+
+»Irgendein unheimliches, wildes Tier haust in meinem Innern. Es zerreißt
+die festesten Eisenketten. Es treibt mich seit meiner Kindheit von
+Leidenschaft zu Leidenschaft. Wie erbärmlich, sich erheben zu wollen
+über die Mädchen der Straße. Wären wir nicht so gut erzogen, und wohl
+gehütet, wie viele von uns gingen denselben Weg wie sie!« Und an anderer
+Stelle heißt es: »O über das trostreiche Verweisen auf häusliche
+Pflichten! Als ob ich sie nicht alle erfüllte, ohne die geringste
+Befriedigung zu spüren! Staub wischen, Hüte garnieren, Deckchen sticken,
+Strümpfe stopfen, -- soll das das Herz beruhigen, den Geist ausfüllen?!
+Es ist nichts als eine tugendhafte Bemäntelung des Zeittotschlagens.
+Meine Lebenskräfte schreien nach Betätigung. Ich möchte etwas erleben,
+das keine Nervenfaser unberührt, kein Äderchen ohne Glut läßt, etwas
+leisten, das Wunden kostet ...«
+
+Einmal -- ich saß grade am Bett meines kranken Schwesterchens und baute
+ihr aus Goldpapier ein »Walhall« auf, dessen göttliche Bewohner aus
+Perlen und bunten Knöpfen bestanden -- ließ mich Papa zu sich herunter
+rufen. Herr von Landsberg, der Hoftheater-Intendant, war bei ihm.
+
+»Ich habe eine Bitte an Sie, mein gnädigstes Fräulein,« wandte er sich
+an mich. »Wir wollen nach beendeter Trauer den Geburtstag des
+Großherzogs durch eine Festvorstellung feiern. Uns fehlt ein
+einleitender Prolog. Dürfen wir dafür auf Ihre Mitarbeit rechnen?«
+
+Mir klopfte das Herz vor Freude: Ich sollte für die Bühne dichten!
+Sollte von einem großen Publikum gehört werden! Trotzdem kamen mir
+Bedenken:
+
+»Ich kenne den Großherzog nicht. Und ihn anhimmeln, bloß weil er der
+Großherzog ist, -- das widerstrebt mir.«
+
+»Niemand verlangt das von Ihnen. Das rein Menschliche, daß er krank,
+fern seinem Lande im Süden ist, daß seine Abwesenheit schwer auf Handel
+und Wandel, Leben und Geselligkeit drückt, daß wir ihm und uns seine
+Genesung wünschen, gibt, scheint mir, Anregung genug zu dichterischer
+Gestaltung!« Mir leuchtete ein, was er sagte; die Gelegenheit, zum
+erstenmal öffentlich hervorzutreten, war auch viel zu verlockend, als
+daß mein Widerstand sich hätte aufrecht erhalten lassen.
+
+Ich schrieb in schwungvollen Versen irgend etwas, das von den Seen und
+Wäldern Mecklenburgs, von den guten heimischen Göttern und dem
+trügerischen Zauber des Südens mehr enthielt als von dem Landesfürsten,
+den es feiern sollte. Da man ihn seiner, wie man glaubte, unnötig langen
+Abwesenheit wegen nicht allzu hoch schätzte, so entsprach meine Dichtung
+den Intentionen der Auftraggeber. Bei Landsbergs, in kleinem Kreise, las
+ich sie vor und erntete von den anwesenden Schauspielern einen
+geräuschvollen Beifall, der um so größeren Eindruck auf mich machte, als
+ich noch nicht wußte, daß es bei ihnen ebenso üblich ist, den Gefühlen
+übertrieben lauten Ausdruck zu geben, wie es bei uns guter Ton ist, sie
+bis auf ein Mindestmaß zu unterdrücken.
+
+Hier, -- das schien der eine Augenblick mir zu enthüllen --, fand ich
+die Menschen, die mich verstanden, denen die Kunst Lebensinhalt war.
+Ich nahm an den Proben teil und wurde allmählich ein immer häufigerer
+Gast im Hause des Intendanten. Seine geistvolle, liebend würdige Frau
+verhätschelte mich; er selber -- wie selten war mir das begegnet! --
+nahm mich ernst und gab mir derlei gute Ratschläge, um mein Talent zu
+fördern. Die Hauptanziehungskraft aber war mir Lisbeth Karstens, die
+junge, reizende Schauspielerin, die meinen Prolog sprechen sollte. Aus
+Begeisterung für die Kunst hatte sie das warme Nest ihres Elternhauses
+verlassen und war allein und mittellos in die Fremde gegangen. Not,
+Gemeinheit und Verkennung hatten sich ihr in den Weg gestellt, -- ihr
+Enthusiasmus war stärker gewesen als alles. Landsberg, der es wie wenige
+verstand, Begabungen zu entdecken und die häßliche Bretterbude am
+Bahnhof infolgedessen über viele kostbare Theater Deutschlands erhob,
+hatte sie erst kürzlich engagiert. Sie war ein ausgezeichnetes
+»Gretchen«, eine rührende »Ophelia«, ein hinreißendes »Käthchen von
+Heilbronn«, und selbst der blutleeren »Thekla« verhalf sie zu lieblichem
+Leben. Mein Prolog, von ihr gesprochen, erschien mir wirklich wie ein
+Kunstwerk. Aber, ach, wieviel Tränen vergoß ich seinetwegen!
+
+Mit aufrichtigem Beifall hatte mein Vater ihn beurteilt; es schmeichelte
+seiner Eitelkeit, seine Tochter anerkannt zu sehen, aber seine
+hochmütige Mißachtung des Publikums war zu groß, als daß er ihm ein
+Urteil über mich hätte gestatten können. Mein Name durfte nicht genannt
+werden. Ich suchte vergebens, ihn umzustimmen.
+
+»Damit unser guter Name durch die schmutzigen Mäuler aller Menschen
+gezogen wird?!« herrschte er mich an, »und jeder Federfuchser sich
+erlauben kann, dich herunterzureißen?!« Als der große Abend hereinbrach,
+flüsterte man sich meinen Namen nur unter dem Siegel der
+Verschwiegenheit zu. Der Beifall aber, der das Theater durchbrauste,
+klang wie eine Fanfare bis ins Innerste meiner Seele, und alte
+Kinderträume wachten auf, und junger Ehrgeiz breitete seine Flügel aus,
+um mich weit in die Zukunft zu tragen, -- dahin, wo der Ruhm auf ehernen
+Stühlen thront und immergrüner Lorbeer im Glanze der nie untergehenden
+Sonne eichenstark gen Himmel wächst.
+
+Seitdem hatte ich keine Ruhe mehr. Oft trieb michs des Nachts aus dem
+Bett an den Schreibtisch. Mit Lisbeth Karstens verband mich eine immer
+innigere Freundschaft. Sie war meine Vertraute, eine geduldige, leicht
+begeisterte, fast immer kritiklose Zuhörerin meiner Dichtungen. Im
+Theater, das ich fast täglich besuchte, denn in der Loge des Intendanten
+war Platz für mich, sobald meine Eltern mich nicht begleiteten, fand ich
+immer neue Anregung, der Künstlerkreis im Landsbergschen Haus, der für
+nichts Sinn hatte als für das Theater, fachte die Glut meines Innern zur
+Fieberhitze an. Noch waren es Nebelgestalten, die ich sah und nicht zu
+fassen vermochte. Sie nahmen festere Formen an, wenn der alte
+Wagnerfänger Hill am Flügel stand und seine machtvolle Stimme den Raum
+erfüllte; wenn Alois Schmitt -- einer der künstlerischsten Menschen, die
+ich kannte -- am Dirigentenpult saß und sein geschultes Orchester die
+Fidelio-Ouvertüre intonierte; und sie wurden mir sichtbar, wie
+Geistererscheinungen, wenn ich einsam durch den Wald ritt und droben auf
+dem Götterhügel fern der Stadt, wo vor Jahrhunderten Walvaters
+Opferstein rauchte, die rauschenden Buchen miteinander flüsterten.
+
+Es war Sigrun, König Högnis Tochter, die ich sah, -- Sigrun, die
+Schildjungfrau, die in heißem Freiheitsdrang und starker Liebe den
+Todfeind ihres Vaters, Helgi, den Hundingstöter, vor seinen Mördern
+schützte und sich ihm als Gattin verband, -- Sigrun, die Treueste der
+Treuen, und die geliebteste, um deretwillen Helgi Walhalls Wonnen
+verschmähte. Zu einem Drama wollt' ich ihre Geschichte gestalten; der
+Konflikt zwischen kindlichem Gehorsam und Mannesliebe war sein
+Mittelpunkt, seine Lösung der freiwillige Tod der Heldin.
+
+Meist schrieb ich des Nachts. Am Tage fürchtete ich zu sehr die Störung,
+die mich aus allen meinen Himmeln riß. Die Friseuse, die Schneiderin,
+die Wäsche, die Besuche, -- nichts durft ich versäumen. »Wäre ich ein
+Mann, es würde dir nicht einfallen, mich von der Arbeit abzurufen!« rief
+ich bei solcher Gelegenheit einmal verzweifelt Mama entgegen.
+
+»Gewiß nicht!« antwortete sie mit herbem Lächeln, »da du aber ein Weib
+bist, mußt du frühzeitig lernen, daß wir nie uns selbst gehören.«
+
+Tante Klotilde fiel mir ein, die mir vor Jahren etwas ähnliches gesagt
+hatte, und Groll gegen mein Schicksal erfüllte mich.
+
+Mit dem Fortschritt der Arbeit wurde meine Stimmung immer trüber. Ich
+fühlte, daß ich meinem Werk den ganzen Gluthauch des Lebens, den ich
+dunkel empfand, nicht einzuflößen vermochte. Der guten Lisbeth Beifall
+machte mich stutzig, nachdem ich erfuhr, wie wahllos sie für alles
+schwärmte; der laute Ton des Künstlervölkchens bei Landsbergs, der mir
+früher ersehnte Offenbarung natürlichen Fühlens gewesen war, tat mir
+weh, je mehr ich die falsche Note hörte. Das Tiefste versteckten
+schließlich alle: wir durch schweigende Zurückhaltung, sie durch
+lärmende Heiterkeit. Ich zeigte Landsberg einige Szenen meines Werks,
+die mir am besten gelungen schienen. »Bringen Sies mir, wenn es
+vollendet ist, vielleicht läßt es sich aufführen,« sagte er nach der
+Lektüre, -- nichts weiter. Wäre es das Außerordentliche gewesen, das ich
+hatte schaffen wollen, er hätte sicherlich anders gesprochen!
+
+Ich hielt mich streng an klassische Vorbilder und übertrug das
+ursprünglich in Prosa oder in freien Rhythmen Geschriebene in fünffüßige
+Jamben. Alle Wärme, alle Kraft ging dabei verloren. Je mehr ich
+umarbeitete, feilte, mit der Form und der Technik kämpfte, desto
+nüchterner und fremder sah mich meine eigene Arbeit an. Und schließlich
+kam ein Tag, an dem ich verzweifelt vor den vollgeschriebenen Blättern
+saß, und wußte, daß ich meiner Aufgabe nicht gewachsen war. Wie ein
+steuerloses Schiff auf brandendem Meere war ich wieder; eine Fata
+Morgana waren meine Hoffnungen gewesen; das Leben sah mich an, eine
+leere, dunkle, feuchtkalte Höhle, die von den Fackeln meiner Träume noch
+eben in magischem Zauber geleuchtet hatte.
+
+»Ganz oder gar nicht,« -- das war mir allmählich zum Wahlspruch
+geworden. So verurteilte ich denn fast alles, was ich seit meiner
+Kindheit geschrieben hatte, zum Feuertode, verschnürte und versiegelte
+das Übriggebliebene -- darunter auch mein verunglücktes jüngstes Werk
+-- und warf den Schlüssel der kleinen Truhe, in der ich es verwahrte,
+zum Fenster hinaus.
+
+Und nun überfiel mich ein Heimweh nach den Bergen, so stark, so
+unüberwindlich, als wäre ich dort zu Hause und überall sonst in der
+Fremde. Auf meine Bitte, zu ihr ins Rosenhaus kommen zu dürfen,
+antwortete Tante Klotilde umgehend, daß sie zwar noch nicht dort sei,
+die alte Kathrin aber alles zu ihrer Ankunft vorbereite und ich sie mit
+ihr dort erwarten möge. Ehe ich ging, zog ich meinem Schwesterchen noch
+zwei Puppen an, -- Helgi und Sigrun. Sie liebte sie zärtlich, und noch
+Jahre nachher lachten mir ihre starren Porzelangesichter entgegen, als
+höhnten sie meiner, die ich lebendige Menschen hatte schaffen wollen.
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+Allein in Grainau! -- Noch lag der Schnee bis zum Tal hinunter, und die
+Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel, um mehr als ein paar
+Stunden am Tage das Dörflein wieder zu grüßen, vor dem sie sich im
+Winter monatelang hinter den steilen Wänden des Waxensteins versteckte.
+Nur im Rosensee spiegelte sie schon länger ihr strahlendes Antlitz, als
+wollte sie sich überzeugen, ob sie würdig des kommenden Frühlings wäre.
+Der riß hie und da keck an der grauen Wolkendecke und guckte mit seinem
+hellen blauen Himmelsauge neugierig auf die arme, kahle Erde herunter.
+Seltsam, wie wohl mir war, kaum daß die Loisach, voll und gelb von
+Schneewasser, mich lärmend, wie ein übermütiger Bub, willkommen hieß.
+Mich störten der Regen nicht und der Sturm, die mir kühlend um Stirn und
+Wangen strichen; in den Lodenmantel gewickelt, ging ich all die
+vertrauten Wege, und niemand zankte mich, wenn ich zerzaust und
+beschmutzt nach Hause kam, oder gar die Mahlzeit versäumte. Die gute
+Kathrin schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf, streichelte mir
+mit einem zärtlichen: »Ach die liebe Jugend« die heißen Wangen und ließ
+es sich nicht nehmen, mir die gewärmten Strümpfe und Schuhe selbst über
+die Füße zu ziehen.
+
+War das eine Wonne, allein zu sein! Über mein Tun und Lassen selbständig
+zu entscheiden! Ein Schmetterling, der aus dem Puppenpanzer kriecht,
+konnte nicht froher sein als ich! Plötzlich -- ich saß grade unter
+tropfenden Bäumen auf der nassen Bank, die der Sepp mir gezimmert hatte
+-- fielen mir meine achtzehn Jahre ein; -- Himmel, war ich jung! Ganz
+überwältigt von dieser Erkenntnis, lief ich in großen Sprüngen den Berg
+hinab und konnte mich vor Lachen nicht fassen, als ich der Länge nach im
+Moose lag.
+
+Tante Klotilde verschob ihre Ankunft von einer Woche zur andern. Wenn
+sie den Schnupfen hatte und das Wetter schlecht war, zitterte sie um
+ihre Stimme, und vor der Rücksicht auf deren Gefährdung mußte alles
+andere zurückstehen. Sie schickte mir ermahnende Briefe, in denen sie
+genau vorschrieb, wie weit ich allein gehen dürfe -- eine Viertelstunde
+im Umkreis wars höchstens --, und schärfte der Kathrin ein, gut auf mich
+aufzupassen.
+
+Indessen kam der Frühling, und die Bäume steckten ihm zu Ehren ihre
+ersten grünen Blätterfähnchen aus. Ich saß schon stundenlang auf der
+Veranda in Tantens Schaukelstuhl -- ohne Handarbeit, ohne Buch -- und
+sonnte mich. Außer mir und der Kathrin waren nur der alte Gärtner und
+sein uralter Pudel im Haus, der im Stoizismus seines Greisentums das
+Bellen sogar schon aufgegeben hatte. Es war daher mäuschenstill bei uns.
+Um so mehr erstaunte ich, als eine kräftige Männerstimme eines Morgens
+an mein Ohr schlug.
+
+»Machen Sie mir doch nichts weiß,« rief sie, »ich hab doch meine Augen
+im Kopf, -- und wette zehn gegen eins: das Rosenhaus ist bewohnt.«
+
+»Aber wahr und wahrhaftig, Durchlaucht, die Frau Baronin sind noch nicht
+hier!« greinte die Kathrin. Ein helles Gelächter war die Antwort.
+
+»Da könnten Sie am Ende recht haben -- aber in der ganzen Welt gibt es
+nur einen so schwarzen Lockenkopf, wie der Alix ihrer, und den sah ich
+vom Ufer drüben. Gespenster sind nicht so hübsch.«
+
+Hellmut wars! Ich lief hinaus und streckte ihm beide Hände entgegen. Die
+paar Jahre seit unserem letzten Zusammensein waren wie ausgewischt, und
+erst als ich sah, daß ein hochgewachsener Mann mit gebräuntem Gesicht
+und keckem Schnurrbärtchen über den vollen Lippen vor mir stand,
+errötete ich unwillkürlich.
+
+»Wollen -- Sie nicht näher treten!« sagte ich zögernd.
+
+»Aber Alix -- 'Sie!' Wir sind doch alte Freunde,« damit faßte er meine
+Hand mit kräftigem Druck und ging mit mir an den eben verlassenen
+Frühstückstisch, während Kathrin uns ganz blaß und geistesabwesend
+nachstarrte.
+
+Das Ungewöhnliche der Situation machte uns verlegen. Schweigend holte
+ich eine Tasse aus dem Schrank und goß ihm Tee ein, während ich fühlte,
+wie sein Blick auf mir ruhte.
+
+»Wie schön bist du geworden!« -- flüsterte er wie zu sich selbst. In dem
+Augenblick trat die Kathrin herein und rumorte mit eifriger
+Geschäftigkeit im Zimmer. Das zwang uns zur Konversation, die, zuerst
+steif und gezwungen, allmählich immer natürlicher wurde. Nach dem Wie
+und Warum unseres Hierseins frugen wir einander, und ich erfuhr, daß ihn
+auf dem Wege nach Oberitalien in München plötzlich die Lust gepackt
+habe, die Berge von Garmisch wieder zu sehen. »Unserem Verwalter in
+Partenkirchen kam ich nicht gerade gelegen,« lachte er, »der hatte
+Gesellschaft in Mamas Salon, als ich eintrat. Ich habe ihm unter der
+Bedingung gnädig verziehen, daß er über meine Anwesenheit gegen jeden
+den Mund halten soll.«
+
+»Dann sind wir beide inkognito,« rief ich fröhlich, »die Tante findet
+nämlich im Grunde mein Alleinsein so kompromittierend, daß ich
+versprechen mußte, mich in Garmisch nicht sehen zu lassen.«
+
+Bis gegen Mittag blieb er. Der guten Kathrin warnende Blicke, die ich
+zuweilen auffing, nahmen mir den Mut, ihn zu Tisch einzuladen. Am
+nächsten Morgen aber, vor seiner Weiterreise, versprach er, mir eine
+»feierliche Abschiedsvisite« zu machen.
+
+»Wenn das die Frau Baronin wüßte!« sagte die Kathrin seufzend, als er
+weg war.
+
+Es regnete in Strömen, als ich am folgenden Tage erwachte »Nun kommt er
+sicher nicht,« war mein erster Gedanke, und mißmutig zog ich die Decke
+wieder über die Schultern. Aber eine leise Hoffnung tauchte gleich
+darnach auf und zwang mich, statt des alltäglichen Lodenrocks ein
+hübsches, helles Hauskleid aus dem Schrank zu holen. Kaum saß ich am
+summenden Teekessel, als ich draußen sein fröhliches »Grüß Gott,
+Fräulein Kathrin« hörte. »Naß bin ich wie 'ne Katze, aber pudelwohl, --
+Sie sehen, die Viecher vertragen sich auch im Menschen,« fügte er hinzu,
+und selbst die wohlerzogene Dienerin erlaubte sich, zu lachen. Sie ließ
+uns sogar allein -- es war ja das letztemal, mochte sie sich zur eigenen
+Beruhigung sagen.
+
+Wie war es behaglich im Zimmer, während draußen der Regen an den
+Fenstern niedertroff! Wir frühstückten und plauderten miteinander, ganz
+wie alte Vertraute, und setzten uns schließlich vor den kleinen Kamin,
+der eine wohlige Wärme ausstrahlte. »Wie wärs mit einer Zigarette? frug
+er und hielt mir die gefüllte Dose hin.
+
+»In diesen heiligen Hallen?« antwortete ich, halb erschrocken.
+
+»Bis die Gestrenge kommt, ist der Duft verflogen. -- -- Ich muß dir was
+erzählen, Alix, und das geht nicht ohne den Glimmstengel. Der macht Mut,
+weißt du!« Wir rauchten eine Zeitlang schweigend.
+
+»Du mußt mich nicht so ansehen,« fing er schließlich wieder an, »sonst
+kommts mir gar zu komisch vor, daß ich dir Geständnisse mache, wie einem
+Kameraden.« Ich rückte lächelnd den Stuhl zur Seite und sah geradaus ins
+Feuer. »Ists recht so?«
+
+»Fein! -- Wenn du nur nicht ein so verdammt hübsches Profil hättest! --«
+Er schwieg aufs neue. Nach ein paar Minuten aber begann er: »Ich habe --
+Dummheiten gemacht in Berlin. Es hat der armen Mama, die so nicht auf
+Rosen gebettet ist, einen tüchtigen Happen Geld gekostet, die Sache in
+Ordnung zu bringen --.« Ein bißchen erschrocken wandte ich den Kopf nach
+ihm -- »es war nichts Gemeines, Alix -- Kind, gewiß nicht. Du kannst ja
+nicht wissen, wies unsereinem geht. Wir sind nicht von Stein -- die
+jungen Mädels der Gesellschaft sind steif und langweilig wie
+Holzpuppen, -- und wenn sies nicht sind, ists ihr Unglück.« Ich fuhr
+zusammen. -- »Kannst am Ende selbst ein Lied davon singen, was?! -- Kurz
+und gut, siehst du, ich verliebte mich eines Tages in eine Ballettratte
+-- einen süßen, kleinen Käfer, sag ich dir --«, zu dumm, daß ich mich in
+diesem Augenblick bis zu Tränen ärgerte -- »aber gräßlich ungebildet.
+Ich habe sie eigentlich nur zwei Tage gern gehabt, nachher wars
+Gewohnheit, Mitleid, -- was weiß ich« -- er war aufgestanden und ging
+unruhig im Zimmer hin und her, die Zigarette zwischen den Fingern
+zerdrückend. »Ich konnte schließlich nicht länger -- ich mußte frei
+sein! Ihr Vater lief spornstreichs zu Mama und heulte ihr was von
+zerstörtem Leben, geraubter Ehre usw. vor. Mir gegenüber hatte er bis
+dahin den untertänig-dankbarsten Diener gemimt. Das übrige kannst du dir
+am Ende vorstellen!«
+
+Ich zitterte vor Erregung. Mich hatte ein Gedanke gepackt, der mich
+nicht minder los ließ. »Hat sie -- ein -- Kind?« stieß ich mit aller
+Anstrengung hervor. Verblüfft blieb er vor mir stehen. »Du bist wirklich
+aus der Art geschlagen, Alix,« damit streckte er mir die Hand entgegen.
+»Meine Hand drauf: nein! Wäre das Unglück geschehen, ich hätte anders
+gesprochen! -- Aber wir sind noch nicht zu Ende. Man hat mich auf Urlaub
+geschickt -- nach Italien, wie du siehst! --, und wenn die Galgenfrist
+zu Ende ist, soll ich -- heiraten!« Mit komischem Entsetzen rang er die
+Hände.
+
+»Wen?« frug ich, während mir das Herz hörbar schlug.
+
+»Wen?! Ein kleines Prinzeßchen natürlich, semmelblond -- du weißt, wie
+ich so was liebe! --, bleichsüchtig, eine Figur wie ein wohlgehobeltes
+Brett.« Ich spürte mit heimlicher Freude den raschen Blick, der zu mir
+herüberzog. »Die Ebenbürtigen mit dem nötigen Mammon laufen nicht zu
+Dutzenden in der Welt herum. Und eine Ebenbürtige muß es sein, Mama
+träumt doch ständig, daß ihrem Einzigen Vetter Georgs Krone eines
+schönen Tages auf den Dickkopf fällt! Eine Reiche natürlich auch, -- du
+weißt ja, in wie schmerzlichen Widerspruch unser Portemonnaie zu dem
+Glanz unseres Namens steht!«
+
+»Und du?«
+
+»Ich wünsche ihm ein langes Leben, eine tüchtige Frau und ein Dutzend
+Jungens! Zum Regieren hab ich kein Talent, und zum Heiraten am
+allerwenigsten. Das weiß ich eigentlich erst seit gestern. In der
+Stickluft Berlins, angesichts des versammelten Familienrats war ich ganz
+klein. Aber wie ich gestern von dir ging, bin ich noch bis in die Nacht
+hinein in den Bergen herumgeklettert und habe mir einen ordentlichen
+Gletscherwind um die Nase pfeifen lassen. Heute weiß ich: es geht nicht
+-- mögen sie mich meinetwegen zu den Insterkosaken versetzen, ich kann
+die Ebenbürtige nicht heiraten.«
+
+Er wandte mir den Rücken und sah in den Regen hinaus.
+
+»Ich kann nicht« -- wiederholte er leise, »ich muß Eine haben, die ich
+liebe --«
+
+Es war ganz still zwischen uns. Nur die Uhr tickte laut und heftig.
+
+»Ich möchte hier bleiben, Alix,« sagte er nach einer Weile mit ruhigem
+Ernst. »Ich brauche die Einsamkeit und -- dich. Du mußt mir helfen
+überlegen, was aus mir werden soll!«
+
+»So bleibe, Hellmut,« antwortete ich rasch, aber im selben Augenblick
+fiel mir die Kathrin ein, und die Tante, und das Gerede der Leute; und
+schon kam sie selbst, meine getreue Wächterin, und sagte, nachdem sie
+das Geschirr möglichst langsam abgeräumt hatte:
+
+»Soll der Christoph für Durchlaucht einen Wagen bestellen? Er geht gerad
+ins Dorf hinunter.«
+
+Hellmut stieg das Blut in den Kopf. Er verstand. »Nein,« sagte er, »ich
+gehe zu Fuß. Es ist nicht nötig, daß noch mehr Leute von meinem Hiersein
+wissen.« Die Kathrin sah ihn zweifelnd an. »Fürchten Sie nichts für Ihr
+gnädiges Fräulein, Kathrin,« fuhr er fort, »ich bin ihr bester Freund
+und werde nicht dulden, daß ihr auch nur ein Härchen gekrümmt wird.« Als
+sie sich daraufhin stumm entfernt hatte, wandte er sich zu mir:
+
+»O über die verdammten Rücksichten auf die Gemeinheit der anderen! Ists
+nicht das natürlichste von der Welt, daß wir hier zusammen sitzen? Und
+nun --! Ich kann nicht wiederkommen, -- deinetwegen nicht!«
+
+Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Zugleich kam mirs
+feige und erbärmlich vor, ihn so gehen zu lassen.
+
+»Ich bin viel draußen,« sagte ich zögernd und verlegen, »wenn du mich
+brauchst, wie du sagst, dann -- dann könnten wir uns irgendwo treffen.«
+
+»Hab Dank, herzlichen Dank, Alix. Aber das macht die Sache nicht besser.
+-- Uns ein heimliches Rendezvous geben, wie -- wie ... nein, das kann
+ich dir nicht antun. Machen wirs kurz: Lebwohl.« Er zog meine Hand an
+die Lippen und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, rasch zur
+Türe.
+
+In mir kochte es. Ah, wer diesen Götzen der Konvention zerschmettern
+könnte, auf dessen Altar unsere besten Gefühle und schönsten Stunden
+verbluteten, dem zu Ehren wir unsere freien Glieder in Fesseln schlugen.
+Gegen Abend, als ich aus der Gartentür trat, sprang mir ein kleiner Bub
+in den Weg und hielt mir einen Strauß Schneeglöckchen entgegen. Schon
+zog ich die Börse, um sie zu kaufen, da drückte der Überbringer ihn mir
+schelmisch lachend in die Hand und rannte davon. Jetzt entdeckte ich
+erst den Brief, der um die Stiele gewickelt war.
+
+»Im Begriff, abzureisen,« schrieb Hellmut »sende ich meiner lieben
+Freundin diese Blümchen, die einzigen, die ich auftreiben konnte. Ich
+fahre direkt nach Berlin. So leid es mir Mamas wegen tut, -- mein
+Entschluß steht fest: ich will frei bleiben. Auch wenn ich den Adler auf
+dem Helm opfern muß. Ich werde mich zu den Ludwigsluster Dragonern
+versetzen lassen und scheide von Dir mit der Hoffnung auf ein frohes
+Wiedersehen in Schwerin und auf eine freundliche Fortsetzung unserer
+unterbrochenen Gespräche.
+
+ Dein alter Freund
+ Hellmut.«
+
+Meine Freude war so groß, daß ich sie allein gar nicht tragen konnte.
+Die alte Kathrin mußte, so sehr sie sich auch zierte, beim Abendessen
+neben mir sitzen und den Wein mit mir trinken, den ich mir selbst aus
+dem Keller geholt hatte. Schließlich rief ich den Pudel herein und
+trieb ihn im Zimmer so lange im Kreise umher, bis vergessene
+Jugenderinnerungen in ihm aufdämmerten und er, fröhlich mit dem Schwanze
+wedelnd, in ein heiseres Bellen ausbrach.
+
+ * * * * *
+
+Mitte Juni war ich wieder in Schwerin. In vier Wochen stand der Einzug
+des Großherzogs bevor, dem eine Reihe von Festlichkeiten aller Art
+folgen sollte. Unmöglich konnte ich meiner Mutter alle Toilettensorgen
+allein überlassen, und meine Tante, die kurz nach Hellmuts Abreise in
+Grainau eingetroffen war, schenkte mir aus lauter Rührung über meine
+Pflichttreue ein rosaseidenes Kleid, von weißem, goldgesticktem Tüll
+überrieselt. Nun saß ich zu Mamas hellem Erstaunen selbst in der
+Schneiderstube. »Das sind ja ganz neue Talente, die du entwickelst,«
+sagte sie, während ich unermüdlich anprobierte, steckte und heftete, nur
+die mechanische Vollendung der Arbeit der Näherin überlassend. Niemand
+sollt' es merken, daß unsere Kleider nicht bei Gerson gearbeitet worden
+waren. Es war mir beinahe störend, daß ein paar unentwegte Verehrer vom
+vorigen Winter zu meinem Geburtstag eine Landpartie arrangiert hatten,
+die mich einen ganzen Tag Arbeitsunterbrechung kosten würde. Schließlich
+aber amüsierte ich mich dabei köstlich und ließ mir vergnügter denn je
+den Hof machen. Wir lagerten gerade unter den Buchen und ließen die
+Sektpfropfen knallen, als mein Vater erschien, der am Vormittag nicht
+hatte abkommen können, und eine himmelblaue Uniform neben ihm
+auftauchte.
+
+»Ich bringe Se. Durchlaucht den Prinzen Hellmut gleich mit, der uns
+heute seinen Besuch hat machen wollen,« sagte Papa. Alle waren
+aufgesprungen und verstummt. Jeder Prinz, selbst der kleinste, ruft in
+jedem, selbst dem vornehmsten Kreis, eine Verlegenheitspause hervor.
+Hellmut verbeugte sich und trat dann rasch zu mir, die ich mich allein
+von meinem Rasenplatz nicht gerührt hatte. »Diesen Tag habe ich mir zu
+meiner Antrittsvisite ausgesucht, um Ihnen als alter Freund meine
+ergebensten Glückwünsche zu Füßen zu legen.« Bei der förmlichen Anrede
+sah ich erstaunt zu ihm auf.
+
+»Ich danke Ihnen, Durchlaucht, daß Sie sich meiner erinnern,« antwortete
+ich mit kaum verhülltem Spott.
+
+Als wir nachher ziemlich isoliert beieinander saßen, -- die anderen
+hielten sich trotz all ihrer Neugierde in respektvoller Entfernung --,
+erklärte er mir sein Verhalten. Mein Vater hatte ihn gebeten, von dem
+»Du« unserer Kindheit Abstand zu nehmen, »Sie kennen die Klatschmäuler
+kleiner Residenzen zu gut, um meinen Wunsch mißzuverstehen,« hatte er
+hinzugefügt. Er war ein schlechter Psychologe, der gute Papa! Er hätte
+wissen müssen, daß dieses Verbot unseren Beziehungen die Harmlosigkeit
+nahm und ihnen den Stempel der Heimlichkeit aufdrückte. Wir kehrten ohne
+Verabredung zum Du zurück, sobald wir allein waren, und redeten uns vor
+anderen, belustigt über die Komödie, die wir den Dummen vorspielten,
+»Durchlaucht« und »gnädigstes Fräulein« an.
+
+Strahlende Sommertage kamen. Die Jahreszeit, in der wir geboren wurden,
+hat eine geheimnisvolle Bedeutung für unser Leben. Nie fühle ich das
+Dasein mit seinen Schrecken und Schmerzen, seinen Wonnen und Seligkeiten
+so stark und tief, als wenn dem Himmel und der Erde Glutwellen
+entströmen. Wie die Rosenknospe sich öffnet und sich bis zur Tiefe ihres
+goldenen Kelchs der leuchtenden Sonne preisgibt, so öffnet sich dann
+mein Herz.
+
+An einem Julimorgen zogen unter klingendem Spiel und wehenden Fahnen
+Friedrich Franz II. und Anastasia, seine Gemahlin, durch die Straßen von
+Schwerin zum Schloß. Am Abend desselben Tages, während der Mond hoch am
+Himmel stand und das Märchenschloß in silberne Schleier hüllte, war der
+ganze See von großen und kleinen, mit tausenden bunter Lampen
+geschmückten Schiffen belebt. Bis hoch in die Masten schwangen sich die
+Lichterketten, und Blumengirlanden schleiften im schimmernden Wasser.
+
+Nur wenige Würdenträger waren an diesem Abend ins Schloß geladen, um von
+den Terrassen des Burggartens aus dem Schauspiel unten zuzusehen. Wir
+gehörten dazu, und Hellmut auch, der der Suite des vornehmsten Gastes,
+des Königs von Griechenland, attachiert worden war.
+
+Abseits stand ich unter den Taxushecken, als eine Stimme hinter mir
+flüsterte: »Komm mit.« Ich nahm den Arm, der sich mir bot, und fühlte
+bebend den Druck, mit der er den meinen an sich preßte.
+
+Versteckt zwischen den Rotdornbüschen lag drunten ein Boot. Es trug
+keine Lichter, nur Kissen und Decken und zu Füßen der Sitze in hellen
+Körben eine Fülle von Rosen. Wir fuhren dicht am umbuschten Ufer entlang
+und hinaus, wo der See immer dunkler und einsamer wurde. Wie ein Heer
+von Glühwürmchen erschienen von hier aus die Lichter der Schiffe,
+während der Mond groß und majestätisch zu uns hernieder sah.
+
+»Frierst du, Alix?« -- Er zog die Ruder ein und hüllte mich knieend
+fester in die Decken. Seine Hand, die meinen bloßen Arm berührte, war
+heiß und zitterte, und durch mein Herz zuckte ein schneidender Schmerz,
+der dabei doch so seltsam wohl tat ... Wir sahen einander an, -- tief
+und fest.
+
+Da tauchte ein anderes dunkles Boot neben uns auf.
+
+»Durchlaucht verzeihen -- die Herrschaften brechen auf --, darf ich
+meine Hilfe anbieten?« Graf Waldburg wars, ein Regimentskamerad des
+Prinzen, der rasch entschlossen in unser Boot sprang, mitten in die
+bunten Schiffe hineinruderte, wo wir -- zu dritt! -- von allen Seiten
+gesehen wurden und mit unseren Rosen in die Blumenschlacht eingriffen;
+zusammen erschienen wir im Burggarten in der Gesellschaft und erzählten
+so harmlos als möglich von unsrer lustigen gemeinsamen Fahrt.
+
+»Ich danke Ihnen, Waldburg,« flüsterte Hellmut. Noch ein
+Zusammenschlagen der Sporen, ein höflich-kühles Kopfneigen als Antwort
+von mir, und ich schritt hinter den Eltern dem Wagen zu, der uns heim
+brachte.
+
+Wie lauter Träume folgten einander die Sommertage. Krachende, kurze
+Gewitter schienen die sonst so schwere Luft Mecklenburgs immer wieder zu
+zerstreuen; die Jugend wagte es plötzlich, jung zu sein, und die Alten
+lächelten nachsichtig darüber.
+
+Der sonst so stille Park war voller Leben: wir tanzten auf glattem
+Rasen zwischen buntbewimpelten Masten; wir spielten alte traute
+Kinderspiele unter dem Schatten der Bäume; und, müde geworden, verloren
+wir uns in den geschnittenen Buchengängen, vorbei an springenden
+Wasserkünsten und verwitterten Götterbildern. Blind und taub für die
+Welt um uns her, und doch wie gefeit durch die Weihe der Hohenzeit des
+Jahres, bewegten wir uns unter den Menschen.
+
+Oft ging es in bekränzten Wagen weiter hinaus in die Wälder, oder an
+einen der ferneren Seen, von denen jeder uns schöner dünkte als der
+andere: der eine, weil er sich schmal und lang zum Horizont erstreckte,
+von freundlichen Dörfern rings umgeben, der andere, weil er einsam und
+dunkel zwischen bewaldeten Hügeln lag. Oder wir ritten am taufrischen
+Morgen mit verhängten Zügeln querfeldein, wo oft meilenweit kein Mensch
+uns begegnete, kein Haus zu sehen war, bis ein stattlicher Gutshof
+auftauchte, die ärmlichen Taglöhnerhäuser überragend, -- ein
+verkleinertes Abbild von Schwerin. Wenn ich sie sah, pflegte ich schon
+von weitem Kehrt zu machen.
+
+»Sie fürchten sich wohl vor den Dorfkötern?« meinte bei solcher
+Gelegenheit eine schnippische Freundin. »Das traut mir wohl keiner zu,«
+antwortete ich, »aber ich schäme mich vor den armen Leuten.« Alles
+lachte; nur Hellmut wandte sich mir zu und sagte: »Das würden die armen
+Leute am wenigsten verstehen. Ich glaube, daß sie für uns nichts
+empfinden als Neugierde und Bewunderung.«
+
+»Um so schlimmer! Ich verstehe sie nur, wenn sie mit Steinen nach uns
+werfen,« entgegnete ich laut und drückte meiner Stute die Peitsche in
+die Flanke, so daß sie gehorsam in langen Galopp verfiel. Hellmut aber
+blieb mir dicht zur Seite, griff mit der Rechten kräftig in meine Zügel
+und sagte, während seine hellen Augen mich übermütig anblitzten: »Wirst
+du mir nicht davongehen, du Süße, Wilde!« Mein Groll war verflogen, --
+daß ich mich ihm, dem Starken, unterwerfen durfte, -- welch tiefe
+Seligkeit war das!
+
+Einmal waren wir nach Rabensteinfeld hinüber gerudert, dem stillen
+Witwensitz der alten Großherzogin. Mit dem Dampfschiff war uns eine
+große Gesellschaft vorausgefahren, lauter ältere und gesetzte
+Angehörige, die zuweilen die Verpflichtung fühlten, uns Jugend zu
+beschützen. Ich hielt das nie lange aus und war stets die erste, die
+Mittel und Wege fand, aus ihrem Gesichtskreis zu verschwinden. Hellmut
+benahm sich korrekter und wollte die Form nicht verletzen. Auch jetzt
+stand ich mit einem lachenden: »Wer kein Philister ist, folgt mir,« vom
+Teetisch auf und ging hinunter an das Seeufer. Ein paar junge Herren
+kamen mir nach, und empört über Hellmuts Eigensinn, kokettierte ich mit
+ihnen in erzwungner Lustigkeit.
+
+Als wir in der Abenddämmerung zu Fuß heimkehrten, gesellte er sich
+endlich wieder zu mir. Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen,
+die seinem sonst so guten Gesicht einen bösen Ausdruck verlieh. »Das
+darfst du mir nicht wieder antun -- hörst du,« zischte er mich an und
+eisern umklammerten seine Finger mein Handgelenk. »Verzeih mir --,«
+flüsterte ich, »aber warum hast du mich allein gelassen?« -- »Weißt du
+nicht, daß ich alles nur um deinetwillen tue?« -- Ganz weich war seine
+Stimme dabei, und schweigsam gingen wir nebeneinander, die Worte waren
+zu arm für die Fülle unseres Gefühls.
+
+An einem anderen glühheißen Sommertag gab das Grenadier-Regiment ein
+Fest im Jagdschloß von Friedrichstal. Heiß und ermattet vom Tanz und vom
+Spiel, gingen wir alle zum Neumühler See herunter, wo die Buchen und
+Birken über dem Uferweg dichte Lauben bilden. Allmählich zerstreute sich
+die Menge hier- und dorthin; wir blieben nur zu fünfen beieinander, --
+zwei Mädchen und drei Herren. An einer kleinen dichtumbuschten Bucht
+lagerten wir, und die Lust packte mich, die Füße im Wasser zu kühlen.
+Meine Gefährtin errötete dunkel bei meiner Aufforderung, es mir nach zu
+tun. »Du, das ist unpassend,« flüsterte sie mir leise zu. »Unpassend?«
+wiederholte ich laut, »zeigst du vielleicht nicht deine Hände, deine
+Arme, deinen Hals, -- warum nicht deine Füße?« -- »Bravo, bravo,«
+applaudierte einer der Herren. Das stachelte mich auf, und keck von
+einem zum anderen blickend, fuhr ich fort: »Soll ich euch sagen, was wir
+alle wissen und ihr nur nicht zu sagen euch getraut? -- Wir schämen uns
+nur unserer Häßlichkeit --« Damit hatte ich rasch Schuhe und Strümpfe
+abgestreift.
+
+Eine beklemmende Stille trat ein; ich wagte nicht, mich umzusehen, mein
+Blick haftete auf meinen nackten Füßen, als sähe ich sie zum erstenmal,
+-- sie waren so weiß, so schrecklich weiß! -- mir stieg das Blut bis in
+die Stirne. Ich berührte scheu das Wasser mit den Zehen. »Es -- es ist
+-- zu kalt,« brachte ich mühsam hervor und zog die Füße rasch unter die
+Kleider. Ein Geräusch verriet mir, daß die Herren sich entfernten; die
+Kleine neben mir, noch röter und verlegener als ich, half mir rasch beim
+Anziehen und lief dann auch davon. Langsam erhob ich mich, -- die
+Glieder waren mir schwer, -- da stand Hellmut vor mir -- ein paar
+Schweißtropfen auf der Stirn und doch ganz blaß.
+
+»Nun baue ich Tag um Tag eine Mauer um dich, damit nichts und niemand
+dir zu nahe treten kann, und du -- du gibst dich diesen -- diesen
+Schurken preis,« kam es stockend über seine Lippen. Mir stürzten die
+Tränen aus den Augen, -- doch schon hatten seine Arme mich umschlungen,
+und sein Mund preßte sich auf den meinen, und die heißen, lang
+zurückgedämmten Wogen der Leidenschaft schlugen über uns zusammen.
+
+Wie wir uns trennten, wie ich nach Hause kam, -- ich weiß nichts mehr
+davon. Ich weiß nur, daß ich am weit geöffneten Fenster saß und die
+linde Nachtluft tief und langsam einsog, als hätte ich nie vorher die
+Wonne des Atmens gekannt. Dann stockte mein Herzschlag, -- ein fester
+Tritt, ein schleppender Säbel unterbrachen die Stille, ein lichtes Blau
+schimmerte durch die Büsche des Gartens. »Alix --« klang es sehnsüchtig.
+-- Und ich nahm die Rose, die mir noch zerdrückt im Gürtel hing und warf
+sie in zwei geöffnete Hände.
+
+Alles Denken war ausgelöscht in meinem Hirn, ich fühlte nur mit
+gesteigerter Intensität. Morgens am Kaffeetisch umarmte ich zärtlich den
+Vater, -- es fiel mir plötzlich schwer aufs Herz, daß ich seiner
+rührenden Liebe stets so kühl begegnet war --. »Du hast ja schon in
+aller Frühe illuminiert,« sagte er und streichelte mir halb erstaunt,
+halb beglückt die Wangen. Schüchtern und schuldbewußt küßte ich der
+Mutter die Hände, -- wie schlecht hatte ich bisher ihre Treue gelohnt!
+-- ach, und wie ernst und verhärmt sah sie aus! Als aber das
+Schwesterchen hereinsprang, hob ich sie auf den Schoß und flüsterte in
+ihr rosiges, von lauter Goldlöckchen umspieltes Ohr: »Du -- ich weiß was
+ganz Heimliches: heut nacht tanzten die Nixen mit dem grauen
+Schloßzwerg, bis er vor lauter Atemnot auf den Rasen plumpste. Ich
+glaub' immer, da liegt er noch und schnarcht, und die Nixen haben vor
+Lachen den Heimweg ins Wasser vergessen. Komm schnell hinaus, -- am Ende
+sehn wir sie noch!« Sie jubelte hell auf vor Freude, und richtig, --
+zehn Minuten später waren wir unten am See.
+
+Klein-Ilschen suchte -- ich aber war still und ernst geworden und sah
+hinüber zum fernen jenseitigen Ufer: sollte das Glück, das mir dort
+begegnet war, auch nur ein nächtlicher Spuk gewesen sein? -- Wir fanden
+die Nixen nicht -- Klein-Ilschen war böse. Wie wir langsam heimwärts
+gingen, kam ein Reiter uns entgegen, -- ich wagte kaum aufzusehen. Doch
+schon war er neben mir und hielt den Fuchs am Zügel. »Willst du reiten,
+Kleine?« sagte er und hob das Schwesterchen, dessen Leidenschaft Pferde
+waren, in den Sattel. Still gingen wir weiter, unsere Augen aber
+versenkten sich ineinander, tief, immer tiefer, -- bis sie Gewißheit
+hatten und auch im fernsten Winkel der Seele nichts Lebendiges fanden
+als nur das eigene Bild.
+
+»Die Nixen waren weg,« sagte das Schwesterchen zu Hause zu Mama, »aber
+Prinz Hellmut ließ mich reiten!«
+
+»Prinz Hellmut?!« Ein rascher mißtrauischer Blick streifte mich. Ich
+wandte mich zu den Fenstern und ordnete eifrig die vielen kleinen
+Lichter zur abendlichen Illumination.
+
+Der Großherzogin Geburtstag war heute; mit dem prächtigsten und zugleich
+dem letzten Fest dieses Sommers sollte er gefeiert werden. Verwandte und
+Freunde des Hofes, Deputationen der Garde-Regimenter, der ganze Adel
+Mecklenburgs waren in Schwerin versammelt. Stundenlang rollten auch vor
+unserem Hause die Wagen, und die Besucher kamen und gingen;
+Staatsvisiten waren es zumeist, aber auch solche guter alter Bekannter.
+Im weißen Spitzenkleid, ein paar gelbe Rosen im Gürtel, stand ich im
+Salon, neigte mich vorschriftsmäßig über die Hände der Damen und senkte
+den Kopf vor den Herren. Was mich sonst ermüdete, machte mich heute
+froh, denn mit geschärften Augen sah ich die Menge der bewundernden
+Blicke. Wie ich mich dann am späten Nachmittag vor der Abfahrt zum
+Schloß im Spiegel sah, umrauscht von rosa Seide, deren starker Farbenton
+gedämpft durch goldgestickten Tüll schimmerte, -- Rosen auf der langen
+Schleppe verstreut und Rosen in den dunkeln Locken --, da war ich
+zufrieden.
+
+Dicht gedrängt standen die Menschen auf der Schloßbrücke, wo die Wagen
+nur Schritt vor Schritt vorwärts kamen. »Alix von Kleve« -- »Alix von
+Kleve« ging es flüsternd von Mund zu Mund. Dankbar lächelnd neigte ich
+mich rechts und links aus dem offenen Wagenfenster. Auf den schwarzen
+Marmorstufen der großen Treppe, in deren tiefem Dunkel das Gold des
+Geländers und der Säulen sich spiegelte, standen die Lakaien im roten
+Rock und die Läufer mit dem seltsamen gewaltigen Blumenstrauß über den
+Stirnen. Und droben in den Vorzimmern gleißte und glänzte es von
+goldgestickten Uniformen, hellen Schleppen und funkelnden Edelsteinen.
+Wir wurden zu unseren Plätzen gewiesen. In der Ahnengalerie stand die
+Jugend. Ich sah durch die Bogenfenster über den See hinaus und rührte
+mich nicht. Was gingen mich die andern Menschen an? Wozu war ich hier,
+als allein seinetwegen? Worauf wartete ich, als auf ihn? Die Musik im
+Thronsaal neben uns intonierte den »Einzug der Gäste« auf der Wartburg,
+drei schwere Schläge mit dem Hofmarschallstab kündigten das Nahen der
+Herrschaften an. Ich erwachte aus meinen Träumen. Ein Rauschen ab und
+auf: wir versanken in unseren Kleidern und tauchten wieder auf -- wie
+eine lange hellschimmernde Woge. Mein Blick haftete sekundenlang auf dem
+Herrscherpaar, das langsam durch unsere Reihen schritt: der schlanke
+Mann mit dem Kennzeichen seines Geschlechts, dem kahlen, glatten
+Schädel, darunter ein Antlitz von jener blaß-grauen Farbe, die das
+Morphium allmählich auf die Haut seiner Opfer malt, zwei fiebrig
+glänzende Augen darin und zwei Lippen, zu jenem wehmütig-freundlichem
+Lächeln verzogen, mit dem die früh vom Tode Gezeichneten die Jugend
+grüßen. Neben ihm das Weib: um den üppig-schlanken Leib schmiegte sich
+ihr Gewand schillernd wie Schlangenhaut, auf dem hoch erhobenen dunkeln
+Kopf trug sie stolz die Krone von Brillanten, dunkelrot wölbten sich die
+Lippen über den kleinen weißen Raubtierzähnen, und ein gieriges Leuchten
+wie von heißem Lebenshunger tauchte in ihren wunderschönen Augen auf.
+Über uns sah sie hinweg, sie brauchte uns nicht zu sehen, -- sie war
+mehr als die Jugend. In meinem Herzen aber wallte das Mitleid auf -- mit
+dem Mann und mit der Frau.
+
+Dann kam der König von Griechenland, -- wie die meisten Könige: kein
+König. Und dann die Königin, -- weich und licht und holdselig, wie die
+guten Feen aus den Märchen, und hinter ihnen der Schwarm der anderen. --
+Aber ich sah keinen mehr, denn aus dem Zuge heraus war Hellmut zu mir
+getreten.
+
+In einem runden Turmzimmer mit bunten Fenstern saßen wir zu vier um den
+rosengeschmückten Tisch: Hellmut und ich, Graf Waldburg und seine Braut,
+die kleine Komteß Lantheim. Wir aßen nicht viel, aber unsere Gläser
+klangen immer wieder aneinander, und prickelnd floß der eisige Sekt
+durch unsere Kehlen. Leise und schmeichelnd tönte von fern die Musik.
+
+Im goldenen Saal, durch dessen Fenster die Glut des Abendhimmels
+hineinströmte, während viele hunderte flammender Kerzen alle Wände und
+Pfeiler aufleuchten ließen wie gelbes Feuer, wurde getanzt. Es war noch
+fast leer, als wir eintraten. In wiegendem, lockendem Rhythmus klang die
+süße Walzerweise der »Schönen blauen Donau« von der Estrade.
+
+Ich lag in seinem Arm, und die Töne schienen uns zu tragen. »Alix -- ich
+liebe dich,« hauchte mir im weichen Takt der Bewegung seine Stimme ins
+Ohr -- »verzehrend lieb ich dich -- ich laß dich nicht los -- nie --
+nimmermehr --« Sein heißer Atem berührte mich wie ein zärtlich kosender
+Kuß, und meine Haare wehten um seine Wangen.
+
+»Durchlaucht -- Galopp -- wenn ich bitten darf!« hörten wir plötzlich
+neben uns sagen. Aufatmend standen wir still, -- wir hatten wirklich das
+strenge höfische Walzerverbot vergessen! Im gleichen Augenblicke trat
+der Kammerherr der Großherzogin auf uns zu: »Ihre Königliche Hoheit
+befehlen --«
+
+»Mich auch?« frug Hellmut. Er senkte bejahend den Kopf, während ein
+leises malitiöses Lächeln seine Lippen kräuselte. Sollte die schöne
+Fürstin so konventionell sein und unser Vergehen gar noch persönlich
+rügen wollen?
+
+»Sie tanzen bezaubernd, -- ich mache Ihnen mein Kompliment, Fräulein von
+Kleve!« sagte sie laut, als ich in tiefer Verbeugung ihre Hand an die
+Lippen zog. »Die mecklenburger Damen können sich ein Beispiel nehmen!«
+Die Umstehenden horchten hoch auf.
+
+»Tanzen Sie noch einmal denselben Walzer, lieber Prinz, den man offenbar
+nur verbietet, weil man ihn zu tanzen nicht versteht.«
+
+Wie auf Kommando bildete sich ein weiter Kreis um uns. Und wir tanzten.
+Aber ich fühlte die vielen musternden, neidischen, feindseligen Blicke,
+die mich betasteten, wie mit feuchtkalten Fingern, und durchbohrten, wie
+mit Nadelstichen. Ein Schwindel packte mich -- fester, immer fester
+lehnte ich mich in Hellmuts Arm -- er trug mich mehr, als daß ich
+tanzte.
+
+»Führen Sie Ihre Tänzerin auf die Terrasse, -- das wird ihr gut tun --«
+sagte die Großherzogin, als ich mich blaß und zitternd wieder verbeugte.
+Ein Ton war in ihrer Stimme, der mich auffahren ließ, -- hatte sie unser
+Geheimnis erraten?
+
+Wir gingen hinaus. Viele bunte Lampions erhellten die Terrasse und den
+Burggarten, plaudernde Gruppen standen ringsumher. Wir aber suchten die
+Nacht und die Stille. Tief unten schmiegte sich ein von weißen Blüten
+übersäter Strauch an die dunkle Mauer, und ein schwerer süßer Duft
+breitete sich rings um ihn. Jasmin -- meine Blume!
+
+Weißt du noch, Hellmut, wie du übermütig in die Zweige griffst und ein
+Regen schneeiger Blätter mir auf Schultern und Haare fiel? und wie sie
+matt zu Boden taumelten vor dem heißen Hauch deines Mundes? Du preßtest
+mich wild an dein Herz, daß der Atem mir stockte, -- du hättest mich
+morden können in jener Nacht, -- mit einem Liebesblick hätt ich es dir
+vergolten. »Warum sagst du mir nicht, daß du mich liebst -- warum bist
+du so still?« frugst du, und ich seufzte, den Arm fest um deinen Hals:
+»Ich kann dirs nicht sagen -- ich kann nicht -- ich liebe dich viel --
+viel zu sehr!«
+
+Droben tanzten sie wieder -- wir sahen die Paare hinter den hellen
+Fenstern vorüberschweben --, und eine Melodie verirrte sich zuweilen bis
+zu uns. Wie mit kosenden Stimmen antworteten ihr die Wellen, die
+plätschernd ans Ufer schlugen, und fern von den hohen Baumwipfeln des
+Parks klang hie und da ein verträumtes Vogelzwitschern. Immer
+verzehrender glühten unsere Augen ineinander, verlangender,
+sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.
+
+Da verstummte die ferne Musik, ein heftiger Schreck machte dich zittern.
+»Wir müssen hinauf« -- sagtest du heiser und fuhrst dann hastig fort,
+während wir die Treppe zur Terrasse emporstiegen: »Wir müssen uns
+trennen -- mein Dienst ist morgen zu Ende --«
+
+»Und in der nächsten Woche reisen wir,« flüsterte ich mühsam, -- es
+würgte mir am Halse.
+
+»Im Herbst erst sehen wir uns wieder --«
+
+»Das ertrag ich nicht -- --«
+
+»Ich sterbe vor Sehnsucht --« Und noch einmal zogst du mich an dich, und
+aufschluchzend barg ich meinen Kopf an deiner Brust.
+
+»Weine nicht, Liebling, weine nicht, -- für ein ganzes Leben voll Liebe,
+das uns bevorsteht, ist das Opfer dieser nächsten Wochen am Ende nicht
+zu groß,« versuchtest du uns Beide zu trösten, dabei fielen heiße
+Tropfen aus deinen Augen mir auf die Stirn. --
+
+ * * * * *
+
+Wir fuhren nach Karlsbad, -- Mama, Klein-Ilschen und ich. Wir trafen mit
+einem großen Kreise alter und neuer Freunde zusammen. »Wir« sage ich, --
+aber im Grunde war ich gar nicht da, nur mein wandelndes Schattenbild.
+Automatisch geschah alles, was ich tat: mein Reden und noch mehr mein
+Lachen. Ich selbst saß still im dunkeln Chorgestühl eines hochragenden
+Doms, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen emporgerichtet zu den in
+mystischen Farben glühenden Fenstern, unbeweglich horchend auf den
+Gesang süßer Engelsstimmen, die Stirn umweht von Wolken duftenden
+Weihrauchs ...
+
+Wenn ich neben dem Rollstuhl Stauffenbergs ging, sprach ich wohl mit ihm
+von alledem, was mein Interesse sonst erregt hatte; aber eine ganz
+andere, eine fremde Alix war es. Ich selbst, ich lachte über sie und
+ihren komischen Eifer. Was ging mich die hohe Politik, was gingen mich
+Darwin, Wagner und Nietzsche an? Neben dem Reichtum lebendigen Lebens,
+das mir begegnet war, verblaßte alles zu blutleeren Schemen.
+
+ * * * * *
+
+Am Abend unserer Rückkehr im Herbst saß ich im Dunkel der
+Intendantenloge im Theater. »Hoffmanns Erzählungen«, -- jenes geniale
+Werk Offenbachs, das er geschaffen haben muß, besessen vom Geiste des
+Zauberers, dem es galt, -- gelangte zum erstenmal, und ungekürzt, zur
+Aufführung. Meine Augen durchforschten noch die Logen und Ränge -- ich
+war ja nur gekommen, weil ich überzeugt war, ihn zu finden --, als die
+ersten Akkorde der Ouverture mich schon gefangen nahmen. Und dann die
+Oper selbst! Wie es ihr zukommt, war jede possenhafte Nuance vermieden
+worden; Spalanzani und Coppelius, der geheimnisvolle Brillenverkäufer im
+ersten Akt, wirkten gespensterhaft, und Olympia, die Puppe, war nicht
+nur ein Automat, der schließlich zur Erhöhung der Lachlust eines
+einfältigen Publikums zerbrochen auf die Bühne geschleift wird, -- ein
+Stück Leben schien vielmehr in sie hineingezaubert, das mit einem wehen
+Laut erstarb. Selbst die Menuetttänzer und Tänzerinnen bewegten sich wie
+nichts vollkommen Irdisches.
+
+Schon verdunkelte sich der Zuschauerraum am Ende der Pause, als der
+Bogenvorhang sich teilte, -- ein breiter Lichtstreifen fiel herein. Der
+erste Ton der Barkarole klang gedämpft aus dem Orchester -- ein Stuhl
+wurde zur Seite gerückt -- »Alix!« hörte ich Hellmuts Stimme hinter
+mir, und sein Mund brannte auf meinem Nacken.
+
+»Schöne Nacht -- o Liebesnacht -- o stille mein Verlangen!« tönte es von
+der Bühne dicht vor uns; ausgestreckt auf Decken und Fellen lag die
+schöne Guiletta vor ihren Anbetern; ihre nackten Arme und ihre bloßen
+Schultern leuchteten im Glanz der roten Ampeln. Das Blut strömte mir zum
+Herzen, meine Hand suchte die des Geliebten. Von einer Melodie
+durchwogt, wie sie aufreizender, sinnbetörender nicht zum zweitenmal
+vorkommt, wurde die Luft immer schwüler um uns. Kaum daß wir uns im
+hellen Licht des Zwischenaktes genug zu ermannen vermochten, um
+konventionelle Phrasen mit dem Intendanten zu wechseln. Hellmuts Uniform
+verriet seine Anwesenheit auch im Halbdunkel der Loge, Lorgnetten und
+Operngläser richteten sich auf uns, und tuschelnd neigten sich die Köpfe
+zueinander.
+
+Aber schon setzte das Orchester zum letzten Akte ein. »Sie entfloh --
+die Taube so minnig« sang der blassen Antonia weiche Stimme. Seltsam --
+kein Zweifel -- sie sah mir ähnlich: der gelbliche Ton der Haut, die
+dunkeln Locken. Mich fröstelte. O -- und als dann der gespenstische Arzt
+erschien mit der hageren Gestalt, dem glatten Totenschädel und den
+klirrenden Flaschen in den Händen -- -- »Mir ist nicht ganz wohl!«
+flüsterte ich und stand leise auf. Hellmut begleitete mich. Er hielt
+meinen vorzeitigen Aufbruch nur für einen Vorwand. Während er mir den
+Mantel um die Schultern legte, flüsterte er mir zu: »Ich war bei Mama --
+ein bißchen Tränen hats ihr gekostet --, aber schließlich fand sie sich
+ins Unabänderliche. Wir dürfen hoffen, Liebling! -- Hier alles Nähere,«
+er drückte mir ein Papier in die Hand und führte mich bis zum Wagen;
+schon zogen die Pferde an, als der Schlag sich von der anderen Seite
+noch einmal öffnete, -- mit einem raschen Sprung war er neben mir und
+ich in seinen Armen, -- einen Augenblick nur, einen kurzen,
+glückseligen. An der nächsten Straßenbiegung verschwand er ebenso, wie
+er gekommen war. Erst zu Hause, im verschlossenen Schlafzimmer, öffnete
+ich seinen Brief.
+
+»Mein süßer Liebling,« schrieb er, »die Wochen ohne Dich waren eine
+gräßliche Fastenzeit. Zum zweitenmal ertrage ich so etwas nicht. Das
+habe ich auch Mama gesagt, und da sie so wie so immer um mich zittert --
+begreifst Du solche Anhänglichkeit, Du Einzigste?! --, so hat sie meine
+Drohung toternst genommen. Sie wird in den nächsten Tagen Tante Brigitte
+Sonderburg, ihre verdrehte alte Schwester, besuchen und sehen, ob sie
+bei ihr das nötige Kleingeld zusammenscharren kann; bei Vetter Georg,
+dem Knauser, ist nichts zu holen, Mamas eigne Kasse ist völlig
+schwindsüchtig. Ich schäme mich, Dir so was schreiben zu müssen, meine
+holde, kleine Göttin Du, und doch mußt Du wissen, warum ich immer noch
+nicht in Helm und Schärpe antrete. Meine Zulage reicht kaum für mich,
+der ich das Unglück habe, ein Prinz zu sein, und diese Würde täglich mit
+barer Münze bezahlen muß. Aber trotz alledem muß es werden, und ich
+träume schon jede Nacht von dem weichen Nest, das ich für mein
+Prinzeßchen -- viel, viel mehr Prinzeßchen, als alle Ebenbürtigen
+zusammengenommen! -- erobern werde!
+
+Verlobte schicken einander immer briefliche Küsse. Das finde ich fad.
+Aber holen tu ich sie mir bei allernächster Gelegenheit für die langen
+sechs Wochen, die Du sie mir schuldig bliebst. Hüte Dich beizeiten, daß
+Du nicht daran erstickst ...«
+
+Ich konnte nicht schlafen. Es lag wie ein eiserner Reifen um meine
+Stirn. »Der Weg zur Ehe geht durch die Kirche« pflegte Mama zu sagen, --
+aber stand nicht ein goldener Götze am Altar, statt des Priesters?
+
+Wir sahen uns oft, aber niemals allein. Eine zehrende Sehnsucht
+durchwühlte mich wie eine Krankheit. Jeder Händedruck schien mir die
+Haut zu versengen. Wir konnten den Karneval nicht erwarten, der zu
+heimlichen Begegnungen tausend Gelegenheiten bot. Ein Ball bei der
+Großherzogin-Mutter eröffnete ihn endlich. Sie hatte es allen Warnungen
+zum Trotz durchgesetzt, daß er in ihrem Palais stattfand, dessen
+Tanzsaal erst vor jedem Fest von der Baupolizei untersucht werden mußte.
+Diesmal, so erzählte man sich, habe sie schon recht bedenklich den Kopf
+geschüttelt. Als wir kamen, fiel mein erster Blick auf Hellmut, der mit
+zusammengezognen Brauen, blaß und finster, allein in einer Fensternische
+stand. Ewig dauerte es, bis ich all die Verbeugungen und Begrüßungen und
+stereotypen Phrasen erledigt hatte und meine Hand in der seinen ruhte.
+
+»Ich habe Nachricht von Mama,« preßte er mühsam hervor, »Tante Brigitte
+hat rundweg abgelehnt. Für dumme Streiche hätte sie kein Geld!«
+
+Mir wankten die Kniee. Da ging das alte frohe Leuchten über seine Züge,
+gepaart mit einem neuen Ausdruck starker Energie: »Sei nicht furchtsam,
+Liebling; du weißt: und wenn ich mich dafür dem Teufel verschreiben
+sollte, -- du wirst mein!«
+
+Junge Liebe ist voller Zuversicht, sie glaubt noch an Wunder; und sie
+ist sich selbst genug und vergißt darüber die Welt. Es war eine
+stürmische Saison damals, -- kaum ein Tag verging ohne ein Diner, einen
+Ball, eine Schlittenpartie. Hellmut fehlte niemals. Wenn es nicht anders
+ging, ritt er noch in der Nacht nach Ludwigslust zurück. Er verlor
+allmählich die gesunde Farbe, aber wenn ich ihn angstvoll um sein
+Ergehen frug, lachte er. Wir wurden immer kühner und immer
+erfinderischer, um uns allein sehen zu können, und die fremdesten
+Menschen halfen uns dabei: sie zogen sich zurück, wenn wir ins Zimmer
+traten, sie vertieften sich in ein Gespräch, wenn wir am gleichen Tische
+saßen, sie mäßigten das Tempo ihres Laufs, wenn sie auf der weiten
+Eisfläche des Schweriner Sees in unsere Nähe kamen. Daß die Mädchen mich
+mieden, war mir nur eine Wohltat. Hie und da freilich fing ich ein
+hämisches Lächeln auf, ein vieldeutiges Augenzwinkern, oder hörte mit
+halbem Ohr, wie es um mich her raunte und flüsterte. Aber ich dachte
+darüber nicht nach. Ich vegetierte überhaupt nur noch, und lebte allein,
+wenn er um mich war.
+
+In diesem Winter wußte ich erst, was Tanzen ist: keine Bewegung, in der
+wir nach Vorschrift die Füße so oder so setzen, kein harmlos-kindliches
+Vergnügen aus reiner Freude am rhythmischen Regen der Glieder, -- Liebe
+ist es, Liebe in all ihren tausend Phasen, Liebe, die zwei Menschen zu
+Eins verschmilzt, die sie auseinanderzieht, um die Sehnsucht zu steigern
+und sie um so glühender wieder zu vereinen. Liebe, die lockt und
+kokettiert -- sich demütig neigt und siegesbewußt aufrichtet -- die mit
+den anderen lächelt, sich ihnen vorübergehend hingibt, nur um des einen,
+des Geliebten Glut zu loderndem Feuer zu entfachen.
+
+Die »Barkarole« beherrschte den Tanz in jenem Karneval. Ich hörte sie
+bis in meine Träume.
+
+Zu einem Hofball wurde ein Menuett einstudiert, -- der Tanz, in dem sich
+die ganze graziöse Sündhaftigkeit und künstlerisch verklärte Erotik
+seiner Zeit widerspiegelt. Wir trugen dazu keinen billigen Maskentand,
+sondern schwere Kleider von Damast, breit ausladend über den Hüften, zum
+Umspannen schmal in der Taille, mit langen höfischen Schleppen. Rosen
+und Lorbeer rankte sich auf dem meinen, die alten kostbaren Spitzen
+meiner Mutter garnierten den Rock, ihre Perlenschnüre schlangen sich mir
+um Hals und Nacken. Hoch gepudert die Haare, ein Schönpflästerchen am
+Mundwinkel und eins auf der Brust, -- so traf ich im Vorzimmer am Abend
+des Festes Hellmut, meinen Herrn. Wir staunten einander an, -- so hatte
+ich die ebenmäßige Schönheit seiner Gestalt noch nie empfunden wie
+jetzt, wo sie im Staatsgewand Ludwigs XV. vor mir stand. Aber sein
+Gesicht blieb ernst.
+
+»Mir paßt der Narrentrödel nicht!« sagte er, während wir uns nach
+Mozarts unvergänglichem Don Juan-Menuett neigten und drehten. »Ist nicht
+die gleißende Pracht ein Hohn auf unsere Armut?«
+
+»Ich fühle nur, daß wir reich sind, die Reichsten der Welt!« antwortete
+ich und lehnte den Kopf zurück, um über die Schulter hinweg ihn selig
+anzulächeln, wie die Figur des Tanzes es grade befahl.
+
+»Aber ich verkomme vor Qual, solang du nicht mein bist!« gab er zurück
+und beugte das Knie in bittender Gebärde zu dem lang gezognen
+Sehnsuchtston der Musik.
+
+Ein Walzer folgte dem Menuett. Hellmut lehnte mit verschränkten Armen an
+einem Pfeiler, und jedesmal, wenn ich vorüberkam, fühlte ich seinen
+Blick.
+
+»Du darfst heute mit keinem anderen tanzen,« redete er mich an, als mein
+Tänzer mich verlassen hatte, -- er vermochte seiner Erregung kaum Herr
+zu werden. Vergebens suchte ich ihm das Unmögliche seines Verlangens
+klar zu machen; »ich verlasse das Schloß, wenn du nicht tust, um was ich
+dich bitte, -- ich halts einfach nicht aus, daß jeder Schmutzfink dich
+im Arm hält und seine frechen Blicke sich an deiner Schönheit weiden.«
+Ich fügte mich beglückt von der Stärke seiner Leidenschaft, und um
+keinen anderen Verdacht aufkommen zu lassen, bat ich meine Mutter, mir
+in der Garderobe eine aus Taschentüchern improvisierte Bandage um den
+»verstauchten« Fuß zu legen, der mich am Tanzen hindern sollte.
+
+Hellmut und ich trennten uns an dem Abend nicht mehr. Im Ballsaal
+drängte sich die Jugend, in den Nebenzimmern saßen die Älteren an den
+Whisttischen. Wir gingen durch die langen Galerien mit ihrer bunten,
+phantastischen Dekoration, wo die Lampen immer spärlicher brannten. Wir
+standen eng aneinander geschmiegt vor Tristan und Isoldens Liebesmär,
+die hier im Schloß der sittenstrengen Obotriten in hellen Farben an den
+Wänden prangt, und wie Lebendige tauchten Hero und Leanders Marmorbilder
+im rosigen Schein gedämpften Lichtes vor uns auf; ihr Busen schien zu
+atmen, an den sein Haupt sich zärtlich lehnte.
+
+Von ferne folgten uns die Tanzmelodien ... »Schöne Nacht -- o
+Liebesnacht -- o stille das Verlangen --« klang es leise -- sehnsüchtig.
+
+Und Hellmut schlang den Arm um mich, und dicht, immer dichter aneinander
+geschmiegt, flogen wir durch den halbdunklen Raum. Mir war, als hörte
+ich ein unterdrücktes Gelächter, -- aber im nächsten Augenblick vergaß
+ich es wieder.
+
+Wir tanzten, -- waren wir nicht allein auf mondheller Wiese, von Palmen
+umrauscht und großen, weißen Blumen umgeben, aus deren Goldkelch
+betäubende Düfte strömten? Wir tanzten, -- wars nicht ein Schaukeln auf
+kristallhellen Fluten, -- sahen wir nicht bis zum Grund, wo die
+blendenden Leiber nackter Nixen zwischen Wasserrosen auf und nieder
+tauchten und Lieder, die noch kein Menschenohr gehört, ihren roten
+Lippen entströmten? -- Mein Herzschlag stockte -- auf den nächsten Stuhl
+sank ich schwindelnd zurück, zu meinen Füßen brach der Geliebte
+zusammen, den blonden Kopf vergraben in meinem Schoß ...
+
+ »Oh, la marquise Pompadour,
+ Elle connait l'amour
+ Et toutes ses tendresses,
+ La plus belle des maitresses« --
+
+sang plötzlich eine krähende Sopranstimme hinter uns. Hellmut sprang auf
+und griff instinktiv an den zierlichen Galanteriedegen, der ihm an der
+Seite hing.
+
+»Verdammt --« knirschte er, -- es war eine leere Scheide, die er in der
+Hand hielt. Wir hörten noch ein Rascheln und Raunen und das ferne
+Schlagen einer Tür, dann wars still.
+
+»Morgen noch fahr ich selbst zu Tante Brigitte und, wenns nicht anders
+ist, zu Georg. Ich muß ein Ende machen -- so oder so!« flüsterte er mir
+zu, ehe wir den Ballsaal wieder betraten. Ich suchte meine Eltern; --
+wir verabschiedeten uns. Am Ausgang, wo sich die meisten Menschen
+zusammendrängten, trat Hellmut an meinen Vater heran: »Darf ich mich
+gleich heute für die nächsten Wochen verabschieden, Herr General,« --
+sagte er sehr laut und förmlich -- »mein Vetter, Herzog Georg, wünscht
+meine Anwesenheit bei den Hofbällen.« -- »Reisen Sie glücklich,«
+antwortete mein Vater, und mir schien, als ob er erleichtert dabei
+aufatmete. »Amüsieren Sie sich gut« -- brachte ich mühsam hervor und
+legte meine kalten Finger flüchtig in die seinen.
+
+Nur die fieberhafte Erregung gab mir Kraft, mich in den nächsten Wochen
+aufrecht zu halten. Ich fehlte in keiner Gesellschaft, auf keinem Ball;
+keine tanzte so unermüdlich wie ich, an keinem andern Tisch wurde so
+viel Sekt getrunken wie an dem meinen.
+
+Eines Tages traf ich Graf Waldburg im Theater. Er machte in den Pausen
+mit großem Eifer Propaganda für eine Schlittenpartie, die mit einem
+Diner im Hotel enden sollte. »Seine Durchlaucht Prinz Hellmut bittet Sie
+um die Ehre, Sie fahren zu dürfen,« wandte er sich an mich. Als ich
+fragend zu ihm aufsah, zuckte er die Achseln und sagte, nur für mich
+hörbar: »Durchlaucht haben mir nichts weiter mitgeteilt, als daß ich
+rasch für eine Gelegenheit zu längerer Aussprache sorgen möchte.«
+
+Zweimal vierundzwanzig Stunden noch! Die Erregung steigerte sich bis
+zum Unerträglichen. Inzwischen fing es an zu tauen. Ein schmutziges Grau
+bedeckte die Straßen der Stadt, und dichte Nebel hingen über den Seen.
+Mit hellem Schellengeläut erschien trotzdem am festgesetzten Tage
+Hellmuts Schlitten vor unserer Tür, -- eine winzige mit Pelzen dicht
+ausgefütterte Muschel, vor der ein russischer Traber unruhig den Boden
+stampfte. Mein Vater führte mich hinunter. Hellmuts erster Blick sagte
+mir alles -- ich schwankte, als Papa mir in den Schlitten half. »Also um
+fünf Uhr pünktlich im Hotel!« rief er noch freundlich, dann flogen wir
+davon.
+
+»Georg hat mich ausgelacht -- Tante Brigitte war zynisch genug, mir zu
+versichern: für ein vernünftiges Verhältnis hätte sie Geld -- für eine
+dumme Ehe nicht!« Mit rauher Stimme hatte er gesprochen. »Was meinst du,
+wenn wir statt zum Rendezvous auf dem Schloßplatz direkt auf den See
+führen, -- der hält uns nicht lange!«
+
+Ich packte ihn entsetzt am Arm. »Nein, Hellmut, nein,« flehte ich, »wir
+haben ja noch gar nicht gelebt!« Der Fanatismus des Daseins durchglühte
+mich -- so sterben -- so -- nein! Und wie eine Erleuchtung kam es über
+mich: Tante Klotilde, -- sie mußte und konnte helfen. Mit schmetternden
+Fanfaren begrüßte die Musik die Ankommenden, als wir beide, die Herzen
+von neuer Hoffnung geschwellt, auf den Schloßplatz einbogen und uns
+fröhlich an die Spitze des langen Zuges setzten. War das eine Fahrt
+durch den Wald, wo der tauende Schnee eine glatte Bahn geschaffen hatte!
+Wie wir den Nebel nicht spürten, obwohl er unsere Pelze mit Millionen
+winziger Wasserperlen besetzte, so empfanden wir keinen Zweifel mehr an
+der wieder erwachten Sonne unseres Glücks.
+
+Die anderen kamen durchfroren von der stundenlangen Fahrt ins Hotel,
+uns, die wir ihnen weit voran gewesen waren und doch als letzte
+zurückkehrten, war glühheiß. Noch lange saßen wir zusammen; die vielen
+Gänge des Mahls, bei dem die meisten Paare immer einsilbiger wurden, das
+langsame Servieren, das jeden Nichtmecklenburger immer ungeduldiger
+machte, -- wir merkten es nicht. Für uns wars viel zu früh, als es galt,
+Abschied zu nehmen. Vor dem halbdunkeln Torweg, im rieselnden Regen,
+umschloß eine kräftige Hand noch einmal die meine, und spitze Nägel
+gruben sich mir ins Fleisch.
+
+Noch in der Nacht schrieb ich an Tante Klotilde. Mein ganzes Herz
+schüttete ich ihr aus; mit all meiner Hoffnung klammerte ich mich an
+sie; jede Seite ihres Wesens suchte ich zu rühren.
+
+Wenige Tage später wurde ich zu ungewohnter Stunde zu meinem Vater
+gerufen. Hochrot im Gesicht, mit meinem Brief in der Hand, trat er mir
+entgegen. Mama saß vor Schrecken totenblaß im Lehnstuhl. Es gab eine
+unbeschreibliche Szene. Demselben Manne, der mir seine Zärtlichkeit nie
+genug zeigen konnte, war jetzt kein Wort zu verletzend, um mich zu
+beschimpfen. Ich stand vor ihm, wie versteinert. Erst als er Hellmut
+einen Ehrlosen nannte und die wahnsinnigsten Drohungen gegen ihn
+ausstieß, kam ich zu mir. »Das duld' ich nicht, daß du seine Ehre
+angreifst,« rief ich und trat ihm dicht unter die Augen, »schlag doch
+mit Fäusten auf mich, wenn du willst, aber ihn -- ihn darfst du nicht
+anrühren.« Papa sah mich groß an, wandte sich ab und stöhnte qualvoll.
+Das ertrug ich nicht mehr. Weinend warf ich mich ihm zu Füßen. »Papachen
+-- hab' doch Mitleid mit mir -- mein Unglück ist doch schon groß genug«,
+schluchzte ich. Und dieselbe Hand, die mich fast geschlagen hätte, hob
+mich empor. »Mein armes, armes Kind,« sagte er, und mit dem Ausdruck
+eines zu Tode Verwundeten sah er mich an.
+
+Mama war still gewesen bis dahin. Jetzt hörte ich ihre ruhige kühle
+Stimme wie von weit, weit her. Sie las den Brief der Tante vor, ich
+verstand ihn kaum, nur die Worte »Pflicht«, »Opfer«, »Ehrgefühl«
+wiederholten sich, wie es schien, häufig. »Alix wird,« so schloß er
+ungefähr, »durch diese Erfahrung klug werden und ihre zügellosen
+Leidenschaften bändigen lernen. Unser ganzes Leben ist Entsagung und
+Pflichterfüllung ...« Ich lachte gellend auf bei dieser schönen Tirade,
+um gleich nachher in einen wilden Weinkrampf auszubrechen. Papa trug
+mich in mein Bett. Meine Mutter verließ mich von da an keine Minute.
+Gegen Abend ließ sie mich aufstehen. Kaum auf den Füßen konnt ich mich
+halten, und vor Schmerzen hätte ich am liebsten geschrien, aber meine
+Willenskraft war stärker als alles. Ich vermochte es sogar, meinen Vater
+dankbar anzulächeln, als er mir mitteilte, er habe »die schwere Aufgabe
+auf sich genommen, den Prinzen über den Ausgang der traurigen
+Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.«
+
+Als ich dann, wie immer, im Nebenzimmer den Tee bereitete, hörte ich,
+mit meinen fieberhaft geschärften Sinnen, Mama zu ihm sagen: »Ich kenne
+Alix genug, um keine ernstliche Sorge zu haben. Wo wir bisher gewesen
+sind, -- es gab immer irgend eine mehr oder weniger fatale
+Liebesgeschichte. In diesem Fall, wo ihre Eitelkeit mitspricht, sieht
+die Sache erheblicher aus.« »Aber du sahst sie doch! -- Eine solche
+Verzweiflung läßt das Äußerste fürchten!« wandte mein Vater ein.
+»Vertraue mir, lieber Hans -- du siehst sie immer wie in einem goldnen
+Spiegel! Ich habe, gottlob, meine sehr nüchternen und klaren Augen
+behalten,« antwortete Mama, »wir haben jetzt nichts zu tun, als zu
+verhüten, daß sie sich und uns durch tragische Posen kompromittiert --
+alles andre überlasse ruhig der Zeit und --,« fügte sie mit einem halben
+Lachen hinzu -- »dem nächsten Mann!«
+
+Was sie sagte, war mir nur willkommen, und ich benahm mich, ihren Worten
+entsprechend, während ich zu gleicher Zeit mit vollkommener Ruhe an die
+Ausführung eines Planes ging, der vom ersten Augenblick an, da ich von
+der Ablehnung der Tante erfahren hatte, für mich fest stand. Ich ließ
+mir zur Gutenacht die Stirn küssen und legte mich ruhig nieder; daß Mama
+noch einmal kommen und nach mir sehen würde, wußte ich, und wartete, bis
+sie zurück in ihr Schlafzimmer ging und jeder Ton im Hause erstorben
+war. Dann stand ich auf, zog mich sorgfältig an, packte das Nötigste in
+eine bereit stehende Handtasche und schlich mit angehaltenem Atem die
+Treppe hinunter. Die Haustür knarrte nicht einmal, als ich sie
+aufschloß. Es regnete in Strömen, kein Mensch war zu hören, noch zu
+sehen. Ich wartete in meinen Mantel gewickelt, bis ein fester Schritt
+mir entgegen klang, ein schleppender Säbel auf das Pflaster taktmäßig
+aufschlug. So kam er jetzt jeden Abend, vom Fenster aus ein verabredetes
+Zeichen erwartend, in den dicht an unserem Hause liegenden Park. Er fuhr
+zurück, als er mich vor sich sah. Es bedurfte nicht vieler Worte
+zwischen uns. Aber was ich gleichgültig, mit einer ganz fremden ruhigen
+Stimme erzählte, das erschütterte ihn so, daß er sich schwer auf meine
+Schulter lehnen mußte. »Ich kann dich nicht lassen, Alix!« stöhnte er
+immer wieder. »Das sollst du auch nicht, Hellmut!« antwortete ich fest.
+»Da uns zum Ehebund der Goldsegen fehlt, schließen wir ihn unter dem
+Segen der Liebe.« Mit weit geöffneten Augen sah er mich an. »Du wolltest
+--?« klang es fragend, zögernd. »Deine Geliebte werden -- ja.
+Selbstverständlich muß ich Schwerin sofort verlassen -- -- --«
+
+»Alix, du fieberst -- du weißt ja gar nicht, was du sagst, -- das ist ja
+heller Wahnsinn!« rief er. Ich fühlte plötzlich, wie die feuchte Kälte
+der Nacht von den Fußsohlen an langsam an mir emporkroch. »Ich bin nicht
+wahnsinnig, Liebster --« sagte ich weich und drückte seine Hand zärtlich
+an meine Wange, »ganz im Gegenteil: ich will die wahnsinnige Weltordnung
+für mein Teil vernünftig machen! -- Nun laß uns nicht länger hier
+stehen, Hellmut, wo jede Minute kostbar ist. Irgend eine kleine Station
+wird sich mit deinem Wagen doch noch erreichen lassen, wo ich den ersten
+Morgenzug erwarten kann --.« Er trat einen Schritt zurück, -- »Mach mich
+doch nicht zum Schurken -- Alix« -- er packte mich am Arm und schüttelte
+mich, als wolle er mich aus einem Traum erwecken. Und wirklich --
+während der Regen mir ins Antlitz peitschte -- und die letzten Laternen
+erloschen, kam es mit grausamer Klarheit über mich. »Hellmut!« rief ich
+noch einmal und breitete die Arme aus. Er stürzte auf mich zu, bedeckte
+mir Mund und Augen und Wangen und Hände mit wilden Küssen -- und
+verschwand, wie von Furien gepeitscht, in der dunkeln Allee.
+
+Minutenlang blieb ich wie angewurzelt stehen, dann strich ich mechanisch
+mit den Händen über den nassen Mantel. Ich mußte mich vergewissern, wer
+das eigentlich war, der hier draußen im Regen stand. Auch an die Stelle
+griff ich, wo mir das Herz noch eben wild geschlagen hatte. Es war wohl
+nicht mehr da -- es war wohl tot -- oder am Ende in den Schmutz
+gefallen. Ganz ängstlich sah ich in die schwarzen Pfützen zu meinen
+Füßen. Jetzt müßt ich eigentlich schlafen gehn -- fuhr es mir durch den
+Kopf. -- Gott, war das Täschchen schwer und der nasse Mantel. -- Ob ich
+mich lieber auf die Bank dort setzen sollte?! -- Nach ein paar Schritten
+stockte mein Fuß: nein, das ging nicht, ringsumher standen schrecklich
+viele Menschen und starrten mich an. Und dann rissen sie alle den Mund
+weit auf, und von allen Ecken dröhnte und kreischte es --
+
+ Oh, la marquise Pompadour --
+ Elle connait l'amour --
+ Et toutes ces tendresses --
+ La plus belle des maîtresses -- --
+
+Ich floh die Stufen empor, -- riß die Türe auf und setzte mich erschöpft
+auf die Treppe. Aber sie krochen mir nach -- auf Händen und Füßen -- wie
+Würmer. Mit den letzten Kräften schlich ich in mein Zimmer. Und
+plötzlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich -- Alix Kleve -- hier in
+triefenden Kleidern auf dem Bette saß. Ein Grauen überfiel mich, als
+wäre ich mein eigenes Gespenst und schwebte im schwarzen grenzenlosen
+Weltraum. Die Sinne vergingen mir.
+
+Acht Tage fast lag ich in völliger Apathie. Dann ging ich aus, und bald
+darauf ins Theater. Man gab »Hoffmanns Erzählungen« -- selbst bei der
+Barkarole klopfte mein Herz nicht. Es war mir offenbar abhanden
+gekommen. Nach weiteren acht Tagen tanzte ich wieder. Mama triumphierte.
+
+
+
+
+Elftes Kapitel
+
+
+»Wissen Sie das Neuste!« rief mir eine meiner Konkurrentinnen auf dem
+Kampfplatz weiblicher Eitelkeit zu, als wir gerade in der Quadrille
+einander gegenüber standen; »Prinz Hellmut ist -- krank und hat sich auf
+ein Jahr beurlauben lassen,« -- dabei lächelte sie, halb triumphierend,
+halb schadenfroh, wie eben nur eine Frau lächeln kann.
+
+»Ich weiß, er trug sich schon lange mit diesem Plan,« antwortete ich mit
+vollkommener Ruhe.
+
+An dem Abend tanzte ich bis zur Erschöpfung und hatte für alle ein
+liebenswürdiges Wort, einen koketten Blick, so daß die Kotillonsträuße
+auf meinem Schoß sich häuften wie noch nie. Als ich aber zu Hause am
+offenen Fenster stand und die würzige Märzluft das schwüle Zimmer mit
+einer Ahnung neuen Frühlings füllte, warf ich mit einem Gefühl des Ekels
+das glitzernde Ballkleid, die künstlichen Rosen, die seidenen Schuhe von
+mir.
+
+»Ich kann nicht mehr,« sagte ich zu mir selbst; alles erinnerte mich
+hier an die Vergangenheit, jeden Blick, jedes Lächeln empfand ich, als
+ob schmutzige Hände mich betasteten. Ich mußte fort, weit fort!
+
+Es kostete mich nur geringe Mühe, meine Eltern zu bewegen, mich
+verreisen zu lassen. Die gesellschaftlichen Pflichten waren für diesen
+Winter erledigt, meine Gesundheit bot stets willkommenen Vorwand zu
+frühen Landaufenthalten; es bedurfte nur einer Ansage, und ich konnte
+schon in den nächsten Tagen in Pirgallen eintreffen. Unter dem Schutz
+einer Bekannten, deren Anwesenheit mich zur Selbstbeherrschung zwang,
+fuhr ich nach Berlin, wo Onkel Walter, der zum Reichstag dort war, mich
+in Empfang nahm.
+
+»Na, du machst ja nette Streiche,« war sein erstes Wort. Peinlich
+überrascht sah ich auf. »Wir hatten dich eigentlich ein paar Wochen hier
+behalten wollen,« fuhr er fort, »aber deine Affäre ist so sehr in aller
+Munde, daß es besser ist, wir lassen Gras darüber wachsen, ehe du dich
+zeigst.« Seine Frau benützte die Gelegenheit, um über meine »mißglückten
+Pläne«, meinen »bestraften Ehrgeiz« kleine bissige Bemerkungen zu
+machen, so daß ich erleichtert aufatmete, als ich im Zuge nach
+Königsberg saß.
+
+Mit einer Zärtlichkeit, die mir noch inniger schien als früher, und die
+das einzige war, wodurch Großmama mir ihr Wissen verriet, schloß sie
+mich in die Arme. Es war so still, so friedlich in ihren grünen Zimmern,
+hinter den dicken Mauern, als ob es in der ganzen Welt gar keine Stürme
+gäbe. Aber schon nach wenigen Tagen sollte ich an sie erinnert werden.
+Gleichzeitig kamen von meinen Eltern zwei Briefe an. Ich öffnete den von
+Mama zuerst -- ich fürchtete mich instinktiv vor dem anderen.
+
+»Dein Vater«, schrieb sie, »ist in einer solchen Aufregung, daß ich es
+für nötig halte, seinen Brief nicht ohne den meinen abgehen zu lassen.
+Die Versetzung nach Bromberg traf ihn wie der Blitz aus heiterem
+Himmel. Wenn sie auch gewiß keine direkte Zurücksetzung bedeutet, so
+hängt sie sicherlich mit Deiner traurigen Angelegenheit zusammen, die
+höhern Orts nicht unbemerkt und nicht ungerügt bleiben konnte. Möchtest
+Du daraus endlich die Lehre ziehen, daß Du Deine Launen und
+Leidenschaften im Zaum halten mußt, wenn Du nicht Dich und Deine Eltern
+zugrunde richten willst ...«
+
+Mit zitternden Händen riß ich Papas Brief auf. Er lautete:
+
+»Mein liebes Kind! In der Bibel steht, daß die Sünden der Väter an den
+Kindern heimgesucht werden, aber die andere bittere Wahrheit, die ich am
+eignen Leibe erfahren muß, steht nicht darin: daß die Väter für die
+Sünden der Kinder büßen müssen. Ich bin zum Chef der Landwehr-Inspektion
+in Bromberg ernannt worden, -- das ist nichts anderes als eine
+ehrenrührige Strafversetzung, die ich mit meinem Abschiedsgesuch
+beantworten würde, wenn ich nicht genötigt wäre, weiter zu dienen, um
+meine Familie zu erhalten ...«
+
+Ich konnte der Tränen nicht Herr werden, als ich Großmama die Briefe zu
+lesen gab. Mit ihrer schmalen kühlen Hand strich sie mir über die heiße
+Stirn und sagte begütigend: »Dein Vater übertreibt in der Erregung gern
+ein bißchen, mein Alixchen; es ist gewiß nicht so schlimm, wie es ihm
+erscheint, und du wirst es ihm nun auch tapfer und liebevoll tragen
+helfen.« Aber ich ließ mich nicht so leicht beruhigen. Ich schwelgte
+förmlich im selbstquälerischen Bewußtsein einer Schuld, die mir doch
+nicht als bewußte Verschuldung erscheinen konnte.
+
+»Es ist mein Schicksal, allen, die mich lieben, Unglück zu bringen --«
+so formulierte ich eines Tages Großmama gegenüber das Resultat meiner
+Grübeleien. »Das ist eine kindliche und -- was schlimmer ist -- alle
+Kräfte lähmende Auffassung,« antwortete sie: »tragische Heldinnen
+solcher Art gibt es nur in Schicksalstragödien, die auch als Kunstwerke
+nichts taugen.«
+
+Mit einem unmerklichen Zwang, dessen Konsequenz mir erst viel später
+klar wurde, lenkte sie mich von der Beschäftigung mit mir selber ab.
+
+Sie hatte einen Kinderhort ins Leben gerufen, wo die noch nicht
+schulpflichtigen Kleinen unter Aufsicht einer alten Frau aus dem Dorfe
+spielten und in die ersten Begriffe der Reinlichkeit eingeweiht wurden.
+Großmama brachte täglich ein paar Stunden unter ihnen zu und saß, wie
+eine Erscheinung aus anderer Welt in ihrem schwarzen Sammtkleid auf
+erhöhtem Sitz, mit den feinen Fingern Papierpuppen ausschneidend,
+während sie den Flachsköpfen, die sie dicht umdrängten, Märchen
+erzählte. Dazwischen flocht sie manchem Ruschelkopf die Zöpfe, oder
+putzte ein triefendes Näslein, oder wusch ein paar gar zu schmutzige
+Pfötchen. Was sie mit freundlichem Gleichmut tat, das kostete mir viel
+Selbstüberwindung. Diese Kinder straften die beruhigend-sentimentale
+Auffassung von der blühenden ländlichen Jugend Lügen. Nur wenige waren
+rund und pausbäckig und körperlich fehlerlos. Die meisten wackelten
+mühsam auf krummen Beinchen daher, an Ausschlägen an Kopf und Körper, an
+triefenden Augen litten viele, selbst Krüppel fehlten nicht, und mit
+Schmutz und Ungeziefer waren fast alle behaftet. Manche unter ihnen
+stierten mit verblödeten Blicken ins Leere, oder saßen stundenlang auf
+demselben Fleck, wie lebensmüde Greise. Andere, laute und lärmende,
+führten Worte im Munde, deren Sinn, den ich erst allmählich erriet, mir
+die Schamröte in die Wangen trieb. Ob es ihnen wirklich irgend etwas
+nutzen konnte, daß sie hier während ein paar Kinderjahren vom inneren
+und äußeren Schmutz ein wenig gereinigt wurden?! dachte ich bei mir und
+wurde in meiner Vermutung bestärkt, wenn sich ihre eigenen Mütter immer
+wieder über die gesundheitsschädliche Anwendung zu vielen Wassers
+beklagen kamen.
+
+»Und wenn wir nichts weiter erreichten, als ihnen ein paar fröhliche
+Stunden schaffen und für ihr ganzes späteres Leben die wohlige
+Erinnerung an etwas Sonnenschein -- so ist das genug,« sagte Großmama.
+
+Wir gingen auch ins Dorf und besuchten die Insten. Mit unheimlicher
+Regelmäßigkeit wiederholte sich dabei stets dasselbe: Frauen empfangen
+uns, oft kaum dreißigjährig und schon mit grauen Haaren, schlaffen
+Brüsten und runden Rücken, Greisinnen unter ihnen, zahnlose, mit tausend
+Falten in der Pergamenthaut, aber nur hie und da blühende junge Mädchen.
+Die gingen alle in die Stadt, in den Dienst oder in die Fabrik, und
+brachten, wenn sie heimkamen, vaterlose Würmchen mit, die die alten
+Eltern schlecht und recht aufziehen mußten. Immer warens dieselben
+Klagen, die uns entgegenschollen: der Vater, der Gatte, der Sohn
+vertrank die paar Groschen Verdienst und lohnte Weiber und Töchter
+obendrein mit Schlägen, wenn Schmalhans zuhause Küchenmeister war.
+
+Nicht weniger als drei Schankwirte machten sich in Pirgallen die Gäste
+streitig. Der scharfe Geruch von Fusel, schlechtem Tabak und
+Menschenschweiß, der in ihren Räumen klebte, ließ mir vor Ekel den Atem
+stocken, und doch war der Aufenthalt dort noch besser, als in der
+Stickluft der Häuser, zwischen lärmenden Kindern und keifenden Frauen.
+Mich grauste vor jedem Trunkenbold, -- jetzt fing ich an, ihn zu
+verstehen. Vergebens hatte Großmama bei ihrem Sohn die Einrichtung von
+Leseabenden, die Einführung guter Bücher für Pirgallens Bewohner zu
+erreichen gesucht, damit sie den Weg ins Wirtshaus seltener fänden. »Das
+hieße Bedürfnisse wecken, die schließlich zur Landflucht treiben,« war
+seine Antwort gewesen.
+
+Nur weiter draußen, wo die Häuser der Fischer einsam am Haffstrand lagen
+und die grauen Wellen jetzt im März noch Eisschollen auf ihrem Rücken
+trugen, lebten die Familien nach uraltem Brauch friedlich zusammen. Die
+kurze Pfeife in Mund, flickte der Hausvater die Netze, und die Hausfrau
+saß am Webstuhl, schweigsam wie er. Kam der Feierabend, so las der Alte
+aus der vergriffenen Bibel mit schwerer, eintöniger Stimme, und ein
+Gebet schloß den Tageslauf. Und doch kam mirs hier unheimlicher vor als
+im Dorf. Hier herrschte noch mit eiserner Strenge das Gesetz der
+Unterordnung der Kinder unter den Willen der Väter. Jeder Wunsch in die
+Ferne wurde erstickt, zerprügelt, jede lebenswarme Freude starb, wenn
+sie hier in die Türe trat.
+
+Wir kamen nie mit leeren Händen, der Dank war immer ein
+überschwenglicher, der nicht im Verhältnis zur Gabe stand. Mochte er nun
+von Herzen kommen oder verlogen sein, mir war er gleich unerträglich.
+Großmama meinte, daß ich durch sein Abwehren beleidigend wirkte.
+
+»Ich kann nicht anders, Großmama,« sagte ich, »wenn ich der armen Lene
+eine Suppe bringe, so schäme ich mich, daß ich mich am liebsten vor ihr
+verstecken möchte. Warum in aller Welt bin ich nicht die Lene?!«
+
+»Daß du es besser hast, mußt du mit besser sein vergelten,« entgegnete
+sie ernst. Meine Empfindung aber steigerte sich nur. Das Rätsel des
+Elends in der Welt und seine Unlösbarkeit richtete sich riesengroß vor
+mir auf, ein Felsentor mit schwarzer Eisenpforte. Rostflecke bedeckten
+sie und Blut klebte an ihr, -- Zeichen der vielen, die an ihr rüttelnd
+vergebens Eingang verlangt hatten. Niemand besaß den Schlüssel, und der
+Glaube, der über sie hinwegträgt zu sonnigen Welten jenseitiger
+Vergeltung, war mir verloren gegangen.
+
+Abends lasen wir miteinander, Großmama und ich. Die stenographischen
+Berichte der Reichstagsverhandlungen, die sie durch ihren Sohn
+regelmäßig erhielt, bildeten damals ihre Lieblingslektüre. Mich
+langweilten sie zunächst schrecklich, ich verstand ja nicht einmal das
+ABC der Sache. Daß Bismarck, den wir alle wie einen Halbgott verehrten,
+sich mit der ganzen Leidenschaft seiner Sprache, dem ganzen Gewicht
+seiner Persönlichkeit für etwas, meiner Empfindung nach so
+Untergeordnetes, wie das Branntweinmonopol ins Zeug legte, kam mir
+komisch, ja fast verächtlich vor. Erst als Ende März die Frage der
+Verlängerung des Sozialistengesetzes auf der Tagesordnung stand, wuchs
+mein Interesse mit der dramatischen Bewegtheit der Verhandlungen.
+
+Meine Großmutter war von je her eine Gegnerin aller Ausnahmegesetze
+gewesen, mochten sie sich nun gegen Polen oder gegen Sozialdemokraten
+richten. »Sie schaffen nur Märtyrer, und Märtyrer werben Scharen von
+Proselyten,« pflegte sie zu sagen; aber sich mit Söhnen oder
+Schwiegersohn, denen keine Maßregel gegen die Umstürzler energisch genug
+war, darüber auseinander zu setzen, hatte sie längst aufgegeben. Mir
+selbst ging es in bezug auf die Sozialdemokratie, wie den meisten
+Menschen in bezug auf die Religion: ich hatte noch nie über sie
+nachgedacht, ich vermochte es kaum, weil gewisse dogmatische
+Anschauungen sich mir von klein auf als etwas Selbstverständliches
+eingeprägt hatten, ohne daß mein Glaube daran ein irgendwie lebendiger
+gewesen wäre. Sozialdemokraten sind Verbrecher, auf deren
+ungeschriebenen Tafeln der Königsmord zum Gesetz erhoben wird; sie sind
+gemeine Lüstlinge, die ein Leben niedrigster Genüsse zum Ziel alles
+Strebens machen; sie sind Volksverführer und Betrüger, die, wo es ihren
+Vorteil gilt, die Ideale der Freiheit und Brüderlichkeit im Munde
+führen, -- nie hatte ich etwas anderes gehört, noch nie war mir ein
+Zweifel an diesen traditionellen Auffassungen in den Sinn gekommen. Die
+kalte Atmosphäre der Ideallosigkeit, in der auch die Religion zu Eis
+erstarrte, und die die Lebensluft der Kreise war, in denen ich lebte,
+ließ mich immer stärker frösteln, je älter ich wurde, und steigerte
+meine Sehnsucht nach einem heißen Sonnenland des inneren Lebens, wo
+Hoffnungsblumen noch wachsen können. Die Sozialdemokratie, die auf
+unseren alten Kaiser die Mordwaffe gerichtet hatte, die das Vaterland
+ständig beschimpfte, die Familie zerstören, die Frauen zum Gemeingut
+machen wollte, erschien mir wie die letzte Entwicklungsphase der
+Vereisung. Es gab daher Augenblicke, wo ich meinem Vater und meinem
+Onkel mehr beipflichtete als meiner Großmutter und deren Wunsch, »die
+infamen Kerls an den Laternenpfählen aufzuknüpfen«, mich nicht empörte.
+
+Mit steigendem Staunen las ich jetzt die Debatten. Als der Minister von
+Puttkamer, -- der mir als kirchlicher Reaktionär schon unangenehm genug
+war, -- die gegen die Übermacht reicher Fabrikanten um ihr Brot
+kämpfenden belgischen Kohlenarbeiter, von denen damals die Presse voll
+war, als Beispiel jener »sozialrevolutionären Bewegung« hinstellte, der
+die deutsche Regierung »mit niederschmetterndem Widerstand begegnen«
+würde, frappierte mich diese Identifizierung armer darbender Arbeiter
+mit den deutschen Sozialdemokraten außerordentlich, und als Bebel
+antwortete, vergaß ich über alledem, was er sagte, die Person des
+Redners. Daß der Übermut der durch die Arbeit der Armen reich gewordenen
+belgischen Fabrikanten und die Unterstützung, die die Regierung ihnen
+angedeihen ließ, indem sie mit militärischer Gewalt wie gegen
+Vaterlandsfeinde gegen die Bergarbeiter vorging, die revolutionäre
+Bewegung hervorgerufen hätte, -- hervorrufen mußte, weil Menschen auf
+die Dauer keine stumpfsinnigen Sklaven sind, ebenso wie die Herrschaft
+der Knute in Rußland notwendig den Meuchelmord zeugte, -- das alles
+wirkte auf mich mit der Selbstverständlichkeit eigenster Gedankengänge,
+und mich empörte die versteckte Absichtlichkeit, mit der dem Redner die
+Worte im Munde verdreht wurden und seine politischen Gegner ihm immer
+wieder unterstellten, er habe den Mord verherrlicht. Ich fiel erst
+wieder -- und recht empfindlich -- aus den Himmeln meiner Begeisterung,
+als Stöcker von den elenden Löhnen Berliner Mäntelnäherinnen sprach, und
+Singer, der Parteigänger Bebels, der sich mir eben als Vertreter aller
+Unterdrückten offenbart hatte, dem persönlichen Vorwurf, daß er selbst
+durch solche Löhne reich geworden sei, nur mit lahmen Ausreden
+begegnete.
+
+»Es ist wie bei den Predigern des Christentums,« sagte ich, wie immer
+rasch verbittert durch eine Enttäuschung, zu Großmama, »richtet euch
+nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Taten.« Und erheblich
+ernüchtert las ich weiter. Aber schon wenige Seiten später schlug meine
+Empfindung abermals um, -- es war eben nur Empfindung, die sich wie
+Sommerfäden vom Winde hin und her treiben ließ, weil sie nicht zwischen
+die festen Pfeiler der Erkenntnis gesponnen war. Ein konservativer
+Redner verlas ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest, wonach die
+Weibergemeinschaft eines der Postulate der Sozialdemokratie wäre. Aus
+Liebknechts Erwiderung ergab sich, daß es sich auch diesmal um eine
+gegnerische Fälschung handelte. Seinem ganzen Inhalt nach gab er das
+Manifest wieder. Ich faßte nur auf, was mich am tiefsten traf: die
+Forderung einer von ökonomischen Rücksichten vollkommen losgelösten Ehe.
+Wurde nicht hier die Standarte eines Ideals aufgerichtet, das die ganze
+christliche Zivilisation nicht nur nicht verwirklicht, sondern mehr und
+mehr in den Staub getreten hatte?!
+
+Ich sprach mit Großmama darüber.
+
+»Das ist das Verdienst der Sozialdemokratie,« sagte sie, »über das man
+manche ihrer Sünden vergessen könnte, daß sie alte wahrhaft christliche
+Ideale in ein neues Kleid gesteckt hat und die Menge glauben läßt, es
+handle sich auch um neue Körper. Aber eine Verwirklichung kann sie
+trotzdem nicht dekretieren. Jahrhunderte einer christlichen Erziehung
+und Gesetzgebung gehören dazu. Sieh dir doch hier einmal die Menschen
+an. Schon die Verwirklichung einer uns so geläufigen Forderung, wie die
+des allgemeinen Stimmrechts, erscheint angesichts ihrer verfrüht. Oder
+meinst du, daß es zum Besten der Menschheit ist, wenn die Mehrheit, d. h.
+heute noch die Schlechten, die Dummen und Rohen, an ihrer Spitze
+stehen?« Ich verstummte vor diesem Argument: unsere betrunkenen
+Instleute -- entscheidende Faktoren in Fragen der Kulturentwicklung, das
+war zweifellos absurd.
+
+Von Disraelis »Sybil« und Zolas »Germinal« hatte Liebknecht in derselben
+Rede gesprochen. Wir lasen daraufhin beides: das schwächliche Werk des
+Engländers, das nur darum erstaunlich war, weil ein Premierminister sich
+so offen auf die Seite der »schwarzen Arbeiter« hatte stellen können,
+und den Roman des Franzosen, der mir täglich neue Schauer des Entsetzens
+über den Rücken jagte, dessen fürchterliche Bilder mich bis in meine
+Träume verfolgten. Ich sah die Maheude auf dem Schlachtplatz vor dem
+Schacht neben dem toten Mann im schwarzen Schlamme sitzen und Katherine
+und Etienne tief in der dunkeln Grube, wo gurgelnd das Wasser höher und
+höher an ihnen emporstieg, und der Hunger mit kalten Knochenfingern
+ihren Leib zusammen schnürte, während der gedunsene Leichnam des
+gemordeten Rivalen wieder und wieder von den Wellen zu ihnen empor
+getragen wurde; -- aber fürchterlicher, als all diese Bilder, haftete
+ein anderes unauslöschlich in meinem Gedächtnis: jener grauende Morgen,
+an dem sich vor dem wieder geöffneten Schacht scheu und gebückt, still
+und demütig all die zusammen fanden, die eben noch für ihre Freiheit
+Leib und Leben eingesetzt hatten. »Was willst du -- ich hab ein Weib!«
+sagten sie müde, »ich habe Kinder -- eine Mutter -- mich hungert;« und
+die Maheude, die Furie des Aufstands, zählte schon die Jahre ihrer
+Jüngsten, bis auch sie reif wären zur Einfahrt, -- »sie tragen alle ihre
+Haut zu Markte, die Reihe kommt auch an sie!« -- Daß es Hunger und Not
+und Elend gab, -- entsetzlich war es; entsetzlicher noch, daß die
+Menschen es ertrugen.
+
+Inzwischen war über Nacht mit all seiner Herrlichkeit der Mai ins Land
+gezogen, und vorbei wars mit der Stille in Großmamas grünem Zimmer. Ihr
+Sohn und die Seinen kehrten heim, und ein Taubenschlag war aufs neue das
+alte Schloß von Pirgallen. Ich wars zufrieden; ein Netz von Schwermut
+schnürte mir den Atem ein, leer, zweck- und ziellos erschien mir das
+Leben, und alle Mittel versagten, um mir selbst zu entfliehen.
+
+»Ich habe in letzter Zeit wieder so unter den einsamen Grübelstunden
+gelitten und war so am Ende alles Denkens angelangt,« schrieb ich an
+meine Kusine, »daß der Trubel der Gefälligkeit gerade zur rechten Zeit
+kam; ich muß in diesem betäubenden Meer des Vergebens wieder
+untertauchen, um nicht zu sterben vor Melancholie.« Und ein paar Wochen
+später: »Wenn man mit sich und der Welt so zerfallen ist wie ich, so ist
+es das Beste, nicht zur Besinnung zu kommen. Ich genieße das Leben, so
+lange ich jung bin und man mir huldigt, und betäube die warnenden
+Stimmen im Innern. Ich reite, ich rauche, ich bin kokett, ich mache
+extravagante Toiletten und erlaube mir Dinge, die man zu verdammen
+pflegt, -- aber ich würde mir auch nichts daraus machen, wenn ein Sturz
+vom Pferde, ein Umschlagen des Kahns dem dummen Spaß ein Ende machen
+würde.«
+
+Mit einer gewissen kalten Neugier beobachtete ich meine steigende
+Anziehungskraft auf die Männer. Ihre Huldigungen wurden mir mehr und
+mehr zum Bedürfnis; von ihrer Glut sprangen warme Wellen zu mir hinüber,
+die mir zuweilen die Wohltat eigenen Feuers vortäuschten.
+
+An meinem Geburtstagsabend, nach einem durchtanzten und durchspielten
+Tag, an dem ich mir aus lauter Angst, an die Vergangenheit denken zu
+müssen, keinen Augenblick Ruhe gegönnt hatte, schrieb ich an Mathilde,
+die sich gerade im Harz befand und mich dringend in die »Stille der
+Bergwelt« eingeladen hatte: »Die Stille mag gut sein für den, der sich
+gern erinnert, unsereins braucht die ewig knarrende Tretmühle des
+Amüsements. Aber grüß mir immerhin den Harz; seine Berge sind freilich
+Kinderspielzeug, seine Felsen eines nichtsnutzigen Engels schlechte
+Kopien von Gottvaters Wunderwerken, aber er hat einen Vorzug: die nahe
+Beziehung zur Hölle, nach der ich ein unbändiges Verlangen trage. Wenn
+der Teufel auf dem Brocken seinen Repräsentationsball gibt, sag ihm, er
+soll mich nicht vergessen. Er wird dir dankbar sein für deine
+Kupplerdienste, -- ich bin momentan geradezu eine Delikatesse für ihn.«
+
+Wir siedelten bald darauf nach Kranz über, wo mein Onkel eine geräumige
+Villa dicht am Strand gemietet hatte. Das reizende Seebad
+war überschwemmt mit dem Adel Ostpreußens, und mit jener
+Selbstverständlichkeit aller Bevorrechteten, die sich unbewußt immer als
+Mittelpunkt des Weltganzen fühlen und die übrige Menschheit nicht anders
+ansehen als ihre Kammerdiener, vor denen man sich auch ungeniert gehen
+lassen kann, dominierte unser großer lustiger Kreis überall: wir nahmen
+die besten Plätze ein, die besten Schiffe beanspruchten wir, und wir
+dachten nicht im entferntesten an die Ruhebedürftigkeit anderer
+Badegäste, wenn wir bis tief in die Nacht hinein im Kursaal tanzten und
+vom Strand aus prasselnde Feuerwerke gen Himmel steigen ließen. Unsere
+alten Herren saßen bei Regen und Sonnenschein beim Skat und kümmerten
+sich wenig um uns, so daß die Jugend sich doppelt des Lebens freute. Ein
+kleiner Graf, den wir, wegen seiner frappanten Ähnlichkeit mit den
+dünnen Spieläffchen aus Seide, den Chenille-Grafen getauft hatten, gab
+den Ton an. Er war häßlich, aber ungemein gewandt und graziös, seine
+Schlagfertigkeit, sein beißender Witz, der nicht frei von Zynismus war,
+seine chevalreske Art Damen gegenüber, die einen Stich von Impertinenz
+besaß, seine vielseitige künstlerische Begabung, die überall im
+leichtfertigen Dilettantismus stecken geblieben war, machten ihn in
+diesem Kreis zu einer nicht alltäglichen Erscheinung. Eine »Partie« war
+er nicht; er konnte sich daher onkelhafte Freiheiten gestatten, und für
+mich, die ich, wie er, nichts suchte als Amüsement, war er der gegebene
+Kavalier.
+
+Eines abends -- wir saßen wie gewöhnlich im Sande und spielten
+Pfänderspiele -- mischte sich ein neuer Gefährte in unseren Kreis: Graf
+Göhren. Er erschien mir sofort als des lustigen Chenille-Grafen direktes
+Widerspiel, gemessen in den Bewegungen, etwas ungeschickt sogar,
+ernsthaft, ein wenig verlegen. Wie ein guter, treuer Pinscher sah er
+aus, mit runden erstaunten Augen. Mich genierte seine Anwesenheit, ich
+wußte nicht recht, warum. Es fügte sich in den folgenden Tagen, daß wir
+uns näher kennen lernten, und als wir einmal auf einem Spaziergang in
+den Dünen vor einem Gewitter die Flucht ergriffen und, von der übrigen
+Gesellschaft getrennt, in einem verlassenen Pavillon Schutz suchten,
+legte er mit ungewöhnlich sorglicher Gebärde seinen Mantel um meine
+Schultern. Ich wurde bis ins Innerste warm dabei, -- es tat so wohl,
+sich unter gutem Schutz zu wissen! Abends am Strande war ich nicht recht
+bei der Sache und horchte erst auf, als der Chenille-Graf mit einer
+Gitarre unter dem Arm auf mich zu trat. »Nun hab ich für Ihr Lied die
+Melodie gefunden, Gnädigste,« sagte er, »wenn wir das anstimmen, kriegen
+die Kranzer eine Gänsehaut vor Entsetzen.« Mein Lied?! Ach so! -- vor
+ein paar Tagen hatte er mein Notizbuch gefunden, und keck, wie er war,
+zum Lohn ein Gedicht begehrt, daß er darin entdeckt hatte. »Darf ich es
+sehen?« frug Graf Göhren. Seine Stirn runzelte sich, als er es las. »Sie
+werden es nicht singen lassen« -- sagte er darnach mit scharfer Betonung
+zu mir gewandt. »Erlauben Sie, lieber Graf,« warf der andere lächelnd
+ein: »Fräulein von Kleve hat sich des Rechts darüber schon begeben.« --
+»Es bleibt trotzdem ihr Eigentum, und ich versichere Sie, daß es
+niemand anders hören wird --«. Graf Göhrens Stimme nahm einen drohenden
+Klang an, die Situation wurde kritisch. Mir stieg das Blut zu Kopf, --
+mit welchem Recht verfügte dieser Mann über mich?! Da sah der
+Chenille-Graf mich mit seinem bezauberndsten Lächeln und einem kecken
+Blinzeln seiner kleinen stechenden Augen an: »Ich beuge mich
+selbstverständlich, wie immer, dem Willen der Dame«, -- und
+herausfordernd griffen seine schmalen gebräunten Finger in die Seiten
+der Gitarre. »Sie brauchen wirklich nicht um mein Seelenheil besorgt zu
+sein; Graf Göhren,« spottete ich, »wenn mein Lied Sie chokiert, steht es
+Ihnen frei, nicht zuzuhören!« Mit kurzer Verbeugung reichte er mir das
+Papier. Es hatte zu dämmern angefangen, und unsere Gefährten strömten
+von allen Seiten zum gewohnten Platz. Eine Bowle, ein paar Torten, das
+Ergebnis einer verlorenen Wette, wurden von der Strandkonditorei
+herunter getragen, -- »und nun kommt das Beste!« rief der Chenille-Graf,
+»unser künftiges Bundeslied:«
+
+ »Stoßt an mit mir! Füllt wieder die Pokale,
+ Es schäumt der Wein, schäumt wie des Lebens Lust;
+ Ein heitrer Sinn ziemt diesem Göttermahle.
+ Im Fieber schlägt das Herz uns in der Brust,
+ Laßt uns, damit die Sorgen uns versinken,
+ Trinken!«
+
+Die Herren im Kreise wiederholten den Refrain, die Damen schwiegen.
+
+ »Lind ist die Nacht, es duften süß die Rosen,
+ Heiß ist der Mund, der sich auf deinen preßt;
+ Noch ist es Zeit, zu lieben und zu kosen,
+ Noch sei ein jeder Augenblick ein Fest.
+ Laßt uns, so lang die Sommerblumen sprießen
+ Genießen!«
+
+Auf der Strandpromenade hinter uns sammelte sich das Publikum. Von einer
+flackernden Laterne matt erhellt, sah ich Göhrens Gesicht mitten
+darunter, und ihm zum Trotz stimmte ich als einzige unter den jungen
+Mädchen, deren Wangen sich vor Verlegenheit mehr und mehr röteten, in
+den Refrain ein.
+
+ »Es braust das Meer, das Schiff schwankt auf und nieder,
+ Helljubelnd grüßen wir den Wellenschaum,
+ Der Sturm singt uns das schönste aller Lieder
+ Und wiegt uns ein zu wild-bewegtem Traum --
+ Was ist das Ende, wenn die Wellen branden? --
+ Stranden!«
+
+Mit einem Akkord fanatischer Lebensfreude, der mir in seiner grellen
+Dissonanz zu den Worten schmerzhaft ins Herz schnitt, schloß der Sänger.
+Man drängte sich um uns, die Gläser klirrten aneinander, ich hob das
+meine noch einmal hoch empor wie zum Gruß an den mißgünstigen Zuschauer,
+der unter der Menge verschwand.
+
+»Du hast dir wiedermal eine der besten Partien verscherzt,« sagte Onkel
+Walter am Morgen ärgerlich zu mir; »Graf Göhren ist abgereist.« Ich
+zuckte gleichgültig die Achseln. »Du solltest zufrieden sein, wenn
+überhaupt noch irgendwer ernsthafte Absichten hat, nach dem Skandal mit
+--.«
+
+»Ich bitte dich, dies Thema ein für allemal unberührt zu lassen,«
+unterbrach ich ihn heftig, »im übrigen erkläre ich dir: lieber gehe ich
+betteln, als daß ich mich verkaufe.«
+
+Onkel Walter wurde dunkelrot. »Mäßige dich, ja?« herrschte er mich an,
+dann zuckte ein bitteres Lächeln über seine sonst so gemessen
+beherrschten Züge: »Glaubst du, daß irgend einer von uns seinem Herzen
+hat folgen können?!« Überrascht sah ich auf -- welch Licht fiel
+plötzlich auf das Glück von Pirgallen?!
+
+Im Spätherbst besuchte ich Großmama noch ein paar Tage, um dann zu
+meinen Eltern nach Bromberg überzusiedeln. Die letzten Monate
+krampfhaften Lebens waren wie der Sturm gewesen, der dem noch immer vom
+Sommer sehnsüchtig träumenden Baum die letzten Blätter entreißt. Sonst,
+wenn michs fröstelte vor dem nahenden Winter, gaukelte meine treue
+Gefährtin Phantasie mir immer neue lachende Frühlingsbilder vor, und
+meine junge, starke Hoffnung hielt sie gläubig fest. Jetzt sah ich mich
+vergebens um nach den beiden. In jener Nacht, da mein Herz gestorben
+war, hatten sie mich wohl verlassen. Sie bleiben nur Lebendigen treu.
+
+»Ist es nicht merkwürdig, daß Ihr alle meinen Leichnam für mich selbst
+halten könnt?!« schrieb ich an meine Kusine, »oder meinst Du, ich lebte,
+nachdem ich mit vollen Segeln ins Leben hinaus fuhr, um eine neue Welt
+zu entdecken, und nun mitten auf dem Ozean treibe und nichts gefunden
+habe als das ewige Einerlei der Wogen! -- -- -- Nur um eine Einsicht bin
+ich inzwischen reicher geworden: daß das Glück, nach dem wir ein so
+unbändiges Verlangen tragen, nichts ist als Betäubung. Betäube durch
+Arbeit, Vergnügen, Liebe, durch Religion und Kunst Deine Überlegung,
+betäube den Gedanken an all das Elend in der Welt, geistiges und
+leibliches, betäube die Erinnerung an selbstverschuldete Schmerzen, an
+gescheiterte Hoffnungen mit einem dieser Narkotika, und Du wirst
+'glücklich' sein. Je jünger man ist, desto leichter gehts; es ist aber
+leider wie mit dem Morphium: je mehr man seiner bedarf, desto weniger
+wirkt es ...«
+
+ * * * * *
+
+Ich ging sehr ungern nach Bromberg. Ich fürchtete mich. Vor Papas übler
+Laune, vor der Öde der Kleinstadt. Nach einer Richtung wurde ich
+angenehm enttäuscht: mein Vater war bei bestem Humor und erzählte mir
+schon in den ersten zehn Minuten des Zusammenseins, daß seine Stellung
+nicht nur eine sehr angenehme und selbständige, sondern infolge der
+anzeigenden Kriegswolken an der russischen Grenze eine höchst
+interessante wäre. Aber in bezug auf die Kleinstadt wurden meine
+schlimmsten Erwartungen übertroffen. Es gibt welche, die erfüllt sind
+von Tradition; die Giebelhäuser, die Türme, die Kirchen, die Stadtmauern
+erzählen unablässig ihre alten Geschichten, und wir träumen und
+phantasieren schließlich so gern mit ihnen, daß wir die Welt draußen
+beinah vergessen; und andere gibt es, die liegen warm und wohlig an
+breiter schützender Bergbrust, ein Flüßlein rauscht und plätschert ihnen
+zu Füßen, und ringsum breitet Mutter Natur ihr wunderlieblichstes
+Spielzeug aus, -- auch da ist gut sein für arme heimatlose Wanderer;
+aber wo Pest und polnische Wirtschaft die Häuser und Mauern zerfallen,
+die Wälder rasieren ließen und die moderne Industrie lieblos und
+gleichgültig an schnurgeraden Straßen Kasernen und Fabriken baute, da
+ist recht eigentlich die Fremde, die nie und nimmer zur Heimat wird. Daß
+der alte Fritz hier den Kanal gebaut hatte, der die Weichsel mit der
+Oder verband, daß er die Schleusen mit vielen schönen Bäumen umpflanzen
+ließ, dankte ihm jeder, der nach Bromberg verschlagen wurde, -- diese
+einzige Schönheit des Orts machte es allein möglich, hier und da frei
+aufzuatmen.
+
+Wie die Tiere sich in Form und Färbung ihrer Umgebung anpassen, so
+nehmen die Menschen allmählich die Stimmung ihres Wohnorts an. Ein
+schweres Grau lagerte daher über der bromberger Geselligkeit, selbst die
+Ballgeigen litten unter einer gewissen Apathie. Dabei tanzte man
+unermüdlich mit einem erwartungsvollen Eifer, als gelte es, das
+Vergnügen schließlich doch einzuholen. Aber es lief immer wieder davon.
+Der Flirt stand in schönster Blüte, und der Klatsch noch mehr, -- womit
+hätten sich die Leute auch sonst beschäftigen sollen?! Es wimmelte von
+Uniformen aller Art; aber selbst die schönste kavalleristische
+Farbenpracht vermochte nicht über den Talmiglanz des Lebens hinweg zu
+täuschen. Ich verkehrte viel mit jungen Frauen; zwischen mir und den
+jungen Mädchen bestand nun einmal ein gespanntes Verhältnis. »Ihr Leben
+allein widert mich an«, schrieb ich an Mathilde, »ein bißchen Musik, ein
+bißchen Malerei, ein bißchen Wohltätigkeit und unter dieser Maske der
+guten Gesellschaft entweder nichts, oder ein unklares Durcheinander von
+Romantik und unterdrückten kleinen Passionen. Nie ein starkes Gefühl,
+nie ein brennendes Interesse. O, daß ihr kalt oder warm wäret!« Die
+Frauen hatten doch einen Lebensinhalt: ihre Kinder, ihren Mann, ihre
+Häuslichkeit; freilich: Zeit, an ihre Bildung zu denken, hatten sie
+nicht. Wie viele, die abends in eleganter Toilette, Lebenslust
+heuchelnd, den Ballsaal betraten, standen vom frühen Morgen an am
+Kochherd, nur mit dem Burschen, dem gutmütigen »Mädchen für Alles« als
+Hülfe, und wuschen abends heimlich bei verhängten Fenstern die
+Kinderwäsche selbst. Zu standesgemäßer Geselligkeit verpflichtet, gaben
+sie zwei langweilig-feierliche Soupers jährlich, fasteten vor- und
+nachher, um sie möglich zu machen, und bezahlten eine große Wohnung aus
+demselben Grunde. Wenn sie aber dann, schlank und vornehm im glatten
+Schneiderkleid an der Seite ihrer eleganten, säbelrasselnden Männer über
+die Straßen gingen, folgten ihnen neidische Blicke, denn das Volk hat
+die Naivität der Kinder, die sich den König nur in Purpur und Krone, den
+Bettler nur im durchlöcherten Kleide denken können.
+
+Der aus diesem Neide geborene Groll gegen den Offizier -- einem
+männlichen Seitenstück zu dem neidischen Haß, mit dem die meisten Frauen
+jede schön Gekleidete betrachten -- war wohl noch nie so stark zutage
+getreten als damals, wo selbst der Kleinstädter, den sonst die Wellen
+geistiger Bewegungen kaum erreichten, an den parlamentarischen Kämpfen
+um das Septennat lebhaften Anteil nahm.
+
+Bromberg ist eine Industriestadt mit einer zum Teil polnischen
+Arbeiterbevölkerung. Was Uniform trug, vermied die Nähe der Fabriken.
+Als ich einmal mit meinem Vater spazieren ritt, flog über eine Mauer weg
+ein Hagel von kleinen Steinen unseren Pferden zwischen die Beine. Sie
+stiegen erschrocken und sausten dann in Karriere über die Landstraße, so
+daß mir Hut und Schleier davonflog und es ein Stück Arbeit kostete, sich
+im Sattel zu halten. Papa, der seinen Fuchs besser im Zügel hielt, war
+indessen vergebens den heimtückischen Angreifern auf der Spur gewesen;
+er konnte sich nicht fassen vor Wut, und ich hörte tagelang nichts
+anderes als sein maßloses Schimpfen auf diese »Satansbrut von
+Sozialdemokraten.« Niemand als sie waren die Attentäter gewesen, sie,
+die sich im Reichstag durch ihre Haltung gegenüber der Militärvorlage
+als Vaterlandsverräter dokumentiert hatten, -- sie, die nichts anders
+verdienten, als samt und sonders nach den Kolonien deportiert zu werden.
+
+Die Kriegswolken ballten sich gewitterdrohend zusammen. Daß sie nur in
+der Phantasie Bismarks lebten, als willkommenes Mittel, seine
+Forderungen durchzusetzen, -- das glaubten wir hier, dicht an der
+russischen Grenze, nicht. Eine Tag um Tag steigende Erregung bemächtigte
+sich unser: die jungen Offiziere strahlten in der Erwartung, daß ihr
+Leben endlich zum Ereignis werden könnte; mein Vater, der die Schrecken
+des Krieges kannte, war bei allem Ernst, mit dem er die Situation
+betrachtete, doch in gehobener Stimmung. »Soldat sein und nur Krieg
+spielen und Rekruten drillen, ist dasselbe wie Künstler sein und nichts
+als Malstunden geben,« pflegte er zu sagen. In unserer nächsten Nähe an
+der Grenze standen die Kosaken, und Woche um Woche wurden die russischen
+Garnisonen verstärkt. Mein Vater reiste nach Berlin. Wenige Tage nach
+seiner Rückkehr wurden die Weisungen von dort unheildrohender. In aller
+Stille wurden die Offiziere benachrichtigt, beizeiten für rasche
+Entfernung ihrer Familien zu sorgen; kam es zur Kriegserklärung, so
+konnten die russischen Reiter in wenigen Stunden mitten in Bromberg
+sein. Mein Vater, der im Kriegsfall zum Kommandanten der wichtigsten,
+weil der feindlichen Grenze am nächsten liegenden Festung Thorn bestimmt
+war, bereitete seine Equipierung bis in alle Einzelheiten vor, wir
+verpackten Silber und Schmuck, stellten die Koffer bereit; denn
+möglicherweise galt es, binnen wenigen Stunden die Stadt zu verlassen.
+
+Da der Kriegslärm auch an der Westgrenze des Reichs immer lauter wurde,
+konnte darüber kein Zweifel sein: kam es zur Explosion dieses massenhaft
+angesammelten Zündstoffs, so war es ein Weltkrieg, an dessen Schwelle
+wir standen.
+
+Bismarcks fulminante Rede, sein Appell an die Deutschen, die Gott
+fürchteten und sonst nichts in der Welt, -- die Ablehnung des Septennats
+und die Auflösung des Reichstags steigerten die fieberhafte Erregung, in
+der wir alle lebten. Zum erstenmal verfolgte ich mit brennendem
+Interesse die Wahlkämpfe und begrüßte freudig den Sieg der
+Vaterlandsfreunde über die Sozialdemokraten, die uns wehrlos den Feinden
+hatten überliefern wollen.
+
+Als aber dann der Kriegslärm so merkwürdig plötzlich verstummte und all
+das glühende Feuer patriotischer Begeisterung nur da zu sein schien, um
+die Gerichte gar zu kochen, die Bismarck dem Reichstag vorsetzte, war
+ich rasch ernüchtert.
+
+»Droben auf der kurischen Nehrung gibt es unheimliche Berge von Sand.
+Sie wandern. Und immer wieder pflanzen die Menschen junge Bäumchen in
+den Boden, und so oft auch der gelbe Mörder über Nacht wieder kommt und
+das grünende Leben verschlingt, -- sie hoffen stets aufs neue, daß die
+Wurzeln ihrer Pflänzlein die Erde umklammern und festigen werden. --
+Unser Zeitalter ist wie die Dünen auf der Nehrung: es duldet nichts
+Grünes. Vernünftige Leute werden darum meine Dummheit verlachen, die
+mich zwingt, Hoffnungsbäume hineinzusetzen und sie noch dazu mit der
+Treibhausluft meiner Begeisterung zu umgeben ... Man will nivellieren,
+und es ist, als ob man nach dem Maßstab des kleinsten Baumes einen
+ganzen Wald zurechtstutzen wollte. Die alten Ideale hat man zerstört --
+schon das Wort 'ideal' entlockt den meisten ein mitleidiges Lächeln --
+und hüllt sich nur hinein, wie Schauspieler in die Toga der Gracchen, um
+dem Pöbel weiß zu machen, man wäre ein echter Volkstribun.
+
+Man jagt nach Bildung im Theater, in Ausstellungen, auf Reisen, in der
+Lektüre, nicht um Kopf, Herz und Seele zu weiten, sondern um seinen
+kritischen Witz vor den Leuten leuchten zu lassen. Man nahm uns
+Genußfähigkeit und gab uns Spottsucht dafür, wie man den Kindern aus
+'Anstandsgefühl' Götterbilder verhüllt und ihnen die Trikotnacktheit des
+Ballets statt dessen zeigt. Und dabei verhungern wir im stillen nach
+dem, was die notwendigste Speise unseres inneren Menschen ist: nach
+geistigem Genuß, nach dem Glauben an ideale Güter. Noch schämen wir uns
+dieses Gefühls, noch haben wir nicht den Mut zu uns selbst, aber wenn
+ich auch in einem Käfig lebe, so spüre ich doch die Luft, die draußen
+weht, und mir ahnt in jenen lichtesten Momenten des Lebens, die die
+vernünftigen Leute phantastische Nachtstunden nennen, daß junge kräftige
+Bäume den Flugsand doch noch fesseln und ihre toten Brüder an ihm
+rächen werden.«
+
+Dieser Brief trug mir eine lange Moralpredigt von der Empfängerin,
+meiner Kusine, ein; sie gehörte auch zu den 'vernünftigen' Leuten, und
+schon längst hatte unsere Korrespondenz den Charakter des
+Gedankenaustausches vollkommen eingebüßt. Daß ich jemanden hatte, dem
+gegenüber ich mich rückhaltlos aussprechen konnte, war aber für mich
+Grund genug, sie aufrecht zu erhalten. Auf meiner Reise nach
+Süddeutschland, die ich, der Einladung von Tante Klotilde folgend, schon
+im Mai des Jahres 1887 antrat, hielt ich mich in Magdeburg eine Woche
+bei Mathilde auf. Ich wäre am liebsten schon nach dem ersten Tage
+abgereist: eine Häuslichkeit, wo die Armut in jedem Winkel zu hocken
+schien und einen stillen siegreichen Kampf mit der Vornehmheit kämpfte,
+die verschüchtert durch die Räume schlich; ein von des Lebens Not
+gezeichneter, in der muffigen Luft der Bureaus ständig mit seiner
+Sehnsucht nach der freien Natur ringender Vater, der mit verbissenem Haß
+alles verfolgte, was reich, was glücklich war; die Mutter, die trotz
+ihrer drei Kinder alle bösen Zeichen vergrämter Altjungfernschaft an
+sich trug; die Söhne, geistig verkümmert, durch die Schultyrannei um
+jeden Rest von Jugendfrohsinn gebracht; die Tochter, meine Freundin,
+blaß, müde, mit Mädchenfreundschaften, Gesangvereinen, und
+Sonntagsschularbeit mühselig ihren Lebenshunger stillend, -- daß es
+dergleichen gab, daß sich solch ein Dasein ertragen ließ!
+
+In München traf ich meinen Vater. Wir reisten zusammen nach Augsburg,
+einem schweren Augenblick entgegen. Sein Bruder Arthur, mit dem er sich
+seit vielen Jahren, wegen seiner Heirat mit einer Tänzerin, überworfen
+hatte, war seit kurzem, nach dem Tode seiner Frau, zu seiner Schwester
+gezogen, und diese wünschte eine Versöhnung der Brüder. Mit jener
+Bereitwilligkeit, die mein sonst so starrköpfiger Vater seiner Schwester
+gegenüber stets an den Tag legte, hatte er sich ihrem Willen gefügt. Wie
+schwer es ihm wurde, merkte ich an seiner Aufregung. Es kam auch nur zu
+einer konventionellen Verkleisterung des Bruchs, einem höflichen
+Händedruck, einem taktvollen Nebeneinanderhergehen. Ich wäre über diesen
+von mir nicht erwarteten friedlichen Ausgang der Dinge sehr erfreut
+gewesen, wenn der Zorn über die Art, wie meine Tante meinen Vater
+behandelte, und wie er sich von ihr behandeln ließ, mich nicht immer
+wieder übermannt hätte. Wie an einem Schulbuben nörgelte sie den ganzen
+Tag an ihm herum, und schmeichelte in einem Atem dem anderen Bruder. Das
+Zivil meines Vaters mißfiel ihr -- man sah ihm immer an, wie unbehaglich
+ihm darin zumute war --, wie bewundernswert war dagegen Arthurs Eleganz!
+Sie spottete über seine zunehmende Körperfülle, -- welch jugendliche
+Schlankheit hatte Arthur behalten! Sie verfügte rücksichtslos über seine
+Zeit, ordnete sich selbst dagegen immer den Wünschen Arthurs unter. Sie
+hatte ihr Haus seinetwegen auf den Kopf gestellt, ihre Möbel ausgeräumt,
+um den seinen Platz zu machen, und mit einem liebenswürdigen Egoismus,
+der ihren brutalen übertrumpfte, spielte er den Herrn im Hause. Hatte
+sich mein Vater den ganzen Tag ihren Launen gefügt, so hörte ich durch
+die Tür, wie er sich nachts stöhnend im Bett hin und her warf. Eines
+Morgens saß ich im Gartenpavillon, als er, anscheinend in heftigem
+Wortwechsel, mit der Tante draußen vorüber ging. »Ich bin nicht dazu da,
+euren Aufwand zu bestreiten,« sagte sie, »es sollte dir wahrhaftig
+ausreichend sein, daß ich dich in deiner Tochter so bevorzuge.« -- »Wenn
+ich mich nur darauf verlassen könnte,« stieß er hervor. »Ich breche mein
+Versprechen nicht -- Gott soll mich vor der Sünde bewahren,« antwortete
+sie laut und fest. Sie gingen weiter. Nach geraumer Weile kehrten sie
+denselben Weg zurück. Die Tante hatte den Arm in den ihres Bruders
+gelegt. Sie sprachen friedlich, fast zärtlich miteinander. »So werd' ich
+einmal ruhig sterben können,« sagte mein Vater mit weicher Stimme, »bis
+übers Grab hinaus will ich dir dankbar sein, Klotilde!«
+
+Milder und gefügiger als je war er in den folgenden letzten Tagen seines
+Augsburger Aufenthalts, er schien kaum zu merken, mit welch satanischer
+Freude sie die Situation ausnützte. Ich aber suchte ihm mit allen
+Mitteln der Liebe und Zärtlichkeit das Leben zu erleichtern, so daß er
+mich oft verwundert ansah und lächelnd sagte: »Ja, was ist denn das mit
+dir? So was hat dein alter Vater an seinem Töchterlein ja noch gar nicht
+erlebt?!« Meinem Onkel ging ich aus dem Wege, die Tante haßte ich fast.
+
+Nach meines Vaters Heimkehr reiste ich mit ihnen nach Tegernsee, wo die
+Tante auf Wunsch Onkel Arthurs, dem die Einsamkeit von Grainau
+unsympathisch war, eine Villa gemietet hatte. An meinem Geburtstag, der
+in die erste Woche unseres Aufenthalts fiel, nahm mich der Onkel
+beiseite und drückte mir heimlich ein Kuvert in die Hand. »Ich weiß,
+Hans braucht Geld,« sagte er beinahe schüchtern, »von mir nimmt ers
+nicht. Schick ihm das -- zur Verwahrung -- als mein Geburtstagsgeschenk
+an dich.« Er wartete meinen Dank nicht ab; ich schickte noch in
+derselben Stunde die braunen Scheine nach Bromberg; das Eis zwischen mir
+und Onkel Arthur war gebrochen.
+
+Wir wurden gute Kameraden. Die strenge Tante verwandelte sich unter
+seinem Einfluß zu einer mehr als nachsichtigen. Er erreichte alles, was
+mir Vergnügen machte, vorausgesetzt, daß es auch seinen Wünschen
+entsprach! Endlich durfte ich hoch in die Berge hinauf, -- zu dem
+jahrelangen Ziel meiner Sehnsucht! Er war ein ebenso leidenschaftlicher
+wie tollkühner Bergsteiger, der Führer und gebahnte Wege verschmähte.
+Auf dem Leonhardsstein, hinter Dorf Kreuth, der spitz und gerade wie ein
+Kirchtum gen Himmel steigt, mußte ich erst Probe klettern, ehe er mich
+überall hin mitnahm -- auf die Berge der Gegend zuerst und dann weiter,
+immer weiter. Eine Sportausrüstung eigener Erfindung ließ er mir machen:
+kurze Hosen und Gamaschen -- etwas Unerhörtes zu damaliger Zeit. Aber
+auch das ließ die Tante geschehen, sie sträubte sich nur im Namen des
+Anstands ein bißchen, als er den »Panzer« verbot. »Ich faß dich jedesmal
+um die Taille und laß dich unweigerlich sitzen, wenn du das
+Marterinstrument trägst,« sagte er, und ich fühlte mit Wonne die
+Freiheit starker Atemzüge.
+
+Auf den Wallberg kletterten wir zuerst. Es gab damals nur einen
+Hirtensteg hinauf und droben nur eine kleine Hütte mit einfachem
+Heulager. Wir zündeten zum Zeichen unserer Ankunft auf der Spitze ein
+mächtiges Feuer an und sahen schweigsam zu, bis es verglühte und das Tal
+schwarz und dunkel unter uns lag. Um so leuchtender strahlten jetzt die
+Sterne, und weiß und gespenstisch glänzten von fern im Mondlicht die
+Schneegipfel zu uns herüber. Mit einem tiefen, erlösenden Aufatmen
+breitete mein Begleiter die Arme aus. »Ich lebe!« flüsterte er. Wie weh
+mir der Jubel tat, der in seiner Stimme lag! -- Ich vergaß seine Nähe,
+lehnte den Kopf an den Felsen und weinte -- seit langer, langer Zeit zum
+erstenmal! Unten in der Hütte, in dem starken Heuduft fand ich keine
+Ruhe und saß die ganze Nacht auf der Altane, während die Geister der
+Vergangenheit aus der Tiefe zu mir aufstiegen, wie Nebel aus
+Fiebersümpfen. Die Felsengesichter schnitten mir höhnische Fratzen, und
+still und hoheitsvoll sahen weiße Riesenhäupter auf mich herab.
+
+Mein Onkel war ein guter Reisekamerad, dessen Lebensfreudigkeit seine
+grauen Haare vergessen ließ, dabei voll rührender Sorgfalt für mich.
+Einmal saßen wir im Sonnenschein vor der Sennhütte zur schwarzen Tenne.
+Über dem offnen Feuer an einem primitiven Spieß briet er uns ein
+Hühnchen; »Frauenzimmer sind zu dumm dazu,« sagte er, und ich überließ
+ihm nur zu gern die Arbeit, um, an die braunen Balken der Hütte gelehnt,
+durch dunkelgrüne Tannenwipfel in die Sonne zu blinzeln. Nach dem Mahl,
+das die nie vergessene Flasche Moselwein würzte, streckte er sich mir zu
+Füßen ins Gras und pfiff eine Tanzweise träumerisch vor sich hin.
+»Komisch,« sagte ich halb zu mir selber, »du bist im Grunde ein Primaner
+oder bestenfalls ein Sekondeleutnant.« Er lachte. »Das bin ich auch;
+die Jahre, die zwischen damals und heute liegen, lebte ich nicht.«
+
+»Aber ...« ich stockte.
+
+»Sprichs ruhig aus: du hast mit dem Weib deiner Wahl gelebt! Niemand
+weiß bis heute, daß diese zwei Jahrzehnte die Hölle waren. Mein Stolz
+hieß mich schweigen. Ich wollte nicht, daß Mutter und Geschwister Recht
+behielten. Endlich kam die Erlösung: sie starb -- seit vielen Monden
+eine arme Irre, die nichts dafür konnte, daß sie mich quälte,« -- ganz
+alt sah der Onkel plötzlich aus, -- dann sprang er auf, schüttelte sich
+wie ein nasser Jagdhund und fügte lächelnd hinzu: »die Liebe ist Humbug,
+weißt du, echt ist allein die Natur, die Kunst, die Wissenschaft. Ich
+freue mich auf das Leben wie ein Student!«
+
+Unsere Ruhetage in Tegernsee waren beinahe anstrengender als unsere
+Wanderungen. Von früh bis spät wimmelte es von Gästen; wenn der Onkel
+irgendwo jemanden traf, der ihm interessant zu sein schien, so lud er
+ihn ein, ohne nach Nam' und Art viel zu fragen. Es war eine bunte
+Gesellschaft, die sich auf die Weise bei uns zusammenfand, denn
+Tegernsee selbst schien eine Art neutraler Boden zu sein, wo die
+heterogensten Elemente ihre Neugier nacheinander befriedigen konnten. Da
+gab es Prinzen echter einheimischer und zweifelhafter exotischer Art;
+Finanzgrößen dunkelster Herkunft; alte Diplomaten, die bei irgend einem
+Hofskandal Schiffbruch gelitten hatten; französische Marquisen, deren
+Emailleur alle vier Wochen aus Paris kam, um ihrem Antlitz die
+bezaubernde Frische zu verleihen, mit der sie so siegessicher auf
+Eroberungen ausgingen; deutsche Gräfinnen, deren graziöse Pirouetten
+noch vor kurzem die Balletthabitués der Großstädte entzückt hatten; und
+um die Galerie moderner Typen der 'guten' Gesellschaft voll zu machen,
+fehlte es nicht an österreichischen Erzherzogen, sogar nicht an einem
+König, -- wenn es auch nur einer a. D. war, der von Neapel, -- einem
+alten Roué, und seiner wunderschönen extravaganten Königin. Dazwischen
+bewegte sich das Künstlervolk -- ein wenig geniert die einen, ängstlich
+bestrebt, es den Vornehmen möglichst gleich zu tun, die anderen,
+Menschen von genialer Ungebundenheit unter ihnen, und ein paar
+Auserwählte mit jener seltenen angeborenen Größe, die sich überall mit
+gleicher Selbstverständlichkeit zu bewegen vermag. Von mancher schönen
+österreichischen Komteß flüsterte man sich zu, daß sie an der Entstehung
+Makartscher Frauengestalten nicht unbeteiligt gewesen war, und noch heut
+ließ sie es gern geschehen, wenn die Maler sich an ihr begeisterten; ein
+Hauch von Romantik, der die Dichter unweigerlich anzog, umschwebte den
+rotblonden Kopf einer graziösen Baronin, von deren Beziehungen zum
+Kronprinzen von Österreich Frau Fama vernehmlich flüsterte. All das
+flirtete und rauschte in knisternder Seide und weichem Spitzengeriesel
+am hellen Strand des blauen Tegernsees, wo vor Jahrhunderten in
+klösterlicher Einsamkeit der fromme Mönch Werinher der allerseligsten
+Jungfrau süße Weisen gesungen hatte, oder stieg in kokettem Jagdkostüm
+auf bequemen Wegen zu den Sennhütten hinauf, deren Gäste noch vor kurzem
+nur Dirndeln, Jäger und Wilddiebe gewesen waren. Am späten Nachmittag
+rollten die Equipagen ins kreuther Tal, wo hoch oben, von Bergen eng
+umschlossen, auf grünem Plateau die Kurmusik des Bades so komisch
+quiekte und wimmerte. Man stieg dort aus, ließ seine Toiletten
+bewundern, trank seinen Kaffee mit österreichischer Betonung und von
+österreichischer Güte und ging an dem Springbrunnen vorbei hinunter zu
+den sieben Hütten, wo die Burschen in Kniehosen und Wadenstrümpfen, die
+Madeln im Silbergeschnür und weitbauschendem kurzem Gewand sich im Tanze
+drehten. Wenn die Dämmerung kam und lustige bunte Lampions sich wie
+leuchtende Girlanden von Hütte zu Hütte zogen, dann änderte sich das
+Bild: weiße Schleppen wirbelten zwischen den bunten Röcken, und
+Lackschuhe glitten zwischen den Nagelstiefeln. Droben auf der
+Hohensteinalp die blonde Sennerin und in der Langenau die schwarze Liese
+wußten zu sagen, warum manch vornehmer Herr den Weg nicht nach Hause
+fand -- ach, und kleinwinzige Buberln gabs im Tal und Mäderln,
+vaterlose, mit feinen Fingern und schlanken Gliedern, gar wunderseltsam
+anzuschaun!
+
+Wo sich im kreuther Tal die Wege kreuzen, der eine zum Bad, der andere
+nach dem Achensee führt, lag in einem weiten schattigen Park ein Haus,
+nicht viel anders als das eines reichen Bauern, mit Galerien ringsum und
+buntbemalten Läden. Auf den grünen Rasenflächen davor, auf den
+Spielplätzen zu beiden Seiten herrschte alltäglich ein frohes Leben und
+Treiben. Der Gastfreundschaft schienen keine Grenzen gesteckt, zu jeder
+Tageszeit ward man freudig begrüßt und reichlich bewirtet. Mich lockte
+dies Haus schon lange; die ersten Künstler, das wußte ich, gingen dort
+aus und ein. Aber meine Tante rümpfte die Nase, wenn ich seiner
+Erwähnung tat, und mit tadelndem Kopfschütteln wurden diejenigen aus
+unsern Kreisen betrachtet, die den Bann gebrochen hatten und sichs wohl
+sein ließen in Schwarzeck. Ein Baron Goldberger, ein Wiener Bankier, war
+der Besitzer, und sein Aussehen verriet seine Rasse noch mehr als sein
+Name, so daß sich ihm gegenüber jener ästhetische Antisemitismus geltend
+machte, den auch Vorurteilslose oft nicht abstreifen können. Der Magnet
+des Hauses waren seine vier Töchter, von denen eine immer hübscher war
+als die andre. Nachdem uns zu Ohren kam, daß selbst der Herzog Karl
+Theodor bei ihnen verkehrte, überwand Onkel Arthur den Widerstand der
+Tante, und eines Nachmittags fuhren wir hin, um unsere Antrittsvisitte
+zu machen. Schon diese ersten Stunden inmitten eines Kreises von
+münchner Künstlern und Schriftstellern öffneten mir Ausblicke in eine
+neue Welt: Fragen des Lebens und der Kunst wurden mit so rückhaltloser
+Offenheit besprochen, daß ich es zunächst fast peinlich empfand und,
+ungewohnt, mich unter Fremden auszusprechen, außerstande war, mich daran
+zu beteiligen. Um so aufmerksamer hörte ich zu: war dies ein Abglanz der
+Welt, die ich suchte, ein Teil jener Menschheit, die, von neuen Idealen
+erfüllt, auszog, um sie zu erobern?!
+
+Ich wurde einer der häufigsten Gäste in Schwarzeck. Ich trotzte selbst
+dem Befehl der Tante, die mich glaubte zurückhalten zu können, wenn sie
+für mich nicht anspannen ließ, und fuhr mit der Post, oder ging zu Fuß.
+
+Eines Nachmittags fand ich die Tee-Gesellschaft in heftigster Debatte
+begriffen. Irgend ein Artikel aus M. G. Conrads »Gesellschaft« schien der
+Anlaß gewesen zu sein. Ich erinnerte mich dunkel, von dieser
+»sittenlosen,« »die Sicherheit von Staat und Kirche untergrabenden«
+Zeitschrift in unserer konservativen, norddeutschen Presse -- der
+einzigen, die ich zu Gesicht bekam -- zuweilen gelesen zu haben.
+
+»Und ich sage Ihnen, daß er recht hat -- tausendmal recht,« rief ein
+junger blonder Dichter, das gelbe Heft wie eine Fahne schwingend,
+»Wahrheit, hüllenlose Wahrheit ist die Muse der kommenden Dichtung. Nur
+indem wir sie ohne Rücksicht auf hyperästhetische Altjungfernnerven,
+auch in ihrer Häßlichkeit, auch mit ihren Schwären und Wunden vor die
+Menschheit hinstellen, schaffen wir Kunstwerke, Kulturwerte.«
+
+»Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst,« warf ein Maler Pilotyscher
+Richtung ein, »sie soll uns erheben, uns auf Momente wenigstens über das
+Elend des Daseins hinweghelfen --«
+
+»Hinwegtäuschen, sagen Sie lieber,« mischte sich die junge Frau eines
+münchener Redakteurs ins Gespräch, die, wie man munkelte, unter anderem
+Namen Geschichten schrieb, die junge Mädchen nicht lesen durften, »sie
+soll den großen Kindern Märchen erzählen, statt sie zu lehren, mit der
+brutalen Wahrheit des Lebens fertig zu werden.«
+
+»Wenn das ihre Aufgabe sein soll,« entgegnete der Maler, »dann werden
+wir glücklich dahin gelangen, Operationssäle und Wochenstuben auf der
+Bühne zu sehen. Mit dem Irrenhaus hat ja Ibsen schon den Anfang
+gemacht.«
+
+Der Name wirkte vollends wie Sprengstoff. Seit dem letzten Winter, wo
+der Herzog von Meiningen den unerhörten Schritt gewagt hatte, die
+»Gespenster« auf seine Bühne zu bringen, wo Berlin dem Beispiel gefolgt
+war und ein Kreis junger Heißsporne den Dichter auf den Schild erhob,
+las und hörte ich oft von ihm, als von einem halb Verrückten, einem, der
+mit Wollust im Schmutze wühle. Ihn kennen zu lernen, hatte ich gar kein
+Verlangen getragen, denn auf der Suche nach neuen Idealen konnte er
+unmöglich ein Wegweiser sein.
+
+»Ibsen ist größer als Zola,« übertönte eine rauhe Männerstimme wie ein
+ferner Lawinensturz die Durcheinanderredenden, »Zola ist der
+Zustandsschilderer par excellence, Ibsen aber legt die kritische Sonde
+an die tiefsten Übel der Gesellschaft. Wenn Sie sich hier so aufregen,
+meine Herrschaften, so zeigt das nur, daß es irgendwo einen Punkt gibt,
+wo auch Sie unter seiner Berührung schmerzhaft zusammenzucken. Daß wir
+vor lauter Moral, vor lauter Pflichten, kurz vor all den großen und
+kleinen Stricken und Ketten, die uns formen und einschnüren, unser Ich
+verloren haben und als Phantome toter Traditionen herumlaufen, statt als
+lebendige Menschen, -- das ist es, was jeden trifft, und was Ibsen
+zeigt. Neugierig bin ich nur, ob diese Erkenntnis uns schließlich zu
+Kettenbrechern machen wird, oder ob irgend welche vorsorglichen
+Menschheitswärter nicht schon mit neuen Zwangsjacken bereit stehen --«
+
+Das allgemeine Gespräch verlief sich allmählich in die Rinnsale der
+Einzelunterhaltung und versickerte schließlich im Sande der
+Alltagsfragen. Während die anderen sich im Park zerstreuten, sprach ich
+den mit der rauhen Stimme an, einen echten vierschrötigen Bajuvaren.
+»Können Sie mir die Werke Ibsens nennen, die bisher in deutscher Sprache
+erschienen sind?« Er musterte mich augenblinzelnd.
+
+»Hm« -- machte er -- »obs der gnädigen Frau Tante auch recht sein
+wird?!«
+
+»Darauf dürfte es kaum ankommen, da ich sie lesen will,« entgegnete ich
+scharf, geärgert über die spöttische Art seiner Antwort. Er lachte
+dröhnend.
+
+»Wir haben ja, scheints, auch so'n Tropfen Rebellenblut in den Adern!«
+Mit großen, ungefügen Buchstaben schrieb er mir die Titel der Bücher auf
+eine Ecke Zeitungspapier, zerdrückte mir mit seiner Riesenfaust fast die
+Hand, die ich ihm dankbar gereicht hatte, und stapfte zum Parktor
+hinaus.
+
+»Wer war das?« frug ich eine der Töchter.
+
+»Ach -- der! Den hat der Doktor neulich mal mitgebracht. Wie er heißt,
+habe ich nicht verstanden. Ein ungehobelter Gesell, nicht wahr?«
+
+Ich nickte zerstreut. Noch auf dem Rückweg gab ich eine Karte an eine
+münchener Buchhandlung auf und sah von nun an jedem Postboten
+erwartungsvoll entgegen, heftige Kopfschmerzen als Vorwand meines
+ungewohnten häuslichen Lebens vorschützend.
+
+Und endlich kamen die Bücher! Ich las sie nicht, -- ich trank sie, wie
+ein Durstender in der Wüste das frische Wasser. Nicht das Kunstwerk
+genoß ich in ihnen, und nichts sah ich von den handelnden Menschen; mir
+war vielmehr, als hätte ich lange im Dunkeln erwartungsvoll vor einem
+dichten Vorhang gestanden, den plötzlich ein Sturmwind auseinanderriß,
+um mir den blendenden, kristallhellen Spiegel dahinter zu enthüllen, der
+scharf und klar mein eigenes Bild zurückwarf, und das der Vielen um mich
+her.
+
+Worte las ich, die mich trafen wie Offenbarungen: von den wenigen
+Menschen, die auf Vorposten stehen und für die Wahrheiten kämpfen, die
+noch zu neugeboren sind, als daß sie die Mehrheit für sich haben
+könnten. Und Tradition und Konvention sah ich ihrer bunten Gewänder
+entkleidet als nackte Lügen vor mir, und mit einem einzigen Blick
+erkannte ich des Weibes Puppendasein. Lebte ich nicht auch davon, daß
+ich den anderen Kunststücke vormachte?! »Ich habe Pflichten, die ebenso
+heilig sind -- Pflichten gegen mich selbst --;« »ich muß nachdenken, ob
+das, was mir gelehrt wurde, richtig ist, oder vielmehr, ob es für mich
+richtig ist --« sagte Nora, und verließ das Puppenheim, um sich selbst
+zu finden. »Irgend wie und wann werde ich handeln müssen, wie Nora,«
+heißt es in meinem Tagebuch von Sommer 1887, »viele Fesseln, -- feine,
+die ich kaum fühlte, und grobe, die sich mir ins Fleisch schnitten, --
+umschnüren mich von klein an. Aber ich erkenne jetzt, daß ich jedes Jahr
+einige davon abstreifte. Sollte ich nicht auch mit den letzten fertig
+werden?« Und an meine Kusine, die mir über meine Ibsenbegeisterung
+erschrockene Vorhaltungen machte, schrieb ich: »Wer, wie Ibsen, den Mut
+hat, das Schwache, das Schlechte, das geistig Tote niederzureißen, der
+ist kein Pessimist, wie die Leute ihn schelten, die zu feige und zu
+bequem sind, um die Augen zu öffnen. Nur der lebensstarke Glaube an eine
+Zukunft, für deren helle Tempel Platz geschaffen werden muß, gibt die
+Riesenkraft zu solchem Werk der Zerstörung ... Du warnst mich vor
+'unüberlegten Handlungen'; daraus sehe ich, wie wenig du mich verstehst.
+Denn gerade damit hat es ein Ende. Das Spiel ist aus. Auch ich muß die
+Aufgabe lösen, mich selbst zu erziehen, ehe ich irgendwo Hand anlegen
+kann, wo es für mich etwas zu tun gibt.«
+
+Der Schnee lag schon bis zum Tal hinunter, als ich mich zur Heimkehr
+rüstete. Beim Abschied hielt der Onkel meine Hand lange in der seinen.
+»Schade, daß du den Bergen untreu wurdest,« sagte er.
+
+Langsam kroch der Zug von Gmund aus den Abhang in die Höhe. Tief unten
+lächelte der See mit seinem großen Vergißmeinnichtauge; freundliche rote
+Dächer und spitze Kirchtürme grüßten von seinen Ufern, und hinter ihm
+bauten sich Ketten um Ketten weißglänzender Firnen auf. Nein, ich war
+den Bergen nicht untreu geworden, und Höhenluft wars, die ich mit mir
+nahm.
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel
+
+
+Ein Aufenthalt in Berlin galt mir immer als ein Gipfel des Vergnügens,
+besonders wenn Onkel Walter der Führer war. Niemand wußte wie er, in
+welchen Theatern man am meisten lacht, in welchem Zirkus am
+schneidigsten geritten wird, und wo man am besten ißt und trinkt. Die
+acht Tage, die ich diesmal auf der Durchreise nach Bromberg bei ihm
+verbrachte, waren aber mehr eine Qual als ein Genuß für mich, obwohl wir
+vor lauter »Amüsement« gar nicht zu Atem kamen und meine lustige Tante
+sich über meine »blasierte Miene«, mit der ich wohl »die neueste Mode
+mitmachte«, nicht genug moquieren konnte. Wir waren bei Kroll im
+»Mikado«, in der Friedrich-Wilhelmstadt und bei Renz, wir saßen auf der
+Estrade im Wintergarten, soupierten bei Hiller und im Kaiserhof, immer
+in derselben Gesellschaft von Gardeleutnants und konservativen
+Parlamentariern, aber von dem modernen künstlerischen und literarischen
+Leben, dem mein ganzes Interesse galt, war nur insofern etwas zu spüren,
+als die einen es verhöhnten, die anderen nach dem Staatsanwalt schrieen
+und der Rest heimlich und voll zynischer Lüsternheit mit ihm
+liebäugelte, wie ein alter Roué mit der Straßendirne. Familien-, Hof-
+und politischer Klatsch stand im übrigen im Mittelpunkt der
+Unterhaltung, und dem Ärger und der Verstimmung gab man, wie gewöhnlich,
+wenn man unter sich war, den kräftigsten Ausdruck. Des armen kranken
+Kronprinzen wurde kaum mit einem Wort des Mitleids gedacht, die Empörung
+über den Einfluß der Kronprinzessin, über die von ihr eingefädelte
+Battenberg-Affäre, deren Schlußeffekt der Sturz Bismarcks hätte sein
+sollen, über die ganze allmählich zu Macht und Ansehen gelangende
+Kronprinzenpartei, die aus Juden und Judengenossen zusammen gesetzt sei,
+war viel zu groß.
+
+Die von Bismarck kopulierte unnatürliche Ehe zwischen dem
+Nationalliberalismus und den Konservativen wurde hier, wo man sich
+keinerlei Zwang aufzuerlegen brauchte, drastisch genug beleuchtet.
+
+»Hab ichs nicht immer gesagt,« rief bei einer solchen Unterhaltung eines
+der ältesten Mitglieder des Herrenhauses, der Typus eines echten
+Feudalherrn vom guten Schlag, »daß wir uns nicht stärker blamieren
+konnten, als durch diese Liierung mit den Industrierittern. Nichts, gar
+nichts Gemeinsames haben wir mit den Kerlen. Und 'ne Ehe gibts, wie die
+der Bienenkönigin, die ihre werten Gatten töten läßt, wenn sie ihre
+Schuldigkeit getan haben. Ist irgend einer unter uns so dämlich, uns für
+-- die Königin zu halten?!«
+
+»Na, hören Sie mal, lieber Graf, Sie werden doch nicht behaupten wollen
+--« unterbrach ihn mein Onkel.
+
+»Gewiß behaupte ich --,« polterte der alte Herr »laßt mal erst das
+Gesindel hoffähig werden -- ein 'von' und ein 'Baron' ist heut schon
+eine Spielerei für den, ders Geld hat --, dann wirds bei uns wie in
+England und in Frankreich: unsere Jungens reißen sich um ihre Mädels,
+und von dem ganzen guten preußischen Adel bleibt nichts übrig als der
+Name.«
+
+»Nur daß die Voraussetzung für Ihre Folgerungen fehlen wird: der
+Kronprinz wird kaum zur Regierung kommen, und mit seinem Tod haben die
+Ambitionen der Herren Liberalen ihr Ende erreicht.«
+
+Der Graf lachte und klopfte Onkel Walter freundschaftlich auf die
+Schulter: »Sie sind ein guter Kerl, Golzow, aber das Pulvererfinden ist
+ihre Sache nicht! Oder glauben Sie vielleicht, unter dem jungen Herrn
+würde die Geschichte erheblich anders werden?! Der ist heute konservativ
+-- aus Opposition, natürlich! Er bleibts vielleicht auch -- dem Namen
+nach. Aber ist er erst mal am Ruder, wird er auch mit gegebenen Größen
+rechnen müssen. Ich werds ja, Gott Lob, nicht erleben, aber Sie, meine
+Herren, werden in zwanzig Jahren mal dem alten Lehnsburg recht geben,
+wenn er ihnen heute sagt: bis dahin sind wir amerikanisiert, und nicht
+die Ehre, nicht der reinliche Stammbaum bestimmen mehr den Wert des
+Mannes, sondern das gute Geschäft.«
+
+»Es würde uns heute schon nichts schaden, wenn wir geschäftskundiger
+wären,« mischte sich Baron Minckwitz ins Gespräch, der wegen seiner
+Teilnahme an allerlei industriellen Unternehmungen schon etwas anrüchig
+war, »man muß mit den Wölfen heulen, will man nicht zugrunde gehen.«
+
+Graf Lehnsburg hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser
+klirrten. »Ich gehe lieber zugrunde!« brüllte er. Ein peinliches
+Schweigen entstand. Mir gefiel die unverfälschte Echtheit des Alten. Er
+schien mirs an den Augen abzusehn, und reichte mir über den Tisch hinweg
+die Hand.
+
+»Verzeihung, mein gnädigstes Fräulein,« sagte er lächelnd, »ich bin
+wirklich ein alter Mummelgreis, daß ich in Anwesenheit junger Damen so
+ein Zeug schwätze! Übrigens -- ich wills gleich wieder gut machen --
+richten Sie Ihrem Herrn Vater mein Kompliment aus. Ich traf ihn vor vier
+Wochen in Stettin bei Ihrer Majestät, er lief mir aber davon, ehe ich
+ihm selber sagen konnte, wie glänzend seine Führung im Manöver war. In
+der Umgebung Seiner Majestät herrschte nur eine Stimme darüber.«
+
+Ich hatte bis dahin vom pommerschen Kaisermanöver, bei dem mein Vater
+das Ostkorps, den »markierten Feind«, zu kommandieren gehabt hatte, nur
+wenig gehört. »Der Kaiser war außerordentlich gnädig,« hatte er mir
+geschrieben, »die Ernennung zum Divisionskommandeur kann jeden Tag
+erfolgen,« hatte Mama hinzugefügt. Ich freute mich nun doppelt, Näheres
+zu erfahren. »Sie wünschen am Ende eine Kriegsberichterstattung mit
+allen Schikanen?« frug Graf Lehnsburg und baute aus Brotkrümeln und
+Papierschnitzeln ein ganzes Schlachtfeld auf, ohne erst meine Antwort
+abzuwarten.
+
+»Sehen Sie hier der Teller, das ist Stettin; die Papierschnitzel davor,
+das ist das Dorf Brunn, und hier die Semmeln, das sind die Höhen, die
+der General von Kleve bereits im ersten Morgengrauen des 14. September
+besetzt hielt. Er gehört noch zu der alten Sorte, wissen Sie, die von
+Anno 70 her weiß, daß der, der am frühsten aufsteht, dem Siege am
+nächsten ist. Dort drüben von der Ostsee her -- der Rotweinklexs reicht
+gerade für den Tümpel -- kommt das feindliche Korps auf Stettin zu
+marschiert, das es, nach dem Ratschluß der obersten Götter, erobern
+soll. Der Kleve war ja eigentlich nur dazu da, um totgeschossen zu
+werden und den Ruhm des Gegners zu erhöhen. Natürlich war dieser Gegner
+-- wie das die Götter mit ihren Lieblingen so zu machen pflegen -- noch
+mal so stark als er und hatte überdies in seiner Mitte so was wie einen
+Schutzheiligen, der, wenn alle Stricke reißen, immer noch seine
+Gläubigen heraushaut.« Er legte dabei ein dickes Stück Schwarzbrot in
+die Mitte der feindlichen Papierschnitzel. Die Anwesenden horchten auf,
+lachten und rückten näher zusammen. »Nun war aber ein Hundewetter an dem
+Tag, es regnete Bauernjungens, darum entdeckte das Westkorps den
+General, der schon eine ganze Weile mit allem nötigen Klimbim auf seinen
+sieben Hügeln thronte, erst nach einigem unruhigen Hin- und Herfackeln.
+Nachdem es die Situation glücklich erfaßt hatte, ging es marsch, marsch
+im Sturm voran. Prinz Wilhelm -- der Schutzheilige, wissen Sie! --
+führte dabei das Pommersche Grenadierregiment, und ich glaube, jeder
+einzelne Kerl darin hatte schon nach dem Kopf gegriffen, der bekanntlich
+den Lorbeer zu tragen bestimmt ist, als er morgens in die Stiebeln
+kroch. Aber Ihr Herr Vater hält offenbar nichts von Heiligen, -- er ist
+ein ausgemachter Ketzer, für den schon irgendwo die Dienstbeflissenen
+den Scheiterhaufen zusammentragen, -- er empfing den Feind mit einem
+mörderischen Feuer, und was von ihm nicht am Platze blieb, das hätte
+er, weiß Gott, noch gefangen genommen, wenn nicht ein weiser
+Hoherpriester ihn beizeiten davon abgeraten hätte. Der hat freilich zum
+Dank dafür ein paar faustdicke Grobheiten einstecken müssen! Es gab dann
+noch eine formidable Reiterattacke -- ein théâtre paré für die Fremden!
+--, wobei ein paar tausend arme Gäule sich einbilden sollten, das
+Vaterland retten zu müssen; aber auch die Vierfüßler im Ostkorps zeigen
+sich als die stärkeren. Ein schauerliches Abschlachten wärs im Ernstfall
+gewesen. Sie sehen, Stettin konnte ruhig sein, -- und der alte Herr hat
+in der Kritik den General von Kleve über den grünen Klee gelobt.
+Trotzdem wars eine hanebüchene Dummheit, wie sie den Tapfersten immer
+zustößt, daß er -- hm! -- daß er den -- den Schutzheiligen nicht besser
+respektierte.«
+
+Mein Onkel, der schon die ganze Zeit ungeduldig mit den Fingern auf der
+Stuhllehne getrommelt hatte, schien für den Humor der Sache keinen Sinn
+zu haben. »Schon Wochen vorher habe ich meinen Schwager gewarnt,« sagte
+er, »wer den Prinzen kennt, weiß, daß er alles kann, nur nicht
+vergessen.«
+
+Angriffe auf meinen Vater konnte ich nie vertragen. Mir stieg auch jetzt
+das Blut zu Kopf, und meine Verteidigung fiel heftiger aus, als es nötig
+gewesen wäre.
+
+»Ich finde, eine Rücksicht, wie du sie verlangtest, wäre eine
+Pflichtverletzung gewesen. Wenn der Prinz, der noch nie eine Kugel hat
+pfeifen hören, mit lauter servilen Leuten zu tun bekäme, so würde es
+Deutschland mal büßen müssen.«
+
+»Bravo!« sagte Graf Lehnsburg. »Großspuriges Geschwätz!« brummte der
+Onkel.
+
+Am frühen Morgen des nächsten Tages kam ein Telegramm: »Division in
+Münster.« Mit beiden Füßen zugleich sprang ich aus dem Bett. Westfalen:
+Das nordische Rom -- die Wiedertäufer -- Annette Droste -- der
+Westfälische Friede -- die Hermannsschlacht, -- es war eine verwirrende
+Vielheit bunter Bilder, die bei diesem Namen vor mir aufstiegen. Ich
+fuhr noch am Nachmittag nach Bromberg. Merkwürdig ernst empfing mich
+mein Vater. Kaum daß ich eine Frage an ihn zu richten wagte. Und auch zu
+Hause blieb er still, während mein Schwesterchen voll Freude über den
+Wechsel im Zimmer umhersprang und Mama die nächsten Pläne erwog. Erst
+spät am Abend, als er seine gewohnte Patience gelegt hatte und sich
+befriedigt, weil sie mit Mamas Hilfe richtig aufgegangen war, in den
+Stuhl zurücklehnte, fing er an, sich über die Zukunft auszusprechen. Wir
+orientierten uns mit Hilfe der Rangliste über die Verhältnisse seiner
+Division; bis nach Aachen und Paderborn dehnte sie sich aus; lauter
+Städte voll historischer Bedeutung gehörten zu ihren Garnisonen. In
+Münster erwartete uns eine geräumige Dienstwohnung, eine glänzende
+Geselligkeit; der Kommandierende war meinem Vater als liebenswürdiger
+Vorgesetzter bekannt.
+
+»Und trotzdem --?« Ich stockte vor dem finsteren Blick, der mich traf.
+Gleich darauf lächelte er ein wenig gezwungen und strich sich halb
+nachdenklich, halb verlegen den Bart. »Ihr merkt eben nichts, gar
+nichts,« sagte er, »mit der Nase muß man euch darauf stoßen;« damit wies
+er mit dem Finger in die Rangliste: »Die 13. Division« stand dort, fett
+gedruckt. Die 13 aber war rot unterstrichen.
+
+Mein Vater verließ die Gesellschaft, wenn dreizehn bei Tische waren, er
+drehte um, wenn eine Katze ihm über den Weg lief, und machte drei
+Kreuze, wenn ihm beim Morgenritt als Erste ein altes Weib begegnete. Ich
+lächelte leise und drückte schmeichelnd meine Wange an die seine. »Den
+Spuk werden wir bannen, Papachen -- auf immer.«
+
+»Glaubst du?!« meinte er zweifelnd und starrte mit großen Augen an mir
+vorbei ins Leere.
+
+Wir blieben nur noch wenige Tage. Der alte Packer aus Berlin, der jedes
+Stück unserer Einrichtung kannte und seine Kisten stets so wiederfand,
+wie er sie beim letzten Umzug verlassen hatte, pflegte uns, wenn er kam,
+ebenso entschieden wie freundlich hinaus zu komplimentieren. »For ne
+Exzellenz is der Dreck nu jar nischt,« sagte er diesmal, als er mit
+seinem Zeitungspaket unter dem Arme eintrat. In Berlin hielten wir uns
+noch auf der Durchreise auf. Während Papa sich meldete, machten wir
+Besorgungen. Die Größe der künftigen Wohnung hatte eine erhebliche
+Vermehrung unserer Einrichtung notwendig erscheinen lassen, und die
+alten Möbel waren schon lange eines neuen Gewandes bedürftig. Auch an
+Toiletten für den nächsten Karneval fehlte es uns. Unter dem Eindruck,
+nun nicht mehr mit jedem Groschen rechnen, nicht mehr an allen
+verlockenden Auslagen als bloße Zuschauerin vorbeigehen zu müssen,
+verjüngte sich meine Mutter förmlich; ich entdeckte zum erstenmal und
+nicht ohne Beschämung, daß sie mit ihren dreiundvierzig Jahren noch
+immer eine schöne Frau war, und eine Ahnung davon durchzuckte mich, daß
+sie im Grunde ein ärmliches Leben geführt hatte und noch Ansprüche daran
+zu stellen berechtigt war.
+
+ * * * * *
+
+Es war ein Spätherbstabend, als wir uns Münster näherten; ein Wald von
+Türmen stand schwarz am dunkelvioletten Himmel. Durch dämmernde Straßen,
+über die nur hie und da graue Gestalten huschten, erreichten wir
+den Gasthof mit seiner gewölbten Eingangshalle und den von
+jahrhundertelangen Tritten ausgehöhlten Steinstufen der Treppe.
+
+Früh am Morgen weckte mich ein tiefer Ton, wie fernes Donnerrollen;
+allmählich schwoll er stärker und stärker an, und ein Chor heller
+Stimmen mischte sich hinein: die Glocken Münsters, die zur Frühmesse
+riefen. Noch lange, nachdem sie verhallt waren, schien die ganze Luft in
+geheimnisvoll klingende Schwingung versetzt.
+
+Ich lugte neugierig zum schmalen Erkerfenster hinaus. Eine breite Straße
+sah ich, eingefaßt von hochgegiebelten Häusern mit reichen Zieraten,
+Erkern, Blätterwerk und Zinkenkronen; jedes in sich abgeschlossen, die
+Trennung vom Nachbarn durch die ragende Spitze betonend; unten aber
+verbanden gewölbte Arkaden, deren breite Bogen auf trutzig-kräftigen
+Pfeilern ruhten, alle Gebäude miteinander. Mir war, als sei mir durch
+einen Blick der tiefe Sinn alten deutschen Bürgertums aufgegangen: wie
+es auf breitem Boden der Gemeinsamkeit und des gegenseitigen Schutzes
+festbegründet ruhte und die Einheit und Selbständigkeit der Familie klar
+und scharf sich daraus emporhob. Wie reich war doch jenes viel
+gelästerte »finstere« Mittelalter gewesen, das für Inhalt und Bedeutung
+des Lebens so wundervoll-harmonische Ausdrucksformen fand!
+
+Eine Kirche, über die der ganze glaubensselige Reichtum der Gotik
+ausgegossen schien, schloß mit schlankem Turm, durch dessen Maßwerk hoch
+oben des Himmels lichte Bläue strahlte, und kraftvoll aufwärts
+wachsenden Strebepfeilern die Straße gen Norden ab. Mußten sich nun
+nicht rings die Tore öffnen, um fromme Beter zur Frühmesse zu entlassen,
+-- Frauen in langen, reichen Gewändern, mit perlengestickten Gürteln,
+das Haupt züchtig umhüllt, das Gebetbuch mit kunstvoll-geschmiedeter
+Silberschließe in den Händen, -- Männer mit bunten geschlitzten Wämsen
+und der nickenden Feder auf dem Barett? Ich wartete vergebens. Nur ein
+paar Weiber in jenen tonlosen Kleidern, die das Ende des neunzehnten
+Jahrhunderts, passend zum monotonen Stil seiner Kasernenstädte, erfunden
+hat, verschwanden hinter den Kirchentüren. Schon wollte ich mich,
+unmutig über den zerstörten Zauber zurück ins Zimmer wenden, als mein
+Blick noch einmal gefesselt ward: aus der engen Gasse gegenüber wand
+sich lautlos ein Zug grauer Nonnen; die Zipfel ihrer Hauben wehten im
+Morgenwind, eng aneinander gedrückt, bewegten sie sich unhörbaren
+Schrittes vorwärts, -- eine Kette verflogener Nachtvögel, die lichtscheu
+über den Boden strich, bis sie das dunkle Kirchentor jenseits
+verschlang. Und einsam wie vorher lag nun die Straße.
+
+Unser erster Gang an demselben Morgen galt unserem künftigen Heim: dem
+ehemaligen Kloster der Augustinerinnen, das fast vierhundert Jahre lang
+dem strengen Orden der büßenden Nonnen gehört hatte, ehe es der
+pietätlosen, säbelrasselnden Preußenpolitik zum Opfer fiel. Vor dem
+langgestreckten grauen Haus mit seinen dicken Mauern und kleinen
+Fenstern stand hinter ein paar mächtigen Linden halb versteckt die
+uralte dunkle Servatiikirche; die hohen Gartenmauern des Erbdrostenhofes
+-- eines jener zahlreichen prunkvollen Stadtschlösser westfälischer
+Adelsgeschlechter -- umschlossen hinter ihr den engen Platz. Nur zögernd
+betrat ich den breiten, fliesengedeckten Flur unseres Hauses; die laute
+erklärende Stimme des Intendanturbeamten, der uns führte, machte mir
+denselben schmerzhaften Eindruck wie die Stimmen all jener Kirchen-,
+Gallerie- und Schloßdiener, die eigens dazu berufen zu sein scheinen,
+den Besucher vor der Tiefe irgend eines Eindrucks zu bewahren. Ich ließ
+ihn vorangehen und blieb allein. Es war ein heller Herbsttag draußen,
+die Sonne überflutete das große Treppenhaus, aber in die Zimmer hinein
+drang sie nicht; hier wehte jene schwere kühle Luft der Grüfte, die nie
+ein Sonnenstrahl berührt. Alle Wohnräume lagen nach Norden, -- kein
+warmer Gruß lockenden Lebens durfte die Nonnen berühren, deren Zellen
+hier gewesen waren. Eine davon mochte wohl den frömmsten zur Wohnung
+gedient haben: auf einen winzigen Hof sah sie hinaus; gerade gegenüber,
+zum Greifen nah, fiel der Blick auf das hohe gotische Fenster der
+Klosterkapelle, aus dessen zerbrochenem Glasgemälde die
+schmerzverzerrten Züge eines heiligen Märtyrers noch zu erkennen waren.
+»Hier ist der Zugang zur Kapelle vermauert,« hatte ich von ferne den
+Beamten sagen hören; »die Leute erzählen sich noch immer, daß die Nonnen
+nächtlicherweile hier umgehen und klagend an den Wänden kratzen, weil
+ihnen der Weg versperrt wurde.«
+
+Unten im Garten trafen wir uns wieder. Das Wahrzeichen Münsters -- die
+Linde -- schmückte auch ihn, aber jetzt, da sie kahl war, verstärkte sie
+nur den Eindruck lebloser Stille, den die Mauern ringsum hervorriefen:
+die der Kürassierkaserne auf der einen, die des Proviantmagazins, in das
+ein Flügel des Klosters umgewandelt worden war, auf der anderen Seite.
+
+»Hier war der Kirchhof des Klosters,« sagte unser Führer. »Als vor ein
+paar Jahren Exzellenz Melchior durch das Tor dort hereinfuhr, senkte
+sich der Boden, und die Räder wühlten vermorschte Särge auf.« -- »Eine
+gemütliche Dienstwohnung, -- das muß ich sagen,« versuchte mein Vater zu
+scherzen. Ich fühlte, daß es auch ihm schwer wie ein Alb auf der Seele
+lag. »Mir gefällt sie ausnehmend,« sagte meine Mutter lächelnd, »die
+armen Toten schrecken mich nicht, und die Wohnung ist prachtvoll.«
+
+Die Handwerker brachten von nun an Lärm und Leben hinein. Wir blieben
+noch ein paar Wochen im Hotel, und ich benutzte die Zeit, um in allen
+Gassen und Kirchen umherzustreichen. Nie hatte ich solch eine Stadt
+gesehen: in Augsburg, in Nürnberg hatte die neue Zeit unter der Führung
+der rücksichtslosen Eroberer Industrie und Technik die alte mehr und
+mehr zurückgedrängt, überflutet, vernichtet, -- hier stand das Leben
+still, kein Fabrikschlot erhob sich mit all seiner barbarischen
+Protzenhaftigkeit neben den Kirchentürmen; hinter hohen Eisengittern,
+in vornehmer Zurückgezogenheit prangten die Renaissance- und
+Rokokoschlösser der Ketteler, der Heereman, der Droste-Vischering, der
+Romberg, der Zwickel der Bevernförde, der Schmising, der Galen, der
+Fürstenberg; zwischen hundertjährigen Linden standen Kirchen und
+Kapellen, erfüllt von der Pracht und Schönheit romanischer und gotischer
+Kunst; in abgelegenen Winkeln tauchten alte Klöster auf, deren
+grasüberwucherte Höfe von Kreuzgängen wie von schützenden Armen umgeben
+waren; manch alte Festungsmauer lugte draußen vor der Stadt zwischen
+dickem Efeu und dichtem Gebüsch hervor, und heimlich verträumte
+Plätzchen gab es neben plätschernden Brunnen, unter Weinlaub umsponnenen
+Bogen, wohin kein anderer Laut des Lebens drang.
+
+Daß die blaue Blume der Romantik hier Wurzel gefaßt hatte, als draußen
+in der Welt die Aufklärung umging und sie mit Stumpf und Stiel
+auszurotten trachtete, daß Freiheitsschwärmer, wie die Brüder Stolberg,
+sich hier zu Füßen der Fürstin Galitzin in die Fesseln der katholischen
+Kirche schlagen ließen und Hamann, der Magus des Nordens, hier seinen
+frommen Phantasien lebte, -- wer verstünde es nicht, dem Münster seinen
+Zauber enthüllte?
+
+Mit der Fertigstellung unserer Wohnung hatte die genußvolle Zeit
+täglicher Entdeckungsreisen ein Ende. Die häuslichen und außerhäuslichen
+Pflichten nahmen mich wieder in Anspruch. »Wir feierten den gestrigen
+Einzug in unser Kloster mit dem ersten Besuch der Garnisonkirche und
+hörten in einem kahlen, kalten, nüchternen Raum eine ebensolche
+Predigt,« schrieb ich an meine Kusine. »Dann kamen Besuche über Besuche,
+-- leider nur solche, bei denen es einem geht, wie dem erwachsenen
+Menschen vor dem Marionettentheater: alles Interesse hört auf, sobald
+der Unternehmer die Puppen wieder in den Kasten legt. Am liebsten möchte
+ich jetzt still in der Fensternische meiner Zelle sitzen und lesen,
+lesen, lesen. Ich habe eine Bibliothek entdeckt -- im Verein für
+Wissenschaft und Kunst --, die mir um so mehr zur Verfügung steht, als
+sie niemand sonst zu benutzen scheint. Ein junger Beamter mit einem
+strengen Asketengesicht, der mich zuerst sehr abweisend behandelte, ist
+jetzt mein bester Berater. Du hättest sehen sollen, wie seine sonst halb
+geschlossenen Augen aufleuchteten, als ich die Schönheit Münsters pries!
+'Wenn Sie erst ganz Westfalen kennen würden!' meinte er, und dabei
+huschte ein heller Schein kindlicher Schwärmerei ihm über die Züge. Er
+gab mir Stöße von Büchern mit, aus denen ich Natur und Kunst seiner
+geliebten roten Erde kennen lernen soll. Was mich aber noch weit mehr
+anzieht, sind die zahlreichen Werke allgemeinen kulturgeschichtlichen
+Inhalts, die der Katalog der Bibliothek aufweist. Mein Berater erklärte
+freilich mit aller Bestimmtheit, das wäre nichts für mich, es seien
+Bücher darunter, die die Ruhe der Seele gefährdeten; er wurde blaß und
+rot, als ich ihm versicherte, daß mir nichts wünschenswerter sei; und
+als ich von dem alten Bibliotheksdiener Leckys Geschichte der Aufklärung
+und Tylors Anfänge der Kultur verlangte, starrte er mich an wie eine
+Erscheinung und stotterte schließlich: »Aber -- aber es sind nicht
+einmal Bilder drin!« Nächtlicherweile habe ich sie verschlungen, mein
+Verstand hat zu ihnen ja und zehnmal ja gesagt; -- meine Sinne aber
+schwelgten im weihrauchgeschwängerten Dämmerdunkel des Doms. Unter
+diesem scheinbaren Widerspruch habe ich gelitten, bis mir klar wurde,
+daß es gar keiner ist: alle Seiten unserer Natur bedürfen der Nahrung,
+und die Kunst ist die Nahrung der Sinne. Religion aber ist im Grunde
+nichts als Kunst und gestaltende Phantasie. Mir war der Protestantismus
+nie sympatisch; daß er im Grunde nicht nur eine Vergewaltigung deutschen
+Geistes und Wesens, sondern ausgesprochen areligiös ist, wurde mir von
+diesem Standpunkt aus erst völlig klar.
+
+Leider muß ich mir zum Denken und Lernen jede Stunde erkämpfen. Vor
+Räumen, Toilettenkrimskrams, Leute einarbeiten, Besuche machen und
+empfangen komme ich am Tage kaum zu mir selbst. Dabei haben sich wieder
+ein paar landläufige Weisheitssprüche als fadenscheiniger Plunder
+erwiesen: 'Nach getaner Arbeit ist gut ruhn,' -- 'Gut Gewissen, sanftes
+Ruhekissen' -- 'Pflichterfüllung beglückt', -- lauter faustdicke Lügen,
+die man uns wie Binden um die Augen legt, damit wir die Wahrheit nicht
+mehr sehen können, -- die Wahrheit, die uns zeigt: Tue Deine Arbeit,
+dann erst findest Du Befriedigung, -- erfülle Deine Bestimmung, dann
+erst wirst Du glücklich sein.«
+
+Mit steigender Virtuosität führte ich ein Doppelleben: ich vergrub mich
+stundenweise in meine Bücher, ich lebte mit meinen Gedanken in ihnen,
+während ich Hüte garnierte, schneiderte, oder mit den Vorbereitungen zu
+den immer zahlreicheren Gesellschaften, Diners und Bällen beschäftigt
+war. Aber mit dem Augenblick, wo ich im Festkleid in den Wagen stieg
+oder die ersten Gäste bei uns erschienen, zog ich den Schlüssel zu dem
+Geheimfach meines Innern ab, und nichts blieb von mir übrig als die
+Salondame.
+
+Pünktlich mit dem Dreikönigstag öffneten sich die Adelshöfe Münsters.
+Der Karneval zog ein. Keiner von denen, die weise Maß halten und Hygiene
+und Moral zu Hofmarschällen ernennen, damit die braven Menschenkinder
+sich auch den Magen nicht verderben -- sondern ein ungestümer, ein
+wilder, zügelloser, der jung und alt in seine Dienste zwingt, der uns
+überkommt wie ein Rausch und uns selig-müde zurück läßt.
+
+Eine alte Legende, die im Volke Westfalens noch immer lebendig ist,
+erzählt, daß der Teufel einmal die Junker der ganzen Welt in seinen Sack
+gesteckt habe, um sie der Hölle zu überliefern. Als er just über
+Westfalen flog, zerriß der Sack, und es regnete Ritter. Darum gibt es
+noch heut auf der roten Erde eine so große Menge von ihnen, und kein
+Königshof könnte eine vornehmere Gesellschaft um sich versammeln als
+Münster zur Karnevalszeit. Was aber ihrem alten Adel, dessen Ursprung
+sich oft bis in die dunkeln Zeiten Wittekinds des Sachsenherzogs
+verliert, den Glanz verleiht, ist der gesicherte Reichtum vieler
+Generationen. Der preußische, der schlesische, der märkische Edelmann
+mit seinen großen Händen, seiner breiten Statur, seinem dicken Schädel
+verrät noch oft, daß sein Vorfahr wie ein Bauer arbeiten und leben
+mußte, und sein derber Witz, seine Verständnislosigkeit für die feineren
+künstlerischen Reize des Lebens lassen nicht vergessen, daß neben Axt
+und Pflug sein einziges Handwerkszeug das Schwert gewesen ist. Seines
+westfälischen Standesgenossen rassige Schlankheit, seine der harten
+Arbeit seit Jahrhunderten entwöhnten Hände verdankt er dagegen der
+Freigebigkeit des üppigen Bodens, den Scharen der Hörigen, die ihn
+bebauen mußten; und die Grazie seiner gesellschaftlichen Formen, die
+Schönheit seiner Umgebung erinnert an die prunkvollen Höfe der
+Kirchenfürsten von Köln, von Paderborn, von Münster, wo seine Ahnen
+erzogen wurden, und an die künstlerische Kultur, die die katholische
+Kirche um sich verbreitete. Mit einem angeborenen Sinn für Stoffe und
+Farben kleiden sich seine schön gewachsenen, ein wenig steifen Frauen
+und Töchter mit den feinen, regelmäßigen, ein wenig leeren Gesichtern;
+Perlen und Edelsteine in herrlicher alter Fassung schmücken ihre vollen
+blonden Haare, ihre schneeweißen Nacken und Arme. Die Möbel, die
+Schaustücke, das reiche Silbergerät in ihren Häusern ist ererbter
+Familienbesitz aus den Glanzzeiten der Gotik, der Renaissance, des
+Rokoko; von den farbensatten Gobelins, die die Wände der Säle decken,
+sieht die ganze Vergangenheit herab auf das junge Geschlecht, das ihr
+auch geistig nicht untreu geworden ist.
+
+Sie sind alle gläubige Katholiken; sie versäumen die Messe nicht, auch
+wenn sie die Nächte durchtanzen; barhäuptig, Gebetbuch und Rosenkranz in
+den Händen, schreiten die vornehmsten mit in der großen Prozession am
+Montag nach dem Reliquienfeste und am Tage Mariä Heimsuchung; die Kirche
+ist ihr eigentliches Vaterland; in den Jahren des Kulturkampfes
+behandelte der westfälische Adel die preußischen Beamten und Offiziere
+wie Feinde, und eine gewisse mißtrauische Zurückhaltung zeigte sich hier
+und da auch jetzt. Aber sie galt weniger dem preußischen Protestanten im
+allgemeinen, als dem einzelnen, der mit taktloser Großspurigkeit
+auftrat, oder -- dessen Adelsdiplom nicht ganz reinlich erschien. Hier
+herrschte noch vollkommenste Exklusivität, -- ein Bürgerlicher, ein
+Neugeadelter war nicht gesellschaftsfähig, und dies ungeschriebene
+Gesetz wurde den Einheimischen gegenüber am strengsten gehandhabt. Eine
+Organisation westfälischer Damen, die angesichts des Gleichheitstaumels
+der französischen Revolutionsepoche gegründet worden war, konnte über
+Sein und Nichtsein entscheiden. Ihre Feste waren unter dem Namen der
+Bälle des Damenklubs weit und breit berühmt und -- gefürchtet. Wer dazu
+nicht geladen wurde, war einfür allemal boykottiert; rückhaltlos
+gesellschaftlich anerkannt war nur, wer auch bei den intimen
+Veranstaltungen nicht fehlte. Der Klub hatte die Macht, Mitglieder des
+westfälischen Adels, die sich irgend etwas hatten zuschulden kommen
+lassen, durch geheime Abstimmung auf Monate oder Jahre von allem Verkehr
+mit seinen Standesgenossen auszuschließen.
+
+Die Rücksicht auf diese tiefwurzelnden Auffassungen -- spukte nicht hier
+sogar die Erinnerung an die Vehme? -- führte zu merkwürdigen
+Konsequenzen: man hatte zwar durchgesetzt, daß auch die nicht adeligen
+Offiziere nicht völlig von der Geselligkeit ausgeschlossen wurden, aber
+sie wurden nur zu großen Bällen gebeten und hätten es auch dort kaum
+wagen dürfen, eine westfälische Dame zum Tanz zu führen. Die vierten
+Kürassiere und die sogenannten Papst-Husaren aus Paderborn, --
+Regimenter, so vornehm wie nur irgend eins der Garde, in die nicht
+einmal ein unadliger Einjähriger Aufnahme fand, -- waren die allein
+'hoffähigen'. Und so war es denn auch nicht die Stellung meines Vaters,
+sondern sein Name und der Stammbaum meiner Mutter, die uns rasch alle
+Türen öffneten. Geistige Ansprüche an unsere Gesellschaft zu stellen,
+hatte ich aufgegeben; die Alix Kleve, die mit heißen Wangen und
+brennender Lebenslust zum Klang süßer Walzerweisen von einem Arm in den
+anderen flog, war nicht dieselbe, die daheim mit klopfendem Herzen und
+unstillbarem Geistesdurst über den Büchern saß.
+
+Die Atmosphäre der Vornehmheit und des Reichtums, die Eleganz der
+Tänzer, die Schönheit der Menschen und der Räume befriedigte meine
+Sinne; es gab Tage und Stunden, wo die prickelnde, fiebernde Lust des
+Karnevals mich ganz und gar gefangen nahm, wo eine Tanzmelodie mich wie
+ein elektrischer Schlag bis in die Fußspitzen durchzuckte und alle
+übrigen Lebenstöne erschlug. Wir tanzten täglich; in den Fastnachtstagen
+fielen sogar die Schranken zwischen den Gesellschaftsklassen und unter
+Papierschlangengeschossen und Konfettiregen wagten wir uns unter die
+maskierte Menge der Straße. Alle Höfe und Häuser standen offen; überall
+konnten die Masken sich selbst zu Gaste laden, und doch artete die
+sprudelnde Lustigkeit nie in rohe Späße aus.
+
+Am Fastnachtsdienstag gab es ein Frühstück im Kürassierkasino, wo die
+Sektpfropfen knatterten wie Salven, und darauf einen ausgelassenen Tanz
+im Sande der Reitbahn, wo die Herren um die Wette über Hürden und Gräben
+sprangen. Abends war der letzte Ball des Damenklubs; noch einmal wurde
+getanzt wie rasend, alte Graubärte machten den Jüngsten den Rang dabei
+streitig, und die Fülle der Blumen, die uns gespendet wurden, ließ sich
+kaum fassen. Mir stoben Funken vor den Augen, und ich fühlte nichts
+mehr als die wiegende, schleifende Bewegung und den heißen, keuchenden
+Atem meiner Tänzer. Plötzlich, mitten im wilden Abschiedsgalopp, stand
+alles still, wie von einem Zauber gebannt, die Musik brach ab, mit
+kurzem Gruß huschten die Damen hinaus, rasch warfen die Herren den
+Mantel über die Schultern -- zwölf schlug die tiefe Glocke vom Domturm,
+Aschermittwoch klingelte das schrille Glöcklein von der
+Liebfrauenkirche.
+
+Mit einem Schlag schien das Leben erloschen. Still, mit verhängten
+Fenstern lagen von nun an wieder die Adelshöfe. Nur drüben im
+Erbdrostenhof regte sichs noch: gestern hatte die schlanke Tochter des
+Hauses mit uns getanzt, heute nahm sie im Kloster der Ursulinerinnen den
+Schleier. Wie eine glückliche Braut ward sie von all den Ihren geleitet,
+und sie selbst lächelte wie eine solche. Mit einem Glanz verklärter
+Freude auf den Zügen leisteten ihre Brüder -- die übermütigsten Tänzer
+sonst -- die Ministrantendienste bei der heiligen Handlung. Und doch
+wußten alle, daß es ein Abschied für immer war, denn in strenger Klausur
+verbringen die Ursulinerinnen ihr nur dem Gebet und der Buße geweihtes
+Leben.
+
+Während der Fastenzeit kamen Kapuzinermönche nach Münster, die besten
+Kirchenredner ihres Ordens. Sie Sprachen von vier Kanzeln dreimal des
+Tags, und Kopf an Kopf drängte sich jedesmal die Menge und hielt
+geduldig stundenlang stehend aus. Ich ging wiederholt in den Dom; die
+fanatische Beredsamkeit dieser blassen Männer in ihren braunen Kutten
+war überwältigend. Sie sprachen rücksichtslos und griffen mitten ins
+Leben, und eine Wirkung ging von ihnen aus, die nicht nur in dem
+wachsenden Andrang zu ihren Beichtstühlen zum Ausdruck kam, sondern auch
+in den Handlungen der Einwohner Münsters. Wir hörten häufig, daß
+gestohlenes Gut zurückgegeben wurde, Verleumder den Verleumdeten um
+Verzeihung baten, Treulose zu den verführten Mädchen zurückkehrten. »Es
+geht ein Zug nach Wahrheit und Befreiung durch die Welt, dem, ihrer
+selbst nicht bewußt, auch die asketischen Diener der Kirche folgen
+müssen. Zuweilen, wenn sie mit überwältigender Kraft das Elend armer
+Arbeiter schilderten, und den Reihen, die nicht sehen und hören wollen,
+mit den Schrecken auch der irdischen Sorgen drohten, schien es wirklich
+Christi lebendiger Atem zu sein, der sie beseelte. Mir träumte dabei von
+einer fernen Zukunft, wo in heiligen Hallen, wie diese, Missionsprediger
+der Freiheit zu den Tausenden sprechen werden.« So schrieb ich an
+Mathilde. In Münster aber verstand man meine häufigen Kirchenbesuche
+anders. Zufall -- Absicht? -- führten mich mit katholischen Priestern
+zusammen, und ich merkte bald, welch lebhaftes Interesse sie an mir
+nahmen. Sie boten sich mir zu Führern in Kirchen und Kapellen an und
+verwickelten mich, wenn ich kam, in religiöse Gespräche. Aus meiner
+Stellung zum Protestantismus machte ich kein Hehl, und als ich einmal
+freimütig erklärte, daß der Katholizismus mir weit anziehender sei,
+meinte mein Begleiter vorsichtig: »Sie sollten sich mit unserer Kirche
+näher vertraut machen, wenn sie Ihnen, wie es den Anschein hat, die Idee
+des Christentums deutlicher repräsentiert.« -- »Die Idee des
+Christentums?!« erwiderte ich lächelnd. »Nein, Hochwürden, mit ihr hat
+die katholische Kirche nichts zu tun! Und gerade das ist es, was ich an
+ihr liebe und bewundere.« Sprachlos starrte der Priester mich an. »Ich
+begreife nicht --« brachte er schließlich hervor. »Darf ich es Ihnen
+erklären?« Er nickte zustimmend.
+
+»Meiner Ansicht nach ist die ursprüngliche Lehre Christi mit ihrem
+Asketismus, ihrer Verachtung des Lebens, der Freude, der Schönheit,
+ihrer Menschenfeindschaft, -- bei aller Betonung der Menschenliebe, --
+der Natur der abendländischen Völker so widersprechend, daß sie sich in
+ihrer Reinheit gar nicht durchsetzen konnte. Wir sind Heiden, sind
+Sonnenanbeter; mit den Geschöpfen unserer Träume beleben wir Feld und
+Wald, Berg und Tal. Karl der Große hat das rasch begriffen, und seine
+Missionare mit ihm. Sie hatten häufig genug selbst Sachsenblut in den
+Adern. Darum bauten sie an Stelle der Heiligtümer Wotans, Donars,
+Baldurs und Freyas die Tempel Ihrer vielen Heiligen; darum erhoben sie
+nicht den Gekreuzigten, sondern die Mutter Gottes, das Symbol
+schaffenden Lebens, auf den Thron des Himmels. Darum schmücken die
+Diener des Mannes, der nicht hatte, da er sein Haupt hätte hinlegen
+können, ihre Gewänder, ihre Altäre und ihre Kirchen mit Gold und
+Edelsteinen und zogen die Kunst in ihren Dienst. Vom Standpunkt Christi
+aus hatten Ihre Wiedertäufer Recht, die die Bilder zerstörten, aber die
+lebensstarke Natur ihrer Volksgenossen hat sie ins Unrecht gesetzt. Und
+wissen Sie, was mich in meiner Auffassung vom heidnischen Charakter des
+Katholizismus und seiner Lebensfähigkeit infolgedessen bestärkte: der
+eben verflossene Karneval! In keinem protestantischen Lande ist
+dergleichen möglich, auch wenn es auf denselben Breitengraden liegt, wie
+Münster, wie Köln, wie Düsseldorf, wie München. Vor lauter
+Verständigkeit und Nüchternheit haben wir die Freude verlernt, die ein
+Bestandteil heidnischer Religiösität ist.«
+
+Jetzt war die Reihe an meinem Begleiter, überlegen zu lächeln.
+
+»Ob Sie, infolge irgend welcher verwirrender Lehren sogenannter
+wissenschaftlicher Aufklärung, Heidentum nennen, was christ-katholisch
+ist, das dürfte zunächst von geringem Belang sein, sofern Sie nur an die
+Lehren der Kirche glauben. Wir verlangen von den Novizen nicht die
+Gedanken- und Gefühlstiefe des erprobten Bekenners.«
+
+»Aber ich glaube ja an Ihre Heiligen nicht, wenn ich ihre Existenz auch
+verstehe!« Der Priester schüttelte den grauen Kopf. »Wir werden einander
+nie näher kommen, Hochwürden. Wo Sie Religion sehen, sehe ich Kunst, und
+Ihr Gott und Ihre Heiligen sind für mich nicht überirdische Wesen, die
+ich anbeten muß, sondern Gebilde, die unsere Phantasie erschuf, wie die
+Hand des Malers die heilige Jungfrau drüben. Daß Ihre Kirche diese
+Schöpferkraft nicht unterband, sondern schützte, nährte, anfeuerte, ist
+ein Verdienst, das sie mir ehrwürdig macht. Sie werden aber nun selbst
+einsehen, daß sich aus solchem Material keine Proselyten machen lassen.«
+
+Man schien mich trotz alledem nicht aufzugeben. Ich wurde in der
+Gesellschaft Westfalens mit mehr Interesse und Aufmerksamkeit behandelt
+als sonst ein junges Mädchen und war viel zu eitel, um die Vorteile
+dieser Ausnahmestellung nicht angenehm zu empfinden. Daß ich mich im
+stillen immer weiter aus dem geistigen Bannkreis meiner Umgebung
+entfernte, bemerkte niemand. Mit wem hätte ich mich auch ehrlich
+aussprechen können? Mein Vater war in seinen kirchlich und politisch
+konservativen Anschauungen immer schroffer geworden, und je höher die
+Stellung war, die er einnahm, je mehr er nichts anderes um sich hatte
+als Untergebene, desto selbstherrlicher wurde er, desto weniger duldete
+er Widerspruch. Meine Mutter wurde von steigender Antipathie gegen meine
+Studien beherrscht, jeden Büchertitel musterte sie mit größtem
+Mißtrauen, und ich konnte sicher sein, mit irgend einer »wichtigen«
+häuslichen Aufgabe, wie Wäsche flicken, Staub wischen oder dergleichen,
+immer dann betraut zu werden, wenn ich am meisten gefesselt war. Unter
+unseren vielen Bekannten war niemand, den ich für würdig und fähig
+gehalten hätte, an meinen Interessen teil zu nehmen. Es gab schon
+verblüffte Gesichter genug um mich her, wenn ich etwa über politische
+Tagesereignisse mitzureden den Mut faßte.
+
+So wurde ich denn immer launischer, reizbarer und hochmütiger. Nichts
+als meine pessimistischen Ansichten über die Menschen hatte ich
+ausgesprochen, wenn ich auf einem Maskenfest des letzten Winters an die
+Rosen, die ich verteilte, statt der Dornen Verse wie diese geheftet
+hatte:
+
+ Die Menschen tragen im Leben
+ Eine Maske vor dem Gesicht;
+ Wünsch' nicht, sie zu demaskieren,
+ Denn, wisse, es lohnt sich nicht!
+
+ * * * * *
+
+ Und fürchtest du die Rose,
+ Weil stets ihr Dorn dich sticht, --
+ So pflücke dir Gänseblümchen,
+ Die, Teuerster, stechen nicht!
+
+ * * * * *
+
+ Du träumst vom Feuer der Liebe,
+ Das hoch ein jeder preist?
+ Wisse, in unserm Jahrhundert
+ Ist es ein Irrlicht meist.
+
+ * * * * *
+
+ Traue keinem hier von allen,
+ Dann erst recht nicht, wenn die Maske fiel;
+ Niemals wird die zweite Maske fallen,
+ Und was Wahrheit scheint, ist Narrenspiel.
+
+ * * * * *
+
+ »Im Münster ist's finster,«
+ Wer wüßte das nicht?
+ Doch sag mir, wo in der Welt
+ Ist es licht?
+
+Licht war für mich nur die Welt der Bücher; Erkenntnisse, die ich
+gewann, erfüllten mich mit tiefer heißer Freude, und die Sehnsucht wuchs
+hinaus aus der Enge des Lebens; von der Phantasie nahm sie die
+leuchtendsten Farben, um Menschen zu malen, die von Idealen erfüllt, mit
+den reichsten Waffen des Geistes ausgestattet, eine dunkel geahnte
+andere Welt zu erobern ausgingen. Mein Tagebuch und die Briefe an
+Mathilde waren die Vertrauten meines eigentlichen, verborgenen Lebens.
+
+»Ich bin in meinem Studium der Kulturgeschichte beim fünften großen
+Werke angelangt,« schrieb ich damals, »mein Interesse dafür ist immer
+im Wachsen, und immer wieder finde ich, was mich fast von Kindheit an --
+damals noch wie eine Ahnung -- erfüllte: daß wir uns trotz allem, was
+den Blick momentan verdunkeln mag, unaufhaltsam vorwärts bewegen. Wehe
+denen, die hemmen wollen, sei es in der Kunst, der Wissenschaft, der
+Religion, oder der Politik! -- Nur eins schmerzt mich oft bis zur
+Verzweiflung: daß ich nur Zuschauer bin und weder beim Niederreißen des
+Alten, noch beim Aufbauen des Neuen tatkräftig eingreifen kann.«
+
+An anderer Stelle heißt es: »Auf dem Wege meiner stillen Studien bin ich
+zu der Erkenntnis gelangt, daß unsere Entwicklung wie auf einer
+Wendeltreppe vorwärts schreitet. Zuerst lernt man mechanisch, ohne zu
+verstehen, dann lernt man verstehen; aus beiden folgt das eigene Denken,
+und erst auf diesen drei Stufen erhebt sich der persönliche Mensch und
+fängt nun scheinbar von vorn an: er lernt, er versteht, er denkt -- oder
+er entzündet das trocken aufgehäufte Pulver des Verstandes mit dem
+elektrischen Funken seines eigenen Geistes und sprengt damit die starren
+Formelmauern, um nun selbst Licht und Wärme zu verbreiten. Auf jeder
+Stufe bleiben viele Menschen stehen; darum wird man mit dem
+Vorwärtsschreiten immer einsamer und läßt viele hinter sich zurück, die
+nicht gleichen Schritt mit uns hielten.«
+
+Soweit meine Kusine sich auf Diskussionen einließ, trat sie mir
+entgegen. Sie verteidigte z. B. die Heroengeschichte gegenüber der
+Kulturgeschichte; sie suchte mir zu beweisen, daß die Könige,
+Staatsmänner und Feldherrn die Geschichte »machen,« während ich
+erklärte, »daß der einzige dauernde gesunde Fortschritt aus dem Volk
+herauswächst und die Großen der Erde oft nichts sind als Marionetten in
+der Hand der ungeheuern namenlosen Masse.« Ich hatte viel zu sehr das
+Bedürfnis, mich irgend jemandem gegenüber auszusprechen, und ihr Urteil
+war mir überdies viel zu wenig maßgebend, als daß ich mich von ihren
+Gegengründen hätte abschrecken lassen. »Meine letzte Entdeckung muß ich
+Dir mitteilen, obwohl ich von vornherein weiß, daß Du über meine
+'umstürzlerischen' Ansichten wieder empört sein wirst. Je mehr ich die
+Geschichte der Völker studiere, desto klarer wird mir, daß der große,
+viel zu wenig anerkannte Fortschritt unserer Zeit in der völlig
+veränderten Wertung der Arbeit besteht. Kein Volk der Vergangenheit hat
+die Arbeit an sich als etwas Ehrenvolles betrachtet. Im Gegenteil: nur
+der Sklave, der Kriegsgefangene, kurz, der Entrechtete, Ehrlose
+arbeitete. Die Arbeit war eines freien Mannes unwürdig. Das war die
+durchgängige Ansicht der antiken Völker, das war auch die der Germanen.
+Und zu jenen Ehrlosen, die zur Arbeit gewissermaßen verdammt waren,
+gehörten charakteristischerweise nicht nur die Unfreien unter den
+Frauen, sondern ihr ganzes Geschlecht. Die Arbeit eine Ehre -- das
+Nichtstun ein Laster, -- dahin fangen wir erst an, uns zu entwickeln,
+und zu ihrer vollen Bedeutung wird diese Erkenntnis erst in später
+Zukunft gelangen. -- Für mich persönlich ist sie nicht eine bloße
+verstandsmäßige Einsicht, sondern ein Ereignis, das mich erschütterte.
+Wird der Wert des Menschen an seiner Leistung gemessen, -- wie bestehe
+ich vor dieser Prüfung?! Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, gesund an
+Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite
+nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt!«
+
+Wie sich der Heißhungrige über jeden Bissen stürzt, so warf ich mich
+über jede Möglichkeit des Erlebens und der Arbeit.
+
+Zu jener Zeit starb der alte Kaiser, und im Märtyrerschicksal seines
+Nachfolgers begann der Tragödie letzter Akt. Mit jener steigenden
+Erregbarkeit meiner Nerven, die auch die Ereignisse außerhalb des
+eigenen Schicksals zum persönlichen Erlebnis werden ließ, verfolgte ich
+die Berichte der Presse, dachte des »neuen Herrn,« der nun kam, dessen
+verkümmerter Arm mich vor Jahrzehnten schreckte, und der, seit jenem
+Gespräch mit Graf Lehnsburg, seltsam drohend sich meinem Vater
+entgegenzustrecken schien. Die alte Welt versank, -- der Todeskampf
+Friedrichs III. war auch der ihre. Und mit wilder Zerstörungslust
+schienen die Elemente ihn zu begleiten. Unaufhörlich strömte der Regen,
+aus ihren Ufern traten die Flüsse, die Dämme brachen -- tausende stiller
+Heimstätten wurden vernichtet, hunderttausenden armer Menschen drohte
+Hunger und Elend. Und ich saß hier im gesicherten Schutz unseres Hauses
+mit gebundenen Händen! -- In fieberhaftem Eifer schrieb ich die Märchen
+nieder, die ich meinem Schwesterchen im Laufe der Jahre erzählt hatte.
+Ich schickte sie aufs geratewohl einem Königsberger Verleger, mit der
+Bestimmung, den etwaigen Erlös den Überschwemmten zuzuführen.
+»Veröffentlichungen dieser Art liegen außerhalb unseres Gebiets,«
+schrieb er, und rasch entmutigt warf ich sie ins Feuer. Kurz darauf
+wurde ein Dilettantenkonzert zum Besten der Notleidenden arrangiert,
+und ich, deren Karnevalsverse in Erinnerung geblieben waren, sollte
+einen Prolog dazu verfassen und vortragen. Es wurde mir nicht schwer,
+ich brauchte nur auszusprechen, was ich empfand, und als ich am Tage der
+Aufführung im schwarzem Trauerkleid auf hohem Podium stand, eine stumme
+dunkle Menge vor mir, und fühlte, wie meine Stimme den Saal erfüllte, --
+da war mirs, als sprengte mein eigenes klopfendes Herz die Eisenreifen,
+die es umschnürt hatten. Von der tiefen Glocke in meiner Brust sprach
+man mir, nachdem die einen mir stumm die Hand geschüttelt, die anderen,
+voll Enthusiasmus, mir gedankt hatten. Besaß ich die Macht, die Menschen
+zu erschüttern, sie zum Großen und Guten aus ihrer Stumpfheit
+aufzurütteln? Eröffnete sich hier irgend ein Weg für mich, auf dem ich
+endlich, endlich dem nutzlosen Leben entfliehen konnte? »O daß ich die
+Kräfte, die ich besitze, in einer jener Pionierarbeiten einsetzen
+dürfte, die durch die Wüste der Welt neue Wege bahnen!« schrieb ich noch
+in der Nacht darnach an meine Kusine.
+
+Mein Prolog wurde gedruckt und in ein paar tausend Exemplaren verkauft.
+Aber dem Hochgefühl folgte bald die Ernüchterung. Ein Tropfen auf den
+heißen Stein war, was ich für die Überschwemmten erreicht hatte; in die
+Alltagsstimmung fielen die Begeisterten rasch zurück; in das
+Alltagsleben mußte ich aufs neue. Ich befand mich in einer förmlichen
+Krisis, die mich schüttelte wie ein Fieber, mir allen Schlaf und alle
+Selbstbeherrschung raubte. Als mein Vater mich daher eines Abends frug,
+warum ich so stumm und stocksteif dasäße, antwortete ich mit einer
+Leidenschaft, die sich nicht mehr zurückdämmen ließ: »Weil das Leben
+mir zum Ekel wurde -- weil ich mich selbst nicht länger ertragen kann.
+--«
+
+»Ja um Himmels willen, was ist denn geschehen? Wieder so 'ne verdammte
+Liebesgeschichte?« Papa schwollen vor Schreck die Adern auf der Stirn.
+Mama dagegen sah mich flüchtig forschend an und lächelte dann ihr feines
+malitiöses Lächeln.
+
+»Das Gegenteil dürfte richtig sein, -- ihr fehlt momentan die
+Liebesgeschichte,« sagte sie, und sekundenlang fuhr es mir blitzartig
+durchs Gehirn, ob sie am Ende recht haben könnte. Dann aber antwortete
+ich rasch, um den Gedanken in mir selbst zu erlöschen:
+
+»Arbeiten möcht ich, -- irgend etwas leisten, das mich ganz und gar in
+Anspruch nimmt. Ich beneide den Steinklopfer an der Straße, der abends
+wenigstens arbeitgesättigt totmüde auf seinen Strohsack sinkt.«
+
+»Du hast doch genug zu tun, wie ich bemerke,« meinte Papa nach einem
+kleinen zögernden Nachdenken, »du liest, du malst, du schneiderst, du
+beschäftigst dich mit deiner Schwester, du bist der unersetzliche
+Arrangeur unserer Feste --«
+
+Mama unterbrach ihn: »Das genügt natürlich Alix' Ehrgeiz nicht.
+Häusliche Pflichten sind ein überwundner Standpunkt. Aber du hast ja
+Auswahl genug, wenn du ihrer überdrüssig wurdest,« damit wandte sie sich
+an mich; ihr ganzes Gesicht war rot, und ihre schmalen Lippen bebten,
+»du kannst Gesellschafterin -- Gouvernante -- Hofdame werden. Sieh dann
+selber zu, wie das harte Brod der Fremde schmeckt!«
+
+Mir stürzten die Tränen aus den Augen. Mir ahnte längst, daß mir kein
+Ausweg blieb, und doch erschütterte mich die trockne Aufzählung dieser
+einzigen Möglichkeiten, die für mich Unmöglichkeiten waren. Mein Vater
+konnte niemanden weinen sehen, am wenigsten seine Töchter. Er sprang auf
+und zog mich in die Arme, mir mit einem leisen: »Armes Kind, armes
+Kind!« die Wangen streichelnd. Es blieb dann eine Weile ganz still
+zwischen uns. Und dann sprach er mit derselben weichen Stimme auf mich
+ein, wie auf eine Kranke, -- mit langen Pausen dazwischen, als wollte er
+mir zum Antworten Zeit lassen. »Sei still, mein Kind -- bitte weine
+nicht mehr. -- Wie ein Vorwurf ist das für mich -- daß ich nicht besser
+für dich sorgte! Wärst du ein Mann, so hätte ich dich schon auf Wege
+geführt, die einen Lebensinhalt gewährleisten, aber so -- -- du bist nur
+ein Mädchen -- nur für einen einzigen Beruf bestimmt, -- alle anderen
+wären doch nichts als traurige Lückenbüßer. Du sollst diesem einzigen
+nicht so krampfhaft -- oder leichtsinnig -- aus dem Wege gehen! Ich bin
+ein alter Mann und werde nicht ruhig sterben können, wenn ich dich nicht
+im Hafen weiß!«
+
+»Papa -- lieber Papa!« schluchzte ich auf; dann lief ich hinaus und
+schloß mein Schlafzimmer hinter mir zu und saß auf dem Bett stundenlang
+mit brennenden Augen und wundem Herzen. Nun hatte ich ein Buch nach dem
+anderen heißhungrig verschlungen, und dunkel und leer gähnte mein
+Inneres mich trotzdem an, -- hatte Erkenntnisse gewonnen, die mich
+berauschten, und wenn ich zum nüchternen Tageslicht erwachte, war ich
+elender als zuvor. So ist das Glück geistigen Werdens und Wachsens denn
+auch nichts weiter als Betäubung? Ist wirklich das Schicksal des Weibes
+nur der Mann? Und hat es kein Recht auf ein eigenes Leben? -- Der Mann!
+Ich dachte derer, die mir im letzten Winter gehuldigt hatten, -- gute
+Tänzer, lustige Kurmacher, zu einem flüchtigen Flirt wie geschaffen --
+aber an sie gekettet, ihnen unterworfen sein -- ein ganzes Leben lang --
+entsetzlich! Plötzlich aber fühlte ich mich wie eingehüllt von einem
+Feuerstrom, so daß im ersten Schreck das Herz mir stockte: ein Kind! ein
+Kind! -- das war des Lebens Zweck und Inhalt. Ein Kind wollt ich haben,
+gleichgültig von wem, ein lebendiges Teil meiner Selbst, einen Sohn, --
+das Geschöpf meines Körpers und meines Geistes --, der meine Träume
+erfüllen, der werden sollte, was ich zu werden vergebens hoffte! Was
+galt mir der Mann: mochte er sein, was er wollte, -- nur den Vater
+meines Sohnes brauchte ich!
+
+Und als wir am nächsten Abend wieder um den runden Tisch zusammen saßen,
+sagte ich: »Du sollst dich nicht weiter um mich grämen, Papachen, -- paß
+auf, über kurz oder lang hast du einen Schwiegersohn und bist die böse
+Tochter los!« Worauf ich lachend einen zärtlichen Kuß bekam. Mama nahm
+keine Notiz von meiner Bemerkung; erst am folgenden Tag kam sie darauf
+zurück. »Ich habe dir niemals zur Ehe zugeredet,« sagte sie, »und hüte
+mich auch jetzt davor. Das Glück, das ein Mädchen von ihr erwartet,
+findet sie nie.« -- »Ich will auch kein Glück -- eine Lebensaufgabe will
+ich -- ein Kind,« stieß ich widerwillig hervor, denn mich meiner Mutter
+anzuvertrauen, kostete mir die größte Überwindung. »Ein Kind?!«
+wiederholte sie, »um dich vollends mit Sorgen zu beladen?!«
+
+Sie hatte mich offenbar nie so wenig verstanden wie heute.
+
+Mein Vater dagegen war noch nie so liebevoll zu mir gewesen. Was er mir
+an den Augen absehen konnte, das tat er. Lange Morgenritte machten wir
+wieder zusammen, hinaus in die weite Heide, vorbei an all den stolz in
+sich abgeschlossenen einsamen Bauernhöfen und an manch uraltem Schloß
+mit festen Türmen und tiefen Gräben ringsum. Und wenn er weiter ins Land
+Inspektionsreisen machte -- nach Minden, nach Soest, nach Paderborn --,
+nahm er mich mit; während er seinen Dienst erledigte, lernte ich all die
+Schätze alter Kunst, all die Wahrzeichen alter Geschichte kennen, an
+denen Westfalen so reich ist.
+
+In der ersten Hälfte des Monats Juni fuhren wir nach Aachen, der
+Garnison des 53. Infanterieregiments, dessen Chef Kaiser Friedrich war.
+Das Wetter war so schön, die Stadt und ihre Umgebung so unerschöpflich,
+daß wir länger blieben, als es der Dienst meines Vaters erfordert hätte.
+
+Am Mittag des 15. Juni 1888 -- wir kehrten gerade von einem Spaziergang
+in unser Hotel zurück -- kam ein junger Leutnant atemlos von der Kaserne
+und bat uns, ihm so rasch wie möglich dorthin zu folgen. Was er
+erzählte, war so seltsam, daß wir, wäre es nicht heller Tag gewesen, an
+seiner Nüchternheit hätten zweifeln dürfen. Ein Zug Soldaten habe, so
+berichtete er, auf dem Kasernenhof exerziert; kaum sei er abgetreten,
+als einem der Offiziere von seinem Fenster aus große lateinische
+Schriftzeichen im Sande aufgefallen seien, die offenbar von den
+regelmäßig sich wiederholenden Fußtritten herrühren mußten. Man habe
+inzwischen rasch zu einem Photographen geschickt, um das merkwürdige
+Phänomen auf der Platte festzuhalten, und »Exzellenz müssen es
+unbedingt auch in Augenschein nehmen --« fügte er eifrig hinzu. »Zum
+Donnerwetter, was ist es denn?« sauste mein Vater ihn an. »Es heißt für
+jeden deutlich --.«
+
+»Extrablatt! Extrablatt!« unterbrachen den ängstlich stotternden
+Leutnant in diesem Augenblick viele Stimmen. »Heute Morgen elf Uhr ist
+Kaiser Friedrich gestorben!«
+
+Der junge Offizier wurde leichenblaß. »Elf Uhr?!« wiederholte er
+langsam. »Um diese Stunde entstand die Schrift!«
+
+Wir traten in den Kasernenhof. Das ganze Regiment schien versammelt und
+starrte wie gebannt auf den regenfeuchten Platz. Mitten darauf stand in
+riesigen Lettern:
+
+ W W II.
+
+
+
+
+Dreizehntes Kapitel
+
+
+ Münster, 29. Dez. 1888
+Liebe Mathilde!
+
+Das Dreibretzeljahr, von dem ich mir so viel versprochen hatte, geht zu
+Ende. Es ist nicht süß, ja nicht einmal schmackhaft gewesen, und sein
+einziges greifbares Resultat ist, daß ich meine hochfliegenden Wünsche
+und Hoffnungen sauber verpackt zu anderem Urväterhausrat in die alte
+Truhe legte, wo ich sie vielleicht an Sonn- und Feiertagen des Lebens
+hie und da herausnehmen und mit wehmütiger Resignation betrachten werde,
+wie die Großmütter die Liebesbriefe ihrer sechzehn Jahre. Du brauchst
+mir zum neuen Jahr kein Glück zu wünschen; ich weiß von vorn herein, was
+es bringt: das landläufige Mädchenschicksal einer Vernunftheirat. Ich
+kenne den Glücklichen noch nicht, der sich an den Resten meines Ich
+entflammen wird -- aber ich werde ihn finden, und trainiere mich jetzt
+schon zur Kühle und Ruhe, damit mir nicht am unrechten Ort das Herz
+durchgeht.
+
+Heut nacht hab ich beim müden Schimmer meiner Rosa-Ampel lange wach
+gesessen und geträumt, -- gegrübelt wohl eher, denn träumen tut man kaum
+mehr, wenn das erste Vierteljahrhundert des Lebens sich seinem Ende zu
+neigt; und tut mans trotzdem, so sind es eben -- schlechte Träume. Im
+Kamin prasselte das Feuer, und wenn ich aufsah, blickte mir aus dem
+Spiegel ein Gesicht entgegen, das das einer Toten hätte sein können,
+wenn nicht die Augen von verhaltenen Tränen geschimmert und die Lippen
+wie eine klaffende Wunde blutrot geleuchtet hätten. Ein Kindergesicht
+wars nie, -- bin ich denn überhaupt ein Kind gewesen? Ein glückliches
+Kind? Es muß sehr lange her sein, denn ich besinne mich nicht darauf.
+Ich mag auch nicht die Tafeln der Erinnerung aufdecken. Häßliche Bilder
+zeigen sie. Freilich meist golden umrahmt, auf Elfenbein gemalt in
+schillernden Farben, aber sieh dir den Höllenspuk nur genauer an: war
+nicht das Schicksal ein wahnwitziger Maler, daß es so kostbares Material
+an solchen Schund verwandte?
+
+Was hat denn gehalten von alledem? Die Liebe etwa? Armes Menschenkind!
+Sie ging an dir vorüber und du sahst nur so viel von ihr, um die
+Sehnsucht darnach, die fiebernde, heiße, ewig zu spüren! Und der Glanz?
+Wie schnell sah das allzu scharfe Auge, daß er nichts war als
+Flittergold, -- Raketen, die prasseln und strahlen; wenn sie verglimmt
+sind, ist es viel dunkler noch als zuvor! --
+
+Ich habe die Wissenschaft gepflegt, wie eine verbotene Liebschaft, --
+die bleibt mir. Ich habe die Kunst geliebt, schüchtern nur und von
+ferne, um die Hehre nicht mit meiner Pfuscherei zu besudeln, -- die
+bleibt mir. Das mag jenen Luxustieren unter den Menschen genügen, die
+vom Leben nichts wollen als Genuß, -- jenen, die so hohl sind, daß sie
+immer empfangen können. Ich aber wollte schaffen!! -- Wozu lebe ich denn
+überhaupt? Würde mich jemand vermissen, würde eine Lücke bleiben, wenn
+ich nicht wäre? Meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde würden
+trauern. Wie lange? Ich bin ihnen doch allen fremd geblieben! Wer wird
+denn nur wahrhaft vermißt? Ein guter Vater, -- eine treue, sorgende
+Mutter! --
+
+Pfui, du hast geweint, -- schnell, lache, setze die Maske auf, -- wer
+zeigt denn heutzutage sein Gesicht? Es wären der Falten, der Tränen zu
+viele!
+
+Verzeih -- ich schrieb in Gedanken ein Romankapitel. Im nächsten Brief
+sollst Du hören, wie herrlich ich mich amüsiere!
+
+Prost Neujahr! -- Übrigens eine prachtvolle Phrase, mit der man sich um
+das 'Glück' wünschen herumdrücken kann.
+
+ Deine Alix.
+
+
+ Münster, 30. 1. 89
+Liebe Mathilde!
+
+Ein Karneval, der mich kaum zu Atem kommen läßt, ist die Ursache meines
+langen Schweigens. Ich will ihn durchtollen, bis zum bitteren Bodensatz
+genießen, weil es unweigerlich der letzte für mich ist. So oder so: ich
+verlasse den Schauplatz nicht, es sei denn auf der Höhe des Triumphs.
+Alle bösen Geister haben wieder von mir Besitz ergriffen und peitschen
+mich vorwärts auf der Rennbahn der Eitelkeit, angesichts heftiger
+Konkurrenz. Mit dem neuen Kommandierenden -- dem einst allmächtigen und
+gefürchteten Chef des Militärkabinetts, der die Vorsehung seiner
+Vettern bis ins zwanzigste Glied gewesen ist -- scheinen die Löwinnen
+des alten berliner Hofs den Schauplatz ihrer Tätigkeit hierher verlegt
+zu haben. Eine komische Gesellschaft: vornehm, blasiert, elegant,
+hochnasig, mit einem starken Stich ins Burschikose, nicht ohne
+'Vergangenheit'. Diese beiden letztgenannten Eigenschaften sind die
+Ursache ihrer nicht ganz freiwilligen Entfernung aus Berlin, wo man im
+Zeichen der Tugend und Gottesfurcht steht. Nun ist Münster aber auch
+nicht der Ort, wo Leutnants den jungen Damen kameradschaftlich auf die
+Schultern klopfen und mit frischem Stallgeruch und schmutzigen Stiefeln
+zum Damenfrühstück erscheinen können. Kurz -- wir werden die fremden
+Vögel schon ausräuchern, und ich tue dazu, was ich an Koketterie, an
+Geist und Toiletten aufbringen kann. Mit dem glänzendsten Kavalier
+dieses Karnevals, Herrn von Hessenstein, der kürzlich hier
+Schwadronschef geworden ist, schloß ich ein Schutz- und Trutzbündnis zu
+diesem Zweck. Du brauchst keine Kassandrarufe auszustoßen -- wir
+gefallen einander -- nichts weiter!
+
+Es gibt eine Anziehungskraft zwischen Mann und Weib, die mit Geist und
+Herz gar nichts zu tun hat; ich möchte sie körperlichen Magnetismus
+nennen. Man ist nicht gemein, wenn man sie empfindet, weil der Instinkt
+der Natur nicht gemein sein kann. Zum Unglück wird sie nur, weil das
+sentimentale Liebesgewinsel unserer Goldschnitt-Lyriker und unsere
+verlogene Erziehung uns dazu gebracht haben, sie vor uns selbst mit
+falschen Empfindungen zu umkleiden. Meine fiebernden Sinne werden oft
+von Menschen angezogen, von denen Geist und Herz sich abgestoßen
+fühlen. Und umgekehrt sind diese gefangen, wo jene beinahe Ekel
+empfinden. Würde ich mich des Instinktes schämen und ihn infolgedessen
+mit dem Feigenblatt verlogener Schwärmerei bedecken, -- in welch
+unselige Ehen hätte ich mich schon fesseln lassen! Vielleicht ist die
+wahre, dauernde Liebe erst möglich unter den Gatten, die sich ganz
+kennen, sich ganz besitzen, und die noch dazu ein gewisser äußerer Zwang
+zusammenhält. Alles übrige ist Flirt -- Sport, oder sonst ein Fremdwort
+... Wenn ich nur nicht die fatale Eigenschaft hätte, gegen alle Art
+bürgerlich ehrbarer, staatlich sanktionierter, zu lebenslänglichem
+Gebrauch auf Flaschen gezogener Gefühle einen unüberwindlichen Abscheu
+zu haben ...«
+
+Gegen Ende des Karnevals gab Herr von Hagen, unser Oberpräsident, -- ein
+gescheiter, feiner, alter Herr, der einzige fast, mit dem ich eine
+ernstere Unterhaltung führen mochte, -- ein Diner, zu dem er mich,
+entgegen der sonstigen Gewohnheit, mit einlud. Junge Mädchen waren ja
+nur zum Tanzen da; man schloß sie daher überall von den Gelegenheiten
+aus, wo Ansprüche an den Geist, statt an die Füße gemacht werden
+konnten.
+
+»Sie sollen heute diesen Böotier bekehren,« sagte mir unser Gastgeber
+lächelnd, indem er mir Herrn von Syburg, den neuen Hammer Landrat
+vorstellte, »er hat Ansichten über die Frauen, -- na, Sie werden ja
+sehen!«
+
+Ein großer schmächtiger Mann machte mir eine steife Verbeugung, und ein
+paar helle, weit vorstehende Augen musterten mich ernsthaft. Der erste
+Eindruck, den ich empfing, war fast ein feindseliger. Als wir dann aber
+ins Gespräch kamen, gefiel er mir. Seine Ruhe, seine Kenntnisse, seine
+vielseitigen Interessen erhoben ihn über den Durchschnitt. Er war
+konservativ bis in die Fingerspitzen, und unsere Ansichten platzten
+ständig aufeinander. Aber hinter den seinen stand eine so gefestigte
+Überzeugung, so daß mir meine eigene Unklarheit peinlich zum Bewußtsein
+kam. Im Grunde war ich nur sicher in der Negation; diese Schwäche meines
+Standpunkts schien Herr von Syburg rasch zu entdecken, sie verlieh ihm
+ein Übergewicht, das mir in unserem ferneren Verkehr stets peinlich
+fühlbar blieb.
+
+Er besuchte uns am nächsten Tage und fehlte dann in keiner Gesellschaft.
+Er machte mir auf seine Art den Hof, tanzte fast jeden Kotillon mit mir
+und war stets mein Tischherr.
+
+»Nun hast du glücklich wieder eine neue 'Briefmarke',« meinte mein
+Vater; aber während er sonst an dieselbe Bemerkung ärgerliche Vorwürfe
+knüpfte, lächelte er diesmal dazu. Er neckte mich, weil ich
+fahnenflüchtig zum Zivil überginge, und erzählte wohl auch gelegentlich
+von dem großen Besitz der Syburgs in Schleswig, oder von dem
+Ministerportefeuille, das der Landrat schon heimlich in der Tasche
+trüge. Seine Stimmung machte mich weich, -- der Gedanke, daß es
+vielleicht in meiner Hand liegen sollte, ihn glücklich zu machen, lähmte
+meine Widerstandskraft. Dabei wurde ich Syburg gegenüber immer scheuer
+und büßte immer mehr von meiner Lustigkeit ein, weil ich mich ständig
+von ihm beobachtet wußte.
+
+»Sie kommen mir vor wie ein Abiturient im Examen,« sagte Hessenstein
+eines Tages zu mir, der der einzige war, dem die Entwicklung der Dinge
+mißfiel, und der kein Hehl daraus machte. Im stillen gab ich ihm recht.
+Er unterwirft mich wirklich einer förmlichen Prüfung, dachte ich bitter.
+Häufig nahm er einen dozierenden Ton an, der mich wild machen konnte.
+Und doch wuchs seine Macht über mich. Es imponierte mir, daß er nie den
+girrenden Seladon spielte, sich niemals meinen Wünschen fügte, ja, sich
+manchen leisen Tadel gestattete, dessen Berechtigung ich anerkennen
+mußte. Schon vor Jahr und Tag hatte ich meiner Kusine geschrieben: »Ich
+bedarf der Bewunderung, sagst du, -- gewiß! Und doch sehne ich mich nach
+einem Menschen, den nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft,
+der mir nicht demütig die Hände küßt, sondern mich sanft und mitleidig
+an sein Herz zieht und spricht: Nun ruh dich aus, du armes, müdes Kind!«
+
+Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur Entfremdeten konstruieren
+künstlich eine Weibesliebe, die den Gleichen begehrt. Den Höherstehenden
+will sie; denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbedürftigkeit ist
+ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie, meiner Sehnsucht Erfüllung
+vorzutäuschen, und wenn ich auch oft entsetzt gewahr wurde, daß der
+Instinkt der Natur mich nicht zu Syburg zwang, sondern es zwischen uns
+lag wie eiskaltes Gletscherwasser, so schlugen meine Wünsche immer
+wieder die Brücken hinüber. Nur des Nachts rächte sich die unterjochte
+Natur an mir. Stundenlang lag ich wach und kämpfte mit den warnenden
+Stimmen meines Innern; erst wenn der Tag dämmerte, fiel ich in unruhigen
+Schlaf. Von der Servatiikirche hörte ich die Stunden schlagen; die
+gleichmäßigen Schritte zählte ich, mit denen der Posten vor dem Hause
+unaufhörlich auf und nieder ging, und verkroch mich zitternd unter die
+Decke, wenn die Mäuse, die unvertilgbar schienen, piepsend über die
+Diele raschelten. Von Kindheit an brach mir der Angstschweiß aus, sobald
+eins der zierlichen grauen Geschöpfchen in meine Nähe geriet.
+
+Ich wurde immer schmaler und blasser, und müde -- immer müder. Die
+weiche Frühlingsluft, die merkwürdig früh in diesem Jahr Blätter und
+Blüten hervorlockte, erschlaffte mich vollends.
+
+Syburg schien meine krankhafte Mattigkeit für weibliche Sanftmut zu
+halten; das verstärkte in seinen Augen meine Anziehungskraft. Ich ließ
+es geschehen, daß er mich fast schon wie sein Eigentum behandelte.
+Hessenstein versuchte vergeblich, meine Widerstandskraft wach zu rufen.
+»Sie rennen sehenden Auges in Ihr Unglück,« sagte er einmal, »niemals
+passen Feuer und Wasser zusammen.« »Aber das Wasser löscht das Feuer
+aus,« antwortete ich mit trübem Lächeln, »und gerade das ists, was ich
+brauche.«
+
+Es war schon Ende März, als Prinz Sayn, der Kommandeur der Kürassiere
+und unermüdliche liebenswürdige Arrangeur aller Feste, zum Polterabend
+einer bevorstehenden Hochzeit eine Quadrille zu tanzen in Vorschlag
+brachte. Die Paare wurden bestimmt; Syburg war selbstverständlich mein
+Partner. Bei einer der vorbereitenden Zusammenkünfte wurde die
+Kostümfrage besprochen, und wir hatten uns beinahe schon geeinigt, der
+Aufführung den Charakter eines Schäferspiels zu geben, als meine Mutter
+das Hofkostüm der Rokokozeit für angemessener hielt. Der Prinz und seine
+Frau, die mittanzen wollten und an den jugendlichen Gewändern schon
+Anstoß genommen hatten, stimmten ihr zu; da niemand einen Einwand erhob,
+schien die Angelegenheit erledigt. Beim Nachhausewege erfuhr ich erst
+den Grund, der meine Mutter zu ihrer Anregung bestimmt hatte. »Dein
+schweriner Pompadourkostüm hast du nur das eine Mal angehabt,« sagte
+sie, sichtlich befriedigt, »wir sparen nun, Gott Lob, jede
+Neuanschaffung.«
+
+»Mein Pompadourkostüm!« Ich erschrak und rief heftig: »Lieber verbrenn'
+ichs!«
+
+»Du bist wohl nicht ganz bei Trost!« antwortete Mama ärgerlich. Meine
+Blässe erst machte sie aufmerksam. »Ach -- darum!« sagte sie gedehnt,
+»solch eine Sentimentalität hätte ich dir nicht zugetraut.« Ich schwieg.
+
+Bei der ersten Tanzprobe jedoch brachte ich im stillen mit Hessensteins
+Hilfe die Jugend auf meine Seite. Die Herren erklärten, daß die
+Hofkostüme ihnen zu kostspielig seien, die jungen Mädchen, daß sie die
+langen Schleppen nicht leiden könnten. Es war eine förmliche Revolte.
+Syburg allein war auf Seite der älteren Mitwirkenden und der Mütter.
+»Ich kenne die Gründe Ihrer Frau Mutter,« sagte er mir leise, »und ich
+begreife nicht, wie eine so kluge junge Dame wie Sie an diesem
+kindischen Tumult teilnehmen kann.« Ich ärgerte mich über die
+Bevormundung und mehr noch über das gute Einvernehmen zwischen Syburg
+und meiner Mutter, aber die Heftigkeit meines Widerstands war gebrochen;
+wir wurden überstimmt.
+
+Und der Abend kam, wo das alte Kleid vor mir lag. Ein leiser Duft von
+Jasmin stieg aus den Falten, und seine Bänder und Schleifen, seine
+grünen Blätter und roten Rosen sahen mich an, wie lauter lebendig
+gewordene Erinnerungen. In leisen Melodien raschelte die Seide: »O la
+marquise Pompadour -- Elle connait l'amour --«. Durch das Mieder, das
+sich eng um meinen Körper schmiegte, spürte ich den Arm, der mich einst
+so zärtlich an sich gezogen hatte.
+
+»Hellmut!« stöhnte ich leise und brach in Tränen aus. Der Felsen, den
+ich vor die Grabkammer meines Innern gewälzt hatte, war zersprengt; und
+wo ich nur Totes wähnte, stürzte wild wie ein Gießbach das Leben hervor.
+
+»Du weinst?!« Mein Vater stand vor mir. »Es ist nichts -- Papachen --
+nichts!« versuchte ich ihn zu beruhigen und trocknete hastig Augen und
+Wangen. Er lächelte liebevoll: »Sei nur ganz ruhig, mein Alixchen --
+alles -- alles wird gut werden!« Und als ich, meiner selbst nicht
+mächtig, noch einmal krampfhaft aufschluchzte, zog er mir die Hände vom
+Gesicht und sagte leise: »Syburg war längst bei mir und hat -- als ein
+ehrenwerter Mann durch und durch -- zuerst deine Eltern gefragt, ob er
+um dich werben dürfe ...« Ich fuhr auf und starrte ihm entsetzt ins
+Gesicht. »Das darf dich nicht kränken, mein Kind, -- du solltest
+selbstverständlich nichts davon wissen -- die Freiheit der Entschließung
+sollte dir allein vorbehalten bleiben --« Er schloß mich gerührt in die
+Arme, -- er war überzeugt, mich ganz getröstet zu haben -- der gute
+Vater!
+
+Er führte mich zum Wagen hinunter -- meine Schleppe raschelte über die
+breiten Stufen -- draußen, rechts und links, standen die Menschen, um
+mich anzustaunen; -- hatte ich diesen Augenblick nicht schon einmal
+erlebt? Damals -- im weißen Kleide wars gewesen, als ich zur Kirche
+fuhr, um ein Gelübde abzulegen, von dem mein Herz nichts wußte!
+
+Auf der Treppe des Hotels ergriff mich ein Schwindel. Hessenstein sprang
+zu und stützte mich. In demselben Augenblick war Syburg neben mir. »Ihre
+Dame erwartet Sie,« sagte er scharf und kühl zu meinem Begleiter, und
+gehorsam legte ich meine Hand in seinen dargebotenen Arm.
+
+Und dann tanzten wir. War ich ein Automat, daß meine Füße sich im Takt
+bewegten, während meine Seele weit, weit fort war -- oder war ich die
+kleine Seejungfrau, die ihre Menschwerdung bei jedem Schritt, den sie
+tat, mit schneidenden Schmerzen bezahlen mußte?! -- Wie fest schlossen
+sich heute die Finger meines Tänzers um meine Hand -- wie
+Teufelskrallen, die mich nicht mehr los lassen wollten --; und so
+sengend heiß wehte sein Atem mir in den Nacken! Ängstlich vermied ich
+es, ihn anzusehen, ich sah ihn niemals gern, wenn er tanzte, wie auf
+Draht gezogen bewegte er sich, -- ach, und heute -- heute tanzte
+spukhaft eine andere Gestalt neben mir --
+
+Die Musik intonierte die letzte Tour. Ich mußte ihn ansehen, über die
+Schulter hinweg, fächerschlagend, mit einem koketten Lächeln. Und da
+traf mich sein Auge, und blieb auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides
+haften -- mit schwüler, begehrlicher Lüsternheit --
+
+Noch eine Verbeugung, und wiegenden Schrittes, sich an den Fingerspitzen
+haltend, verließen die Paare den Saal. Meine Kraft war zu Ende. Ich bat
+Syburg, meine Mutter zu rufen, da ich mich leidend fühlte und nach Haus
+fahren müßte. Ohne Rücksicht auf all die erstaunten Blicke, die mich
+trafen, nahm ich den Mantel um und stand schon auf der Treppe, als meine
+Eltern mich einholten. Angekleidet, wie ich war, warf ich mich zu Hause
+aufs Bett. Mama fühlte mir den Puls und schickte nach dem Arzt. »Die
+übliche Frühlingskrankheit junger Damen,« sagte er, »schicken Sie ihr
+Fräulein Tochter aufs Land.« Mit einem Gefühl der Befreiung ergriff ich
+den guten Rat und stellte mich kränker, als ich war, nur um ihm folgen
+zu dürfen.
+
+Es war Ende April damals. Die kleine Fürstin Limburg fiel mir ein, die
+mich wiederholt nach Hohenlimburg eingeladen hatte. Sie war ein
+reizendes Frauchen, das jedoch seiner nicht ganz ebenbürtigen Herkunft
+wegen von der Gesellschaft Münsters schlecht behandelt worden war.
+Zuerst aus bloßem Widerspruchsgeist, dann aus Sympathie hatte ich mich
+ihrer eifrig angenommen und mir ihre Freundschaft erworben. »Kommen Sie
+sofort, freue mich riesig« war ihre telegraphische Antwort auf meine
+Anfrage, ob mein Besuch ihr recht wäre.
+
+ * * * * *
+
+Der Frühling des Jahres 89 schien allen Dichterphantasien gerecht werden
+zu wollen. In reinem Blau spannte sich der Himmel Tag um Tag über die
+Erde, und es sproßte und blühte überall; keinen kahlen Winkel duldete
+der Lenz in seiner verschwenderischen Laune. Am ersten Mai fuhr ich über
+die Haar hinunter ins Lennetal; leuchtend wie flüssiges Silber,
+schlängelte sich der Fluß zwischen den Bergen, die ihn links und rechts,
+von grüngoldigem Glanz übergossen, in weichen Linien begrenzten. So weit
+das Auge blickte: Wald und Berg, und hoch oben die Burg mit Türmen und
+Zinnen, wie ein starker, trutzig gewappneter Schützer dieses stillen
+Friedens. Aber je näher ich kam, desto mehr verschob sich das Bild:
+breit und massig dehnte sich die Stadt unten am Ufer aus, als hätte sie
+sich mit Ellbogen und Fäusten Platz geschaffen; und verletzt von der
+Roheit des Eindringlings, der mit seinen schwarzen Fabrikschloten zu ihr
+hinauf drohte, zog sich die Burg hinter ihren dunklen Bäumen zurück.
+
+Anna Limburg empfing mich am Bahnhof. Und ihr helles Lachen und
+Schwatzen begleitete unsere ganze Fahrt hinauf, so daß ich Muße hatte,
+die Augen wandern zu lassen. Die Stadt verschwand wieder in der Tiefe;
+je höher wir kamen, desto mehr wuchsen die Berge empor: dort der Kegel
+des Raffenbergs, der Weißenstein mit seinen zackigen Spitzen, das
+Felsentor der Hünenpforte, und fern am Horizont die blauen Höhen der
+Ruhr. O, wer doch immer hoch oben bleiben könnte, wohin kein Lärm und
+kein Ruß zu dringen vermag!
+
+Durch den langen gewölbten Torweg ratterte der Wagen in den Burghof, den
+hohe Mauern, Türme und Wehrgänge umschlossen. »Ists nicht schön hier?«
+lächelte Anna. »Aber mit meinem Fritz würd' ich auch in einer
+Rumpelkammer glücklich sein,« fügte sie rasch hinzu und flog ihrem Mann
+um den Hals, der eben auf uns zu trat.
+
+Stille Tage folgten. Von der Galerie der Schloßmauer träumte ich
+stundenlang ins Land hinaus; auf der Terrasse unter den hohen,
+knospenden Linden saß ich, wo vier alte Geschütze an die Zeit
+erinnerten, da die Grafen von Limburg noch selbständig Kriege führen und
+Münzen prägen konnten; und zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde besuchten wir
+die Gegend ringsum. Noch gab es hier weltabgeschiedene Täler, mit
+lindenumgrünten Bauernhöfen, und steile Höhen, mit Burgen gekrönt, von
+den Sprossen alter Geschlechter bewohnt; fast überall aber dröhnten die
+Eisenhämmer, kreischten die Sägen und klapperten die Mühlen; und wer die
+Geister der Vergangenheit suchen wollte, der mochte sie wohl nur noch
+tief in den Felsenhöhlen der Berge finden. Viele Stätten erinnerten
+durch Namen und Sage an die Götter der Alten, an Wodan und Donar, an die
+Kämpfe der Römer gegen das mächtige Volk der Sachsen, an Wittekinds
+vergebliches Ringen mit dem gewaltigen Karl und seine Unterwerfung unter
+Kreuz und Krone, -- aber schon lauerte das gefräßige Ungeheuer, die neue
+Zeit, um sie alle zu verschlingen. Sieghaft stieg der Fabrikschornstein
+empor, wo der Burgturm langsam zusammenstürzte. Ich floh seinen Anblick
+und wäre so gern auf den ausgebreiteten schillernden Flügeln der
+Phantasie vor mir selbst entflohen ins sonnendurchglühte Märchenreich,
+aber die Wirklichkeit fing mich immer wieder mit ihren grauen, dichten
+Spinnenfäden.
+
+Mein Vater schrieb mir fast täglich, und selten nur blieb Syburgs Name
+unerwähnt in seinen Briefen. »Ich sah ihn auf dem letzten Rennen in
+Hamm,« hieß es zuletzt, »er frug voll aufrichtiger Teilnahme nach Deinem
+Befinden und freute sich Deines Wohlergehens. Er hofft Dich in Brake bei
+Bodenbergs zu sehen; Limburgs werden des alten Herrn siebenzigjährigen
+Geburtstag doch sicher mitfeiern helfen.«
+
+Daß er sich so gewaltsam in mein Leben hineindrängte und die Erwägungen
+der Vernunft, die Gefühle der Kindespflicht, die Sehnsucht nach Inhalt
+und Zweck des Daseins seine Wünsche unterstützten! Jene geheimnisvolle
+Gewalt des Instinkts, die mich in Münster von seiner Seite gerissen
+hatte, schien mich auch jetzt unter ihren Willen zwingen zu wollen. »Geh
+ihm aus dem Wege --« flüsterte sie mir zu. Aber von jeher hielt ich sie
+für meinen bösen Engel, mit dem ich glaubte ringen zu müssen. Zu tief
+hatte sich mir der Mutter einziges Erziehungsprinzip eingeprägt, das
+Selbstbeherrschung mit Selbstentäußerung gleich setzte.
+
+So saß ich denn am nächsten Morgen zur Abfahrt gerüstet am
+Frühstückstisch -- »ohne Mailaune,« wie Anna neckend bemerkte, -- als
+der Diener die Post brachte: »Revolution im Kohlenrevier« stand in
+fetten Lettern an der Spitze des Kreisblatts, und mein Vater schrieb:
+»In Gelsenkirchen haben sich ein paar dumme Bengels mausig gemacht, und
+die Kohlenfritzen flehen nun mit schlotternden Knien um militärischen
+Schutz. Obwohl etwas Angst und eine kleine Tracht Prügel den Protzen,
+die die armen Leute zum Besten ihres Geldsacks in die Gruben schicken,
+ganz gesund wäre, mußte ich heute schon eine Kompagnie Dreizehner nach
+Gelsenkirchen schicken, denen die Kürassiere morgen folgen werden. Ich
+finde solche Aktionen eines Soldaten unwürdig ...«
+
+»Zu dumm!« rief Anna ärgerlich. »Nun ists mit der ganzen Stimmung
+vorbei. Statt lustig zu sein, werden uns die Herren mit Politik anöden!«
+
+»Am besten wärs, wir blieben zu Hause,« meinte ihr Mann. Davon aber
+wollte sie nichts wissen. Sie weinte fast vor Erregung.
+
+»Angsthase, der du bist! Wenns in Münster brennt, wirst du in Limburg
+noch nach der Feuerspritze laufen!« Der Fürst lachte und streichelte der
+kleinen Frau begütigend die Wangen.
+
+»Sei ruhig, Kindchen -- natürlich fahren wir! Brake ist, Gottlob, weit
+vom Schuß, und im dortmunder Kreis scheint alles ruhig zu sein.«
+
+Aber je mehr wir uns auf der Fahrt aus den grünen Bergtälern entfernten,
+und je zahlreicher die zum Himmel starrenden Essen wurden, desto stärker
+sprach ihr Anblick für ungewöhnliche Vorgänge: das Leben, das ihnen
+sonst in grauen Wölkchen, in schwarzen Schwaden, in tollem Funkensprühen
+vielgestaltig entquoll, war erloschen. Ungehindert strahlte die
+Maiensonne vom wolkenlosen Himmel; wie ein Feiertag wars.
+
+Im grauen Herrenhaus zu Brake, das, von einem Wassergraben umgeben, mit
+seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern düster ins weite ebene Land
+hinaussah, wurden wir freudig empfangen. Viele hatten im letzten
+Augenblick abtelegraphiert, vor allem fehlte es an jungen Herren für die
+tanzlustigen Mädchen, sie waren entweder mit ihrer Truppe im
+Streikgebiet um Gelsenkirchen oder mußten in ihren Garnisonen aller
+Befehle gewärtig sein. Nur Syburg trat mir entgegen -- mit einem so
+freudigen Aufleuchten in den sonst so unbeweglichen Zügen, daß es mir
+unwillkürlich warm ums Herz ward -- und Hessenstein, der mit seiner
+Schwadron in Dortmund in Quartier lag und herübergeritten war. »Am
+liebsten hätte ich alle meine Kerls mitgenommen,« sagte er. »Man schämt
+sich förmlich seines Säbelrasselns inmitten völliger Kirchenruhe.«
+
+»Wenn Sie nur nicht doch noch recht blutige Arbeit bekommen!« meinte
+Syburg. »Eine Rotte Betrunkener, -- und das Unglück ist geschehen.«
+
+Anna sollte Recht behalten: trotz der blumengeschmückten Tafel, der
+feurigen Weine und der launigen Toaste auf den Hausherrn und das
+Geburtstagskind wollte die echte Feststimmung nicht aufkommen. Alles war
+voll von den Ereignissen, und jeder wußte andere Details zu erzählen.
+Der Ortspfarrer war eben von Castrop zurückgekehrt. Er hatte die
+Streikenden der Zechen Erin und Schwerin gesehen und gesprochen. »Ihr
+Verhalten ist ein so würdiges,« sagte er, »daß die Aufregung der
+Zechenbeamten dem gegenüber einen peinlichen Eindruck macht.«
+
+»Dasselbe habe ich eben vom Oberpräsidenten gehört, den ich in Witten
+traf,« meinte Graf Recke. »Er kam aus Gelsenkirchen, wo er mit den
+Arbeitern der Hibernia verhandelt hat. Ihre Forderungen halten sich
+zunächst in durchaus diskutabeln Grenzen, und wenn die Presse wegen der
+Achtstundenschicht Zetermordio schreit, so weiß sie eben nicht, was uns
+alten Westfalen von Jugend an bekannt ist: daß nach unseren
+Bergordnungen vom 17. Jahrhundert an die Schicht schlechthin achtstündig
+war und erst das gesegnete 19. Jahrhundert, wie mit so vielen guten
+alten Bestimmungen, auch damit aufräumte. Die Knappschaften verlangen
+nichts anderes als das Recht ihrer Väter.«
+
+Baron Bodenberg bestätigte Reckes Behauptung.
+
+»Und mit ihren übrigen Wünschen steht es im Grunde nicht anders,« fügte
+er hinzu, »in meiner Jugend hatten die Grubenbesitzer den Knappen
+gegenüber keine freie Hand. Über Annahme und Entlassung der Arbeiter,
+Feststellung der Löhne, Regelung des Betriebs usw. usw. stand die
+Entscheidung damals ausschließlich der königlichen Bergbehörde zu.
+Jetzt, im Zeitalter der famosen freien Konkurrenz kann jeder Jude, der
+sich eine Grube kauft, aber nie in seinem Leben selbst die Nase
+hineinsteckt, machen, was er will. Opponieren ihm mal die alten Leute,
+so holt er sich polnisches Gesindel und ruiniert uns durch das
+hergelaufene Volk den guten Stamm und seine gute Gesinnung. Ich sprach
+erst gestern einen Häuer von der Zeche Schleswig, der hier vom Gutshofe
+stammt, ein Spielkamerad meiner Söhne war und ein Knappe vom guten alten
+Schlage ist. 'Wir wollen gar nicht randalieren,' meinte der, 'und hauen
+unseren grünen Jungens selbst eine runter, wenn sie spektakeln. Auch um
+den Lohn ists uns nicht so sehr zu tun, nur kürzere Schicht müssen wir
+haben und anständige Behandlung.' Und solche Leute werden wie Aufrührer
+mit Pulver und Blei bedroht!«
+
+»Ich glaube, die Herren sehen die Dinge zu sehr durch die Brille der
+Tradition,« mischte sich Fürst Limburg ins Gespräch. »Alte Bestimmungen
+und altes Recht entsprechen doch kaum mehr der ganz veränderten
+Betriebsweise. Und das wissen die einsichtsvolleren unter den Knappen
+sicher ganz genau. Mir scheint daher, daß die eigentliche Triebkraft der
+ganzen Bewegung nicht in der Sehnsucht nach der 'guten alten Zeit' zu
+suchen ist.«
+
+»Und worin sonst, wenn ich fragen darf?« warf der alte Bodenberg, der so
+sehr das Orakel der Gegend war, daß er Widerspruch selten erfuhr,
+gereizt ein.
+
+»In demselben Gegensatz, der auch die Sozialdemokratie groß zieht: dem
+zwischen den ungeheueren Reichtümern auf der Seite der Unternehmer und
+der Besitzlosigkeit, um nicht zu sagen der Armut, auf der Seite der
+Arbeiter --«
+
+»Armut! Darin steht man wieder Ihre jugendliche Neigung zu starken
+Worten!« polterte Bodenberg; »als ob unsere Bergleute von Armut auch nur
+'ne Ahnung hätten! Haben alle ihr Häuschen, ihren Gemüsegarten und
+mästen sich ein Schwein --«
+
+»Und doch, Herr Baron, haben wir unten im Dorf manche Ehefrau, die schon
+mitverdienen muß, und die Kinder schicken sie gewiß auch nicht aus
+Vergnügen so früh als möglich -- mit gefälschten Geburtsscheinen, wenns
+nicht anders geht -- in die Grube,« ließ sich der Pfarrer vernehmen.
+
+»Von der verdammten Genußsucht kommt das, und von nichts anderem!«
+unterbrach ihn der alte Baron, »zu meiner Zeit gingen die Knappenfrauen
+noch in Kopftüchern und Schürzen in die Kirche -- heute muß jede einen
+Federhut tragen und die Röcke auf dem Tanzboden schwenken --«
+
+»Wenn die Leute sehen, daß die Herren Direktoren mit vierzig- und
+fünfzigtausend Mark Gehalt auf Gummirädern fahren und Sektgelage geben
+und die Aktionäre schmunzelnd enorme Dividenden schlucken, so ists doch
+kein Wunder, daß sies ihnen auf der einen Seite nachmachen möchten und
+auf der anderen vor Neid immer rabiater werden. Die ganze Bewegung ist
+dadurch entstanden -- ich komme damit auf meinen Ausgangspunkt zurück
+--, daß die glänzende Konjunktur der letzten Jahre ausschließlich den
+Besitzern und Aktionären, nicht aber den Bergleuten zugute kam. Hier
+hakt notwendigerweise die sozialdemokratische Agitation ein.«
+
+»Sie sehen, was das betrifft, sicher zu schwarz, lieber Limburg,« sagte
+Graf Recke, »jedenfalls, soweit unser hörder Kreis in Frage kommt.
+Unsere frommen, königstreuen Bergleute -- und Sozialdemokraten! Selbst
+ihre Versammlungen schließen sie mit einem Hoch auf den Kaiser!«
+
+Hessenstein räusperte sich vernehmlich: »Und doch haben mir heute morgen
+ein paar Kameraden von den Dreizehnern erzählt, daß die Direktoren der
+Zeche Schleswig gleichfalls um militärischen Schutz gebeten haben. Man
+fürchte Ausschreitungen gegen Streikbrecher, hieß es.«
+
+Bodelschwing lachte, daß ihm die Tränen in den weißen Bart liefen: »Das
+ist wirklich kostbar! -- Die Furcht ist schon die ansteckendste
+Krankheit! -- Viel eher möcht' ich glauben, daß unsere Dorfschönen sich
+auf diese ungewöhnliche Weise für den morgigen Feiertag die Tänzer
+bestellten, die ihnen wahrscheinlich ebenso fehlen wie uns!«
+
+Schweigsam hatte Syburg bis dahin zugehört. Sein kühler,
+hochmütig-wissender Ausdruck -- der typische des altpreußischen Beamten
+-- reizte mich.
+
+»Ihre landrätliche Würde verbietet Ihnen wohl, sich auszusprechen?«
+wandte ich mich spottend an ihn, und als er, unangenehm überrascht,
+aufsah, fügte ich rasch hinzu: »Oder sollten Sie ketzerische Gedanken zu
+verbergen haben?«
+
+»Ketzerische Gedanken?!« -- er warf mir einen tadelnden Blick zu --
+»vielleicht! Aber andere, als Sie anzunehmen scheinen! So milde, wie die
+Herren hier, vermag ich die Dinge nicht zu beurteilen. Nach meiner
+Ansicht hat eine gewissenlose sozialdemokratische Agitation die gut
+bezahlten Bergarbeiter zum Kontraktbruch verführt, und es ist unsere
+Pflicht, sie, wenn es sein muß, mit Gewalt auf den Weg des Rechts
+zurückzuführen. Wortbruch und Pflichtvergessenheit sind überall der
+Anfang vom Ende.«
+
+»Ganz Ihrer Meinung, Herr von Syburg!« antwortete ich, während mir das
+Blut heiß in die Schläfen stieg. »Es kommt nur darauf an, auf welcher
+Seite Wortbruch und Pflichtvergessenheit zu finden ist! Wenn die
+Grubenbesitzer, die in der glücklichen Lage sind, eine Havanna rauchend
+vor dem Tischlein-deck-dich zu sitzen, den Arbeitern nicht so viel
+geben, daß sie anständig leben können, so ist das Pflichtvergessenheit;
+und wenn sie, die zu allen Vergnügungen der Welt Zeit haben, ihnen das
+althergebrachte Recht auf eine geregelte Arbeitszeit vorenthalten, so
+ist das Wortbruch!«
+
+Syburg preßte die Lippen zusammen, -- er zwang sich offenbar zu einer
+ruhigen Antwort.
+
+»Sie sprechen aus der Gefühlsperspektive der Frau. Das ist
+verzeihlich. Sie kennen, Gott sei Dank, diese aufrührerische, mit
+sozialdemokratischen Phrasen vollgefütterte Bande nicht, die jetzt auf
+den Gruben und in den Fabriken das große Wort führt und an allem
+rüttelt, was uns heilig ist.«
+
+Wie eine Vision sah ich plötzlich all die Gestalten des Elends wieder,
+die mir im Leben begegnet waren: aus den Vorstädten Posens und
+Augsburgs, aus den Dörfern des Samlands.
+
+»Sie mögen recht haben,« sagte ich nachdenklich, »die kenn' ich nicht --
+aber andere kenn' ich. Und das Eine weiß ich gewiß --« meine Stimme
+zitterte vor Erregung -- »wäre ich eine von denen, meine Geduld wäre
+erschöpft, und ich würde mich um Treue und Pflicht nicht kümmern.«
+
+Syburgs blasses Gesicht hatte sich mit tiefer Röte überzogen; doch die
+Herrin des Hauses hob die Tafel auf, und er unterdrückte noch rasch eine
+scharfe Antwort, die ihm offenbar auf den Lippen schwebte. Während des
+ganzen warmen Frühlingsabends, der uns alle in den Park hinauslockte,
+mied er mich. Nur beim Abschied hielt er meine Hand fest in der seinen
+und flüsterte: »Ich möchte, daß wir uns versöhnen -- ganz und auf immer
+--, darf ich darauf hoffen, wenn ich nach Hohenlimburg komme?« Ich
+nickte nur.
+
+Wir blieben über Nacht in Brake, um den bequemen Frühzug benutzen zu
+können. Aber als wir am nächsten Morgen herunterkamen, trat uns der alte
+Bodenberg mit ernstem Gesicht entgegen. »In Witten und Annen hat das
+Militär scharf geschossen,« sagte er, »in Dortmund soll die Haltung der
+Arbeiter eine drohende sein -- nach Hörde sind, wie mein Verwalter eben
+berichtet, die Kürassiere unterwegs. Wenn auch die Stimmung der Leute in
+unserer nächsten Nachbarschaft vollkommen friedlich ist, so möchte ich
+Sie doch bitten, diesen Tag noch abzuwarten -- oder wenigstens Ihre
+Damen hier zu lassen --« So sehr wir uns sträubten -- Anna, weil die
+Gesellschaft des alten Ehepaars sie langweilte, ich, weil mir nichts
+erwünschter gewesen wäre, als den Aufstand der Arbeiter in der Nähe zu
+sehen, -- wir mußten uns fügen.
+
+Ich lief in den Park, -- vielleicht, daß sich von hier aus irgend etwas
+erspähen ließ. Das Abenteuerfieber der Jugend packte mich, dasselbe
+Fieber, durch das Schulbuben auf Auswandererschiffe getrieben und
+schwärmerische Byron-Seelen in phantastische Freiheitskämpfe gerissen
+werden, das Fieber, das überall ausbricht, wo ein Gluthauch plötzlich
+die Normaltemperatur des Alltags vertreibt. Hohe Mauern wehrten mir den
+Ausblick. Sollten sie mich immer wieder von der lebendigen Welt da
+draußen trennen?
+
+Ich trat auf den Gutshof. Feiertägige Stille herrschte auch hier. Aber
+drüben, wo zwei mächtige Linden am Ausgang zur Straße Wache standen, sah
+ich einen Haufen lebhaft gestikulierender Menschen. Ein grauer Kopf mit
+der Bergmannsmütze auf den kurzgeschorenen Haaren ragte aus ihrer Mitte
+hervor. »Ich, ich bin dabei gewesen!« hörte ich ihn schreien, als ich
+näher hinzutrat, -- »ein Wunder, daß ich mit heilen Gliedern davon kam!
+Sie haben geschossen, wie verrückt.«
+
+»So erzählt doch, Mann, erzählt!« -- »Wo -- wo ists denn gewesen?«
+bestürmten ihn die Umstehenden. »In Bochum -- gestern abend. Ein
+blutjunger Leutnant kommandierte Feuer -- grad, als die Menschen aus dem
+Bahnhof strömten. Wie die Hunde die Hammelherde, so umschlossen die
+Soldaten die Leute -- lauter harmloses Volk -- kaum einer von uns
+darunter, -- und dann lag der Platz voller Toten --«
+
+Irgend woher klang eine Kirchenglocke. Der Bergmann schwieg, riß die
+Mütze vom Kopf und schlug mit der harten rissigen Hand das Kreuz über
+Stirn und Brust. Erst jetzt sah ich ihn genauer. Der Kohlenstaub schien
+sich in die Falten unter den Augen eingebrannt zu haben, so daß sie
+aussahen wie die großen runden Augenhöhlen der Totenschädel. Farblos
+fahl waren die Züge; eine breite, gelbe Narbe, die das Gesicht in zwei
+Hälften teilte, entstellte sie zur Fratze. Er wandte sich zum Gehen, und
+die Menge drängte ihm nach. Die gerade schwarze Straße, mit den kahlen
+Pappeln zu jeder Seite und dem schweren Grau trübdunstigen
+Frühlingshimmels ringsum, verschlang sie rasch. Drohend wie ein Galgen
+ragten in der Ferne die Glockenstühle in die Luft, und die
+Sonnenstrahlen scheuten sich vor der Berührung dieser Öde ...
+
+Langsam, schweren Herzens, wandte ich mich wieder dem Schlosse zu. Die
+Hausbewohner waren zur Sonntagsandacht in der Halle versammelt. Auf
+hohem Stuhl saß der Hausherr und las aus der alten Bibel: »Kommet her zu
+mir alle, die ihr mühselig und beladen seid ...«
+
+Und die Vertreter christlicher Ordnung schossen auf die Mühseligen und
+Beladenen! dachte ich bitter.
+
+»Es läßt mir keine Ruhe,« sagte der alte Bodenberg, nachdem der letzte
+Ton auf dem Harmonium verklungen war und die Dienerschaft sich entfernt
+hatte. »Kommen Sie, Limburg, wir gehen ein Stück Weges zur Zeche
+hinunter --«
+
+Entsetzt schrie Anna auf: »Das darfst du mir nicht antun, Fritz!« Aber
+begütigend legte die alte Baronin ihre feine Greisenhand auf den Arm der
+Erregten: »Fürchten Sie nichts, kleine Frau, -- die Leute hier krümmen
+unseren Männern kein Härchen.« Wir blieben trotzdem in kaum zu
+bemeisternder Unruhe zurück. Wir horchten auf jeden Ton, während einer
+den anderen durch eine möglichst harmlos-heitere Unterhaltung über die
+Erregung hinwegzutäuschen suchte, und sprangen gleichzeitig erleichtert
+auf, als nach einer Stunde Bodenbergs kräftige Stimme vom Hof herauf
+durch das Fenster klang.
+
+»Hab' ichs euch nicht gesagt?« lachte er uns entgegen. »Sie freuen sich
+drunten ihres Feiertags, wie nur je. Die Kinder spielen auf den Straßen,
+die Frauen stehen im Sonntagsputz vor den Türen und schwatzen mit den
+Nachbarn.«
+
+»Und doch heißt es, daß Soldaten kommen,« unterbrach ihn Limburg mit
+einem Ausdruck schwerer Besorgnis in den Zügen.
+
+»Mögen sie doch! Gegen die Kinder, die jetzt schon in der Vorfreude
+hurraschreiend ihre Fähnchen schwingen, werden sie kaum zu Felde ziehen.
+Sahen Sie nicht den krummbeinigen Schlingel, dem seine Gefährtin, ein
+süßes Mädelchen mit Haaren wie rote Flammen, den Platz an der Spitze der
+kleinen Gesellschaft streitig machte? Gefährliche Aufrührer sind das,
+nicht wahr?!«
+
+»Gewiß sah ich sie -- aber ich sah auch die Gesichter der Männer hinter
+den Fenstern der Kneipe ...«
+
+Ein Geräusch -- wie ein fernes Prasseln von Hagelkörnern auf
+Glasscheiben -- unterbrach das Gespräch. Bodenberg wurde aschfahl --
+»Gewehrsalven« -- murmelte Limburg. Wir standen, wie an den Boden
+gebannt, -- in atemloser Erwartung. Unten auf dem Hof liefen die Leute
+zusammen. »Sie schießen,« schrie einer. Wir stürzten hinunter bis ans
+Tor, keiner sprach mehr ein Wort, aber von einer Angst erfüllt starrten
+wir alle die lange, öde, schwarze Straße hinab. Die Zeit schien still zu
+stehen, Ewigkeiten dünkten uns die Minuten. Endlich erhob sich in der
+Ferne eine Wolke Staubs vom Boden: Menschen, die liefen, als wäre der
+Teufel ihnen auf den Fersen. Näher und näher kamen sie: Weiber mit
+wehenden Haaren und verzerrten Zügen -- schreiende Kinder mit rot
+verquollenen Augen -- ihre Sonntagskleider bedeckt mit dem schwarzen Ruß
+der Straße. »Sie morden uns --« stöhnte eine weißhaarige Alte, warf die
+hageren Arme verzweifelt um den Kopf und brach vor uns zusammen ...
+
+Tröstend und helfend gingen Brakes Bewohner von einem zu anderen, und
+endlich gelang es, aus dem wirren Durcheinander des allgemeinen
+Erzählens ein Bild dessen zu gewinnen, was geschehen war.
+
+Der Ton der Pfeifen und Trommeln hatte alles auf die Dorfstraße gelockt.
+Den Großen voran waren die Kinder jubelnd den einziehenden Soldaten
+entgegengelaufen, als ein barsches »Platz da« ihres Führers, eines
+jungen Leutnants, die Freude in Furcht verwandelt hatte. Die Kinder
+hatten sich hinter den Großen verkrochen, die Männer eine drohende
+Haltung angenommen.
+
+»Nur das rothaarige Lieserl stellte sich keck mitten auf die Straße,«
+sagte die Alte, die noch auf dem Boden hockte.
+
+»Und den Franz sah ich, wie er einen Stecken aus unserem Zaun riß und
+damit wild herumfuchtelte,« berichtete zungenfertig eine andere. »'Platz
+da' -- rief der Leutnant dann noch einmal, und die Soldaten trieben uns
+alle gegen die Häuser. Da drängte sich die Mutter vom Franz mit dem
+Kleinsten an der Brust durch die Reihen -- der Junge ist ihr Ältester,
+ihren Mann brachten sie ihr voriges Jahr tot aus der Grube --; sie hatte
+ihn grade erwischt, als der Herr Offizier noch mal losschrie --«
+
+»'Immer die Augen auf den Feind halten,' sagte er. Ich hab' es ganz
+genau gehört,« ergänzte ein blasses Ding mit fanatisch funkelnden Augen
+die Worte der Erzählerin.
+
+»Den Feind, -- damit meinte er uns!« riefen sie alle durcheinander und
+selbst auf den Wangen der Müdesten und Stillsten erschienen rote
+Flecken.
+
+»Da wars aus mit der Ruhe bei den Knappen -- sie drohten mit den
+Fäusten, sie schimpften, auch ein paar Steine flogen ...« Die Erzählerin
+schluchzte auf.
+
+»Dann schossen sie auf uns --« sagte mit tonloser Stimme die Alte. Und
+nun schwiegen sie alle -- nur verhaltenes Weinen unterbrach die Stille.
+
+Ich griff mir an den Kopf, -- es war doch wohl nur ein böser Traum, der
+mich narrte?! Es brauste mir in den Ohren, das Entsetzen schnürte mir
+die Kehle zusammen.
+
+»Dem Franz seine Mutter war die erste, die fiel --« wie aus weiter Ferne
+schlugen die Worte wieder an mein Ohr. »Ich sah sie dicht vor mir -- die
+Haare ganz voll Blut, -- das Jüngste an die Brust gepreßt -- und den
+Stock noch in der Hand, den sie dem Franz entrissen hatte ...«
+
+War ich es, die qualvoll aufstöhnte -- oder war es _ein_ Ton, der sich
+uns allen entriß?!
+
+»... Ja, und die rote Liefe lag auch mitten auf der Straße -- sie guckte
+grade in den Himmel mit den toten Augen ...«
+
+»Das süße Mädelchen mit den Flammenhaaren ...« flüsterte der alte
+Bodenberg mit erstickter Stimme.
+
+ * * * * *
+
+Wir fuhren noch an demselben Tage auf einem großen Umweg zurück. Dicht
+hinter Unna wies der Fürst aus dem Fenster. »Wir passieren hier den
+historischen Boden der Zukunft,« sagte er, »dort drüben auf der Heide
+stand noch zu meines Vaters Lebzeiten jener uralte sagenumwobene
+Birkenbaum, und jenseits, von den Schlückinger Höhen, sahen die Bauern,
+wie die blutige Schlacht um ihn tobte.«
+
+»Vielleicht ist sie heute schon keine Sage mehr,« antwortete ich.
+
+Mit steigender Erregung verfolgte ich in den nächsten Tagen die
+Ereignisse. Noch mehr als durch die Zeitungen erfuhren wir durch Briefe
+und durch die Erzählungen der Augenzeugen.
+
+Kaum eine Stimme war, die für die Zechendirektoren Partei ergriffen
+hätte, und die Empörung war allgemein, je häufiger sie den Bergleuten,
+die im Vertrauen auf ihre Versprechungen die Arbeit wieder aufgenommen
+hatten, ihr Wort brachen.
+
+»Habt ihr endlich Hunger genug?!« Damit empfingen die Zechenbeamten von
+Gelsenkirchen die wieder einfahrenden Knappen, und in Hörde trieben sie
+kranke Weiber und Kinder aus den Zechenhäusern, wenn die Männer im
+Ausstand beharrten.
+
+»Ich glaube, daß wir vor einer großen Umwälzung stehen,« schrieb ich an
+meine Kusine, »die Macht des Kapitals muß gebrochen werden. Vor hundert
+Jahren hat die Revolution den Absolutismus und den Feudalismus gestürzt,
+-- sie waren dessen wert! --, eine künftige Revolution wird den
+Kapitalismus vernichten, und wir werden das wunderbare Schauspiel
+erleben, daß der Adel und die Arbeiter zusammen gehen.«
+
+Die Deputation der Bergleute zum Kaiser schien mir der Auftakt des
+großen Schauspiels, das ich erwartete. Und die ersten Nachrichten von
+ihrem Empfang, von der Anerkennung ihrer Wünsche durch den Monarchen
+bestätigten meine Hoffnungen. Dann aber sickerten allerlei andere
+Gerüchte durch: die drei Deputierten waren keineswegs befriedigt
+zurückgekommen; kaum zehn Minuten hatte er Zeit gehabt, sie anzuhören,
+mit einer Drohung gegen alle, die sich den Anordnungen der Behörden
+widersetzen würden, hatte er seine Antwort geschlossen. Und was folgte,
+schien die Wahrheit der Gerüchte zu bestätigen: das ganze Streikkomitee
+wurde verhaftet, der Oberpräsident, der stets zu vermitteln gesucht
+hatte, mußte einem Nachfolger weichen, dem der Ruf eines Scharfmachers
+voran ging. »Studt ist ein glatter Höfling,« schrieb mir mein Vater,
+»der mir neulich mit dem verbindlichsten Lächeln erklärte, daß meine
+offenbare Verkennung so trefflicher Leute, wie der Grubenmagnaten,
+höheren Orts unliebsam empfunden würde. Mich solls nicht wundern, wenn
+wir in Preußen noch mal so weit kommen, vor jedem Geldsack auf dem
+Bauche zu rutschen.«
+
+Unter den Enttäuschungen litt ich, als beträfen sie mich selbst. Mit der
+Märtyrergloriole hatte ich das Haupt der erschossenen Bergmannsfrau und
+das rote Köpfchen des Proletarierkindes umwoben und den gräßlichen
+Eindruck in der eigenen Erinnerung verklärt; nun waren sie umsonst
+gestorben, und nichts als der schwarze Straßenruß umgab sie.
+
+Ich war in wehmütig weicher Stimmung, als Syburg kam. Am Morgen
+desselben Tages hatte mir Anna mit einem selig-verschämten Lächeln von
+ihrer Mutterhoffnung erzählt, hatte mich in das weiße Zimmer geführt,
+das den jungen Erdenbürger erwartete, und all die weichen, duftigen
+Dinge aus Spitzen und Battist waren mir durch die Finger geglitten.
+Meine Hände waren heiß geworden dabei, und die Tränen waren mir in die
+Augen gestiegen. Und die kleine Anna hatte sich emporgereckt, um mich
+mit einem altklug wissenden Ausdruck auf den Mund zu küssen.
+
+Nun ließ sie all die Kupplerkünste spielen, in denen junge, glückliche
+Frauen Meisterinnen sind. Sie pries neckend meine Schönheit und meine
+Tugenden, erzählte allerlei Abenteuerliches von meinen vielen Verehrern
+und ließ uns schließlich, Müdigkeit vorschützend, im Park allein. Syburg
+schien nur darauf gewartet zu haben.
+
+»Ich möchte Klarheit haben zwischen uns, volle Klarheit, Fräulein Alix,«
+begann er, zum erstenmal vertraulich meinen Namen nennend. Ich fuhr
+unwillkürlich erschrocken zusammen. Aber die Frage, die er stellte, war
+nicht die erwartete -- gefürchtete. »Man hat mir erzählt, Sie hätten
+sich neulich nach dem Aufstand auf der Zeche Schleswig mit größter
+Schärfe für die Streikenden ausgesprochen.«
+
+Ich bezwang meinen Zorn über diese Art, mich auf Herz und Nieren zu
+prüfen.
+
+»Und wenn ich es getan hätte,« sagte ich rasch und abwehrend, »ist es
+nicht eine der ersten Forderungen Ihres Christentums, den Unschuldigen
+beizustehen? -- Gebietet es nicht Ihre Religion, sich opfermütig
+zwischen die Kinder und ihre Mörder zu werfen?«
+
+»Mein Christentum?! Meine Religion?!« Er sah mich groß an. »Sie haben
+sich falsch ausgedrückt, wie ich hoffe! Unser Glaube ist der gleiche --
+nicht wahr, Fräulein Alix?«
+
+»Sie spielen ein männliches Gretchen, Herr von Syburg!« fuhr ich auf,
+»mit welchem Recht behandeln Sie mich wie ihr Beichtkind?!«
+
+»Mit dem Recht des Mannes, der das Jawort ihrer Eltern erhielt!« Er
+griff nach meiner Hand, die ich ihm heftig entriß.
+
+»So erfahren Sie denn, daß ich dies Recht nicht anerkenne! Niemand hat
+über mich zu verfügen -- niemand -- als ich, ich ganz allein. Und ich --
+ich werfe Ihnen ihr Jawort vor die Füße!«
+
+Ich wandte ihm den Rücken, schritt ruhig durch die Lindenallee, über den
+Burghof, die Treppen hinauf in mein Zimmer -- warf die Tür ins Schloß,
+riegelte zu -- reckte die Arme weit aus: nun war ich frei!
+
+Anna ließ ich vergebens klopfen -- fragen -- bitten. Ich wäre
+außerstande gewesen, irgend jemandem Rede und Antwort zu stehen. Ich
+mußte allein sein.
+
+Noch stand ich mit einem Gefühl des Schreckens vor dem Abgrund, der
+zwischen mir und meiner Welt auseinanderklaffte. Unter den Speerwürfen
+blendenden Sonnenlichts war der Nebel zerrissen, den ich, mich selbst
+belügend, so lange für eine Brücke gehalten hatte. Ich stand auf
+fremdem Boden, -- zurecht finden mußt ich mich, meine Gedanken sammeln,
+über meine Zukunft entscheiden.
+
+Am nächsten Morgen, in aller Frühe schrieb ich an meine Eltern und trug
+den Brief selbst zur Stadt hinunter. Schneidend pfiff der Wind über die
+Höhen, als ich abwärts schritt. In grauen Wolken verschwanden die Türme
+der Burg, und aus der Tiefe grüßten mich sieghaft die schwarzen Schlote.
+
+
+
+
+Vierzehntes Kapitel
+
+
+Und nun kamen stille Wochen auf Hohenlimburg. Die Mutterhoffnung hatte
+Anna völlig verändert. Sie lernte die Einsamkeit lieben und überließ
+mich stundenlang mir selbst. In den ersten Tagen fürchtete ich mich vor
+jedem Postwagen, der ankam. Die Briefe, die er brachte, waren fast noch
+schlimmer, als die Ankunft des Vaters gewesen wäre, die ich erwartet
+hatte. Die Gründe, die mich bewogen hatten, Syburgs Werbung abzulehnen,
+hatte dieser natürlich in einer Weise dargestellt, die mich
+kompromittieren sollte. Über meine Sympathie mit den Bergarbeitern
+wurden, wie es schien, nicht ohne Syburgs Hilfe, wahre Räubergeschichten
+verbreitet, denen mein Vater zunächst Glauben schenkte. Und derselbe
+Mann, der eben erst gegen die Unternehmer gewettert hatte, gefiel sich
+jetzt in wilden Übertreibungen und beschuldigte mich, sein Unglück zu
+sein. »Daß ich, ein königstreuer Edelmann und Offizier, es erleben
+mußte, daß meine Tochter mit diesen wortbrüchigen Hallunken
+sympathisiert!« schrieb er. Aber die Anschuldigungen, mit denen er mich
+in der ersten Aufregung überhäufte, trafen mich weit weniger als der
+tiefe Schmerz über mein Schicksal, der in seinen späteren, ruhigeren
+Briefen zum Ausdruck kam. »Wie hatte ich mich gefreut, dich versorgt zu
+sehen, ehe ich sterbe --« dies Wort tat mir bitter weh. Meiner Mutter
+Briefe dagegen mit ihrem: »ich habe es vorausgesehen«, -- »ich wußte,
+daß du dich nie in geregelten Bahnen bewegen würdest« -- »deine Romane
+sind nur um ein Kapitel reicher geworden« empörten mich.
+
+Auch meine Tante schrieb mir. »Deine Ablehnung einer, wie mir Hans
+mitteilte, so ungewöhnlich guten Partie ist ein Schaden, den du dir
+selbst zugefügt hast, und dessen Folgen du ebenso zu tragen haben wirst
+wie die sonstigen Folgen deines Eigensinns ...«
+
+Schweigend ließ ich alle Vorwürfe über mich ergehen. Ich machte weite
+Spaziergänge, auf denen mir der schwarze Cäsar, der treue Hofhund, nicht
+von der Seite wich. Dem Zusammenhang meines Lebens suchte ich
+nachzuspüren: Was war es gewesen -- was wollte es von mir? Und wenn es
+Abend wurde, schrieb ich nieder, was mir durch den Kopf gegangen war,
+und meine Feder brachte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken.
+
+»Der Bildhauer bildet sein Werk aus einem rohen Marmorblock, er behaut
+es, er glättet es, er sucht die weichen Formen einer Venus aus dem
+harten Material herauszuarbeiten. Es dauert lange, ehe er sich selbst
+genügt; nicht das lebende Modell will er kopieren, er will ein
+Schönheitsideal, das ihm beständig vorschwebt, verwirklichen. Anders der
+Handwerker, der rasch ein effektvolles Dekorationsstück schaffen will:
+er fertigt ein Holzgerüst, drapiert es mit Sackleinwand, wirft Gyps
+darüber und setzt eine fertig gekaufte Allerweltsgipsbüste darauf. Aus
+einiger Entfernung wirkt seine Arbeit nicht übel, dem Rohen täuscht sie
+dauernd ein Kunstwerk vor, -- nur in der Nähe schau sie nicht an und
+hüte sie wohl vor Regen und Sturm, das Holzgerüst möchte sonst allzu
+schnell zum Vorschein kommen! -- Hat ein Künstler oder ein Handwerker
+mich geschaffen? Habe ich die Nähe zu fürchten und das Wetter? Oder
+stürzt mich kein Sturm? Bin ich, oder scheine ich nur?« -- --
+
+Bald ließ es mir keine Ruhe mehr, -- kaum daß ich den nötigsten Schlaf
+mir gönnte --, ich schrieb und nannte das kleine schwarze Buch, über
+dessen Seiten meine Feder fiebernd flog: Wider die Lüge. Seine ersten
+Seiten lauteten:
+
+»Die Lüge ist der Anfang alles Verderbens, ist das Verderben selbst.
+Alle Schäden, an denen unsere Zeit, an denen wir selber kranken,
+entspringen aus diesem Grundübel. Wir sprechen in volltönenden Phrasen
+von Wahrheit, und doch trennen uns von ihr tote Jahrhunderte. Denn die
+Wahrheit der Vergangenheit wird zur Lüge der Gegenwart. Wie ein
+Verbrechen verstecken wir, was in die alten Formen und Formeln nicht
+passen will, und sehen nicht, daß es vielmehr Verbrechen ist, diese
+Formen und Formeln aufrecht zu erhalten. Wir beugen uns unter Gesetze,
+gegen die wir uns innerlich empören, und triumphieren, wenn wir
+schließlich selbst das Gefühl der Empörung unterdrückt haben. Und die
+Diener der Kirche und des Staates lehren uns, daß wir damit den Himmel
+erwerben.
+
+»Was ist Wahrheit? -- Zweifelnd und verzweifelnd, schüchtern und wild
+flog diese Frage durch die Jahrtausende. Oft glich die Antwort einem
+Achselzucken, noch öfter dem Befehl eines Tyrannen, der jeden
+Widerspruch mit dem Beil des Henkers lohnt. Der Muhamedaner schwört auf
+den Koran, der Jude auf den Talmud, der Christ auf die Bibel. Und jeder,
+der ein neues Gedankengebäude gen Himmel türmt, sagt: das ist Wahrheit.
+
+»Gibt es eine Wahrheit? Eine unumstößliche, an der kein Steinchen sich
+lockert? Eine unbedingt gültige für alle Zeiten, alle Kreaturen, alle
+Welten?
+
+»Wie ein fernes Licht hinter einem dunkeln Vorhang leuchtet sie, und
+langsam, Schritt für Schritt, dringt die Erkenntnis erobernd vor und
+raubt dem Glauben einen Fußbreit Boden nach dem anderen. Der Weg wird
+heller, aber fern bleibt das Licht. Das Ende aller Dinge fällt zusammen
+mit seiner Enthüllung. Wir aber leben, und darum haben wir die reine
+Wahrheit nicht.
+
+»Wir müssen wählen zwischen fremder Wahrheit und unserer Wahrheit. Wir
+werden zu Lügnern, wenn wir bequem und gedankenlos nach den fertigen
+Wahrheiten der anderen greifen.
+
+»Wer wahr sein will, muß frei sein. Frei von den Ketten, in die
+Erziehung, Bildung, Tradition uns geschmiedet haben, frei von den
+Zauberbrillen, mit denen die Priester unser Augenlicht verdunkelten,
+frei von der Tracht der Lakaien, in die die Machthaber der Erde die
+Abhängigen zwingen. Was du nicht selbst erwarbst, nicht selbst bist, das
+ist Lüge und Sklaverei.
+
+»Die Erziehung ist wie eine eiserne Form, in die die weichen
+Kinderseelen hineingepreßt werden. Und sollte doch nur ein Stab sein,
+zum Halt für das junge wachsende Bäumchen. Im Leben des Kindes bedeutet
+das 'Warum?' die Geburt des Menschen. Die Erziehung schlägt es tot, kaum
+daß es die Glieder regt. Das Schulzuchthaus spannt in dasselbe Joch den
+Begabten und den Unbegabten, den Phantasiereichen und den Nüchternen. Es
+stopft die Gehirne voll mit Namen, Zahlen und Regeln, und der beste
+Schüler ist, der rasch aufnimmt, der schlechteste, der sich grübelnd das
+Gehörte zu eigen machen will. Darüber stirbt das 'Warum', das Gehirn
+trocknet ein, das Herz verschrumpft, und an Stelle selbständigen
+Denkens, lebendiger Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne treten
+Geschichtstabellen, Bibelsprüche, Urteile über Welt und Menschen.
+
+»Wehe, wer dem Lehrenden widerspricht: Denken führt auf Abwege, Zweifeln
+schafft Ketzer und Aufrührer.
+
+»Verschling ihn getrost, den weichen süßen Brei, den man dir mundgerecht
+vorsetzt, du Päppelkind, du verlernst dabei selbst den Gebrauch deiner
+Zähne!
+
+»Nicht als mythendurchwebte Geschichte der Juden werden dem Kinde uralte
+Urkunden der Menschheit vorgetragen, als Wahrheit vielmehr, daran zu
+zweifeln Sünde ist. Rauben und Morden, Verfolgen und Betrügen, -- das
+Volk Gottes tat es auf Jehovas Befehl, unter seinem Schutz, und
+demselben Kinde, das diesen Gott anbeten, seine Auserwählten verehren
+soll, wird die Religion der Liebe gepredigt.
+
+»Nimm auch das hin, du arme kleine Menschenmaschine: Rüttelst du nur mit
+einem eigenen Gedanken daran, so fällt das ganze Haus in Trümmer. Bringe
+deinen Verstand hübsch zum Schweigen, werde wie alle, die es in der
+Welt zu Geld und Ansehen bringen: eine lebendige Lüge.
+
+»Ein gebildeter Mensch ist das Ziel der Erziehung. Herrlich! Wenn es
+wahr wäre. Bilden heißt den gegebenen Stoff zur höchsten
+Vollkommenheit entwickeln, -- nicht aus Gips Marmorsäulen, aus Holz
+Eisenkonstruktionen, aus Glas Diamanten machen. Aber an Stelle des Seins
+die Täuschung setzen, ist das Zeichen unserer Bildung. Wer über alles
+mitredet, stets mit einem fertigen Urteil bei der Hand ist, selten
+bewundert, gilt als gebildet. Urteilsfähigkeit ist Kriterium der
+Bildung, aber doch nur dann, wenn das Urteil ein eigenes ist. Zu dieser
+Bildung aber ist der Weg lang und steil, und mißtrauisch sollte stets
+fertiges Urteil machen.
+
+»Der Gebildete unserer Tage scheint, was er nicht ist; er belügt andere,
+oft auch sich selbst; er begeht geistigen Diebstahl, indem er fremde
+Weisheit als eigene ausgibt; er beraubt sich der wundervollsten
+Lebensfreude, indem er zwar lernte, sich durch stete Verneinung
+hochmütig über alle zu erheben, nicht aber offnen Sinnes zu genießen,
+was Natur und Kunst geschaffen haben. Vergiftet ward uns der frische
+sprudelnde Quell der Bildung, ertötend rinnt er nun durch die Adern des
+Volks und trübt seinen Blick, so daß es den Vieles-Wissenden an Stelle
+des Selbst-Seienden zum Götzen erhebt.
+
+»Wer wider die Lüge streiten will, muß die neue Wahrheit verkünden.
+Welches ist sie?
+
+»Die Wahrheit von den Kindern zunächst:
+
+»Das Ziel der Erziehung sei kein Lexikon, sondern ein freier Mensch.
+Wissen sei nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu dem Zweck, das Leben
+reich, den Menschen stark zu machen. Töte kein 'Warum', locke es
+vielmehr hervor, wie der Gärtner durch sorgsame Pflege die jungen Triebe
+hervorlockt. Leite, -- meistere nicht. Wisse, daß deine Wahrheit nicht
+die des Kindes ist, daß du es lügen lehrst, wenn du sie ihm aufzwingst.
+Märchenglaube ist Kindeswahrheit. Laß sie ihm. Erzähle ihm darum die
+Mythen der Völker wie Märchen: von Isis und Osiris zu Odin und Baldur,
+von Jehova zu Jupiter bis zum himmlischen Vater der Christen. Zeig ihm,
+wie die Menschen unter tausend Namen und Formen vor dem heiligen
+Geheimnis schaffenden Lebens anbetend knieten. Lehre es ihn schauen und
+bewundern in jeder duftenden Blume, jeder Wolke, jedem Stern, jedem
+Gesetz der Natur.
+
+»Und dann führe es ein in die Geschichte der Menschen. Schaffe keine
+Engel und Teufel aus deiner Machtvollkommenheit -- aber störe das Kind
+nicht, wenn es sich eigene Helden bildet. Tritt bescheiden zurück mit
+deinem eigenen Ich hinter dem werdenden Ich des anderen. Was er nicht
+selbst beurteilen kann, lehre ihn nicht beurteilen. Es ist
+Sentimentalität, durch unsere Erfahrungen dem Kinde die eigenen ersparen
+zu wollen. Denn eigene Erfahrung ist die allein sichere Stufenleiter der
+Entwicklung. Führt sie das Kind fort von dir, so jammere nicht, denn
+nicht dein Eigentum ist es, sondern sein eigenes und das der Menschheit.
+Präge ihm nicht Lebensregeln ein, weise ihm vielmehr den Weg, um seines
+Lebens eigene Regeln zu finden.
+
+»Und seines Herzens eigene Religion.
+
+»Welches ist die Wahrheit von ihr? Der Entwickelungsgang der Menschheit
+ist vom ersten Ursprung an ein stetig fortschreitender. Kindlicher
+Märchenglaube ist der vom verlorenen Paradiese; der Mann glaubt an das
+zu erobernde.
+
+»In der Natur gibt es keinen Stillstand: der Fluß strebt dem Meere zu,
+der Baum wächst empor, zum Menschen wird das Kind. Dies 'Vorwärts' ist
+ein Gesetz, das sich nie verleugnet; so oft seine Kraft zu schwinden
+drohte, so oft brach es auch machtvoll durch alle Schranken, die
+menschliche Torheit mühsam aufrichtete. Die Überzeugung von der
+Unumstößlichkeit dieses Gesetzes weitet unser Herz und unseren Geist.
+Wir werden es aus allen Verdunkelungen, aus allen Leiden, von denen die
+Geschichte der Völker und der Menschen erzählt, heraus erkennen, wenn es
+unser eigenes Lebensprinzip geworden ist. Wir werden es auch dann
+bejahen, wenn es tötet, weil wir wissen, daß welke Blätter fallen
+müssen, um jungen Trieben Platz zu machen, daß die Blüte sterben muß,
+wenn die Frucht reifen soll.
+
+»Der Pessimismus sagt: Es gibt kein Glück; der Pietismus versichert: Die
+Erde ist ein Jammertal. Aber die neue Wahrheit lehrt: Es gibt ein Glück,
+das über alles Leid hinweghilft; jede Blume auf dem Felde, jede Eichel
+am Baum, jeder Säugling am Mutterherzen zeugt davon. Sein Gesetz ist:
+Wachse! Werde! Soll es allein für die Religion nicht gelten?
+
+»Was ist Religion? Der Zug nach oben, die Ehrfurcht vor dem Unerkannten,
+Nichtzuerkennenden. Sollte sie unwandelbar feststehen, weil sie sonst
+kein Halt, keine Stütze wäre für so viele? Was ist denn das Feststehende
+an ihr? Etwa der Glaube, daß Gott Eins und doch Drei, oder daß Christus
+einer Jungfrau Sohn ist? Oder der Glaube an die Speisung der Tausende,
+an die feurigen Zünglein des heiligen Geistes? Selbst der strengste
+Christ wird darin nicht den Urquell seiner Herzensreligion finden. Was
+ihn zu dem macht, was er ist, ihm die Kraft gibt zum Handeln und zum
+Ertragen, das ist nichts anderes als die Überzeugung von der
+Unendlichkeit des Werdens, -- theologisch ausgedrückt: der
+Unsterblichkeitsglaube. Für ihn mag er in der Form des persönlichen
+Fortlebens, der Auferstehung des Fleisches, Wahrheit sein. Uns ward er
+zur Wahrheit im Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wie ein Stoß
+fortwirkt ohne Aufhören, wirkt die Tat fort und der Gedanke ohne Ende.
+
+»Staat und Kirche lehren die Religion Christi wie vor achtzehnhundert
+Jahren. Was die Apostel, einfache Männer des Volks, in orientalischer
+Phantasie und kindlichem Glauben von ihres Herren und Meisters Geburt
+und Leben erzählten, soll uns noch Wahrheit sein. Was aber bleibt für
+uns, wenn wir hinter den Mythen die Wahrheit suchen? Die göttliche
+Geburt Christi? Des Menschen Geist ist göttlichen Ursprungs, und wer
+seiner Bestimmung folgt bis zum Tode, -- der ist Gottes Sohn. Wir aber,
+die wir uns nennen nach dem Namen des Nazareners, der, wie wenige vor
+und nach ihm, der alten Lüge die neue Wahrheit entgegensetzte und sich
+ans Kreuz schlagen ließ von den Frommen seiner Zeit, -- wir verleugnen
+das größte, was uns ward: den Geist. Wir stempeln seine göttliche Kraft
+zur Sünde und lehren im Namen des Gekreuzigten, daß wir nicht zweifeln,
+das heißt: nicht denken dürfen. Aber die neue Wahrheit von der Religion
+predigt die Pflicht des Zweifelns, weil der Zweifel die neue Wahrheit
+gebiert und die Wurzeln des Werdens in ihm ruhen.
+
+»Denke bis zu den letzten Konsequenzen, reiße nieder, was deinem Denken
+im Wege steht; selbst das Heiligste, das Unantastbare ist unheilig und
+ein Frevel, wenn es dem Gedanken zur Schranke ward. Denke, -- und du
+wirst reich, denke, -- und du wirst stark und froh. Wer, und ob er
+gleich hundert Jahre lebte, wird solchen Werdens ein Ende finden? Darum,
+statt Christi wundersame Geburt zu verkünden, verkündet die Heiligkeit
+unseres Lebens! -- Und sein Opfertod? Wer an ewige Höllenstrafen glaubt,
+den lehrt die Angst, daß die eigene Schuld von einem anderen gesühnt
+werden könnte. Jesus aber starb nicht für andere, sondern für seine
+Überzeugung, -- er lehrte die Tat, nicht die Reue. Und seine
+Auferstehung? Wer vermöchte an ihr zu zweifeln? Lebt nicht sein Geist --
+und wird er nicht ewig leben, auch wenn seine Lehre nicht die Wahrheit
+an sich ist, sondern nur eine Stufe zu ihr? --
+
+»Nun aber bleibt mir noch die Rätselfrage nach der neuen Wahrheit vom
+Leben! Warum all die Qual und Not, all das Elend und die Verzweiflung?
+Im Kampf ums Dasein sind Milliarden Lebewesen untergegangen, um höheren
+Formen, reiferen Gehirnen Platz zu machen.
+
+Ȇber Tote geht alle Entwicklung.
+
+»Die rohe Kraft wich den feineren Kräften des Geistes, und die Kräfte
+des Geistes warten ihrer Ergänzung durch die der Seele. Ohne Qualen gäbe
+es keine Kraft, die an ihnen wächst und sich bewährt.
+
+»Wer am Leiden zugrunde geht, ist des Lebens nicht wert gewesen.
+
+»Wächst nicht selbst aus dem Hunger der Massen der Riese, der ihn
+überwinden wird? Schafft die Not nicht die Einigkeit und den Kampf,
+grünt nicht heimlich unter Blutlachen und Tränen die junge Saat der
+kommenden Menschen?
+
+»Nur Eins ist not: daß wir in dem ungeheuern Triebrade der Entwicklung
+kein Staubkorn sind, das hindert, bis es zermalmt wird, kein Rostfleck,
+der den Mechanismus anfrißt, bis er verrieben ist. Wenn wir kein Teil
+der motorischen Kraft sein können, seien wir wenigstens ein Tröpflein
+Öls, ein winziges Zähnchen.
+
+»Das ist die neue Wahrheit vom Leben.«
+
+ * * * * *
+
+Mir war, als hätte ich mir ein Rüstzeug geschmiedet, das mich
+unüberwindlich machte. Glückselig sah ich jedem jungen Tage entgegen und
+wanderte mit frischen Kräften tief in den Wald, die Lenzluft einatmend,
+die starke, würzige, -- den echten Jugendborn für Geist und Körper.
+
+Es war hoher Sommer, als ich mich entschloß, meines Vaters Wunsch Folge
+zu leisten und zum Kaisermanöver nach Münster zurückkehren.
+
+Am Tage meiner Ankunft prangte die Stadt schon in vollem Schmuck: Fahnen
+und Wimpel in bunter Farbenpracht flatterten im Winde, aus den Fenstern
+hingen Teppiche, über die Straßen zogen sich grüne Girlanden, mit roten
+und blauen Sommerblumen besteckt. Eine bunte Volksmenge füllte die
+Straßen. Alte Trachten tauchten auf: Frauen mit schweren,
+goldgestickten Hauben, Männer mit weißen Strümpfen und roten Westen, auf
+denen dicke Silberknöpfe glänzten. Als am nächsten Morgen in glühendem
+Sommersonnenschein das Kaiserpaar einzog, schien die ganze Luft erfüllt
+von dem gewaltigen Konzert der Glocken, und der Donner der Geschütze
+klang nur wie der tiefe Akkord der Begleitung. Alle Pracht und allen
+Reichtum hatte der Adel Westfalens aufgeboten; in altertümlichen
+Kaleschen, gemalt und goldverziert, gepuderte Kutscher und Lakaien in
+roten, blauen, gelben und weißen Röcken auf Bock und Trittbrett, fuhren
+seine Vertreter mittags zum Empfang ins Schloß.
+
+Kein Prunkzelt der Medizeer konnte üppiger sein als das auf dem
+Ludgeriplatz, wo die Mitglieder des Landtags den Landesherrn zum
+Mittagsmahl empfingen. Und kein florentinischer Palast konnte größeren
+Glanz entfalten als das Haus des Damenklubs, das am Abend die
+kaiserlichen Gäste erwartete. Auf den Treppenstufen standen die Jäger
+der Herzoge von Croy, von Ratibor, von Rheina-Wolbeck, der Fürsten
+Bentheim und Salm; mit kostbaren Gobelins, alten Venetianer Spiegeln,
+Waffen aller Länder und Zeiten, goldenen und silbernen Schaugefäßen
+waren die Säle geschmückt, aber die Fülle der Edelsteine auf den Köpfen,
+den Schultern, und den Armen all der schönen, rassigen Frauen
+überstrahlte alles. Mit schimmernden Seidenkleidern und bunten Uniformen
+füllten sich die Räume; eine Fanfare, -- und unter dem Bogen der Türe
+erschien das Kaiserpaar: in Husarenuniform, den Dolman über dem kurzen,
+linken Arm der Kaiser, in weißem Brokat die Kaiserin. Zum erstenmal sah
+ich ihn wieder seit meiner Kinderzeit: das gebräunte Gesicht war noch
+finsterer geworden, der emporgewirbelte Bart konnte über die
+herabgezogenen Mundwinkel nicht täuschen, und das gleichmäßig
+verbindliche Lächeln der blonden Frau neben ihm war zu konventionell,
+ihr helles Antlitz zu ausdruckslos, als daß es den Blick von ihm hätte
+ablenken, die Empfindung von Eiseskälte, die uns alle überkam, hätte
+vertreiben können.
+
+Der Ball begann. Ich fühlte, wie die jungen Damen mehr als sonst von mir
+abrückten, wie man, trotz der Erregung des Augenblicks, Zeit fand, über
+mich zu tuscheln und zu raunen. Hessenstein stand wie ein riesiger
+Wächter neben mir. Er war es auch, der mir zuflüsterte, noch ehe eine
+»gute Freundin« mich schadenfroh davon unterrichten konnte, daß Syburg
+sich verlobt habe. Und an seinem Arm flog ich durch den Saal, als der
+erste Walzer seine Schmeichelweise ertönen ließ. Unten, dicht vor der
+Estrade, wo die Kaiserin Cercle hielt, stand der Kaiser. Im Rausch des
+Tanzes bemerkte ich ihn erst, als die Schleppe meines Kleides ihn
+streifte. Einen Augenblick lang sah er mir nach und lächelte, während
+mir mit einem Gefühl des Triumphes durch den Sinn schoß, daß kein Tänzer
+im Saal so schön war wie der meine und keine Dame so gut tanzte wie ich.
+So sollte es sein: nicht allmählich, wie die alternden Mauerblümchen,
+wollte ich mich losreißen vom Jugendleben, -- auf der Höhe vielmehr
+wollte ich Abschied feiern! In den Pausen drängten sich die jungen
+Mädchen in die Nähe der Kaiserin und kehrten mit verklärten Gesichtern
+zurück, wenn es ihnen gelungen war, vorgestellt zu werden. »Wollen Sie
+nicht auch --?« meinte Hessenstein bedenklich. »Wozu?« antwortete ich
+lachend »um eines Handkusses und einer Phrase willen meine Spitzen in
+Gefahr bringen!«
+
+Im Speisesaal war auf erhöhtem Platz die Kaisertafel gedeckt; aus Gold
+waren Bestecke, Schüsseln und Schalen, phantastische Orchideen nickten
+aus hohen Kristallkelchen, Kränze von gelben Rosen hoben sich leuchtend
+von der mattvioletten Seide der Wände. Tisch an Tisch reihte sich in dem
+weiten Raum darunter, und den Dreihundert, die sich hier zusammenfanden,
+wurde von silbernen Schüsseln auf silbernen Tellern serviert. Ich saß in
+einem fröhlichen kleinen Kreis abseits unter dem Schatten
+großblätteriger Palmen; zwischen ihren Stämmen hindurch konnte ich
+hinauf zur Kaisertafel blicken. Das Profil Wilhelms II. stand scharf
+gegen den hellen Hintergrund. Ich sah, wie er das Sektglas wieder und
+wieder zum Munde hob und wie er lachte, -- der kleine dicke Herzog von
+Croy, der ihm gegenüber saß, liebte derbe Späße, -- aber es war das
+Lachen eines Ausgelassenen, das mit Heiterkeit nichts zu tun hat. Die
+starke rechte Hand gestikulierte lebhaft und benutzte nur hie und da das
+Doppelbesteck, um ein paar Bissen zu schneiden und zum Munde zu führen.
+Kraftlos, bewegungslos wie ein fremdes Glied hing die behandschuhte
+Linke an dem kurzen Kinderarm.
+
+Sommerschwüle brütete in den Straßen, als wir heimwärts fuhren, und ein
+Sommernachtsmärchentraum hielt die alte Stadt umfangen. Exotische
+Glühwürmchen schienen um die Pfeiler der Laubengänge zu tanzen, sich,
+allen Linien des Maßwerks folgend, bis hoch in die Spitzen der
+Kirchtürme zu schwingen. Die grauen Steine verschwanden; aus Licht und
+Farben waren die spitzen Giebel, die schlanken Säulen, die hohen
+Fensterbogen gebaut. Hinter dem dunkeln Laubdach der alten Linden
+schimmerte der Dom wie ein gewaltiger Tempel des Lichtgotts.
+
+Wir fuhren langsam in unseren hellen Kleidern, Ballblumen im Haar, und
+die Menge jubelte uns zu, wo wir vorüberkamen. Aus den offenen Fenstern
+und den Gärten tönte Gesang und Musik.
+
+Lebensfreudiges Heidentum lachte und leuchtete um uns, jenes Heidentum,
+das die katholische Kirche klug zu erhalten verstand. Wo der
+Protestantismus mit seiner kunstfeindlichen Nüchternheit einzog, entfloh
+es; wo der Bischof im goldgestickten Ornat dem Prediger im schwarzen
+Trauerkleid Platz machen mußte, wo die lustigen rotröckigen Chorknaben
+verschwanden und in das mystische, weihrauchgeschwängerte Dunkel der
+Kirchen grelles Tageslicht eindrang und duftloser Alltag, da verlor das
+Volk allmählich den Kindersinn, der sich in phantastischem Prunk und
+bunten Spielen äußert.
+
+Zu Füßen der Porta Westfalica waren vierzehn Tage später die
+Kaisermanöver. Mit einer Parade vor den Toren von Minden wurden sie
+eröffnet. Es war dasselbe Bild wie immer bei solchen Gelegenheiten:
+schwarze Menschenmassen, graue Staubwolken, geschmacklos dekorierte
+Tribünen, von Fremden und Einheimischen dicht besetzt; auf dem Felde
+davor, wohin das Auge reichte, blitzende Uniformen, wehende Helmbüsche,
+stampfende Pferde. In der Ferne die blauen Höhenzüge des Wesergebirges,
+-- ein ruhig-ernster Abschluß des lebendigen Bildes.
+
+Wenn ein altes Roß, das schon lang vor dem Lastwagen keucht, die
+Trompete hört, so spitzt es die Ohren, hebt den müden Kopf und versucht
+mit den lahmen Beinen graziös zu tänzeln; und wenn der Mensch, der die
+Soldatenspielerei der Völker schon längst für frevelhaft hält, die alten
+Kriegsmärsche hört, so muß er an sich halten, um nicht mit zu
+marschieren; tauchen aber die Truppen selbst vor seinen Augen auf, --
+all die Tausende junger, lebensstarker Menschen zu Fuß und zu Pferde, im
+silber- und goldverschnürten Rock, im glänzenden Küraß und die Sonne
+spiegelnden Stahlhelm, mit schwarzweißen wehenden Fähnchen, den
+rasselnden Säbel zur Seite, oder mit dem dröhnenden Gleichmaß des Tritts
+zahlloser Bataillone, -- so pocht das Herz ihm höher, so fest ers auch
+halten möchte.
+
+Ich stand in der Mittelloge der Tribüne. Dicht vor mir die Suite des
+Kaisers, die fremdländischen Fürsten, er selbst, und an ihnen vorüber
+ein glänzender Strom von Soldaten, den die Tonwellen schmetternder
+Fanfaren zu tragen und zu treiben schienen. Ich wollte nicht staunen,
+nicht bewundern, aber die Worte des Spottes erstarben mir auf den
+Lippen. Wecken jene Klänge verlorene Erinnerungen aus barbarischer
+Vorzeit? Peitscht der Anblick kriegerischer Wehr jenen Tropfen Blutes
+auf, der von unseren Vorfahren, denen Kampf Lust und Leben war, noch in
+unseren Adern rollt? Oder ist es nicht bloß die Suggestion der Masse,
+der Musik, der Farben, die unsere Sinne berauscht? Würde es uns nicht in
+dieselbe Erregung versetzen, wenn diese Soldaten Männer der Arbeit
+wären, ihre Waffen blanke Werkzeuge, ihre Uniformen Festgewänder, das
+ganze strahlendbunte Bild eine gewaltige Revue der Arbeit?
+
+Ich grübelte noch darüber nach, als ein brausendes »Hurrah« mich
+aufsehen ließ. Der Kaiser hatte sich an die Spitze der 53er gesetzt und
+führte das Regiment seines Vaters an den Tribünen vorüber. Als spontane
+Gefühlsäußerung wurde jubelnd begrüßt, was nur eine Ausübung
+höfisch-militärischer Sitte war.
+
+»Wird ihm diesmal schwer geworden sein,« meinte Fürst Limburg leise, der
+neben mir stand. »Warum?« frug ich verwundert. »Der Spuk im aachener
+Kasernenhof soll ihn nicht wenig erregt haben!«
+
+Am nächsten Morgen ritt ich mit Limburgs unter Führung eines
+Korps-Gendarmen ins Manövergelände. Mit trüben Gedanken, die der
+regnerische Tag nicht heller machte, war ich zu Pferde gestiegen. Meinen
+Vater hatte ich seit meiner Rückkehr so wortkarg und finster gefunden,
+wie nie vorher; in diesen Tagen aber war er von haltloser Heftigkeit, so
+daß alles vor ihm zitterte. Ob er wohl auch an das pommersche
+Kaisermanöver vom Jahre 87 dachte?! -- In einem Gehöft fanden wir Verdy,
+den Kriegsminister, dessen sarkastischer Witz mich immer ebenso anzog,
+wie sein vernachlässigtes Äußere mich abstieß. »Sauwetter!« brummte er,
+mir die Hand schüttelnd »Sie hätten sich auch was Besseres aussuchen
+können, als diesem Manöver beizuwohnen.«
+
+»Was bedeutet die seltsame Betonung, Exzellenz?« frug ich unruhig.
+
+»Na, Sie sehen doch, -- es regnet,« wich er aus, »und dann -- all das
+Hofgeschmeiß, über das man stolpert! Wissen Sie übrigens, -- Majestät
+hat Herrn von Wittich in letzter Stunde die Führung des markierten
+Feindes übertragen.« Ich erschrak. Wittich, der Generaladjutant und
+Günstling des Kaisers, ein Mann, dessen militärische Leistungen mein
+Vater zu verhöhnen pflegte, -- stand ihm heute als Gegner gegenüber!
+
+Wir ritten weiter. Unterwegs begegnete uns ein Ordonanzoffizier vom
+Stabe meines Vaters. Er strahlte.
+
+»Das war ein Bravourstück,« rief er mir schon von weitem entgegen. »Die
+dreizehnte Division hat einen Marsch hinter sich, der alles in Erstaunen
+setzte. Natürlich kam die feindliche Kavallerie zu spät und wurde
+glänzend abgewiesen.«
+
+Ich atmete auf. Vor der Mühle Habichtshorst wehte die Kaiserstandarte.
+Wir ritten so nah heran wie möglich.
+
+Im nächsten Augenblick brauste und dröhnte es dicht vor uns: unter
+tausenden von Pferdehufen bebte die Erde, die ganze Kavallerie-Division
+stürmte zum Angriff, -- ein Anblick, der den Herzschlag stocken ließ und
+jenes Fieber gespannter Erregung auslöste, das den Hazardspieler packt,
+wenn er die Elfenbeinkugel rollen sieht. Ich vergaß meine Unruhe -- den
+Vater -- den peitschenden Regen --, meine Hand, die den Feldstecher vor
+die Augen hielt, zitterte. Einen Moment trat das Antlitz des Kaisers in
+mein Gesichtsfeld: seine Augen glühten, und seine Lippen zuckten. Ich
+begriff plötzlich seine Leidenschaft für solch ein Schauspiel.
+
+Gleich darauf hörte ich Trommeln und Pfeifen: im Sturmschritt rückte die
+Infanterie von der anderen Seite vor, -- sie kam in unzählbaren Massen,
+wie aus der Erde gestampft, mit Hurra und knatterndem Gewehrfeuer. Ich
+sah den Fuchs meines Vaters, -- da plötzlich ein Signal: Das Ganze
+Halt!, und still stand der Kampf.
+
+Merkwürdig scheu wichen mir auf dem Heimweg unsere Offiziere aus. Kurz
+vor Minden traf ich Hessenstein, den ich anrief. »Was ist geschehen?«
+frug ich verängstigt.
+
+»Es soll einen bösen Auftritt gegeben haben,« antwortete er. »Auf die
+Mitteilung, daß er geschlagen sei, ist Ihr Herr Vater in helle Wut
+geraten. 'Sie sind wohl des Teufels', soll er geschrien haben, 'ihre
+ganze Kavallerie ist ja vernichtet'. Alle, die ich sprach, geben ihm
+übrigens Recht. Der Sturm auf Nordhemmern und Holzhausen hätte
+zweifellos seinen Sieg gesichert, wenn er nicht abgebrochen worden
+wäre.«
+
+Wir reisten noch an demselben Tage nach Münster zurück und erwarteten
+dort meinen Vater. Er war ruhiger, als ich gefürchtet hatte, und erwog
+mit solcher Sicherheit die Aussichten auf ein Armeekorps, daß wir selbst
+kaum mehr daran zu zweifeln vermochten.
+
+Als der nahende Karneval uns grade wieder an die geselligen »Pflichten«
+zu erinnern begann, starb die alte Kaiserin Augusta, und es war für
+diesen Winter mit Spiel und Tanz vorbei. Nichts hätte mich mehr
+befriedigen können. Nun konnte ich mich ungestört der Aufgabe widmen,
+deren Erfüllung ein neues Leben einleiten sollte.
+
+Das kleine Buch, das ich in Hohenlimburg zu schreiben begonnen hatte,
+enthielt die Skizzen, aus denen ich ein Gemälde schaffen wollte, so
+stark an Farben, so lebendig an Gestalten, daß in Zukunft niemand daran
+würde vorübergehen können. Aber so rasch jener erste Entwurf entstanden
+war, so langsam gings mit der neuen Arbeit. Ich entdeckte Lücken in
+meiner Bildung, die durch die mir zu Gebote stehenden Mittel
+unausfüllbar blieben. Meine Unwissenheit auf den Gebieten der
+Philosophie und der Naturwissenschaften stürzte mich oft in die tiefste
+Verzweiflung. Mein ganzes bisheriges Leben erschien mir dann wertlos,
+die Zukunft, wie ich sie erträumte, auf immer gefährdet. Oft saß ich bis
+in die Nacht hinein grübelnd am Schreibtisch, und erst, wenn das letzte
+Scheit Holz im Kamin erlosch und die Finger in der Winterkälte
+erstarrten, huschte ich fröstelnd in mein Schlafzimmer.
+
+Ich war in dieser Zeit so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß
+ich mich automatenhaft in meiner Umgebung bewegte, bis mir eines Tages
+meines Vaters klanglose Stimme auffiel. »Bist du krank, Papachen?« frug
+ich besorgt. Er lachte gequält: »Ich sollte es sein!« Als ich am
+nächsten Morgen zum Frühstück in sein Zimmer trat, lag er im Lehnstuhl,
+leichenblaß, mit weit aufgerissenen Augen. Ich stürzte neben ihm in die
+Kniee und griff nach seiner schlaff herabhängenden Hand. In dem
+Augenblick kam er zur Besinnung; ein Ton, der nichts menschliches an
+sich hatte, drang aus seiner Kehle, -- er sprang auf, schlug wild
+aufschluchzend die Hände vors Gesicht, um in der nächsten Minute wieder
+zurückzusinken. Da fiel mein Blick auf einen weißen Bogen, aus einem
+blauen Umschlag halb herausgerissen, -- ich griff danach und las mit
+verdunkeltem Blick nur die drei Worte: »... der Abschied bewilligt ...«
+
+»Die dreizehnte Division!« murmelte mein Vater.
+
+Nicht rasch genug konnten wir unseren Haushalt auflösen. Mein Vater
+vertauschte noch an demselben Tage die geliebte Uniform mit dem
+schwarzen Rock. Aber er wagte sich damit bei Tage nicht auf die Straße;
+sein Gesicht färbte sich dunkelrot bei jedem Soldaten, der ohne Gruß an
+ihm vorüberging. Ich folgte ihm wie sein Schatten; er sah aus wie einer,
+dem der Tod nachschleicht. Ohne Anteilnahme hörte er zu, wenn meine
+Mutter Zukunftspläne schmiedete; wenn sie aber in der Aussicht auf ein
+ruhiges Leben förmlich froh zu werden vermochte, erhob er sich
+schwerfällig und ging hinaus. Er kümmerte sich um nichts, äußerte keinen
+Wunsch, ließ alles geschehen.
+
+Meine Mutter verkaufte ein gut Teil der Möbel -- er merkte es nicht;
+sein Adjutant verhandelte mit Hilfe des Reitknechts mit den
+Pferdehändlern, -- er betrat den Stall nicht mehr. Als dann aber der
+Morgen kam, wo die Pferde fortgeführt werden sollten und wir alle
+versuchten, ihn in seinem Zimmer festzuhalten, lief er plötzlich auf den
+Flur hinaus, -- hell hatte der Fuchs, sein Lieblingspferd, gewiehert,
+auf dem Hofe unten stand er, sein goldiges Seidenhaar glänzte im
+Sonnenlicht und lustig bellend, wie sonst vor dem Morgenritt, sprang ihm
+Percy, der weiße Terrier, an die Nase. Gegen die Scheibe preßte mein
+Vater die Stirn, ein Beben erschütterte seinen starken Körper, und
+schwere Tränen rollten ihm über die Wangen. Der Fuchs verschwand im
+Torweg; nur der Hund blieb noch unschlüssig stehen, kniff den Schwanz,
+sah fragend zu uns hinauf und trottete dann erst nach -- langsam, ganz
+langsam.
+
+
+
+
+Fünfzehntes Kapitel
+
+
+Märzsturm im Harz. Er schüttelte auf den Höhen die schweren Schneemassen
+von den Bäumen und peitschte durch die Täler feuchtkalten, rieselnden
+Regen. Hochauf geschwellt wie ein Gießbach rauschte die sonst so
+bescheiden flüsternde Radau durch das Städtchen. Unter den kahlen,
+schwarzbraunen Eichen stand in grauschillernden Lachen das Wasser; es
+hing in hellen Tropfen in den Spinngeweben zwischen den Balken des
+Musikpavillons und im dürren Weinlaubgerank um die muffig riechenden
+Wandelhallen. Mit geschlossenen Fensterläden schliefen Häuser und
+Gasthöfe noch den Winterschlaf, und auf den Wegen in die Wälder hatten
+Regen und Schnee all die vielen Fußspuren des vergangenen Sommers
+verwischt.
+
+Jeden Morgen, wenn die blecherne Uhr von Juliushall -- das einzig
+Lebendige zu dieser Stunde -- sieben schlug, trat aus dem kleinen
+Häuschen gegenüber ein Mann heraus: mit zwei müden, blauen Augen unter
+finster gefalteter Stirn sah er kühl und gleichgültig zum ewig grauen
+Himmel auf; die vollen Lippen, die ein dichter blonder Bart beschattete,
+preßten sich fest aufeinander, und die eine Faust auf dem Rücken, die
+andere um den Krückstock gespannt, ging er rasch die Chaussee hinauf.
+Er lief immer mehr, je weiter er kam; tauchte irgendwo ein Mensch auf,
+so bog er seitwärts in die Wälder. Zuweilen folgte ihm vorsichtig
+spähend ein junges blasses Mädchen, dem die schwarzen Locken im Wind
+wild um die Stirne tanzten. Aber sie kam nicht weit, -- sie hätte
+schließlich laufen müssen, um ihn im Auge zu behalten, und das Herz
+klopfte ihr zu stark. So ging sie denn aufseufzend, mit einem
+sorgenvollen Zug um den Mund, die schmale Treppe wieder hinauf, in die
+Puppenwohnung mit den verschossenen Puppenmöbeln, den bunten Öldrucken
+an der großblumigen Tapete, dem unbehaglich dürftigen Pensionsfrühstück
+auf dem runden Tisch. Sie schluckte den dünnen Kaffee, aß widerwillig
+ein winziges Brötchen und sprang mit nervöser Hast auf, als nebenan
+Stimmen laut wurden. »Schwester!« rief die eine halb verschlafen --
+»Alix!« klang eine andere, scharfe, spitze durch die zweite Tür. Vor dem
+kleinen Mädchen knieend, das sich die goldenen Löckchen wohlgefällig
+über die rosigen Fingerchen wickelte, zog sie ihm Strümpfe und Schuhe
+an, um gleich darnach zur Mutter zu gehen, die vor dem Spiegel der
+geschickten Hände ihrer Ältesten wartete.
+
+»Papa war heute wieder sehr böse über den schlechten Kaffee,« sagte sie,
+während sie mit dem Kamm durch die noch immer vollen blonden Haare ihrer
+Mutter fuhr, »und der Ofen will auch nicht brennen, -- wir sollten doch
+lieber umziehen!«
+
+»Du weißt, daß alle anderen Pensionen erheblich teurer sind,« antwortete
+die Mutter gereizt, »Hans muß sich eben an Einschränkung gewöhnen.«
+
+Kam der Vater gegen Mittag zurück, mißmutig und müde, so saß seine
+Älteste schon seit ein paar Stunden neben dem Schwesterchen und spielte
+Lehrerin. Des Nachmittags gingen sie zu viert spazieren; aber angesichts
+der gramvollen Verschlossenheit des Vaters, der unnahbaren Kühle der
+Mutter und einer Natur, die von der weißglänzenden Winterpracht und der
+grünschimmernden Frühlingshoffnung gleich weit entfernt war, verstummte
+selbst Klein-Ilschens Lachen und leichtsinniges Geplauder. Im stillen
+atmete jeder auf, wenn der Familienausflug ein Ende nahm, und doch
+versicherte einer dem anderen, daß er »herrlich« gewesen wäre.
+
+Große Schmerzen bedürfen der Einsamkeit. Schwül und schwer lasten sie
+wie Gewitterluft, wenn sie sich nicht entladen können; und die Qualen
+des anderen mit ansehen, heißt die eigenen verdoppeln. Aber Tradition
+und Sitte predigen in verlogener Sentimentalität, daß sie gemeinsam
+getragen werden müssen; und ihnen beugten sich die drei Menschen, so
+sehr sie auch auseinander verlangten.
+
+Wenn alle schliefen, brannte bei der Schwarzen, Blassen noch lange die
+Lampe. Aus den Schulbüchern der Schwester bereitete sie sich auf das
+Pensum des nächsten Tages vor, -- sie hatte ja nie gelernt, zu lehren,
+und mühsam wars, das Notwendige nachzuholen. Dabei war auch noch stets
+der Arbeitskorb voll, geflickt mußte werden und genäht, -- niemand
+durfte merken, daß die Verhältnisse der Familie ihrem Rang nicht mehr
+entsprachen. Sehnsüchtig schweiften die dunkeln Augen der Arbeitenden
+oft genug zu den Büchern, die erwartungsvoll mit blanken Goldlettern auf
+dem Rücken von dem kleinen Regal zu ihr herübersahen. Stahlen sich dann
+aber gar Tränen zwischen den Wimpern hervor, so zog sie einen
+zerknitterten Brief aus der Tasche, mit feinen Schriftzügen dicht
+bedeckt, und las ihn, den sie schon fast auswendig wußte, wieder und
+wieder. Er lautete:
+
+ Pirgallen, 10. März 1890
+»Mein geliebtes Enkelkind!
+
+Deine Mutter schreibt mir, mit welch ruhigem Ernst Du Dich in die neue
+Lage gefunden hast, und wie treulich Du all die Pflichten, die sie Dir
+auferlegt, erfüllst, so daß ich Dich nun ganz besonders meiner
+zärtlichen Liebe und freudigen Anerkennung versichern möchte. Ich habe
+oft gefürchtet, die kleinen Teufel der Eitelkeit möchten von meiner Alix
+reinem Herzen schließlich Besitz ergreifen; vielleicht hat die Führung
+Gottes, die uns kurzsichtigen Menschen oft grausam erscheint, auch für
+Dich den rechten Weg gefunden, auf dem Dein besseres Selbst sich voll
+entfalten kann. Ich habe, wie Du weißt, von Anfang an den Abschied
+Deines Vaters nicht so tragisch genommen als alle anderen, als vor allem
+er selbst. Je älter wir werden, desto gleichgültiger erscheinen uns
+solch äußerliche Begebenheiten. Daß es freilich eine harte Schule gerade
+für Hans ist, der an seiner empfindlichsten Stelle, -- seinem
+Selbstbewußtsein, seinem Ehrgeiz, -- getroffen wurde, weiß ich nur zu
+wohl. Aber er ist stark und gut genug, um sie schließlich bestehen zu
+können, wenn Ihr alle, Du besonders, mein Kind, an der er mit all seiner
+Zärtlichkeit hängt, ihm in geduldiger Liebe beizustehen nie unterlassen
+werdet und er für seine ungebrochene Kraft eine Tätigkeit findet, die
+ihr entspricht.
+
+Aber noch eine andere, und für Dich vielleicht schwerer zu erfüllende
+Aufgabe muß ich Dir, meine Alix, übertragen. Ich hoffe, Du wirst daran
+den Grad meines Vertrauens zu Dir ermessen können und es nicht als
+Grausamkeit empfinden, wenn ich gerade Deinen jungen Schultern diese
+Last auferlege. Ich bin 78 Jahre alt und kann jeden Tag abberufen
+werden. Es ist mir möglich gewesen, meine einzige Tochter, Deine Mutter,
+durch regelmäßige pekuniäre Zuwendungen, durch Geschenke, Badereisen und
+dergleichen, vor quälenden Sorgen zu bewahren. Nichts konnte mich mehr
+freuen, als daß ich dazu imstande war, denn seine Lieben mit dem zu
+unterstützen, was man entbehren kann, ist niemals ein Opfer. Deine
+Mutter hat es um so selbstverständlicher angenommen, als sie stets zu
+dem Glauben berechtigt war, daß ihr künftiges Erbteil noch unangetastet
+in meinem Besitz sich befinde. Um den Frieden ihrer Ehe nicht zu stören,
+habe ich ihr die Wahrheit verschwiegen. Sterbe ich, so wird sie
+erfahren, daß Hans auf Grund dieser Erbschaft von meinem Sohn Walter im
+Laufe der Jahre Darlehen empfing, die sie sogar um ein beträchtliches
+übersteigen. Das wird für Deine Mutter nicht nur eine große Enttäuschung
+sein, es wird auch Einschränkungen aller Art nach sich ziehen, und auch
+an bitteren Empfindungen zwischen Deinen Eltern wird es nicht fehlen.
+Dir, meine Alix, teile ich das schon heute mit, damit Du bereits jetzt
+Deinen Einfluß dahin geltend machst, daß Euer neues Leben sich möglichst
+einfach gestalte, und Du fortfährst, ein fleißiges Hausmütterchen zu
+sein. Deine Eltern glauben Deiner Jugend, Deiner Zukunft, einer
+möglichen Heirat alle Rücksicht schuldig zu sein, sie werden sich gewiß
+einen Aufenthaltsort aussuchen, wo Du die gewohnte Geselligkeit finden
+und eine gesellschaftliche Rolle spielen kannst. Ich denke zu hoch von
+meiner Enkelin, als daß ich nicht wüßte, daß Du höhere Werte zu schätzen
+und höheren Zielen zu folgen weißt. Eine Ehe ist nur selten ein Glück,
+am wenigsten eine solche, die im Ballsaal geschlossen wird, und Dich hat
+Gott mit so vielen guten Gaben bedacht, daß Du auch außerhalb der
+natürlichen weiblichen Lebenssphäre einen Dich und Andere befriedigenden
+Lebensinhalt finden wirst. Suche Dir diesen Inhalt, nicht nur um Deiner
+selbst willen, sondern auch, um Deinen Eltern die Sorge um Dich von der
+Seele zu nehmen. Dein Vater freilich, immer ein Optimist in diesen
+Dingen, rechnet für seine Töchter mit den Millionen der augsburger
+Tante. Deine alte Großmutter, mein Kind, die stets in dem Rufe stand,
+schwarz zu sehen, weiß aber aus Erfahrung, daß es mehr als töricht ist,
+auf den wankelmütigen Sinn reicher Frauen Zukunftsburgen zu bauen.
+Klotilde ist ebenso egoistisch wie launisch, und ihrer Eitelkeit zu
+schmeicheln hast Du, Gott Lob!, noch nicht verstanden. Darum ist der
+Rat, der letzte vielleicht, den ich Dir geben kann, der: stelle Dich auf
+Deine eigenen Füße. Über das »Wie« zu entscheiden, wird freilich Deine
+Sache sein. Nur an ein paar Beispiele möchte ich Dich erinnern: an Frau
+v. W., die ein schönes, gefeiertes Mädchen, eine verwöhnte Frau gewesen
+ist. Ihr Mann verjubelte, was sie besaß, und mußte, als unheilbar
+Gelähmter, den Abschied nehmen, so daß ihr allein die Erhaltung der
+ganzen Familie zufiel. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schrieb
+Romane und erwarb, was nötig war, um zu leben und ihre Kinder zu
+erziehen. Oder denke an die kleine Gräfin B., deren Eltern starben, als
+ihre fünf Geschwister noch unmündige Kinder waren. Mit den Künsten,
+durch die sie bisher nur die Verwandten erfreut hatte, erhielt sie von
+da an die Ihren. Ihre gemalten Teller, ihre gebrannten Wappen und
+gepunzten Ledereinbände findest Du jetzt in den Auslagen großer Berliner
+Geschäfte.
+
+Und nun lebwohl, mein Herzensenkelkind; ich fühle, daß Du mich recht
+verstehst, und weiß zuversichtlich, daß ich im Vertrauen auf Dich ruhig
+meine Augen werde schließen können. Ich drücke Dich an mein Herz, als
+
+ Deine treue, sehr alte
+ Großmama.«
+
+Viele schlaflose Nächte hatte mich dieser Brief gekostet, und noch war
+keine Stunde am Tage vergangen, die mich nicht an ihn erinnert hätte. Im
+ersten Überschwang des Gefühls hatte ich Großmama alles versprochen, was
+sie von mir erwartete, und freudigen Herzens hatte ich mich in meine
+Aufgabe gestürzt. Aber der Eifer erlahmte bald, und es blieb nichts
+übrig als nüchterne, eiskalte Pflichterfüllung. Ich mußte Großmamas
+Wünschen folgen, weil die Verhältnisse mir unweigerlich ihre Erfüllung
+aufzwangen, und ich konnte es, soweit die häuslichen Pflichten in
+Betracht kamen. Aber wie sollte ich es fertig bringen, mich »auf eigene
+Füße zu stellen«?! Nach Selbständigkeit hatte ich mich gesehnt mein
+Leben lang, -- nach Selbständigkeit und nach Freiheit --, aber das wars
+ja gar nicht, was Großmama unter ihren eigenen Worten verstand, und was
+ich zu erreichen genötigt werden würde. Nicht meiner Überzeugung leben,
+mein geistiges Ich befreien sollte ich, sondern im Dienst der Familie
+meine Begabungen in blanke Münze umsetzen.
+
+Aus bunten Lappen, Blumen und Bildern hatte ich mir einst im
+Zimmerwinkel einen heimlichen Tempel erbaut, der wertlos für mich wurde
+und entweiht durch den ersten fremden Blick, der hineinfiel, -- und nun
+sollte ich meine Gedanken, den ganzen Inhalt meines Seelenheiligtums
+preisgeben, sollte für den Verkauf denken und träumen, wie man Spitzen
+klöppelt, um sie nach dem Meter an den Mann zu bringen?! Ich hatte
+gehofft, mit jenem kleinen schwarzen Büchlein einmal öffentlich wider
+die Lüge zu kämpfen, -- aber nur um des Kampfes willen! In den Schmutz
+ziehen hieß es die ganze große Sache, wenn auch nur ein Gedanke an
+»Verdienen« sich mit ihr verband. Nein -- tief in den Koffer und noch
+tiefer in den Hintergrund meines Herzens mußte ich das schwarze Büchlein
+bannen, solange ich an »Verdienen« denken mußte. Ob ich wohl auch, wie
+Frau v. W., Romane schreiben könnte? -- Eine tiefe Ehrfurcht vor dem
+Schaffen der Dichter erfüllte mich von je her. Als höhere Wesen
+erschienen sie mir, Gott ähnlich, da sie Menschen schufen, wie er. Sie
+wurden geboren durch ein höheres Naturgesetz und nur durch ein solches
+zum Schaffen gezwungen. Ein Frevler am Heiligtum, wer sich zu ihnen
+erhob, um mit Phantasien und Versen zu schachern, -- lieber Hemden
+nähen, oder Strümpfe stricken!
+
+Flüchtig fiel mir meine Geschicklichkeit ein, Kleider zu machen und Hüte
+zu garnieren, -- doch: ein Fräulein von Kleve eine Schneiderin, eine
+Putzmacherin -- unmöglich! Aber wie viel Tischkarten hatte ich nicht
+schon gemalt, wie viel Stühle und Tische und Kasten und Rahmen gebrannt,
+-- hier war vielleicht ein Weg, der sich betreten ließ. Von nun an
+benutzte ich jede freie Stunde, um mit dem Pinsel oder dem Brennstift
+Seide und Sammet, Papier, Holz und Leder zu bearbeiten.
+
+»Komisch,« meinte Papa eines Abends, »daß du plötzlich mit solchem Eifer
+Dilettantenkünste treibst. Es ist doch noch lange Zeit bis Weihnachten.«
+-- »An Alix' Geistessprünge solltest du eigentlich schon gewohnt sein,«
+spottete Mama. Heiß stieg mir das Blut in die Schläfen; eine heftige
+Antwort schwebte mir schon auf der Zunge, als ein für Hamburgs Stille
+ungewohnter Lärm auf der Straße uns alle ans Fenster trieb.
+
+»Extrablatt -- Extrablatt!« Mein Schwesterchen stürmte die Treppe hinab,
+-- endlich ein Ereignis in diesem einförmigen Leben! --, und mein Vater
+ihr nach, der immer irgend etwas Ungeheures erwartete und sich seit
+seinem Abschied mehr denn je in Prophezeiungen gefiel.
+
+»Bismarck ist entlassen --« atemlos rief er es uns von der Straße herauf
+zu und stieg mit jugendlicher Elastizität die hohen Stufen wieder
+hinauf. Hochrot war er im Gesicht, die Schweißtropfen standen ihm auf
+der Stirn, und ein triumphierendes Leuchten war in seinen Augen.
+Erstaunt sah ich zu ihm auf.
+
+»Er auch!« sagte er wie zu sich selbst und lächelte. Nun verstand ich
+ihn: ein Größerer war gefallen, von demselben Schützen getroffen, --
+nicht mehr als der Gedemütigte stand er da, sondern als der Gefährte
+dessen, der das Reich gegründet hatte und von des Reiches drittem
+Kaiser aus dem Wege geräumt worden war. Von dem Tage an lebte er auf,
+wurde gesprächig wie früher, verfolgte mit steigendem Interesse die
+politischen Ereignisse, und seine oppositionelle Stellung zum »neuen
+Kurs« wurde eine immer schroffere.
+
+»Wir werden nach Berlin übersiedeln,« sagte er mit einer Bestimmtheit,
+die jeden Widerspruch ausschloß. »Dort eröffnen sich mir alle
+Möglichkeiten zu literarischer und politischer Tätigkeit.« Er begann für
+die konservative Presse schärfster Observanz zu schreiben, die damals
+der Ära Caprivi all ihren Widerstand entgegensetzte.
+
+Die Aussicht auf Berlin elektrisierte selbst die Mutter: auf Theater,
+Konzerte, Ausstellungen freute sie sich wie ein Kind. Ein unterdrückter,
+ungestillter Hunger schien plötzlich bei ihr zum Ausbruch zu kommen.
+Auch ich war mit der Wahl von Berlin zufrieden; dort würde es mir
+leichter werden als anderswo, meine Arbeiten anzubringen, und die trübe
+Nebelstimmung meines von der Pflicht und dem Erwerb ausgefüllten Daseins
+würde doch vielleicht hier und da von einem Sonnenstrahl aus der Welt
+geistigen Lebens -- der für mich unerreichbar fernen! -- durchbrochen
+werden. Daß meine Freude eine so gedämpfte war, begriffen die Eltern
+nicht. Mein Vater bemühte sich immer wieder, der Ursache nachzuspüren.
+
+»Du wirst mit Mama die Hofbälle besuchen -- auch wenn ich nicht mittun
+kann,« sagte er eines Tages mit gütigem Lächeln. »Nein, Papachen!«
+antwortete ich, ihm dankbar die Wange küssend. »Ich bin lange genug
+ausgegangen -- ich mache mir nicht das mindeste daraus.«
+
+Er schüttelte bekümmert den Kopf, -- nun war er vollends ratlos. Wie
+gut, dachte ich, daß seine Jüngste, Tischen mit dem Goldhaar, die
+allzeit Fröhliche, ihm immer wieder die Sorgenfalten von der Stirne
+lachte und schmeichelte. Oft schickte ich sie hinein, wenn ich ihn in
+trüben Gedanken wußte. Sie verstand es, wie Sonnenschein, alle
+Regentropfen glitzern zu machen. Und jeden Abend trieb sie die bösen
+Geister, die sich am Tage heimlich eingeschlichen hatten, mit ihren
+Wirbeltänzen zu Türen und Fenstern hinaus. Sie hatte Musik in den
+Gliedern; jede Melodie wurde ihr zur rhythmischen Bewegung. Unermüdlich
+pfiff der Vater, und auf und nieder, hin und her flog sie, ein
+flatternder Irrwisch -- mit Feuerfunken in den Augen und glühenden Rosen
+auf den Wangen. Ganz verängstigt flackerte die kleine Petroleumlampe, --
+aufgestört aus ihrer würdevollen Ruhe, mit der sie sonst nur fleißige
+Hände und stille Menschen zu bescheinen gewohnt war. Ich saß indessen am
+Tisch und beugte den Kopf immer tiefer auf die Arbeit; oft schlich ich
+still hinaus, -- ich wußte nur zu gut, daß mich niemand vermissen würde.
+
+Ich wurde blaß und schmal, und blaue Ringe umschatteten meine Augen.
+
+Da kam eines Tages ein Telegramm aus Pirgallen: »Mama im Sterben.
+Walter«. Mir lähmte der Schreck die Glieder; stumpfsinnig sah ich zu,
+wie meine Mutter in Tränen ausbrach. Ich kannte den Tod ja nur vom
+Hörensagen; noch war mir niemand von denen gestorben, die mir die
+liebsten waren. Erst als ich sah, wie meine Mutter hastig den Koffer
+packte, kam ich zu mir.
+
+»Ich komme mit«, sagte ich rasch und riß ein paar Sachen aus dem Schrank
+und aus der Kommode. »Du?!« Mama sah erstaunt von ihrer Arbeit auf.
+»Davon kann selbstverständlich keine Rede sein. Entweder wir reisen alle
+-- und das ist zu kostspielig --, oder du mußt bei Haus und Ilse
+bleiben. Die Kleine kann nicht allein sein.« Ich zitterte vor Aufregung:
+Plötzlich ward mir klar, daß der einzige Mensch, der mich verstand, der
+mich liebte -- mich selbst, so wie ich wirklich war --, mit dem Tode
+rang; daß ich ihn verlieren sollte, ohne daß ich ihn je ganz besaß, ohne
+in das kostbare offene Gefäß seines großen Herzens all mein Leid, all
+meine Zweifel ausgegossen zu haben und Kraft und Klarheit und
+Verständnis von ihm zu empfangen.
+
+»Ilse ist groß genug -- und Papa sorgt für sie -- besser als ich. Ich
+bitte dich -- laß mich mit! --« rief ich verzweifelt.
+
+»Du weißt, daß es unmöglich ist --« Mamas Stimme wurde scharf, »oder
+hast du vielleicht das Geld für die Reise?«
+
+Tränen des Zorns, der Empörung, der Scham stürzten mir aus den Augen:
+Großmama starb, -- und von Geld konnte gesprochen werden! --
+
+Meine Mutter fuhr allein, aber auch sie kam zu spät: in der Nacht vor
+ihrer Ankunft hatte die Greisin ausgeatmet.
+
+Jetzt erst dachte ich all dessen, was bevorstand, und der Schmerz wich
+mehr und mehr der Angst. Ich beobachtete Papa: er vermochte seiner
+Aufregung kaum Herr zu werden. Wenige Tage nach der Beerdigung kam ein
+Brief von Mama. Er öffnete ihn nicht, sondern ging damit aus dem Zimmer
+und schloß sich in seiner Schlafstube ein. Ich horchte an der dünnen
+Wand: ein Stuhl fiel zu Boden -- ein unterdrücktes Stöhnen -- ein
+bitter-grelles Auflachen klang an mein Ohr. Mein ganzes Herz trieb mich
+zu ihm, aber ich hatte den Mut nicht, meinem Gefühl zu folgen. Als Papa
+nach ein paar Stunden zu Tisch erschien, sah er so müde, so zerfallen
+und verzweifelt aus wie damals, als ihm der Abschied ins Haus geschickt
+worden war.
+
+Eine Woche später kehrte Mama zurück. Ihre Schläfen waren grau geworden,
+und noch fester als sonst preßten sich die schmalen Lippen aufeinander.
+Mit einem kühlen Blick streifte sie den Vater und mich, reichte uns
+flüchtig die Hand und hatte nur für Ilschen einen zärtlichen Kuß. Zu
+Hause übergab sie mir ein großes Packet. »Ihren schriftlichen Nachlaß
+hat Mamachen dir hinterlassen,« sagte sie, »du kannst damit machen, was
+du willst.« Mir traten die Tränen in die Augen. Die liebe, gute
+Großmama! Nun würde sie doch für mich eine Lebendige bleiben! So rasch
+wie möglich zog ich mich mit meinem Schatz in mein Zimmer zurück. Aber
+ich hatte kaum die Siegel gelöst, die vielen Bänder geöffnet, als ein
+heftiger Wortwechsel zu mir herübertönte. »Hinter meinem Rücken hast du
+mein Erbteil verbraucht,« sagte Mama, »und daß auch meine Mutter mir
+verschwieg, was mich doch wohl am nächsten anging, -- das verbittert mir
+noch die Erinnerung an die Tote ...«
+
+»Habe ichs etwa für mich gebraucht?!« brauste Papa auf, »oder nicht
+vielmehr für dich, deinen Haushalt, deine Toiletten, und für die Kinder
+--«
+
+»Und für deine Pferde, und die überflüssigen Geschenke, und dein ganzes
+großspuriges Auftreten!« setzte sie heftig hinzu. »Warum hast du mich
+behandelt wie ein unmündiges Kind, und mir nicht gesagt, daß wir von
+deinem Gehalt nicht auskommen?! Ich hätte mich, weiß Gott, auch an
+größere Einschränkung gewöhnt -- wie an so vieles andere!«
+
+»Weil ich dich schonen, dir ein angenehmes Leben schaffen wollte! --
+Aber beruhige dich, liebe Ilse -- beruhige dich. Ich hatte zwar gerade
+gehofft, daß wir nun endlich ein gemeinsames, ein menschliches Leben
+miteinander führen würden, -- aber du erinnerst mich beizeiten daran,
+daß ich auch jetzt nichts weiter bin, als dein Portemonnaie....«
+
+»Mit solchen Phrasen verschone mich bitte, -- sie täuschen mich über die
+Tatsache nicht hinweg, daß es doch nur mein Geldbeutel war, den du --
+angeblich in meinem Interesse! -- geleert hast.«
+
+Ich erwartete zitternd eine wütende Antwort, -- statt dessen hörte ich,
+wie des Vaters Stimme umschlug und weich und flehend wurde.
+
+»Ilschen -- sei doch nicht so grausam -- siehst du denn nicht, wie mich
+die Selbstvorwürfe schon gemartert haben? -- Im Grunde hast du ja recht
+-- ganz recht -- aber es war doch nur meine große Liebe zu dir -- die
+stete Angst, die deine zu verlieren, die mich dir all das verschweigen
+ließ, die immer wieder -- in jeder Form -- um deine Gunst werben mußte,
+-- ich würde auch Millionen für dich ausgegeben haben, wenn ich sie
+gehabt hätte...«
+
+Das konnt ich nicht mehr mit anhören, -- wie gejagt lief ich in den
+Garten hinunter.
+
+Und böse war die Zeit, die folgte: der Vater in der gedrücktesten
+Stimmung, jeder Blick, den er auf seine Frau warf, ein Betteln um Liebe,
+während sie kaum die notwendigsten Worte mit ihm wechselte und mit
+peinigender Betonung bei jeder Gelegenheit Sparsamkeit predigte, -- das
+Schwesterchen dazwischen, das sich um so leidenschaftlicher an mich
+anklammerte, je unheimlicher es ihm bei den Eltern zumute wurde, -- und
+schließlich ich selbst, müde und herzenswund, und dabei krampfhaft
+bemüht, der Kleinen Lehrerin und Spielkamerad zugleich zu sein und dem
+Vater Frohsinn vorzutäuschen, um ihn zu erheitern.
+
+Draußen glühte und glänzte der Sommer. Ein einziger grüner Dom war der
+Wald, die grauen Stämme der Buchen seine gewaltigen Säulen, der Duft der
+Tannen sein würziger Weihrauch. Und doch floh ich vergebens hinaus, um
+hier zu finden, was ich einst im Hochgebirge gefunden hatte: Kraft und
+Weihe. Menschenmassen überfluteten jetzt Berge und Täler; ihre niedrigen
+Eitelkeiten, ihre verstaubten Interessen trieben den Frieden und die
+Andacht aus den Wäldern. Und die Natur hatte sich ihnen allmählich
+angepaßt: mit ihren geebneten Parkwegen, ihren umzäunten Rasenflächen
+und gepflegten Blumenbeeten war sie nichts, als ein Salon im Freien.
+
+Alte Freunde aus Münster, die zur Reitschule nach Hannover kommandiert
+worden waren, besuchten uns um diese Zeit, und ihr Entsetzen über mein
+Aussehen machte meine Eltern erst darauf aufmerksam.
+
+»Was fehlt dir bloß?« rief mein Vater besorgt.
+
+»Ein bißchen Leben, Exzellenz,« schnitt Rittmeister von Behr mir die
+Antwort ab. »Bäume, Berge und Wasserfälle sind keine rechte Gesellschaft
+für Ihr Fräulein Tochter. Geben Sie sie uns mit nach Hannover; hat sie
+mit uns erst ein paar Pullen Sekt geleert und ein paar Gäule kaput
+geritten, dann wird das Blut ihr schon wieder in die Wangen schießen.«
+
+Ich lehnte die Einladung ab: »Wir sind in tiefer Trauer, Herr von Behr,
+und mein schwarzes Kleid paßt kaum in Ihre Gesellschaft.« Als wir allein
+waren, sagte meine Mutter mit einem kaum merklichen Zögern: »Wenn das
+schwarze Kleid allein dich zurückhält, so kannst du es ruhig mit einem
+weißen vertauschen. Hier ist Mamachens letzter Brief an mich, worin sie
+den Wunsch ausspricht, daß ihre Enkel keine Trauer anlegen sollen.« --
+»Und das sagst du mir jetzt erst?!« entfuhr es mir, -- hatte ich es doch
+die ganze Zeit über wie eine Beleidigung der Toten empfunden, die Trauer
+um sie den neugierig-mitleidigen Blicken aller Welt preiszugeben. Meine
+Mutter verstand mich falsch.
+
+»Ich hätte nicht geglaubt, daß du so wenig Herz hast,« meinte sie
+gekränkt, »dann wirf nur den Krepp beiseite und geh deinem Vergnügen
+nach.«
+
+In der nächsten Viertelstunde war ich bereits umgezogen, aber bei meiner
+Weigerung Herrn von Behrs Einladung gegenüber blieb ich. Erst Papas
+Bitten, seinen Vorwürfen und seinen sorgenvollen Blicken, die ich stets
+auf mir ruhen fühlte, gab ich schließlich nach.
+
+Der schneidigste Kavallerist der Armee war zu jener Zeit Leiter der
+Reitschule, und der Kursus der Stabsoffiziere hatte gerade eine große
+Zahl der besten Reiter nach Hannover geführt. Kraft und Kühnheit,
+Lebenslust und Leichtsinn gaben sich ein Stelldichein; der Tretmühle des
+Kasernenhofdienstes entronnen, von der Familie entfernt, die mehr als
+alles andere an die schmerzvolle Würde des Alterns erinnerte, feierten
+all diese reifen Männer ein stürmisches Wiedersehen mit der Jugend. Sie
+tranken und spielten die Nächte durch und saßen beim Morgengrauen wieder
+im Sattel; sie fanden sich strahlend und heiter, ihrer eigenen grauen
+Haare spottend, zur üppigen Mittagstafel ein und tanzten abends
+ausdauernder als die jüngsten Leutnants. Ich war das einzige junge
+Mädchen in diesem Kreis, und der Verkehr inmitten dieser bunten
+Gesellschaft, die die Kavallerie ganz Deutschlands vertrat, war um so
+ungezwungener, als der Gedanke, der sich sonst störend und trennend
+zwischen die männliche und die weibliche Jugend schiebt, -- »Kann er
+mich heiraten?« -- »Ist sie eine Partie?« -- hier nicht aufkam, wo jeder
+Mann -- wenigstens solange er in unserer Gesellschaft war -- den
+Trauring am Finger trug.
+
+Ah, wie gut tat es doch, wieder fröhlich zu sein! Zu vergessen -- im
+Lebensrausch der Stunde!
+
+Einmal war ein kleiner sächsischer Husar mein Tischnachbar -- »Herr von
+Egidy«, hatte man ihn mir vorgestellt, -- und ich hatte die gedrungene
+Gestalt mit dem runden Schädel kaum im Gedächtnis behalten. Jetzt fielen
+mir plötzlich ein paar große blaue Augen auf, die mich mit einem so
+reinen Ausdruck anstrahlten, wie er mir bei einem Manne selten begegnet
+war. Wir kamen in ein Gespräch, das mich, je überraschender sein Inhalt
+wurde, desto mehr fesselte. Dieser Husarenmajor hatte andere Gedanken
+hinter seiner breiten Stirn als die über Schwadronsexerzieren und
+Jagdreiten. Man hatte sich gerade über die jüngsten Verordnungen des
+Kaisers gegen den Luxus unterhalten, und bei aller Wahrung der Form war
+doch der Ausdruck des Unmuts ein allgemeiner.
+
+»Mich haben die Worte Sr. Majestät geradezu beglückt,« sagte Egidy. »Wir
+nennen uns Christen, und verleugnen die Lehre Christi fast täglich.«
+
+Erstaunt sah ich auf. Noch nie hatte jemand zwischen Austern und
+Mocturtle-Suppe über die Lehre Christi mit mir gesprochen. War das ein
+schlechter Witz? Ich begegnete einem ernsten Blick, der meine Vermutung
+Lügen strafte.
+
+»Wir sollen doch Christen sein, nicht heißen!« fuhr er fort »und der
+Heiland saß mit den Zöllnern bei Tisch. -- Verzeihen Sie, gnädiges
+Fräulein -- ich vergaß -- das ist kaum ein Dinergespräch mit einer
+jungen Dame -- aber meine Gedanken kreisen immer mehr um denselben Punkt
+--«
+
+»Sie deuten meine Verwunderung falsch, Herr von Egidy,« antwortete ich,
+»Sie warfen meine ganze gesellschaftliche Erfahrung über den Haufen, --
+und das verblüffte mich. Wir alle pflegen doch sonst unsere Gedanken,
+besonders wenn sie so ketzerischer Natur sind, für uns zu behalten. Ich
+wenigstens --«
+
+»So haben Sie welche und verschweigen sie nur?!« Er lächelte -- sein
+ganzes Gesicht leuchtete auf dabei, »Meinen Sie denn nicht auch, daß
+nur einer öffentlich auszusprechen braucht, was alle an -- wie Sie sagen
+-- ketzerischen Gedanken in sich tragen, um jedem die Zunge zu lösen?!
+Wie ein großes befreiendes Aufatmen würde es durch die Menschheit gehen
+--«
+
+In diesem Augenblick schlug einer ans Glas: »Das höchste Glück der Erde
+liegt auf dem Rücken der Pferde, und am Herzen des Weibes -- --« Es gab
+ein allgemeines Stühlerücken -- Anstoßen -- Gelächter. Alles umringte
+mich und forderte von mir eine Antwort. Ohne viel Überlegung brachte ich
+auf die lustigen Majore, die am Jungbrunnen von Hannover wieder zu
+Leutnants geworden wären, einen Trinkspruch aus. Und wieder klangen die
+gefüllten Gläser aneinander, und alle Rosen, die die Tafel geschmückt
+hatten, häuften sich vor mir. Aber ich lächelte nur mechanisch über die
+Huldigung. »Wie ein großes befreiendes Aufatmen wird es durch die
+Menschheit gehen, wenn nur einer auszusprechen wagt, was alle an
+ketzerischen Gedanken in sich tragen,« -- das ließ mich nicht los. In
+meinem Koffer zu Haus lag ein schwarzes Buch, -- war es wirklich meine
+höhere Pflicht, das Schwesterchen zu unterrichten, der Mutter die Haare
+zu kämmen und mit schlechter Dilettantenarbeit ein paar Taler zu
+verdienen -- statt das erlösende Wort in die Welt zu rufen? Denn
+felsenfest glaubte ich daran, daß es ein erlösendes Wort sein würde.
+
+Am nächsten Vormittag besuchte mich Egidy. Er hatte ein Manuskript bei
+sich, mit den klaren, großen Schriftzügen des Soldaten bedeckt, wie ich
+sie bei meinem Vater gewohnt war. »Ernste Gedanken« nannte er es. Wir
+waren ungestört, und er begann mir daraus vorzulesen, -- eine Kritik
+der Kirchenlehren war es, ein Bekenntnis zu einem Christentum Christi
+ohne Dogmen, ohne Wunder, in einfachen lapidaren Sätzen geschrieben,
+durchglüht von einem kindlich-naiven Glauben an die eigene Sache, an
+ihren sicheren Sieg, an die Menschheit. Mir war das alles vertraut, und
+ich konnte mich einer leisen Enttäuschung, daß es nicht mehr war, nicht
+erwehren. Er schien meine Gedanken zu erraten.
+
+»Ihnen ist das nichts Neues,« sagte er, »das freut mich. Neu daran ist
+doch nur, daß es jemand ausspricht.«
+
+»Aber das haben schon viele vor Ihnen getan,« wandte ich ein, »Strauß,
+Renan, die Protestantenvereinler --«
+
+»Ich kenne die Leute nicht,« antwortet er brüsk, »und das beweist, das
+sie nichts taugten, -- sonst hätten ihre Schriften wirken _müssen_ --«
+
+»Sie denken an eine Veröffentlichung?!«
+
+»An was sonst? Jedes Wort wendet sich doch an die Masse! Ich muß
+handeln, weil kein anderer es getan hat!« Seine blauen Augen funkelten
+dabei.
+
+»Und -- die Folgen?! Bangt Ihnen davor nicht?« Mit aufrichtiger
+Bewunderung sah ich zu dem Mann in dem bunten Husarenrock auf, der jetzt
+erregt, straff aufgerichtet, vor mir hin und her ging. Er lächelte
+wieder sein vertrauendes Kinderlächeln.
+
+»Ich kann mich doch nur freuen! Ein paar Unverständige werden
+räsonnieren, die wenigen, wirklich noch vorhandenen Altgläubigen werden
+Zeter-Mordio schreien, aber die Masse des Volkes -- wir alle sind
+'Volk', wissen Sie -- wird in Bewegung gesetzt werden. Und der Kaiser
+--«
+
+»Der Kaiser?!« rief ich, auf das äußerste überrascht.
+
+»Ja der Kaiser!« wiederholte er mit fester Stimme. »Ihm vertraue ich vor
+allem. All dein Tun ist von wahrhaft christlichem Geiste erfüllt: seine
+Erlasse, seine Arbeiterpolitik -- denken Sie nur an die
+Arbeiterschutz-Konferenz!«
+
+»Ich bin ganz und gar anderer Meinung, Herr von Egidy, und Ihr Vertrauen
+ist mir viel zu wertvoll, als daß ich Ihnen nicht die Wahrheit schuldig
+wäre,« antwortete ich in tiefer Bewegung. »Sie sollen Ihre Schrift
+erscheinen lassen -- gewiß --, aber die Bewegung, die Sie erwarten, wird
+ausbleiben. Denn was heute not tut, ist nicht eine Erneuerung, sondern
+eine Überwindung des Christentums, dazu werden Sie beitragen, weil auch
+Ihr Werk Steine abbröckelt vom Bau der Kirche. -- Sie lächeln?! Nun --
+ich gebe zu, daß in meinem Mund vermessen klingen mag, was ich sage, --
+vielleicht irre ich mich, vielleicht haben Sie recht, aber eins weiß ich
+ganz gewiß: der Kaiser wird Sie nicht unterstützen -- doch den schönen
+bunten Rock ausziehen, -- das wird er Ihnen!«
+
+Ungläubig erstaunt sah mich Egidy an: »So jung und so pessimistisch!
+Dieser Rock und dies Buch sind einander doch nicht unwürdig. Und wenn
+ich als Soldat und als Christ meine Pflicht erfülle, -- wie könnte mein
+Kaiser mich dieses Rocks entkleiden?!«
+
+Ich schwieg. Wie eine Entweihung wäre mirs vorgekommen, dieses Mannes
+rührenden Kinderglauben noch einmal anzutasten.
+
+Der nächste Tag war der letzte meines Aufenthalts in Hannover, und mit
+einer Schleppjagd sollte an demselben Morgen der Kursus der
+Stabsoffiziere abgeschlossen werden. Schon früh um fünf Uhr fuhren wir,
+Frau von Behr und ich, im leichten Jagdwagen hinaus zum Rendezvous.
+Taufrisch lag die weite Heide vor uns, von Gräben und Hecken und von dem
+im Sonnenlicht glitzernden blauen Band der kleinen Witze durchschnitten.
+Zwischen Weidenstämmen und gelbem Ginster hatte sich eine große
+Gesellschaft zusammengefunden: junge Offiziere der Reitschule, Mädchen
+und Frauen der Gesellschaft in hellen Sommerkleidern, Burschen und
+Ordonnanzen mit Decken und Mänteln und der Koch des Kasinos mit seinem
+weißbeschürzten Stab vor dem mit Kisten und Fässern hochgetürmten
+Kremperwagen. Mit Feldstechern und Opernguckern bewaffnet, warteten wir
+alle der Reiter. Und plötzlich brauste es heran, wie ein
+farbensprühendes Märchen aus Tausend und einer Nacht: blau, grün, gelb,
+rot, weiß, -- hatte ein Regenbogen sich dicht über die Erde gespannt?!
+Näher kam es und näher -- das Schnauben der Rosse, das Sausen der
+Gerten, der vielstimmig-aufmunternde Zuruf der Reiter vereinten sich zu
+einem einzigen fiebrisch-wirbelnden, wild aufreizenden Ton. Da flog ein
+Brauner, den schlanken Leib lang gestreckt dicht vor mir über das
+Flüßchen, hinter ihm ein Fuchs -- ein Schimmel mit wehendem Schweif kaum
+eine Nasenlänge weiter, und nun -- zehn, zwanzig, hundert rassige Tiere,
+Schaum vor dem Maul, mit bebenden Nüstern, -- mir klopfte das
+Herz, und noch minutenlang nachher fühlte ich nichts als die
+wundervoll-leidenschaftliche Erregung dieses Augenblicks. Dann lagerten
+wir auf dem grünen Rasen, duftige Erdbeerbowle kredenzten die
+Ordonnanzen, und mitten in der Schar dieser durch die eigene Leistung
+froh bewegten Männer kam ich mir einmal wieder wie zu Hause vor. Da fiel
+mein Blick auf einen, der mit verschränkten Armen und gefurchter Stirne
+abseits stand: Egidy, -- und ich erwachte aus der Betäubung. Nein --
+hier war meinesgleichen nicht mehr, -- ich erhob mich hastig aus dem
+lustigen Kreise und trat auf ihn zu.
+
+»Ihre Worte kommen mir nicht aus dem Sinn« -- sagte er, »ich ging nach
+Hannover in der Meinung, noch einmal fröhlich sein zu können, und
+überzeugte mich für immer, daß der Frohsinn gebannt ist und, -- bleiben
+die ernsten Gedanken in meinem Schreibtisch --, nimmer wiederkehren
+würde. Und nun empfind' ich, daß die Veröffentlichung dem Frohsinn erst
+recht den Weg sperren wird.« Seine Stimme sank. Mit einer raschen
+Bewegung legte er die Hand vor die Augen: »Und es ist doch so schön
+gewesen!«
+
+Ein Blick voll tiefem Abschiedsweh flog über die Haide, den schimmernden
+Fluß, die lachenden Kameraden. Mir wurden die Augen feucht. Ich griff
+nach seiner Hand. »Gehen wir,« sagte ich leise, »losreißen müssen wir
+uns doch -- ehe die anderen uns verleugnen.« Und stumm, schweren
+Herzens, zögernd, als schleppten wir eine unsichtbare Kette nach,
+schritten wir durch den Wald zur nächsten Station.
+
+Abends war ich wieder in Harzburg. Noch in der Nacht nahm ich mein
+schwarzes Büchlein aus dem Koffer, schrieb ein paar Zeilen dazu und
+sandte es frühmorgens an Egidy. Eine unbestimmte Hoffnung, daß er doch
+vielleicht der Befreier -- auch mein Befreier -- werden könnte, ließ mir
+das Herz dabei höher schlagen. Wenige Tage später bekam ich seine
+Antwort. »Wir sind Bundesgenossen,« schrieb er, »denn nicht darauf kommt
+es an, was wir glauben, sondern was wir sind; nicht darauf, wie wir uns
+nennen, sondern ob wir wollen, daß etwas werde. Ich rechne auf Sie. Zu
+wirken gilt es, solange es Tag ist, mein ganzes Dasein gehört diesem
+Wirken.
+
+ In wahrster respektvoller Ergebenheit
+ M. von Egidy.«
+
+Nun verflossen meine Tage wieder in alter Einförmigkeit; aber ihr trübes
+Grau war wie Frühlingsnebel, der die Sonne ahnen läßt, und meine träge
+gewordene Phantasie griff wieder nach der Palette, um Zukunftsbilder zu
+malen. Ich konnte unsere Abreise kaum mehr erwarten. In Berlin würde der
+große Strom des Weltgeschehens die Rinnsale des Eigenlebens aufnehmen,
+das enge Beieinandersein innerlich entzweiter Menschen würde aufhören,
+und »das Wunderbare« würde vielleicht doch noch erlösend in mein Dasein
+treten.
+
+Meine Mutter war, um Wohnung zu suchen, schon vorausgereist, als ich von
+Professor Fiedler, dem Herausgeber der Goethe-Zeitschrift, einen Brief
+erhielt. Er hatte sich nach Großmamas Tod zuerst an Onkel Walter
+gewandt, um zu erfahren, welche Erinnerungen ihr Nachlaß an den großen
+Freund ihrer Jugend enthielte, und dieser hatte ihn an mich verwiesen.
+Ob ich für seine Zeitschrift einen Artikel schreiben wolle, frug er, --
+ich staunte: wie kam es nur, daß ich bisher so blind gewesen war?! Die
+Lebende hatte mich ernst und eindringlich auf den Weg des Erwerbs
+gewiesen, und die Tote gab mir die Mittel an die Hand, durch die es mir
+möglich sein sollte, ihn zu betreten!
+
+Gewiß, mit Freuden würd' ich den Aufsatz schreiben, antwortete ich;
+viele wertvolle Erinnerungsblätter von der Hand der Verstorbenen seien
+in meinem Besitz, die ich zu veröffentlichen die Absicht hätte, und
+überaus dankbar würde ich ihm sein, wenn ich dabei auf seine Hilfe
+rechnen könne. Umgehend erhielt ich noch einen Brief, worin mir der
+Gelehrte seinen Beistand zusicherte. Ich strahlte: das war ein Anfang,
+-- der erste Schritt zur Unabhängigkeit, und vielleicht -- zum Ruhm!
+
+An einem jener leuchtenden Herbstabende, wie sie nur im Norden
+Deutschlands vorkommen, näherten wir uns Berlin. In hellem Violett, das
+hie und da ins Rosenrote überging, lag der Dunst der Großstadt über den
+Häusern, verwischte ihre Häßlichkeit und verlieh ihnen einen Schimmer
+phantastischen Lebens. Feuchtglänzende Schienenstränge liefen vor uns
+her und dehnten sich nach allen Seiten, -- zahllose Polypenarme, die
+sich verlangend dem gewaltigen Ungeheuer der Stadt entgegenstreckten,
+das mit roten, grünen und weißen grell-glotzenden Augen gierig Ausschau
+hielt nach neuer Beute. Ein schwarzer Rachen, öffnete sich die Halle des
+Bahnhofs. Mit Gezisch und Geratter brauste der Zug hinein --
+Rauchschwaden stiegen auf -- ein letztes Ausatmen seiner Maschine -- ein
+kurzer, harter Stoß noch -- und Berlin hatte ihn verschlungen.
+Aufgeregt, rücksichtslos, erwartungsvoll schoben und drängten sich die
+Menschen. Mir aber war, als müßten meine Füße den grauschwarzen Asphalt
+sanft und schmeichelnd berühren: Neuland war es, das ich betreten hatte.
+
+
+
+
+Sechzehntes Kapitel
+
+
+ Berlin, 28. 12. 90
+Liebe Mathilde!
+
+Du beklagst Dich über mein monatelanges Schweigen, und solltest doch
+froh sein, daß ich Dich während einer Zeit innerer und äußerer
+Zerrissenheit mit Briefen verschonte. Womit ich nicht behaupten will,
+daß ich Dir jetzt das Bild abgeklärter Weisheit geben könnte. Aber ich
+habe zum mindesten den Taumel überwunden und sehe das Verwirrende,
+Vielgestaltige des neuen Lebens. -- Doch Du willst zunächst seinen
+Rahmen kennen lernen. Er ist -- um ihn mit zwei Worten zu kennzeichnen
+-- bronzierter Gips, den der Fremde für vergoldete Holzschnitzerei zu
+halten verpflichtet ist. Wir wohnen -- natürlich! -- im 'vornehmen'
+Westen, aber an jener Grenzscheide, wo die neuesten Mietskasernen mit
+ihren dunkeln Höfen und protzigen Fassaden sich mit den Kartoffelfeldern
+begegnen. Unsere Wohnung hat einen Aufgang 'nur für Herrschaften' und
+ist selbstverständlich 'hochherrschaftlich': über den Türen tanzen
+Stuckamoretten mit verrenkten Armen und Beinen, die Öfen sind
+Prachtgebäude aus den buntesten Kacheln, das Eßzimmer -- ein wahrer
+Tanzsaal -- hat Holzpaneele und eine Holzdecke aus Papier, der Salon
+weist gar eine imitierte Seidentapete auf, die der Wirt uns als ganz
+besonders 'vornehm' anpries, und das Herrenzimmer prunkt im papierenem
+Leder! Dazu hat der Tapezier die Gardinen von acht Zimmern an die
+Fenster und Türen dieser drei Räume gehängt, so daß die Üppigkeit eine
+geradezu überwältigende ist und unsere verschossenen Möbel und
+zertretenen Teppiche in einem vorteilhaften Zwielicht Glanz und Reichtum
+vortäuschen. Die nüchterne Wahrheit beginnt erst mit dem langen dunkeln
+Korridor, an den sich drei Kammern -- Schlafzimmer genannt -- anlehnen.
+Eine davon bewohne ich. Es ist mir gelungen, sie mittelst
+Kretonnevorhängen in zwei Räume zu verwandeln, die sich freilich beide
+mit einem Fenster begnügen müssen und von der Existenz des Himmels keine
+Ahnung haben, geschweige denn von der der Sonne.
+
+Und doch muß zwischen meiner Seele und der Sonne irgendein
+geheimnisvoller Zusammenhang bestehen: mein Denken und Fühlen friert ein
+ohne sie. Wenn ich arbeiten will, muß ich darum immer zuerst über Felder
+und Sturzäcker laufen, wo kein Haus und kein Baum Schatten werfen.
+Trotzdem will meine Arbeit nicht so recht hell und warm werden ...
+
+Bald nach unserer Ankunft besuchte uns Professor Fiedler. Mein Artikel
+über Großmamas Goethe-Erinnerungen gefiel ihm -- unter uns gesagt: mir
+gar nicht! --, und für alles, was ich sonst noch von ihr habe, war er
+aufs höchste interessiert. Er empfahl mich an Rodenberg, an Lindau, an
+Westermanns Monatshefte, und ich habe auf Monate, vielleicht auf Jahre
+hinaus zu tun, ohne daß der Eintritt in die Literatur mir irgendwelche
+Schwierigkeiten gekostet hätte. Auch sonst bin ich vom 'Glück'
+begünstigt: Meine Brennarbeiten hat der Offizierverein zum Verkauf
+angenommen, und meine Erfindung -- die Vereinigung von Brennen und Malen
+auf Sammet und Tuch -- hat eine Frauenzeitung geschildert und mich dabei
+als Verfertigerin empfohlen. Ich habe meinen Eltern infolgedessen das
+Taschengeld schon 'kündigen' können, und dieser erste Schritt zur
+Selbständigkeit ersetzt mir etwas den Mangel an seelischer und geistiger
+Befriedigung. Da ich den Eltern überdies durch Schneidern, Putzmachen
+und Gouvernantenspielen bei Ilse ein Mädchen für alles und ein Fräulein
+erspare, so kann ich mir einbilden, mich bereits selbst zu erhalten. Nur
+daß dies bloße Erhalten des Lebens vom Leben selbst weit entfernt ist.
+
+Ich sehe dich heimlich lächeln. 'Ihr fehlt einmal wieder der Mann,'
+sagst Du. Du irrst: ich komme mir mit meinen 25 Jahren so alt vor, daß
+ich bereits großmütterlich mitleidig lächle, wenn andere von Liebe
+reden. Besinnst Du Dich auf Vetter Fritz in Brandenburg? Du warst damals
+sittlich entrüstet, daß ich dem guten Jungen den Kopf verdrehte. Nachdem
+er in den letzten acht Jahren meinen Geburtstag nicht einmal vergessen
+hatte, stellte er sich hier wieder bei uns ein, -- noch immer derselbe
+kindliche Mensch, trotz seiner Gardeulanenuniform. Mit Blumen und
+Blicken wirbt er um mich, und seine Treue rührt mich oft so, daß ich
+mich frage, ob es nicht das Beste wäre, seine Frau zu werden. Dann hätte
+die liebe Seele Ruhe, und allen Ambitionen und Befreiungsgelüsten wäre
+ein für allemal ein Riegel vorgeschoben. Die gesamte Familie -- die
+durch Onkel Walters und Maxens, durch Tante Jettchen und ihre Kinder und
+Enkel erschreckende Dimensionen angenommen hat -- unterstützt natürlich
+im stillen die Sache, und das reizt mich zum Widerspruch.
+
+Na, überhaupt die Familie! Die Familiensonntage vor allem, wo man sich
+mittags und abends genießt, meist fünfzehn bis zwanzig Mann hoch! Nur
+eins ist für mich dabei wohltuend: daß ich mich wieder einmal so recht
+intensiv als das einzige schwarze Schaf empfinde.
+
+Seit Stöckers Abschied ist der Antisemitismus geradezu epidemisch
+geworden, gerade so, wie der Kultus Bismarcks -- wenigstens in den
+Kreisen meiner lieben Verwandtschaft -- erst nach seinem Sturz ins Kraut
+schoß. Und ein Staatsanwalt würde Karriere machen, wenn er das
+Geschimpfe auf S. M. mit anhören könnte, -- vorausgesetzt, daß die
+Delinquenten nicht preußische Edelleute, sondern internationale Sozis
+wären! Der adlige Klub am Pariser Platz, wo nur die Alleredelsten der
+Nation aufgenommen werden und Papa und die Enkels täglich verkehren, ist
+der Mittelpunkt der Fronde; Ströme von Skandalosa fließen aus seinen
+Türen in die Welt, und ich könnte aus lauter Widerspruchsgeist -- der
+zuweilen zur Objektivität erzieht -- fast zur Verteidigerin des 'neuen
+Herrn' werden, wenn er nicht selbst der sich kaum schüchtern
+entwickelnden Anerkennung immer wieder einen Fußtritt gäbe, so daß sie
+zusammenknickt wie ein Veilchen unter dem Nagelschuh. Du kannst Dir
+denken, wie es mich z. B. begeisterte, als er in der Schulreform die
+Initiative ergriff, und welche Hoffnungen ich an die Konferenz knüpfte.
+Und dann stellte ihr S. M. keine andere Aufgabe, als die Schule in ein
+Kampfmittel gegen die Sozialdemokraten zu verwandeln und blindwütigen
+Hurrapatriotismus noch mehr als bisher zu verbreiten. Natürlich bestand
+die Antwort der zusammengerufenen 'Führer der Jugend' in devotester
+Verbeugung vor dem allerhöchsten Willen, und befriedigt von dem 'Erfolg'
+des 'offenen' Gedankenaustausches schloß S. M. die Versammlung mit einer
+Verbeugung seinerseits vor der Kirche.
+
+Für Egidy war dies Ereignis, seit er den Abschied bekam, wohl der größte
+Schmerz. Ich stehe mit ihm in Briefwechsel, und so sehr ich mich im
+Gegensatz zu vielen seiner Grundanschauungen befinde, genieße ich diese
+lebens- und glaubensstarke Individualität, wie ein Durstiger frisches
+Quellwasser. 'So schwer auch die Gegenwart mich belastet,' schrieb er
+mir kürzlich, 'so kraftvoll ich auch ringen muß, um die Erinnerung
+niederzukämpfen, die gerade in diesen Tagen furchtbar an mir zehrt, da
+das Regiment, das acht Wochen nach dem Erscheinen der Ernsten Gedanken
+das meine werden sollte, sein Jubiläum feiert, -- so beseelt mich doch
+die Hoffnung, daß ich dem Vaterlande, der Welt noch dienen kann, und daß
+das, was ich tat, nicht fruchtlos war. Auch auf den Kaiser ist meine
+Hoffnung unzerstörbar, -- es gilt nur sein Ohr zu erreichen....'
+
+Doch ich sehe, daß mein Brief sich zu einem Buch auszuwachsen beginnt,
+-- hoffentlich ein Beweis für die künftige Regsamkeit unseres
+Briefwechsels.
+
+Was soll ich Dir nun ohne Phrase und ohne Komödie zum neuen Jahre
+wünschen? Glück? Wer glaubt daran? Befriedigung? Wer findet sie, solange
+das Blut noch heiß durch die Adern rollt! Soll ich auf ewige Seligkeit
+vertrösten? Ein schwacher Trost für den, der die irdische noch nicht
+durchkostet hat. Lerne dich bescheiden, werde so rasch wie möglich alt
+und kühl, -- ist das nicht am Ende der beste Wunsch?!
+
+ In treuer Freundschaft
+ Deine Alix.«
+
+
+ Berlin, 20. 2. 91
+Liebe Mathilde!
+
+Seit meinem letzten Brief und Deiner Antwort -- die meiner Erwartung
+vollkommen entsprach, alldieweil Du meine Arbeitswut nur als Intermezzo
+zwischen zwei Romankapiteln betrachtest -- sind wieder einige
+inhaltreiche Wochen vergangen. Ich fange allmählich an, den Pulsschlag
+des Weltlebens zu empfinden und den meinen auf denselben Takt
+einzustellen, wobei ich allerdings immer deutlicher den Gegensatz
+zwischen mir und der lieben Verwandtschaft empfinde, deren Blut so träge
+fließt, daß es eigentlich Anno 70 noch kaum überwunden hat. Der jüngste
+Familienzuwachs ist nach der Richtung besonders charakteristisch. Du
+entsinnst Dich, daß Papa einen jüngeren Bruder hatte, der Geistlicher
+war und im Irrenhaus starb. Er hinterließ eine Wittwe mit fünf Kindern
+in bedrängtester Lage, und Tante Klotilde mußte sich wohl oder übel
+entschließen, das Ihre zur Erhaltung der Familie beizutragen, was sie
+natürlich von vornherein gegen sie einnahm. Die mütterlichen Verwandten
+taten desgleichen; Papa verschaffte den Söhnen ein Unterkommen im
+Kadettenkorps, Mama erreichte, daß eine der Töchter die mir zugedachte
+Freistelle im Augustastift bekam, so daß Tante Marie schließlich nur
+für ein Kind zu sorgen hatte. Jetzt wills das Unglück, daß die Mädchen
+erwachsen sind und die Söhne in die Armee eintreten, und was das Malheur
+voll macht: die ganze Gesellschaft ist aus der Art der Kleves
+geschlagen. Tante Klotilde entrüstet sich darüber, und Papa schimpft wie
+ein Rohrspatz, daß die mütterliche Verwandtschaft das Blut verdorben hat
+und er nun genötigt ist, die Jungens weiter zu bringen. Er war ja von je
+der hilfreiche Geist, wenn irgendein Vetter durch das Einjährige
+bugsiert werden oder in ein anständiges Regiment Aufnahme finden sollte.
+So hat er denn für Erich, den ältesten dieser mißratenen Kleves, sein
+altes Regiment gefügig gemacht und ihm -- in der goldenen Zeit der
+eigenen Korpshoffnungen! -- die nötige Zulage versprochen. Das Einlösen
+dieses Versprechens wird ihm jetzt gewaltig sauer, und es macht mir eine
+Riesenfreude, daß ich bald imstande sein werde, einen Teil davon auf
+mich zu nehmen.
+
+Tante Marie lebt mit ihren Töchtern in Potsdam, die Söhne sind in
+Lichterfelde und Frankfurt, und diese Nähe verschafft uns das Glück
+ihrer Sonntagsbesuche. Ich sitze dabei immer wie auf Nadeln in Erwartung
+von Papas sarkastischen Bemerkungen und überbiete mich in
+Liebenswürdigkeit, wenn mir auch gar nicht darnach zumute ist. Alle
+miteinander sind kaiserlich bis in die Knochen, ist doch Tante Marie mit
+der neuen Hofclique verschwägert, mit den Eulenburgs vor allem, die nahe
+daran sind, das Hausmeiertum an sich zu reißen. Infolgedessen sind sie
+natürlich auch kirchlich-orthodox; -- darnach kannst Du Dir die
+Harmonie unserer Beziehungen ungefähr vorstellen! Mama, mit ihrem oft
+ganz fanatischen Gerechtigkeitsgefühl ist die einzige, die sie aus
+Überzeugung verteidigt und es sogar unternahm, Tante Klotilde, die jede
+persönliche Zusammenkunft mit ihren Neffen und Nichten bisher vermieden
+hat, freundlicher zu stimmen. Sie wirft mir Herzlosigkeit vor, weil ich
+sie darin nicht unterstützen mag, und zankt sogar mit ihrem
+Lieblingsbruder, der sie warnte, sich 'kein Kuckucksei ins Nest zu
+legen'. Die Gefahr ist, scheint mir, sehr gering, denn um bei Tante
+Klotilde etwas zu erreichen, müßte Mama ungefähr das Gegenteil von dem
+verlangen, was sie erreichen will. Außerdem würde ich den armen Würmern
+einen tüchtigen Anteil an Tante Klotildes Reichtümern von Herzen gönnen.
+
+In schroffem Gegensatz zu diesem Zwangsverkehr steht ein anderer, den
+ich mir erkämpft habe, -- obwohl Du mich bereits vorher vor meinen
+'jüdischen Beziehungen' warntest: der im Hause Fiedlers und Rodenbergs.
+Papa war zuerst entrüstet, als ich ihn um die Erlaubnis bat, den
+freundlichen Einladungen der beiden, meine literarische Tätigkeit so
+lebhaft unterstützenden, folgen zu dürfen. Nach einigem Brummen,
+Räuspern und Toben -- wobei ich verängstigt wie immer aus dem Zimmer
+floh, während Ilschen lachte und den Papa zu meinen Gunsten
+umschmeichelte -- entschloß er sich freiwillig zu offiziellen
+Familienvisiten und gestattete mir dann, die Gesellschaften allein zu
+besuchen. Nun genieße ich den geistig anregenden Verkehr ungeheuer und
+fange an, meine Schüchternheit angesichts dieser mir doch sehr neuen
+Menschen und fremden Verkehrsformen zu überwinden. Ich bin seit langem
+daran gewöhnt, meine Ansichten nur im höchsten Affekt auszusprechen, so
+daß ich erst eine gewisse Schwerfälligkeit niederkämpfen, ja sogar mit
+dem Ausdruck ringen muß. Das steigert sich, wenn Namen genannt und
+Ereignisse lebhaft erörtert werden, von denen ich keine Ahnung habe.
+
+Im Mittelpunkt des Interesses steht auf der einen Seite die neue
+literarische Bewegung, die sich in der Freien Bühne ein eigenes Theater
+schuf, und deren Vertreter stark realistische und sozialistische
+Tendenzen haben, und auf der anderen der neu aufsteigende Stern am
+Dichterhimmel -- Sudermann --, dessen Dramen, wie Du sicher aus den
+Zeitungen weißt, wahre Stürme für und wider hervorrufen. Ich kenne von
+alledem noch nichts. Onkel Walter erklärt, daß 'ein junges Mädchen'
+Sudermanns Werke unmöglich sehen könne, -- aber ins Residenztheater und
+in den Wintergarten werde ich ohne Bedenken mitgenommen! --, und im
+Kreise meiner literarischen Bekannten sieht man den Jungen von
+Friedrichshagen -- einem Vorort von Berlin, wo sie, wie man munkelt, ein
+gemeinsames Leben führen, das das kommunistische Prinzip sogar auf --
+die Frauen ausdehnt! -- skeptisch gegenüber. Ich bin zwar sehr geneigt,
+mich, wenn auch nicht der Autorität Onkel Walters, so doch dem reifen
+Urteil meiner neuen Freunde von vornherein anzuschließen, um so mehr,
+als Dr. Friedrich, der hervorragendste Kritiker Berlins und ein tiefer
+Goethe-Kenner, an ihrer Spitze steht, aber mich interessiert jede
+moderne Erscheinung viel zu sehr, als daß ich sie nicht aus eigner
+Anschauung kennen lernen wollte.
+
+Wegen Vetter Fritz sei ganz ruhig. Ich habe besseres zu tun, als zu
+kokettieren. Meine Haltung ihm gegenüber ist eine ganz passive: ich
+empfinde mit wohligem Behagen die Atmosphäre seiner Zuneigung, und
+vielleicht ist solch ein sich lieben lassen für mich ein
+Lebensbedürfnis, ebenso wie das sich bescheinen lassen von der Sonne.
+
+ Von Herzen
+ Deine Alix.«
+
+ * * * * *
+
+Meine Mutter pflegte sich Onkel Walters Ansichten fast immer zu
+unterwerfen, weil es im Grunde stets die ihren waren. Aber in Bezug auf
+meine Theaterbesuche geriet sie in einen Zwiespalt mit ihrer eigenen
+Neigung und mit ihrem Pflichtgefühl. Das Theater wurde mehr und mehr
+ihre Leidenschaft, -- es war, als suche diese kühle, harte Frau das
+Leben, weil sie selbst nicht gelebt hatte --, aber für sich allein und
+ihr persönliches Vergnügen Geld auszugeben, wäre ihr nie in den Sinn
+gekommen. Also nahm sie mich mit, beruhigte ihr Gewissen damit, daß »uns
+doch niemand sehen wird«, und schärfte mir ein, nicht darüber zu
+sprechen. So sahen wir »Die Ehre« und »Sodoms Ende«, dessen
+ursprüngliches Verbot auf des Kaisers direkten Eingriff zurückgeführt
+wurde und den Erfolg des Werks von vornherein gesichert hatte. Der tiefe
+Eindruck, den wir empfingen, setzte sich aus Verblüffung, Entsetzen und
+Ergriffenheit zusammen. Aber während er sich bei meiner Mutter durch den
+befreienden Gedanken auslöste, daß hier der verdorbenen Bourgeoisie und
+den verhaßten Parvenüs ein gräßliches Spiegelbild vorgehalten werde,
+das sie im Grunde nichts anging, wirkte er in mir schmerzhaft nach. Ich
+sah in meinen Träumen Alma, das verdorbene Mädchen aus dem Hinterhaus,
+und Frau Adah, die arme Reiche, die nach Glück und Liebe lechzte,
+während ihr Mann sich mit Straßendirnen umhertrieb. Sie waren nichts als
+Typen der modernen Gesellschaft, und ihre Wahrhaftigkeit erschütterte
+mich.
+
+Und dann las ich mit demselben Feuereifer, mit dem ich einst in Posen
+meine heimlich erworbenen Reklambändchen verschlang, die Werke der
+»Jungen«. Jedes Buch riß mir einen neuen Schleier von den Augen.
+Kretzers »Meister Timpe«, Holz-Schlafs »Familie Selicke«, Gerhart
+Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, -- mit welcher Grausamkeit enthüllten
+sie ungeahnte Tiefen des Elends! Dazwischen fielen mir in bunter Reihe
+Bücher in die Hände -- von Strindberg, von Garborg, von Przybyszewski
+--, die mit demselben brutalen Wahrheitsfanatismus blutende Herzen und
+zuckende Sinne bloßlegten. Und in diesem grellen Licht, das nur tiefe
+Schatten und blendende Helle schuf und milde, zart verschwimmende
+Dämmerung nicht duldete, enthüllte sich nun auch die Welt in mir. Hatte
+ich die zehrende Glut meines Innern, all die Qualen meiner jungen Sinne
+doch nur vergebens mit den Feuerlöscheimern des Verstandes und der
+Pflichterfüllung zu ersticken gesucht.
+
+Das Leben hatte in tausend und abertausend bunten Farbenflecken unruhig,
+blendend, vor meinen Augen geflirrt; jetzt erst entdeckte ich, daß sie
+alle notwendig zueinander gehörten und zu einem einzigen, riesigen
+Gemälde zusammenschossen. Es galt nur, die Blicke fest und mutig darauf
+zu richten, nicht zu schaudern vor der Wahrheit, die im zerschlissenen,
+blutbefleckten Gewande der Not der schier endlosen Schar der Hungernden
+und Blinden, der Lahmen und Verkrüppelten, der Irren und der
+Kettenträger voranschritt. Wer sehend war, erkannte unter ihrem
+Bettlermantel das Königskleid, und ihm wandelte sich die Geißel, die sie
+trug, zur Fahne des Sieges.
+
+Das Grauen verschwand, ein Gefühl unbezwinglicher Kraft überkam mich. O,
+ich war stark genug, um, Seite an Seite mit den anderen, Ruinen
+einzureißen und Felsen aufeinander zu türmen!
+
+War ich es wirklich?! Beugte ich mich nicht ängstlich jenem pedantischen
+Schulmeister, dem Alltag, der mich jeden Morgen aus meinen Träumen
+weckte, mich zwang, zwanzig alte, muffig riechende Bücher zu
+durchstöbern, um über irgend einen vergessenen Zeitgenossen Goethes
+einen kleinen Artikel zu schreiben, oder meinem Schwesterchen beim
+Rechnen beizustehen, oder Mamas Winterhut neu zu garnieren, oder für ein
+Dutzend überraschender Abendgäste den Tisch zu decken?!
+
+In der Goethe-Zeitschrift waren inzwischen meine Aufsätze erschienen,
+und von den weimarer Freunden und Verwandten meiner Großmutter wurde mir
+eitel Anerkennung zu Teil. Auch der Großherzog ließ mir sagen, wie sehr
+ihn interessiere, was ich schreibe, und legte mir nahe, nach Weimar zu
+kommen, wo ich zu neuen Studien und Arbeiten alle Türen offen und alle
+Menschen hilfsbereit finden würde. Mein Vater strahlte über diesen
+Erfolg und begriff nicht, wie ich auch nur einen Moment zögern könne,
+der Anregung Folge zu leisten.
+
+»Du bist doch nun einmal dem Tintenteufel verfallen,« meinte er, »nun
+kannst du es wenigstens auf eine standesgemäße Weise sein.«
+
+Ich schwieg. Sollte ich ihm den Schmerz bereiten und ihm sagen, daß die
+Fesseln des »Standesgemäßen« mir schon jetzt schmerzhaft genug ins
+Fleisch schnitten?
+
+Auch im Kreise der Goethe-Zeitschrift verstand man mich nicht.
+
+»Der Großherzog selbst fordert Sie auf und bietet Ihnen seine Hilfe an,
+und Sie haben noch Bedenken, nach Weimar zu gehen?!« sagte Professor
+Fiedler, als ich einmal wieder zu einer größeren Abendgesellschaft bei
+ihm war. »Nur Ihre schriftstellerische Jugend bietet mir eine Erklärung
+dafür! Was viele Gelehrte vergebens wünschten -- Zugang zu den
+verschlossenen Schätzen Weimars --, wird Ihnen hier entgegen getragen,
+und Sie greifen nicht mit beiden Händen zu! Das bedeutet doch nichts
+anderes, als eine Sicherstellung Ihrer literarischen Zukunft, als den
+Beginn einer großen Karriere.« Ich hatte ihm und seiner Unterstützung
+schon zu viel zu verdanken, als daß sein Zureden ohne Eindruck hätte
+bleiben können.
+
+»Sie haben persönliche Beziehungen zum Großherzog von Sachsen-Weimar?«
+mischte sich ein anderer Gast ins Gespräch, der mich bisher von der Höhe
+seiner Berühmtheit und seiner vielbewunderten Ähnlichkeit mit Goethe
+kaum eines flüchtigen Grußes gewürdigt hatte. Ich erzählte von Großmamas
+Freundschaft mit Karl Alexander. Der Kreis um mich vergrößerte sich. Man
+erging sich in Lobeserhebungen des Fürsten, über den ich in meinen
+Kreisen immer nur hatte lachen und spotten hören.
+
+»Wenn Sie sich seiner Gunst weiter erfreuen, -- welche Dienste können
+Sie dann der Wissenschaft leisten!« sagte der Mann mit dem Goethe-Kopf.
+Seltsam, wie er plötzlich von meiner Leistungskraft überzeugt schien,
+obwohl er alle Zusendungen meiner Artikel mit Stillschweigen übergangen
+hatte! Er führte mich zu Tisch, und ich, die ich bis jetzt eine
+bescheiden abseits Stehende gewesen war, sah mich auf einmal im
+Mittelpunkt der Gesellschaft. Das verletzte mich aufs tiefste: waren das
+die freien, geistig hoch stehenden Menschen, zu denen ich bewundernd
+aufgesehen hatte, deren Verkehr mich in den Strom geistigen Fortschritts
+reißen sollte?
+
+Auf das angenehmste überrascht wandte ich mich daher meinem Nachbarn zur
+Rechten zu, der meinen Aufsatz in der Goethe-Zeitschrift gelesen zu
+haben schien und ein paar kritische Bemerkungen darüber machte. Er war
+ein bekannter österreichischer Dichter, dessen tapfere Bücher, aus denen
+das ganze Leid des jahrhundertelang verfolgten und unterdrückten
+Judentums herausschrie, mich ihn schon lange bewundern ließen.
+
+»Wie stolz müssen Sie sein, so wertvolle Andenken an Goethe Ihr eigen zu
+nennen, wie die Gedichte an Ihre Frau Großmutter, wie den Ring aus der
+Hand des Olympiers,« meinte er.
+
+Ich zog den schmalen Goldreif vom Finger. Er machte die Runde um den
+Tisch. Alles schien entzückt, dankbar, voll Bewunderung.
+
+»Muß man das dem Fräulein glauben?!« rief plötzlich eine helle Stimme
+von der anderen Seite der Tafel. Halb verletzt, halb erstaunt, suchte
+ich mit den Augen die Sprecherin, -- sie hatte offenbar nicht den
+mindesten Respekt vor meinen fürstlichen Beziehungen.
+
+»Juliane Déry« -- flüsterte mir mein Tischherr zu, »ein überspanntes,
+hypermodernes Frauenzimmer. Sie kennen doch ihre Novellen?«
+
+Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Aber ihre Unart gefiel mir. Nach
+dem Souper sprach ich sie an.
+
+Sie saß hingekauert zu Füßen des österreichischen Dichters und maß mich
+mit einem feindseligen Blick, während sie ungeduldig den tief
+herabgesunkenen Ärmel ihres ausgeschnittenen nilgrünen Kleides auf die
+Schulter zurückschob.
+
+»Ich habe kein Interesse für Goethe und nicht das mindeste für die
+Goethe-Philologie,« sagte sie gereizt.
+
+»Fräulein von Kleve sieht mir aber auch nicht aus, als ob sie mit Haut
+und Haaren der Philologie verfallen wäre,« lachte der Dichter, ein wenig
+verlegen ob der Ungezogenheit seiner Gefährtin.
+
+»Ich danke Ihnen für die gute Meinung,« antwortete ich und setzte mich
+auf einen geraden Holzstuhl, der mit ein paar anderen seinesgleichen,
+einigen von Zeitschriften beladenen Tischen und schlichten Bücherregalen
+die Einrichtung des Raumes bildete. Es schien als sei diese Einfachheit
+wohlerwogene Absicht, denn um so gewaltiger und beherrschender traten
+die Goethe-Bilder hervor, die die Wände schmückten. »Tatsächlich habe
+ich gar keine Neigung zur Philologie, -- sehen Sie nur, wie all der
+aufgehäufte papierne Wissenskram schon vor dem bloßen Abbild des
+lebendigen Goethe zusammenschrumpft! Es widerstrebt mir geradezu, ihn zu
+vermehren.«
+
+»Warum tun Sie's denn?!« rief die junge Schriftstellerin, spöttisch
+lachend. Ich schwieg. Ich hatte die Empfindung, schon viel zu viel von
+mir selbst verraten zu haben. Der Dichter, bemüht, zwischen mir und dem
+Mädchen zu seinen Füßen eine Brücke zu bauen, lenkte ein: »Seien Sie ihr
+nicht böse. Sie ist viel besser, als sie sich gibt, und mit der
+borstigen Außenseite will sie nur das allzu Weiche ihres Inneren
+verstecken.«
+
+»Sie will?!« Juliane Déry sprang auf und wühlte mit nervösen schmalen
+Fingern, die merkwürdig wenig zu der kurzen breiten Hand und dem
+vulgären Handgelenk paßten, in ihrem wirren Haarschopf. »Sie will gar
+nicht. Aber zuweilen muß sie. Und das Müssen widert sie an. Nicht
+verbergen, bloßlegen, was ihr im Innern lebt -- ganz nackt und bloß --,
+daß Ihr guten anständigen Leute eine Gänsehaut kriegt, das will sie, --
+das wollen wir alle, die wir jung sind, und dem Leben dienen, -- und
+keinem toten Götzen.« Mir stieg das Blut in die Schläfen. Das Zimmer
+hatte sich gefüllt. Wie konnte man vor all diesen fremden Menschen die
+Pforten seiner Seele aufreißen, dachte ich, und doch beneidete ich sie,
+weil sie es konnte.
+
+Sie hatte einen Funken ins Pulverfaß geschleudert. Eine allgemeine
+Unterhaltung über das Wollen und Können der Jungen entspann sich, bei
+der die scheinbar ruhigsten Menschen in leidenschaftliche Erregung
+gerieten, -- jene Erregung, die immer verrät, daß der Kampf aufhört,
+objektiv geführt zu werden. Ich hörte mit steigendem Erstaunen zu.
+Verteidigten sie nicht im Grunde ihre persönliche Ruhe, wenn sie mit
+Keulen auf alle diejenigen losschlugen, die die Wahrheit vom Leben
+verkündigten?
+
+»Der Pöbelruhm Zolas und Ibsens ist den Leuten zu Kopfe gestiegen,«
+eiferte Dr. Friedrich, der von vielen als zweiter Lessing gepriesen
+wurde, und sein schmales bartloses Gesicht rötete sich. »Man spekuliert
+auf die ganz gemeine Freude am Schmutz, und hat damit natürlich die
+Masse auf seiner Seite. Was würde der Große hier sagen« -- er wies mit
+einer theatralischen Gebärde auf die Bilder an den Wänden -- »wenn er
+diese Entartung der deutschen Literatur hätte erleben müssen!«
+
+Eine Pause trat ein. Juliane Déry stampfte mit dem Fuß und biß sich die
+vollen Lippen wund, aber auch sie schwieg. Die Autorität des
+gefürchteten Mannes wirkte lähmend auf alle. Ich allein war noch viel zu
+naiv, um von seiner Macht eine Ahnung zu haben.
+
+»Ich glaube, niemand würde die Jungen besser verstehen und würdigen als
+er,« begann ich leise und stockend, während ängstliche, warnende und
+spöttische Blicke sich auf mich richteten. »Sein Werther, sein Meister,
+sein Faust und sein Gretchen vor allem mögen die meisten seiner
+Zeitgenossen durch ihre Wahrhaftigkeit nicht minder verletzt haben als
+die Enthüllungen des äußeren und inneren Elends der Gegenwart Sie heute
+verletzen. Mir scheint, Dichter und Künstler müssen uns die Wahrheit
+zeigen, wie sie ist, weil wir selber nicht den Mut haben, sie aus
+eigener Kraft zu sehen.«
+
+Man unterbrach mich; Rufe der Entrüstung wurden laut, ich wollte schon
+verschüchtert schweigen, als ein kühler, herausfordernder Blick Dr.
+Friedrichs mich traf, der jetzt dicht vor mir stand.
+
+»Reden Sie nur weiter, gnädiges Fräulein, reden Sie! Es ist
+psychologisch interessant, einmal zu sehen, wie die Dinge auf Menschen
+wirken, die, wie Sie, dem Leben so fern stehen.«
+
+»Ich stehe ihm näher, viel näher, als Sie glauben --« nun flossen mir
+die Worte rasch und klar von den Lippen -- »und ich weiß, daß wir nicht
+weiter kommen -- der Einzelne nicht und die Gesamtheit nicht --, solange
+wir uns scheuen, das Böse und Widerwärtige, das Häßliche und
+Schmerzhafte zu sehen, wie es ist. Erst daran erprobt sich die
+Lebenskraft. Kein größeres Zeichen der Dekadenz gibt es als die Furcht
+vor dem Schmerz. Sie ist unsere Krankheit, und an ihr geht unsere Welt
+zugrunde, wenn sie sich von den Ibsen und Zola und Nietzsche und denen,
+die ihresgleichen sind, nicht heilen läßt.« Ich atmete tief auf. Jetzt
+erst sah ich wieder, wer um mich war: man lächelte, halb verlegen, halb
+mitleidig, man zuckte die Achseln.
+
+»Wenn nichts anderes, so haben Sie doch eins bewiesen, meine Gnädigste,«
+spöttelte Dr. Friedrich, »Sie haben Ihren Beruf verfehlt: eine Rednerin
+ist an Ihnen verloren gegangen.«
+
+Ich fühlte mich gedrückt und verlegen und mochte den Mund nicht mehr
+auftun.
+
+Auf dem Nachhausewege schloß sich mir plötzlich Juliane Déry an und
+schob ihren Arm in den meinen.
+
+»Sie sind eine tapfere kleine Person,« sagte sie, »aber furchtbar dumm
+sind Sie auch! -- Das vergißt Ihnen der Friedrich nie!«
+
+»Wenn meine ganze Dummheit darin besteht, -- die Folgen will ich auf
+mich nehmen.«
+
+»Na -- allerhand Achtung vor Ihrer Kurage! -- Aber -- da wir zwei die
+Wahrheit zu vertragen scheinen, so sag ichs frei heraus: Ihre Dummheit
+ist noch nicht erschöpft. Sie haben Ihr Gewissen sogar mit einem
+Verbrechen beladen. Sie haben der Kunst ethische Motive angedichtet. Die
+Kunst ist Kunst, -- nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie hat eine
+neue Schönheit entdeckt, die der Wahrheit -- der Häßlichkeit meinetwegen
+--, die muß sie darstellen. Im Wort, im Bild, im Ton. Aber nützen und
+bessern will sie nicht, soll sie nicht.«
+
+»Mag sein, daß das nicht ihre Absicht ist. Auch die Blume blüht und
+duftet und ist schön und vollendet, selbst wenn sie nicht zur Frucht
+werden wollte. Aber die Frucht kommt ohne ihre Absicht.«
+
+Es zuckte ironisch um die Mundwinkel meiner Begleiterin. »Ihr Vergleich
+hinkt. Die Blume muß sterben, soll die Frucht ihre Folge sein. Die Kunst
+aber blüht und ist immer Frucht und Blume zugleich.«
+
+Wir waren über kaum angelegte Straßen, an Kartoffelfeldern vorbei bis zu
+der alten Linde gelangt, die mitten in der Straßenkreuzung des
+Kurfürstendamms und der Tauenzienstraße stand, ein letzter Zeuge jener
+Vergangenheit, wo die lauernde Schlange der Großstadt die Natur noch
+nicht bis zum letzten Rest in ihrer Umarmung erdrosselt hatte.
+
+Wir trennten uns mit einem Händedruck und doch eben so fremd wie vorher.
+Nicht zu jenen gehörte ich, deren Gast ich eben gewesen war, und nicht
+zu ihr. Wohin denn?...
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen schrieb ich an meine Verwandten nach Weimar und
+kündigte meinen Besuch an. In die Arbeit wolle ich mich stürzen, das
+würde wieder das Beste sein.
+
+Vor meiner Abreise kam die Familie noch einmal vollzählig bei uns
+zusammen: Onkel Walter mit seiner Frau, die Potsdamer Kleves, Vetter
+Fritz und Vetter Hermann Wolkenstein, der als Offizier auf keine
+Karriere zu rechnen hatte und daher zur Diplomatie übergegangen war.
+Auch Tante Jettchen, das Familienorakel, war gekommen, sehr alt, sehr
+gebrechlich, aber mit ihren scharfen klugen Augen doch noch alles
+sehend, alles beobachtend, und in ihrem Urteil härter denn je. Ihr Kopf
+schien nichts als ein Lexikon der Familie zu sein. Sie kannte die
+Schicksale der entferntesten Verwandten. Mich mochte sie nicht: daß ich
+als Kind auch nur wochenlang eine jüdische Schulfreundin gehabt hatte,
+war ein unauslöschlicher Makel in meiner Erziehung. Heute jedoch ließ
+sie sich meinen Handkuß auf das gnädigste gefallen.
+
+»Es freut mich, freut mich sehr, daß du nach Weimar gehst,« sagte sie,
+»für verschrobene Köpfe wie deinen ist das gut -- sehr gut. Literarisch
+angehauchte Frauenzimmer haben dort Aussicht auf Hofkarriere.« Ich
+lächelte unwillkürlich: Professor Fiedler hatte auch von der »Karriere«
+gesprochen!
+
+Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Familienereignisse. Von den
+Vettern, die um die Ecke gegangen waren, und die, statt wie früher nach
+Amerika, jetzt nach den Kolonien abgeschoben wurden, um als
+Kulturträger aufzutreten; von den sitzengebliebenen Kusinen, die
+Krankenpflegerinnen wurden, weil andere Berufe sich doch nicht
+schickten, war die Rede. »Besser sich die Finger mit Blut als mit Tinte
+beschmutzen,« krähte die hohe Greisenstimme Tante Jettchens. Und dann
+wurde das unerhörte Ereignis kräftig glossiert, daß ein Golzow die
+Tochter eines Großindustriellen geheiratet hatte. Die erste Unadelige in
+der Familie, und noch dazu der Sprößling eines »Kohlenfritzen!«
+
+»Und der Kerl, der Ernst, hat noch die Frechheit gehabt, mir seine
+Verlobungsanzeige zu schicken.« Auf Tante Jettchens runzligen Wangen
+brannten rote Flecke. »Aber freilich, wenn von oben das Beispiel gegeben
+wird! -- Wenn Se. Majestät selbst mit dem Kanonen-Krupp und den
+Hamburger Kaffeesäcken fraternisiert! -- Und amerikanische
+Milliardärstöchter, deren Väter noch mit dem Bündel auf dem Rücken
+durchs Land zogen, hoffähig werden!« -- Ihre Stimme überschlug sich, der
+stockende Atem zwang sie zum Schweigen. Und nun erst griff die rechte
+Stimmung Platz, ohne die eine Gesellschaft unserer Kreise kaum noch
+möglich schien: Jeder wußte einen neuen Hofklatsch, eine neue Variation
+einer der vielen Kaiserreden oder flüsterte dem Zunächstsitzenden -- aus
+Rücksicht auf die anwesenden jungen Mädchen -- einen neuen derben Spaß
+zu, durch den irgendein Eulenburg oder Kessel die Lachlust Sr. Majestät
+gereizt und sich eine neue Gunstbezeugung errungen hatte.
+
+»Für das Modell des Doms, mit seiner überladenen Pracht, hat er selbst
+die Zeichnungen entworfen,« sagte der eine, »dem Darsteller des großen
+Kurfürsten in Wildenbruchs neuem Spektakelstück, dem 'neuen Herrn' --
+das übrigens ein unglaublich taktloser Angriff auf Bismarck ist -- hat
+er persönlich gezeigt, wie ein Hohenzoller sich bewegen und benehmen
+muß,« -- fügte ein anderer hinzu, »kurz, der liebe Gott kann alles, aber
+der Kaiser kann alles besser,« lachte Onkel Walter. Und die alte Tante
+schüttelte sich vor Vergnügen: »Als roi soleil hat er sich ja auch schon
+malen lassen!«
+
+Nur die Kleves waren verlegen und still, und Papa hatte sich mit
+bezeichnenden Blicken auf die jungen Offiziere schon oft vernehmbar
+geräuspert.
+
+»Nun aber genug des grausamen Spiels,« unterbrach er schließlich den
+allgemeinen Redefluß. »Ich komme gewiß nicht in den Verdacht, ein
+Sachwalter des neuen Kurses zu sein, wenn ich daran erinnere, daß wir
+doch auch Ursache haben, dem jungen Herrn zuzustimmen. Schien er im
+Überschwang jugendlicher Gefühle den Herren Sozialdemokraten
+Konzessionen zu machen und den Arbeitern die Backen zu streicheln, so
+hat er doch beizeiten gestoppt und andere Saiten aufgezogen -- --«
+
+Doch die Verteidigung steigerte nur die Heftigkeit des Angriffs.
+Merkwürdig, welche Reizbarkeit alle Menschen befallen hatte, wie es fast
+unmöglich schien, eine ruhige Unterhaltung zu führen.
+
+»Du siehst die Dinge wirklich nur von außen, lieber Hans,« rief Onkel
+Walter, der sich als Reichstagsmitglied fühlte und sich gern das Ansehen
+gab, als wäre er in alle politischen Kulissengeheimnisse eingeweiht;
+»tatsächlich steuert man direkt in den Sozialismus hinein, und das um so
+rascher, je mehr man uns, die einzigen Stützen der Monarchie, vor den
+Kopf stößt. Ist es erhört, daß von einem preußischen Könige Ausdrücke
+wie der von der Rebellion der Junker kolportiert werden können, daß
+Reden gehalten werden, wie auf dem brandenburgischen Provinziallandtag,
+die nichts anderes sind, als ein Kriegsruf gegen uns?!«
+
+Meine Mutter stimmte eifrig zu. »Der Geist der Unzufriedenheit, von dem
+der Kaiser sprach, und der die Seelen vergiftet, ist wahrhaftig anderswo
+zu suchen!« sagte sie und lenkte die Unterhaltung auf die moderne
+Literatur. Seitdem sie »Die Ehre« und »Sodoms Ende« gesehen hatte,
+schien sie von dem Eindruck ganz beherrscht zu sein und schwankte
+zwischen der Empörung, die die traditionelle Auffassung von dem, was
+sich schickt, ihr auspreßte, und zwischen der Anerkennung, zu der ihr
+Gerechtigkeitsgefühl sie zwang. Sie wünschte sichtlich ihre Empörung zu
+stärken, aber unsere Gäste hielten dies Thema nicht für der Mühe wert,
+um sich deswegen zu erhitzen. »Wie kannst du dergleichen ernsthaft
+nehmen,« meinte Onkel Walter achselzuckend; »eine neue Form amüsanter
+Schweinereien -- nichts weiter.« Nur Tante Jettchen ereiferte sich:
+»Anständige Leute gehen in solche Stücke nicht.« Und erleichtert über
+die Wendung des Gesprächs, sekundierte ihr die fromme Tante aus Potsdam.
+
+Am Tisch der Jugend, wo man indessen Schreibspiele gespielt hatte, saß
+ich in steigender Erregung. Plötzlich trafen mich die scharfen Augen des
+Familienorakels. »Ich glaube gar, das Küken möchte mitreden, wo sie
+nicht einmal hinhören sollte.« Ich wurde rot. Auf der faltigen Stirn der
+alten Frau erschienen hundert neue Runzeln. »Du erlaubst dir am Ende,
+eine andere Meinung zu haben?!« forderte sie mich heraus. Verlegenheit
+vor all den Blicken, die sich auf mich richteten, Angst vor dem Skandal,
+den ich erregen würde, ließen mich schweigen. Aber als wir Jugend beim
+Abendessen, getrennt von den anderen, zusammensaßen und Hermann
+Wolkenstein eine wegwerfende Bemerkung machte, die mir in seinem Munde
+doppelt lächerlich vorkam, verteidigte ich die moderne Richtung in Kunst
+und Literatur, und zwar um so schärfer, je mehr mich die Beschränktheit
+und der dumme Hochmut der anderen empörte.
+
+»Weiß Tante Klotilde um deine Ansichten?« frug unvermittelt eine der
+Potsdamer Kleves und streifte mich mit einem schiefen, lauernden Blick.
+
+»Ich würde vor ihr am wenigsten Anstoß nehmen, sie zu entwickeln,«
+antwortete ich und warf den Kopf zurück.
+
+»Von dir wundert mich schon gar nichts mehr,« meinte Hermann
+naserümpfend. »Wer sich mit jüdischen Literaten intimiert ...«
+
+»Beleidige doch deine Vorfahren nicht noch im Grabe --« spottete ich.
+
+Er warf mir einen bösen Blick zu. Die anderen, ihrer tadellosen
+Ahnenreihe bewußt, lächelten leise. Das reizte ihn noch mehr. Er hieb
+mit der riesigen, weißen, gepflegten Hand auf den Tisch, daß sein
+Kettenarmband klirrend unter der Manschette hervorsprang.
+
+»Und du spiel' dich nicht auf,« zischte er zwischen den Zähnen hervor;
+»mit deiner Vergangenheit hast du am wenigsten Grund dazu.« Ein
+unartikulierter Laut ließ mich den Kopf rasch zur anderen Seite wenden,
+Fritz hatte ihn ausgestoßen. Er saß da, kreideweiß im Gesicht, mit
+zuckenden Lippen.
+
+»Sie werden meine Kusine um Verzeihung bitten, Baron Wolkenstein,«
+herrschte er Hermann an. »Habe gar keine Ursache, Herr von
+Langenscheid,« antwortete dieser, lehnte sich breit in den Stuhl zurück
+und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ich umklammerte hastig die
+heißen Finger meines Verteidigers. »Mach doch keine Geschichten, Fritz
+--, Hermann ist taktlos wie immer -- bitte, mir zuliebe, beruhige dich!
+-- das ist ja gräßlich -- hier, im Hause meiner Eltern!«
+
+In diesem Augenblick fingen die Verwandten im Nebenzimmer an, sich zu
+verabschieden. Fritz zog mich beiseite. Er zitterte vor Erregung.
+
+»Und du verteidigst dich nicht einmal gegen solche Gemeinheit,«
+flüsterte er mit erstickter Stimme.
+
+»Verteidigen?! Vor solch einem Menschen?!! Soll ich ihm vielleicht
+eingestehen, daß ich einmal im Leben liebte, -- mit ganzer Seele und mit
+vollem Herzen?! Soll vor den Leuten, die gar keiner starken Empfindung
+fähig sind, mein Inneres entblößen, was ich vor mir selbst zu tun kaum
+den Mut habe?«
+
+»Alix!« von weit her schien jemand meinen Namen zu rufen, mit einem
+Ausdruck, der mir in die Seele schnitt.
+
+Im nächsten Moment beugte ich mich zum Abschied über die welke Hand
+Tante Jettchens, hörte mit halbem Ohr ein allgemeines Stimmengewirr und
+fühlte schließlich noch Papas Lippen auf meiner Stirn.
+
+»Gott Lob,« murmelte er, »den Abend hätten wir hinter uns!«
+
+Verträumt und erstaunt sah ich um mich, als ich acht Tage später in
+Weimar ankam. Stand die Zeit hier seit zehn Jahren still?! Derselbe
+helle Maienabend wie damals empfing mich. Und in dasselbe alte Haus an
+der Ackerwand führte mich die Hofequipage, wie einst, als die Großmutter
+ihr Enkelkind zum erstenmal hergeleitete. Sie freilich war nicht mehr
+da, und doch war mirs, als ob ihr Kleid neben mir die Treppe hinauf
+rauschte. Auch ihr Bruder war lange tot, und doch schien's, als wäre der
+schöne, tief brünette Mann mit den schmalen Händen und dem leicht
+gebeugten Nacken, der mich empfing, kein anderer als er.
+
+Im Rokokosalon mit den vielen Miniaturen über dem graziösen Sofa und den
+verblaßten Pastellbildern an der mattblauen Seidentapete erhob sich aus
+dem goldgeschnitzten Lehnstuhl am Fenster ein schlankes Frauenbild und
+streckte mir mit einem süß-zärtlichen Lächeln ein weißes Händchen
+entgegen. War das wirklich die Gräfin Wendland -- meine Tante --, oder
+war es nicht Frau von Stein, deren Schatten sich aus dem Nebenhaus
+hierher verirrt hatte?! Dann kamen die Kinder und begrüßten mich, --
+lauter kleine Elfen mit allzu schweren Haaren auf den feinen Köpfchen
+und allzu großen Blauaugen über den schmalen Wangen.
+
+Draußen vor meinem Zimmer plätscherte der Brunnen, wie vor uralten
+Zeiten, und die Bäume rauschten feierlich, als träfe ihre Kronen niemals
+ein Wirbelsturm.
+
+Am nächsten Morgen besuchte mich der Großherzog. Er kam zu Fuß und
+unangemeldet, mit den raschen elastischen Schritten eines jungen
+Mannes; ich hatte kaum Zeit, ihm bis zum Treppenaufgang entgegenzugehen.
+Und dann saß er mir im Rokokosalon gegenüber, und je länger er sprach --
+mit heller Stimme und in dem eleganten Französisch des ancien régime --,
+desto tiefer versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel stieg
+die Vergangenheit empor. Von der Großmutter erzählte er mir zuerst, wie
+schön und wie gut und wie klug sie gewesen wäre, wie sie Weimars Geist
+in sich verkörpert habe, wie er nie habe verstehen können, daß sie
+anderswo als in ihrer Seelenheimat zu leben imstande gewesen war.
+Zuweilen legte er die Hand über die Augen, eine gelbliche, blutleere
+muskellose Hand, die gewiß niemals fest zuzupacken vermocht hatte, und
+lehnte sich, als käme plötzlich die Erinnerung an das eigene Alter über
+ihn, tief in den Stuhl zurück. Aber gleich darauf reckte sich sein
+schmaler Oberkörper krampfhaft auf, die Hände umschlossen die
+Seitenlehnen, die Augen weiteten sich, und mit dem stereotypen
+angelernten Fürstenlächeln, das über jede Empfindung hinweg täuschen
+soll, begann er wieder zu reden. Nun war ich nicht mehr das Enkelkind
+der Freundin seiner Jugend, sondern die Schriftstellerin, von der er die
+Erfüllung eines langgehegten Wunsches erwartete. Die Geschichte der
+Gesellschaft Weimars sollte ich schreiben, jener Gesellschaft, die seit
+Goethes Ankunft in der Residenz Karl Augusts »getreu ihrer Tradition,
+Künstler und Dichter als gleichberechtigte aufgenommen und ihnen den Weg
+zum Ruhm gebahnt hat.« Und von den Vielen erzählte er, denen Weimar ein
+Sprungbrett ins Leben gewesen war, die hier zuerst die Anerkennung
+fanden, die die Welt draußen ihnen versagte. Er begeisterte sich an
+seinem eigenen Gedankengang, sein farbloses Gesicht überzog sich mit
+einer ganz feinen bläulichen Röte, und in seinen verschleierten Augen
+entzündete sich ein stilles Licht.
+
+»Sie sind prädestiniert, dies Werk zu schaffen: Getränkt mit Weimars
+Erinnerungen, erzogen in Weimars Geist, geleitet von dem unfehlbaren
+Takt der Aristokratin,« sagte er, indem er sich erhob und mir die Hand
+reichte. »Von Ihnen brauche ich keine jener widerwärtigen Enthüllungen
+zu fürchten, die die Kunst beschmutzen, das Leben vergiften. Meine
+Archive stehen Ihnen offen; dasselbe glaube ich auch im Namen der
+Großherzogin versprechen zu dürfen. Ich hoffe, Sie oft zu sehen -- --«
+
+Zu einer Antwort ließ er mir keine Zeit mehr, -- daß ich nicht nein
+sagen könnte und dürfte, war ihm selbstverständlich. Ich hatte mich nur
+noch tief und dankbar zu verneigen.
+
+Und immer enger spann sich Weimars Zaubernetz mir um Geist und Sinne.
+Mit offenen Armen, wie eine Heimkehrende, ward ich überall aufgenommen.
+Während langer Audienzen besprach die Großherzogin meine Arbeit im
+Goethe-Archiv mit mir. Sie blieb stets in jedem Wort und jeder Bewegung
+die unnahbare Fürstin, und doch lag ein mütterlicher Ausdruck auf ihren
+Zügen, wenn ich eintrat. Der kleine, derbe Erbgroßherzog, in allen
+Stücken das Gegenteil seines Vaters, glich ihm mir gegenüber in der
+Freundlichkeit, die durch seinen breiten Weimarer Dialekt und seine mit
+einer gewissen Absichtlichkeit übertriebene Verachtung aller Form noch
+um einen Schein herzlicher war, und seine gute, dicke Frau, die gewiß
+eine prächtige Landpastorin abgegeben hätte, unterstützte ihn darin.
+Mit der halben Hofgesellschaft verbanden mich verwandtschaftliche
+Beziehungen; Vettern und Kusinen sechsten und achten Grades behandelten
+einander hier in dem festgeschlossenen Kreise wie nahe Blutsverwandte.
+Wir waren in großer Gesellschaft, wenn kaum einer unter uns nicht »Du«
+zu dem anderen sagte.
+
+Wie ein süßer Duft verlöschter Wachskerzen schwebte die Erinnerung an
+das achtzehnte Jahrhundert über all diesen Menschen und ihrer Umgebung.
+Alles war verblaßt, was damals in Farben und Gefühlen gejauchzt und
+geschwelgt hatte: die Rosenteppiche, -- die gemalten Wangen, -- die
+Liebe. Und die raschelnden bauschenden Gewänder, die Schönpflästerchen,
+die bunten Westen, die weißen Perücken und Galanteriedegen hatten die
+Damen und Herren abgelegt. Sie sahen darum oft recht dürftig und
+ungeschickt aus. Nur wenn im Schloß die Lüster brannten und das blanke
+Parkett und die hohen Spiegel ihr Licht tausendfältig wiedergaben,
+schienen sie sich des alten Lebens bewußt zu werden. Sie tanzten und
+lachten und neigten sich und nippten vom süßen Weine, und ich selbst
+mitten darin kam mir vor wie ihresgleichen: ein Schatten der
+Vergangenheit.
+
+Auch in die Bürgerhäuser kam ich, wo Erinnerungen alter Zeiten in
+vergilbten Briefen, zärtlich-himmelblauen Stammbüchern, Ringen aus den
+Haaren der Liebsten, Prunktassen mit den Bildern der Unsterblichen
+verwahrt wurden. Der freundliche, ein wenig sentimentale, ein wenig enge
+Geist der dreißiger Jahre herrschte hier. Keine moderne Renaissance
+hatte die gradlinigen Biedermeiermöbel und die hellen Mullgardinen
+verdrängt, und trotzdem der Rausch der Farben und der Töne eines
+Böcklin, eines Liszt und Wagner ihr Auge und ihr Ohr getroffen hatte,
+standen sie inmitten der weichen Märchenträume Schwindscher Wälder, und
+in ihrem Inneren klangen die Volksweisen Felix Mendelsohns.
+
+Ich arbeitete jeden Vormittag in den Räumen des Goethe-Archivs, hoch
+oben im linken Schloßflügel, durch dessen Fenster der Blick weit über
+den Park hinweg schweifen konnte und das Ohr nichts vernahm als das
+leise Geschwätz zwischen der plätschernden Ilm und den grünen
+Baumblättern über ihr. Die gelehrten Herren, die mit mir arbeiteten,
+behandelten mich mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die Mauern
+aufrichtet zwischen den Menschen. Sie beantworteten meine Fragen, sie
+brachten mir, was ich brauchte, sie verbeugten sich tiefer vor mir, als
+es nötig gewesen wäre, aber ich fühlte trotzdem die Geringschätzung des
+deutschen Gelehrten vor dem Weibe, das in seine Kreise dringt. Doch je
+länger ich in Weimar war, desto dichter umhüllte mich eine Atmosphäre
+des Weihrauchs, die mich nicht nur unempfindlich, sondern auch unnahbar
+hochmütig machte. Nur einer, der Direktor, ein geistvoller Sonderling,
+begegnete mir wie ein Mensch dem Menschen. Zuweilen aber kam es vor, daß
+ich seine väterlichen Ermahnungen, seine klugen Ratschläge, seine
+sarkastischen Kritiken nicht mehr vertrug. Nicht nur die Eitelkeit, die
+in der Treibhausluft der Salons so üppig gedieh, auch die Ungeduld, die
+mich oft mitten in der Arbeit packte, trug daran die Schuld.
+
+»Man degradiert sich zum Lumpensammler bei dieser ewigen
+Papierkorbarbeit,« rief ich einmal empört, als ich eine Notiz, die mir
+fehlte, durchaus nicht finden konnte.
+
+Der Direktor, der mir während der letzten Stunden geholfen hatte, sah
+mich stirnrunzelnd an.
+
+»Sie sind sehr jung und sehr voreilig, gnädiges Fräulein,« sagte er
+scharf. »Wer zur Vollendung eines Mosaikbildes ein einziges Steinchen
+braucht und Kisten und Kasten, selbst Bergwerke darnach durchforscht,
+der leistet eine wertvollere Arbeit, als mancher, der ein ganzes Gemälde
+in zwei Stunden hinpatzt. 'Beschränkung ist überall unser Loos,' sagt
+unser Meister, und mit vollem Bewußtsein einseitig werden, ist der
+Ausgangspunkt tüchtiger Leistung.«
+
+»Beschränkung ist überall unser Loos«, -- das bohrte sich in mein Gehirn
+-- ich suchte von da an meine Steinchen und unterdrückte mein Murren.
+
+An einem Lenztag, der so reich war, als hätten alle Lieder der Sänger
+Weimars sich in Duft und Glanz und Farben verwandelt, fuhren wir hinauf
+nach Belvedere. Der Großherzog hatte uns zum Frühlingsfest in sein
+Schlößchen geladen. In eine Laube von Maiglöckchen und Rosen war der
+runde Gartensaal verwandelt; durch die weit geöffneten Türbogen lachte
+der blaue Himmel, auf dem blinkenden Silber und den geschliffenen
+Kristallen der Tafel glänzte die Sonne, die Zahl der Tischgäste
+überstieg nicht die der Musen, und ein heiteres Gespräch, das wie der
+Wiesenbach alle Ecken und Kanten meidet und selbst die Steine
+streichelt, die ihm im Wege liegen, flutete hin und her. Warum nur meine
+Gedanken zuweilen den Faden verloren, und der Märchenwald am grünen
+Badersee mir wie eine Fatamorgana erschien und kühler Bergwind mir die
+Stirn umstrich? -- der Duft der Maiglöckchen war es wohl, der den Zauber
+hervorrief.
+
+In den Park geleitete uns unser Gastgeber nach dem Diner. Er zeigte mir
+das Labyrinth und die Naturbühne und wies mit liebevoller Bewunderung
+auf die sanften waldigen Hügelketten, die sich weit bis in die Ferne
+dehnten. »Das ist Schönheit,« sagte er, »ruhig-vornehme Schönheit, ein
+reiner Rahmen für echte Kunst, wie wir sie in Weimar gepflegt haben und
+pflegen werden. Ich freue mich, daß Sie uns helfen wollen. -- Sie werden
+in Weimar bleiben, nicht wahr?« Ich antwortete ausweichend. Er verstand
+mich falsch: »Eine Stellung zu finden, die Ihnen entspricht, dürfen Sie
+mir überlassen,« und mit einem freundlichen Händedruck wandte er sich
+anderen zu. Auf dem Heimweg gratulierten mir meine Verwandten. Graf
+Wendland, der hinter den Allüren eines tadellosen Hofmannes einen
+klugen, merkwürdig freien Menschen verbarg, meinte mit einem feinen
+Lächeln: »Der weiße Falke wird der Hofhistoriographin nicht fehlen. Ein
+Ziel, aufs innigste zu wünschen, nicht wahr?!«
+
+An demselben Abend war ich bei einer meiner vielen Tanten zum Souper.
+Aber es war eine, die nicht wie die vielen war, -- ein Original, über
+das die Familie die Achseln zuckte und die Köpfe schüttelte. Sie hatte
+sich schon in ihrer frühen Mädchenzeit Weimar zum Trotz ihr eigenes
+Leben geschaffen. Sie suchte sich ihre Hausfreunde unter den Künstlern
+und Dichtern, die sonst in Goethes Stadt doch nur zu wirksamen
+Dekorationsstücken der Hofgesellschaften verwendet wurden. So war sie
+allmählich zur mütterlichen Freundin all der jungen Menschen geworden,
+die hier auf der steilen Leiter zum Ruhm die ersten Schritte taten oder
+künstlerische Offenbarungen suchten. Und wem der Zwang des Hofes lästig
+wurde, wer frischere Luft brauchte, wem ein freies Wort auf der Zunge
+brannte, der kam zu ihr.
+
+Heute waren sie alle um ihren Teetisch versammelt, die Alten und Jungen:
+Lassens jovialer Künstlerkopf tauchte neben dem schönen Schillerprofil
+Alexander von Gleichens auf; ein paar auswärtige Freunde, Schriftsteller
+und Theaterdirektoren, die zum bevorstehenden Goethe-Gesellschaftstag
+schon angekommen waren, fanden sich ein; Richard Strauß stand schüchtern
+in einer Ecke, der blasse junge Kapellmeister, den die meisten
+verlachten, und der hier bei der gütigen Frau, die ihn eben in schwerer
+Krankheit gepflegt hatte, wie Kind im Hause war. Und schmal und blaß wie
+er, in altmodischem Sammetkleid und glattgescheiteltem Haar tauchte ein
+Mädchen -- nicht jung, nicht alt -- in der Türe auf, das mir die Tante
+schon oft als großes dichterisches Talent gepriesen hatte: Gabriele
+Reuter. Und eine junge Sängerin kam, eine bayerische Oberstentochter,
+die trotz ihrer schönen Stimme auf der Bühne nicht heimisch werden
+konnte und ängstlich, wie ein verirrter Vogel, nach Menschen suchte, die
+sich ihrer annahmen. Die Hausfrau dirigierte wie ein Feldherr die bunte
+Gesellschaft und das Gespräch, -- und warf ein geistvolles Wort hinein,
+wenn es auf die Landstraße allgemeinen Klatsches zu geraten drohte.
+Schließlich stritt man sich hitzig über Weimars Bedeutung für das
+geistige Leben der Gegenwart.
+
+»Künstler bedürfen der Ruhe,« sagte Gleichen, »aber sie verkommen und
+versauern, wenn sie nicht immer wieder mit einer Ladung von Ideen aus
+der Welt draußen hierher zurückkehren.«
+
+Lebhaft widersprach Werner von Eberstein, ein junger Historiker, der im
+großherzoglichen Hausarchiv tätig war. »Für den Mann der Wissenschaft
+gibt es nichts Besseres, als in diesen sicheren Port einzulaufen, wo
+nichts ihn von seinen Studien ablenkt.«
+
+Die Tante ergriff lebhaft Gleichens Partei. »Alten Leuten mag das
+entsprechen. Euch Jungen aber muß der Sturm erst tüchtig um die Nase
+blasen,« sagte sie. »Ausgegangen sind viele von hier, mit Schaffenskraft
+gesättigt, aber etwas geworden sind sie erst außerhalb unserer milden
+Luft. So gern ich Euch habe, Kinder, -- hinaustreiben möcht ich Euch
+alle miteinander,« und damit nickte sie dem schmalbrüstigen Musiker und
+der schüchternen kleinen Schriftstellerin zu, um sich gleich darauf an
+mich und an Eberstein zu wenden, der neben mir saß und ihr Neffe war:
+
+»Ihr seid beide schon in Vorschußlorbeeren eingewickelt bis an den Hals,
+aber trotzdem gebe ich euch noch nicht auf. Habt die Selbstverleugnung,
+sie abzureißen! Hoflust erstickt Talente, genau so wie die der
+Hinterhausstuben.«
+
+»Sie sind ganz blaß und still geworden, liebes Fräulein,« sagte
+Gleichen, als er mich spät in der Nacht nach Hause begleitete. »Glauben
+Sie, ich hätte meine verrückten Krautgärten malen können, wenn ich die
+Blumen und die Sonne nicht anderswo gesehen hätte als hier?!«
+
+Er kam mir vor wie ein alter Freund, obwohl ich ihm zum erstenmal
+begegnet war.
+
+»Aber vielleicht bedeutet Weimar für mich, was für Sie die übrige Welt
+bedeutet: Leben -- Befreiung?!« antwortete ich.
+
+»Nein,« sagte er energisch und drückte mir die Hand. »Nein -- Sie
+brauchen größeren Spielraum für Ihre Freiheit.«
+
+Ich wurde müder von Tag zu Tag. War es die tägliche stundenlange
+Morgenarbeit in den Archiven, war es die ununterbrochene Geselligkeit am
+Mittag und am Abend, die mich allmählich erschlafften? Ich wurde mir
+nicht klar darüber. Aber ich sehnte mich in die Stille der Berge, wo ich
+mit Hilfe der aufgehäuften Materialien mein Buch zu beginnen die Absicht
+hatte. Nur die Goethe-Tage wollte ich noch abwarten. Sie fielen in
+diesem Jahre mit dem Jubiläum des alten Theaters zusammen und zogen
+Berühmtheiten aus aller Herren Ländern nach Weimar. Auch meine Berliner
+Freunde fehlten nicht.
+
+»Habe ich ihnen nicht gut geraten?« meinte Professor Fiedler mit
+ehrlicher Freude, als er mich im Mittelpunkt der Gesellschaft, von
+Anerkennung und Schmeichelei umgeben, wiedersah.
+
+»Welch eine Ehre für mich, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Mann mit
+dem Goethekopf, als er bei einem Diner neben mir saß.
+
+Und ich sah mit wachsendem Mißvergnügen, wie tief all die Männer der
+Kunst und Wissenschaft die grauen Köpfe vor den Fürsten neigten, wie sie
+erwartungsvoll, stumm und aufgeregt in Reih und Glied standen und ein
+Ausdruck von Beglückung das Gesicht jedes Einzelnen belebte, wenn der
+Großherzog ein paar nichtssagende Worte an ihn richtete. Ich wurde
+mißtrauisch gegen jeden, der mich zuvorkommend behandelte. Selbst die
+Freude an den Versen, die der greise Bodenstedt an mich richtete,
+verbitterte mir der Gedanke, daß nur der Glanz der Krone, in deren
+hellem Umkreis ich stand, mich dem Dichter als das erscheinen ließ, was
+er besang.
+
+Mit mir selbst zerfallen, saß ich am Vorabend meiner Abreise im dunklen
+Hintergrund der kleinen Hofloge des Theaters und sah den Faust. Wie
+seltsam geschah mir: Acht Wochen hatte ich in Goethes Stadt gelebt,
+hatte täglich die Luft geatmet, die droben im Archiv sein Lebenswerk in
+seinen Schriften umgab, und nun plötzlich sprach er selbst, und -- ich
+kannte ihn nicht! Als hätte ich sie niemals gelesen, niemals auswendig
+gewußt, trafen seine Worte mein Ohr; lauter grelle Blitze, die das
+Dunkel erhellten, lauter Donnerschläge, die mich erbeben ließen.
+
+Das war des Menschen Schicksal, das an mir vorüber rollte; mein eigen
+kleines Leben sah ich darin verflochten mit seinen Kämpfen und
+Niederlagen. Und vor einer Niederlage stand ich wieder. »Nur der
+verdient sich Freiheit, wie das Leben, der täglich sie erobern muß«
+dröhnte es mir in den Ohren.
+
+Am Ausgang des Theaters traf ich Gleichen. Ich drückte ihm die Hand.
+»Leben Sie wohl«, sagte ich. »Sie reisen?« Er sah mich forschend an.
+»Ja, -- und ich werde nicht wiederkommen.«
+
+Auf dem Frühstückstisch fand ich am nächsten Morgen zwei Briefe: vom
+Großherzog, der mich aufforderte, den Hof nach Wilhelmstal zu begleiten,
+von Tante Klotilde, die mir mitteilte, daß sie mich in diesem Sommer in
+Grainau nicht erwarten könne, weil sie, dem Rate meiner Mutter folgend,
+eine der Potsdamer Nichten zu sich gebeten habe. Ich zuckte
+unwillkürlich zusammen, als habe mir jemand hinterrücks einen Schlag ins
+Genick versetzt. »Also werd' ich nach Pirgallen gehen,« sagte ich laut,
+wie zu mir selbst.
+
+»Nach Pirgallen?!« frug die kleine Rokokogräfin erstaunt. »Man rechnet
+doch auf dich für Wilhelmstal!« »Ich werde ablehnen müssen, -- mein Buch
+soll zum Herbst fertig werden, -- ich brauche den Sommer zur Arbeit,«
+antwortete ich ein wenig zögernd. Es war ein paar Augenblicke still in
+dem weißen, von der Morgensonne hell durchfluteten Speisesaal. Nur der
+Teekessel sang, und draußen über das holprige Pflaster rasselte eine
+Hofequipage.
+
+»Überlege es dir reiflich,« begann Graf Wendland langsam und sah mit
+gerunzelter Stirn auf seine blanken Fingernägel. »Es ist vielleicht eine
+Lebensentscheidung, die du triffst«, -- ein langer prüfender Blick traf
+mich, -- »du weißt wohl noch nicht -- Prinz Hellmut hat am Mariental das
+Schloß seiner eben verstorbenen Tante übernommen ...«
+
+Wieder war es still. Ich hörte das Summen einer Biene am Fenster und
+sah, wie schwarz und schwer das alte eichene Buffet sich von der weißen
+Wand abhob. Mein Herzschlag setzte aus, um im nächsten Moment atemlos zu
+toben, wie eine rasende Maschine. Hellmut -- --! Er hatte mich gehen
+heißen, als ich mich ihm geben wollte -- --! Aber hatte er nicht, wie
+ich, unter dem Zwang großer, selbstverleugnender Liebe gehandelt -- --?
+Doch warum kam er nicht wieder -- jetzt, da er ein freier Mann war? --
+Ich strich mir mit eiskalten, zitternden Fingern die Locken aus der
+Stirn:
+
+»Mein Entschluß steht fest, -- ich gehe nach Pirgallen!«
+
+Und nun saß ich in Großmamas stillem, grünem Zimmer unter dem weißen
+Marmorbild ihres Vaters, und aus dem Garten grüßten die Jasminsträucher
+mit großen, süß duftenden Blüten. Niemand störte mich in dieser
+Einsamkeit. Onkel Walter fürchtete die Räume der Toten, als ginge ihr
+Geist darin um. Mama glaubte mich bei der Arbeit, der Vater ritt mit dem
+Schwesterchen durch die Wälder, wie einst mit mir. Ich hatte arbeiten
+wollen. Bücher und Notizen lagen in großen Stößen auf dem Tisch der
+Altane. Aber sobald ich sie aufschlug, schrumpften mir alle Gedanken
+ein. Tot und leer waren all die vielen Papiere, -- wie sollte je etwas
+Lebendiges aus ihnen hervorgehen. Und was gingen mich im Grunde die
+fremden Dinge und Menschen an? Was würde die Welt davon haben, wenn ich
+des langen und breiten von denen erzählte, die im Dunkel geblieben
+wären, wenn nicht ein ganz Großer sie in seine Nähe gezogen hätte?
+
+In Großmamas Bücherschrank standen Goethes Werke in langer Reihe mit
+grünen Einbänden und weißen runden Schildern auf dem Rücken. Ich begann
+zu lesen -- stundenlang, tagelang, wochenlang --. Und je mehr ich las,
+desto mehr zog ich mich in die Räume zurück, die eine stille Insel waren
+mitten im Weltgetriebe. Täglich schmückte ich sie mit frischen Blumen,
+wie Großmama es getan hatte, und zog des Nachts die dunkeln
+Sammetportieren vor Türen und Fenster und steckte die Ampel an mit der
+großen Flamme unter dem sonnengoldnen Seidenschirm. Wenn ich dann halb
+die Augen schloß, sah ich das Zimmer erfüllt wie von einem flimmernden
+Nebel, aus dem die Statue Goethes immer größer und lebendiger
+hervorwuchs.
+
+»Rede zu mir, Meister!« flehte meine Seele. Und er redete.
+
+»Dein Leben sieht einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich,« zürnte
+er.
+
+»Ach, welch ein Werk bleibt mir zu tun?!« schrie meine Seele.
+
+»Bleibe nicht am Boden haften -- frisch gewagt und frisch hinaus,« hörte
+ich die Stimme des Mahners, »dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,
+-- tätig zu sein, ist seine Bestimmung!«
+
+»So zeige meiner Kraft eine Tat --«, und sehnsüchtig streckte meine
+Seele die gefalteten Hände empor zu ihm.
+
+»Ein edler Held ists, der fürs Vaterland, ein edlerer, der für des
+Landes Wohl, der edelste, der für die Menschheit kämpft....«
+
+Zu einem Tempel weitete sich das Zimmer, und von den Marmorwänden
+klangen dröhnend die Worte seines Hohenpriesters wider.
+
+Der Boden leuchtete wie ein einziger Rubin, -- tränkte ihn der
+Menschheit ganzes, blutrotes Leiden?
+
+Hingestreckt lag meine Seele vor dem Altar.
+
+»Nenne mir Ziel und Maßstab meines Strebens!« flüsterte sie.
+
+»... Solch ein Gewimmel möcht ich sehn -- auf freiem Grund mit freiem
+Volke stehn....«
+
+Nicht mehr der eine war es, der also sprach, es war ein Chor von
+Millionen Stimmen, und alle Hoffnung der Verlassenen, alle Sehnsucht
+deren, die zu leben begehren, tönte darin.
+
+Ein Brief von Egidy, erfüllt von den Ereignissen der Gegenwart und
+seinen Plänen für die Zukunft, gab mich der Wirklichkeit zurück, und in
+unsicheren Umrissen sah auch ich ein Feld der Betätigung vor mir. »Ihre
+Übersiedelung nach Berlin freut mich außerordentlich,« antwortete ich
+ihm, »und wenn ich Ihnen heute auch noch mit keinem Ja auf die Frage, ob
+ich Ihre Mitkämpferin werden kann, zu antworten vermag, so steht das
+Eine für mich fest: ich werde meine Kraft nicht im Durchstöbern alter
+Folianten verzehren und die Luft nicht durch Aufwirbeln ruhenden Staubes
+verdunkeln. Ich weiß, daß dem Christentum des Wortes das der Gesinnung
+und der Tat folgen muß, -- nur zweifle ich noch, ob wir dann auf den
+Namen Christentum noch ein Recht haben.
+
+Mein Entschluß, Weimar endgültig aufzugeben, hat in meiner Familie viel
+Entrüstung hervorgerufen. Meine Mutter sieht darin einen neuen Beweis
+für meine Charakterschwäche. 'Alix ist noch niemals konsequent bei der
+Sache geblieben, -- sie wechselt ihre Neigungen für Menschen und Dinge
+wie alte Handschuhe,' meinte sie. Ich selbst aber fange an zu glauben,
+daß in dieser Inkonsequenz die einzige Konsequenz meines Lebens liegt.
+Alles und Alle sind Stufen, und ich bin noch keine rückwärts gegangen.
+Papa war traurig --, was mir immer am meisten weh tut. Mein Onkel
+dagegen hat mir eine Rede gehalten, deren Quintessenz war, daß ich
+lieber heiraten solle, statt modernen Schwarmgeistern zu verfallen.
+
+Wir reisen nächste Woche nach Haus.
+
+Ich gehe noch einmal alle alten Wege, und oft steigen mir plötzlich die
+Tränen in die Augen, wenn ich den breiten efeuumsponnenen Turm von
+Pirgallen vor mir sehe. Er war etwas Lebendiges für mich; ein treuer,
+starker Freund, ein Wahrzeichen vieler Kinderjahre, die zu seinen Füßen
+wuchsen und in seinem Schutz. Nun hat er die Seele verloren, seit
+Großmama ihn verließ. Es ist auch für mich Zeit, zu gehen. Aber soviel
+Stärke auch die Erkenntnis verleiht und der Entschluß, -- der Abschied
+von den Toten tut weh. Und mir ist, als sähe ich sie nie wieder ....«
+
+
+
+
+Siebzehntes Kapitel
+
+
+Septembersonne! In mattem Blaugrün spannt sich der Himmel über Berlin;
+alles Licht ist gedämpft, und die Schatten haben einen silbernen Ton.
+Auf den Anlagen der großen Plätze und in den Vorgärten der Häuser, die
+die Kultur mühsam dem spröden Sandboden abgerungen hat, feiert sie jetzt
+ihre größten Triumphe: vom hellen Gelb der Linden bis zum dunkeln Rot
+der Blutbuchen leuchten alle Farben des Herbstes; aus dem grünen
+Rasenteppich glänzen Astern in sanftem Violett und müdem Blau, während
+sich in wehmütigem Sterben blasse Rosen an die weißen Steinstufen der
+Estraden schmiegen. Goldene Blätter tanzen in lind bewegter Luft, und
+unter den Bäumen sitzen auf weißen Bänken jene modernen Frauen der
+Großstadt, die starke Farben scheuen wie starke Gefühle und Kleider
+tragen, die aussehen, als wären sie in der Sommersonne verblichen.
+
+Täglich, am frühen Nachmittag, gingen wir vier in den nahen Zoologischen
+Garten, wo sich die Bewohner des Westens am Neptunteich unter den
+Musikkapellen ein Stelldichein gaben. Hier traf sich der behäbige
+Spießbürger mit Freunden und Verwandten, im stillen beglückt, nach der
+vorschriftsmäßigen Sommerreise wieder ruhig am rotgedeckten Tisch zu
+sitzen, statt schwitzend und prustend Ausflüge abzuklappern. Hier
+erschien in schäbiger Eleganz die Offiziers- und Beamtenwitwe, um ihre
+schon stark angejahrten, interessant verschleierten Töchter vor
+Männeraugen spazieren zu führen. Hier ließen sich mit der Stickerei und
+dem mitgebrachten Kuchen zu stundenlangem Klatsch all die Überflüssigen
+nieder, an denen das weibliche Geschlecht so reich ist. Droben aber vor
+dem Restaurant, wo die weißen Tischtücher weithin sichtbar die Klassen
+schieden, tauchten elegante Toiletten und bunte Gardeuniformen auf, und
+Rücken an Rücken mit der vornehmen Frau der Hofgesellschaft saß im Glanz
+ihrer Brillanten und schwarzen Augen die schöne Otero und ihresgleichen.
+Jenseits jedoch, auf dem Hügel hinter dem Neptun, fanden die Stillen
+sich ein, die Musik- und die Naturschwärmer, die Nebenabsichtslosen mit
+ihren Büchern und ihren Zeitungen. Sie alle sahen unten auf der
+Lästerallee den bunten Strom kokettierender Jugend an sich
+vorüberfluten: bartlose Knaben mit erzwungener Blasiertheit, kurzröckige
+Mädchen mit heißen Augen; greisenhafte Jünglinge, lüstern nach Beute um
+sich schauend; korrekte junge Damen, glatt gescheitelt, mit kühlen,
+bleichen Wangen.
+
+Nachdem die erste Neugierde gestillt war, ging ich nicht gern hierher;
+es kam mir wie Zeitverschwendung vor, und überdies sah ich mit leiser
+Angst mein reizendes Schwesterchen im Kreise flirtender Backfische und
+Gymnasiasten. Aber mein Vater liebte den Verkehr mit alten Freunden, die
+hier immer zu finden waren, und meine Mutter amüsierte der
+großstädtische Trubel. Bald hatten auch wir unseren Stammtisch unter
+der großen Kastanie bei der Musikkapelle, und Menschen verschiedenster
+Art gesellten sich zu uns, die nur ein gemeinsames Gefühl aneinander zu
+fesseln schien: die Unzufriedenheit. Das Leben hatte ihnen allen nicht
+gehalten, was sie sich von ihm versprochen hatten, und sie gaben nicht
+sich die Schuld, und nicht den Verhältnissen, -- wodurch Unzufriedenheit
+zum Hebel der Tatkraft werden kann, -- sondern den heimlichen Feinden im
+Militär- und Zivilkabinett und den Intriganten am neuen Kaiserhof.
+
+Es waren Männer darunter, die, um die magere Pension zu erhöhen und
+ihren Frauen und Töchtern standesgemäße Toiletten, ihren Söhnen die
+Leutnantszulage zu sichern, halbe Tage als Agenten der verschiedensten
+Versicherungsgesellschaften Trepp auf, Trepp ab liefen, und nachmittags
+im Zoologischen den Junker spielten, der von seinen Renten lebt. Andere,
+die für ihre ungebrochene Kraft eine Beschäftigung, für ihre leere Zeit
+eine Ausfüllung brauchten, griffen zu den seltsamsten Hilfsmitteln. Der
+eine vergrub sich in heraldische Studien, ein zweiter sammelte
+Briefmarken, ein dritter widmete jede Stunde und jeden Gedanken dem
+Studium Dantes, ein vierter ging im Spiritismus auf und hatte täglich
+andere Geistererscheinungen. Aus Langerweile ließ ich mich mit diesem
+seltsamen Kauz, einem Obersten von Glyzcinski, dessen robuste
+Erscheinung mit dem breiten roten Gesicht wenig an einen Geisterseher
+erinnerte, oftmals in Gespräche ein und amüsierte mich im stillen
+darüber, auf welch vertrautem Fuß er mit dem lieben Gott stand, und wie
+glühend er zu gleicher Zeit die Kirche und ihre Diener haßte. Dankbar
+für mein vermeintliches Interesse brachte er mir täglich andere Bücher
+und Broschüren und lief geduldig die Lästerallee mit mir auf und ab,
+wenn ich es in der von Ärger und Mißgunst geschwängerten Atmosphäre
+unserer Tafelrunde gar nicht mehr aushalten konnte.
+
+So gingen wir gerade einmal wieder von einer Musikkapelle zur anderen,
+als der Oberst plötzlich stehen blieb.
+
+»Wie gehts dir, Vetter?« hörte ich ihn sagen; mein Blick fiel durch den
+Schwarm Vorübergehender hindurch auf ein schmales Gesicht, von dichtem
+braunem Bart umrahmt, aus dem zwei tiefe, strahlende Kinderaugen
+herausleuchteten, wie von großer innerer Freude erhellt. »Gut -- sehr
+gut,« antwortete eine Stimme, die wie ein voller Geigenton klang. Welch
+glücklicher Mensch muß das sein, dachte ich mit stillem Neid. In dem
+Augenblick schoben sich die Menschen zwischen uns auseinander, -- ich
+sah einen Rollstuhl, -- eine dunkle Pelzdecke, -- zwei ganz schmale,
+weiße Hände, deren blaues Geäder wie mit einem feinen Pinsel gezogen
+war, -- einen schmächtigen Oberkörper -- -- unmöglich! -- das konnte
+doch der Mann nicht sein mit den strahlenden Kinderaugen! Aber schon
+richteten sie sich auf mich -- verwirrt sah ich zu Boden. »Entschuldigen
+Sie ...« sagte mein Begleiter im Weitergehen. »Wer war das?« frug ich
+hastig, noch im Bann tiefen Erstaunens.
+
+»Professor von Glyzcinski -- mein Vetter,« lautete die lakonische
+Antwort.
+
+»Können Sie mich mit ihm bekannt machen?« Mein rasch entstandener Wunsch
+formte sich ebenso rasch zur Bitte. Der Oberst runzelte die Brauen.
+
+»Er ist Atheist und Sozialist,« kam es mit harter Betonung über seine
+Lippen.
+
+Ich zuckte zusammen und konnte dem Schauder nicht wehren, der mir
+zitternd über den Rücken lief. Aber mein Wunsch wurde nur noch stärker.
+
+»Stellen Sie mich vor,« bat ich dringend. Er sah mich von der Seite an:
+»Aber die Verantwortung tragen Sie allein!«
+
+Wir drehten um. Ein kurzes Zeremoniell: »Fräulein von Kleve möchte dich
+kennen lernen, Georg, -- sie ist Schriftstellerin.«
+
+Des Professors Gesicht schien sich noch mehr zu erhellen. »Dann freue
+ich mich doppelt Ihrer Bekanntschaft,« sagte er, und seine Hand umfaßte
+die meine mit einer kräftigen Herzlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut
+hätte. »Jede arbeitende Frau ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft.«
+
+»Auch ein Gewinn für die Kunst und die Wissenschaft?« meinte ich
+zweifelnd.
+
+»Gewiß! Sobald alle Universitäten und Akademien ihnen offen stehen, wie
+den Männern!« Ich sah ihn verwundert an. Nur aus Witzblättern hatte ich
+bisher vom Frauenstudium erfahren, und hie und da war mir eine russische
+Studentin mit ausgetretenen Stiefeln, zerfranstem Rock und kurz
+geschorenen Haaren begegnet, die meine tiefe Abneigung gegen die
+Verleugnung der Weiblichkeit nur steigerte. Zögernd äußerte ich meine
+Ansicht. Der Professor lächelte. Die Witwe mit den angejahrten Töchtern
+ging gerade vorüber.
+
+»Sind diese armen alten Mädchen, die nun schon seit Jahren hier auf den
+Heiratsmarkt geführt werden, vielleicht würdigere Vertreter der
+Weiblichkeit?« sagte er, »die russische Studentin ziehe ich ihnen
+jedenfalls vor; und so arm sie sein mag, -- sie selbst würde keinenfalls
+mit ihnen tauschen mögen. Denn sie hat ihre Freiheit, ihre Arbeit und
+ist tausendmal reicher als jene.« Er schwieg, aber da ich nicht
+antwortete -- das was er sagte war mir in seiner einfachen
+Selbstverständlichkeit doppelt überraschend --, fuhr er nach einer Pause
+fort: »Stellen Sie sich eine Frau in meiner Lage vor, -- wie unglücklich
+müßte sie sich fühlen, weil sie nicht nur von vielen Freuden des Lebens
+ausgeschlossen, sondern vor allem, weil sie nutzlos, weil sie
+überflüssig ist. Ich aber bin vollkommen glücklich!«
+
+Der Professor lehnte sich tief in den Rollstuhl zurück, legte die Hände
+übereinander auf die schwarze Pelzdecke und sah mit einem Ausdruck der
+Verklärung über die Menschen hinweg in die gelben tanzenden Blätter, in
+die rosigen Abendwolken hinein. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich
+war keines Wortes mächtig und dankbar, daß die Eltern, die mich suchten,
+mich jeder Antwort überhoben.
+
+Von nun an war ich es, die die Nachmittage nicht erwarten konnte, die,
+als es immer herbstlicher wurde, und kälter und trüber, oft allein den
+gewohnten Weg ging, um in dem stiller und stiller werdenden Garten den
+Mann zu suchen, dessen durchsichtige Krankenhand mich auf steile Höhen
+mit endlosen Fernsichten und in dunkle Tiefen voll überquellender
+Schätze führte. Ohne daß er eine Frage stellte, lockte der warme Strahl
+seiner Augen meine verborgensten Gedanken ans Tageslicht, und wo sie
+wirr auseinanderfielen, wie vom Sturm zerrissene Telegraphendrähte,
+knüpfte er sie wieder vorsichtig zusammen. Er brachte mir Bücher,
+Zeitungen und Zeitschriften mit und wenn ich damit beladen nach Hause
+kam, wurde es mir schwer, mich von ihnen zu trennen und zu meiner Arbeit
+zurückzukehren. Ich hatte mancherlei Versprochenes und Begonnenes zu
+vollenden und tat es widerwillig, nur von dem Gedanken erfüllt, mich auf
+eigene Füße zu stellen.
+
+Aber der Professor verstand es, mir selbst diese Arbeit wieder wertvoll
+zu machen. »Wie viele große, gute und gefährlich umstürzlerische Ideen
+können Sie einschmuggeln, wenn Sie nur Ihren Goethe tüchtig ausnutzen,«
+meinte er, »und die vielen kleinen Flämmchen, die Sie entzünden,
+schlagen schließlich zu einer großen Flamme zusammen.«
+
+Daß diese Arbeit nicht die meine bleiben dürfe, -- davon war er freilich
+auch überzeugt, doch er lachte mich aus, -- mit einem hellen frohen
+Gelächter, das von Spott nichts weiß --, als ich sagte, für mich gebe es
+nichts zu tun. »Die Fülle der Aufgaben müßte Sie vielmehr erdrücken,
+wenn Sie nicht so stark wären, alle auf sich zu nehmen,« versicherte er
+mir.
+
+Ich vertiefte mich auf seinen Rat in die Literatur der amerikanischen
+und englischen Frauenbewegung. Ihre Ideen erschienen mir nur als die
+notwendige Konferenz meiner eigenen. Unter der Unfreiheit hatte ich
+gelitten, die Unmöglichkeit, meine geistigen Fähigkeiten auszubilden und
+zu betätigen, hatte mich fast erdrückt. Ich las Condorcet und John
+Stuart Mill und lernte die Heldenkämpfe der Amerikanerinnen um die
+Befreiung der Sklaven kennen. »Sie alle haben ein Recht, sich den
+Männern gleich zu stellen,« sagte ich zum Professor, »denn wie sie
+opferten diese Frauen Gut und Blut für die Freiheit. Aber wir?!«
+
+»Die Verleihung politischer Rechte ist doch auch beim Mann nicht die
+Konsequenz heroischer Taten!« antwortete er. »Und wenn sie überhaupt an
+irgend eine Bedingung geknüpft wäre, so würde mir nur eine gerecht
+erscheinen: das Maß des Leidens. Wer am meisten leidet, sollte die
+weitestgehenden Rechte haben, um die Ursachen seiner Leiden zu
+beseitigen. Meinen Sie nicht, daß die Frauen in diesem Fall in erster
+Linie stünden?!«
+
+Ich dachte an die Arbeiterinnen Augsburgs und konnte ihm nur zustimmen.
+Am nächsten Tage brachte er mir ein Paket Zeitungen mit. Rote und blaue
+Striche an den Rändern zeugten von der sorgfältigen Lektüre. Aber als
+ich sie auseinanderfaltete, erschrak ich: »Die Volkstribüne,
+Sozialistische Wochenschrift« stand als Titel groß darüber. Jetzt zuckte
+es doch wie ein ganz leiser Spott um die Lippen des Professors:
+
+»Also auch Sie fürchten sich vor den Sozis!« meinte er lächelnd. »Lesen
+Sie nur dies Blatt, -- ich habe mehr daraus gelernt, als aus manch
+dickleibigem Buch gelehrter Kollegen!«
+
+Und ich nahm mir die Blätter mit und las sie und war so vertieft, daß
+ich erst merkte, wie spät es war, als mein Vater draußen die Entreetür
+aufschloß. Er kam aus Brandenburg zurück, wo er an dem Jubiläumsfest
+seines alten Regiments teilgenommen hatte.
+
+»Wie, du bist noch auf?« rief er. »Da kann ich dir ja noch Egidys Grüße
+bestellen!« Damit trat er ein. »Ich wußte gar nicht, daß er
+Fünfunddreißiger gewesen ist, ehe er zur Kavallerie ging. Übrigens ein
+famoser Kerl, tapfer und ehrlich. Und, -- stell dir vor! -- die
+Rasselbande hat ihn geschnitten! Kannst dir denken, daß ich ihm um so
+deutlicher meine Anerkennung für seine Überzeugungstreue aussprach. Er
+wäre mir beinahe um den Hals gefallen vor Dankbarkeit.«
+
+In diesem Augenblick entdeckte mein Vater die »Volkstribüne«, die offen
+vor mir lag. Die Ader schwoll ihm auf der Stirn, und blaurot färbten
+sich seine Züge. »Was für ein Schuft hat dir diese Zeitung in die Hände
+geschmuggelt?« schrie er, »vor meine Pistole mit dem infamen Patron!«
+
+»Ich habe sie mir gekauft,« log ich, »man muß auch seine Gegner aus
+ihren eigenen Schriften kennen lernen.«
+
+Mein Vater nahm wütend die Blätter vom Tisch und zerriß sie. »Bring mir
+solche Schweinereien nicht wieder ins Haus!« drohte er mit erhobener
+Faust. »Von Leuten, die das Vaterland verraten, den Meineid predigen und
+den Fürstenmord, darf meine Tochter nicht einmal einen Fetzen Papier in
+Händen haben!« Und wütend warf er die Tür ins Schloß.
+
+Am nächsten Vormittag besuchte uns Egidy. Den Zylinder in der Hand, in
+militärisch strammer Haltung wie zu einer dienstlichen Meldung stand er
+vor meinem Vater.
+
+»Die Wohltat, die Eure Exzellenz mir in Brandenburg erwiesen, rechne ich
+zu den höchsten Empfindungen inneren Glücks, die mich bisher in meinem
+Leben beseelten. Euer Exzellenz Worte sind -- ich sage nichts, als was
+ich fühle, -- die größten, die an mich heranklangen, seit ich tat, was
+mir Pflicht schien.« Scharf und bestimmt sprach er, und dann erst wandte
+er sich zu meiner Mutter und mir.
+
+»Darf ich Ihnen meine Töchter bringen?« frug er mich. »Es sind brave
+Kinder, die alles tapfer mit mir getragen haben und doch wehmütig
+empfinden, wie sie aus ihrer Bahn gerissen wurden.« Ich reichte ihm die
+Hand.
+
+»Selbstverständlich, Herr von Egidy! Was ich den Ihren sein kann, will
+ich mit Freuden sein,« antwortete ich.
+
+»Und darf ich nicht nur auf Ihre Freundschaft, sondern auch auf Ihre
+Mitarbeit rechnen?« Er streckte mir noch einmal die Hand entgegen.
+
+Ich legte die meine zögernd hinein: »Auf meine Freundschaft, ja! Meine
+Mitarbeit aber kann ich Ihnen noch nicht versprechen!«
+
+Sein Blick verfinsterte sich. »Ihr Herr Vater ehrt die
+Überzeugungstreue ...« sagte er mit Betonung.
+
+»Und ich werde meiner Überzeugung zu folgen wissen!« entgegnete ich
+gereizt.
+
+Am Nachmittag erzählte ich dem Professor von Egidy und meinen
+Beziehungen zu ihm. Ich war noch verärgert, und mein Urteil über die
+Halbheit, die ihn zwang, an dem Namen »Christentum« festzuhalten, mochte
+nicht gerade milde klingen. Der Professor schüttelte den Kopf, -- ein
+deutliches Zeichen seines Mißfallens. »Sie verlangen wirklich ein
+bißchen viel, gnädiges Fräulein! Ist es nicht schon einzig und unerhört
+und höchst erfreulich, daß ein Mann, wie er, in dieser Weise den Kampf
+gegen das traditionelle Christentum aufnimmt? -- Zahllose Menschen, die
+für die Worte ausgesprochener Freidenker nur taube Ohren haben, werden
+ihn hören, und ihr erster Schritt auf der schiefen Ebene wird dann nicht
+ihr letzter sein!«
+
+Ich dachte meiner eigenen Erfahrungen und gab ihm Recht. Hatte unser
+Gespräch sich bisher wesentlich um die Frauenfrage gedreht, so kamen wir
+heute zum erstenmal auf religiöse Fragen zu sprechen. Ich erzählte ihm
+von meiner Entwicklung. Er hörte mit sichtlichem Interesse zu und sprach
+mir dann von der seinen.
+
+»Religiöse Gewissenskämpfe sind mir fremd geblieben,« begann er. »Bis
+ich in die Schule kam, wußte ich nichts von Religion. Als meine Mutter
+mich zu meinem Klassenlehrer brachte und er mich frug, was ich vom
+lieben Heiland wüßte, gab ich erstaunt zur Antwort, daß ich von dem Land
+noch nie etwas gehört hätte. Der Schulreligionsunterricht bestand dann
+eigentlich nur im mechanischen Auswendiglernen, was ich ebenso
+gedankenlos absolvierte, wie irgend welche Tabellen oder grammatische
+Regeln. Was dem Gemüt vieler Kinder die Religion bieten mag, das bot mir
+die Natur; und da ich von klein an schwächlich war und meinen
+Altersgenossen und ihren Spielen infolgedessen ziemlich fern blieb,
+unterstützten meine Eltern meine Passionen. Mein Zimmer war immer ein
+wahres Aquarium, und das Leben der Tiere und der Pflanzen mit all seinen
+Wundern lernte ich mit steigendem Entzücken zuerst aus eigenen
+Beobachtungen kennen. Jetzt habe ich nur noch ein paar Vögel und ein
+Blumenfenster,« -- er lächelte wehmütig, »seit meine Mutter im vorigen
+Jahre starb und ich bewegungslos bin, würde doch keiner für meinen
+Privat-Zoo sorgen können!« Mit der ihm charakteristischen Gebärde reckte
+er den Oberkörper, als wollte er eine peinliche Erinnerung energisch
+abstoßen -- »und allmählich sind mir denn doch die Menschen
+interessanter geworden als die Tiere. Ich studierte Philosophie, weil es
+das einzige ist, was ein Mann wie ich zu seinem Lebensberuf machen kann.
+Aber meine unglückliche Liebe zu den Naturwissenschaften ist doch gleich
+in meiner Doktordissertation zum Ausdruck gekommen, in der ich die
+philosophischen Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie
+behandelte. -- Sie müssens mal lesen, gnädiges Fräulein, -- ich habe
+noch heute meine Freude dran, obwohl der liebe Gott noch bedenklich
+zwischen den Zeilen spukt! Dann hab ich mich hier habilitiert. -- Ich
+wohnte bei meiner guten Mutter, einer blitzgescheiten Frau -- schade,
+daß Sie sie nicht mehr kannten! --, die mit dem lieben Gott auf
+besonders gespanntem Fuße stand, weil er ihren Jungen zum Krüppel hatte
+werden lassen. Und ein bißchen mag das auch bei mir dazu beigetragen
+haben, an seiner Existenz allmählich zu zweifeln. Bei näherem Nachdenken
+konnte ich die geistigen Kapriolen der frommen Leute nicht mitmachen,
+die nötig sind, wenn man das unverschuldete Elend in der Welt, wenn man
+Unrecht und Verbrechen mit dem allgütigen und allmächtigen Himmelsvater
+in Einklang bringen will. Wäre er, so müßte er entweder ein herzloses
+Scheusal oder das unglückseligste aller Wesen sein, das gezwungen ist,
+untätig zuzusehen, wie seine Geschöpfe sich zerfleischen!« Die Stimme
+des Professors hatte sich gehoben, seine Augen funkelten, sein ganzer
+zarter Körper schien von starker Energie gespannt.
+
+»Und doch sind Sie ein glücklicher Mensch geworden!« sagte ich mehr zu
+mir selbst als zu ihm.
+
+»Das habe ich wieder den Naturwissenschaften und meinen vielen lieben
+Freunden zu verdanken.«
+
+»Ihren Freunden?!«
+
+»Denen, die immer um mich sind und nur reden, wenn ich sie brauche: den
+Büchern. Darwins Entwicklungsgesetz war es, das mich zuerst mit einem
+unbeschreiblichen, unzerstörbaren Glücksgefühl erfüllte, denn es
+festigte meinen Glauben an die unendliche sittliche und intellektuelle
+Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur, und er trat an die Stelle
+des Glaubens an einen unbeweisbaren Gott.«
+
+Das Herz klopfte mir vor Freude; ich umfaßte unwillkürlich mit meiner
+heißen Hand seine kühlen Finger: »Ich danke Ihnen -- danke Ihnen
+tausendmal,« kam es vor Erregung bebend über meine Lippen, »so bin ich
+doch nicht mehr allein mit dem, was ich dachte und fühlte, und was mir
+fast schon zu entschwinden drohte. Einmal, in einer glücklichen Stunde,
+schrieb ichs auf, -- darf ich es Ihnen bringen?«
+
+»Ich bitte Sie darum!« Ein warmer Blick traf mich, -- er schien mich
+ganz und gar zu umfassen. »Sollte ich doch am Ende wieder an den lieben
+Gott glauben müssen -- der mir eine Frau wie Sie in den Weg geschickt
+hat?!«
+
+Die Eltern kamen und holten mich ab. Mein Vater war merkmürdig kurz
+angebunden. »Du wirst deinen Verkehr mit dem Professor beschränken
+müssen,« sagte er auf dem Nachhausewege, »Walter sagte mir, daß er im
+Rufe steht, einer der gefährlichen Kathedersozialisten zu sein.« --
+»Daß er Gott verleugnet, hat er neulich mit zynischer Frivolität selbst
+zugestanden,« fügte Mama mit hochrotem Gesicht hinzu.
+
+»Wenn er es tat, so ist es weder zynisch noch frivol, sondern ein Beweis
+derselben tapferen Überzeugungstreue, die Ihr an Egidy zu rühmen
+pflegt,« antwortete ich.
+
+»Ein Atheist ist ein Verbrecher,« stieß Mama aufgeregt hervor; dann
+schwiegen wir alle, in dem gemeinsamen Gefühl, auf der Straße keine
+Szene provozieren zu wollen.
+
+Als am nächsten Tage der Herbst mit Sturm und Regen durch die Straßen
+fegte und die Bäume arm und kahl zurückließ, die eben noch im Glanz
+ihres bunten Kleides geprangt hatten, atmete Mama förmlich erleichtert
+auf: »Nun haben die Zoo-Nachmittage ein Ende!«
+
+Ich aber nahm mein altes Glaubensbekenntnis und mein kleines schwarzes
+Buch und verließ das Haus zur gewöhnlichen Stunde.
+
+Über den öden Wittenbergplatz führte mein Weg an einer Reihe von
+Neubauten vorbei, aus denen ein feuchter Kellergeruch mir
+entgegenströmte, der mich frösteln machte. Die Kleiststraße ging ich
+entlang, deren neue Häuser, wie lauter Parvenüs, sich durch überladenen
+Schmuck gegenseitig zu überbieten suchten, und bog dann in die stille
+dunkle Nettelbeckstraße ein. Schüchterne Sonnenstrahlen, die gerade die
+Wolken durchbrachen, trafen nur noch die Dächer der Häuser. In eins
+davon trat ich.
+
+»Professor von Glyzcinski?« Die Portierfrau musterte mich von oben bis
+unten. »Gartenhaus -- parterre!« Der Hof war noch enger und lichtloser
+als bei uns, und die Treppe war vollkommen finster. Auf mein Klingeln
+öffnete der Diener. Im Flur konnte ich die Hand nicht vor Augen sehen.
+Im nächsten Moment aber schloß ich sie geblendet. Aus der Tür, durch die
+ich ins Zimmer trat, strömte ein Meer von rotgoldenem Licht.
+
+»Willkommen, mein liebes, gnädiges Fräulein!« hörte ich des Professors
+weiche Stimme sagen.
+
+Und nun erst sah ich ihn: am Fenster saß er, das dicht von wildem Wein
+umsponnen, den Blick in lauter Gärten schweifen ließ. Auf die Bücher und
+Papiere, die den Schreibtisch vor ihm bedeckten, malte die Sonne lauter
+runde blinkende Silberflecken und streichelte an der Wand gegenüber die
+vielen, schön aneinander gereihten Bücher. Zwei Vögel mit
+buntschillernden Flügeln flatterten, durch meinen Eintritt
+aufgescheucht, durch den Raum und ließen langgezogene Flötentöne hören.
+
+Auf den breiten Lehnstuhl neben dem Schreibtisch deutete einladend die
+weiße Hand Glyzcinskis, der mir mit seinen Kinderaugen und dem
+wesenlosen, unter Decken verborgenen Körper wie ein Zauberer inmitten
+seines Märchenreichs erschien. Flüchtig tauchte mein dunkles Zimmer vor
+meinem inneren Auge auf, -- hatte meine Sehnsucht nicht dieses
+Märchenreich längst gesucht?
+
+»Wissen Sie, daß ich Sie mit Bestimmtheit erwartet habe?!« sagte er,
+»darum gibt es auch heute Kuchen zum Kaffee, wie an einem Festtag!« Er
+versuchte von dem Tischchen aus, das der Diener hereingetragen hatte
+mich zu bedienen. »Das ist Frauensache!« lachte ich und nahm ihm die
+Kaffeekanne ab. Wie alte Freunde saßen wir beieinander.
+
+Und dann las ich ihm »Wider die Lüge« vor.
+
+»Daß Sie mir nichts Gewöhnliches bringen würden, wußte ich,« bemerkte er
+langsam nach einer kurzen Pause, die mich schon ganz ängstlich gemacht
+hatte. »Von keinem meiner Studenten dürfte ich so viel Geist und Kraft
+und Selbständigkeit erwarten ... Ich habe lange über Sie nachgedacht,
+aber das Resultat dieses Nachdenkens hätte ich noch für mich behalten,
+wenn Sie mir nicht diesen Einblick in Ihr Geistesleben gewährt haben
+würden. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, dessen
+selbstsüchtige Beweggründe mein Gewissen freilich arg belasten: Sie
+haben keinen Bruder, ich keine Schwester, -- lassen Sie mich Ihren
+Bruder sein, und gestatten Sie mir dann als solchem, mich Ihrer
+anzunehmen. All die guten Freunde drüben --« er zeigte auf den
+Bücherschrank -- »will ich Ihnen vorstellen; Sie werden rasch nachholen,
+was Ihnen an philosophischen Kenntnissen fehlt, -- und dann -- --,« er
+stockte.
+
+»Dann?!« frug ich gespannt.
+
+»Dann werden Sie tun, was mir versagt ist: unsere Ideen unter die Massen
+tragen.«
+
+»Werde ich es können -- -- dürfen?! Meine Eltern sind schon jetzt....«
+
+Er unterbrach mich. Ein harter Zug grub sich um seine Mundwinkel. »Wer
+den Pflug anfaßt und siehet zurück, der ist unserer Sache nicht
+wert ...«
+
+»So lehren Sie mich Ihre Sache kennen, -- ich glaube freilich schon von
+vorn herein, daß es auch die meine sein wird!«
+
+»Sie sollen nichts glauben, woran Sie zu glauben noch gar kein Recht
+haben! Das ist die Lehre der neuen Tugend, der intellektuellen
+Redlichkeit! -- nehmen Sie die Bücher dort mit dem dunkelblauen Rücken,
+-- lesen Sie sie in aller Ruhe, und dann sagen Sie mir, was Sie darüber
+und was Sie über meinen Vorschlag denken.«
+
+Ich erhob mich. Es wurde mir sehr schwer, diesen stillen Raum zu
+verlassen, der von dem hellen Geist starker Freudigkeit erfüllt schien,
+wie von der glänzenden Oktobersonne.
+
+»Haben Sie Dank, vielen Dank,« sagte ich noch und wandte mich zum Gehen.
+Ich stand schon an der Tür, als ich noch einmal seine Stimme hörte:
+
+»Nicht wahr -- Sie kommen bald, recht bald -- -- morgen schon?« Ich
+nickte. Und dann verschlang mich der dunkle Flur, der finstere Hof, die
+kühle Straße.
+
+»Woher kommst du?« Mit dieser von einem mißtrauischen Blick begleiteten
+Frage, empfing mich zu Hause mein Vater. Sie saßen alle drei beim
+Abendessen. Ich hatte schon irgend eine billige Ausrede auf der Zunge --
+aber plötzlich wurde mir klar, daß jede verlogene Heimlichkeit mein
+Erlebnis beschmutzen würde.
+
+»Von Herrn Professor von Glyzcinski ...« Mein Vater hieb mit der Faust
+auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.
+
+»Unerhört!« rief er »und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen, nachdem
+du meine Meinung über diesen Verkehr erst gestern deutlich genug gehört
+hast?! -- Und rennst wie ein Frauenzimmer einem unverheirateten Mann in
+die Wohnung?! -- Willst du mich denn durchaus ins Grab bringen, mit all
+der Schande, die du mir machst?« Er lief aufgeregt im Zimmer umher,
+während helle Schweißtropfen auf seiner Stirne standen.
+
+Ich zwang mich zur Ruhe: »Du weißt wohl nicht, was du sagst, Papa! Herr
+von Glyzcinski ist ein Schwerkranker, meinen Besuch kann niemand
+mißdeuten!«
+
+Aber die Wut, in die er sich hineingeredet hatte, steigerte sich nur
+noch mehr. Ich versuchte das Zimmer zu verlassen, während Mama und
+Klein-Ilschen, vor Schrecken stumm, sich nicht zu rühren wagten.
+
+»Du bleibst!« schrie mein Vater und packte mein Handgelenk. »Versprich
+mir, daß dieser Besuch der erste und der letzte war, und ich will ihn
+vergessen!« Und gleich darauf ruhten seine Blicke mit einem Ausdruck
+liebevoll besorgter Bitte auf mir. Mein Herz krampfte sich zusammen:
+Sinnlosem Zorn konnte ich die Stirne bieten, -- aber der Liebe?! Ich
+schloß eine Sekunde lang die Augen: Wer den Pflug anfaßt ...!
+
+»Ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen, Papa!« Mit weit
+aufgerissenen Augen starrte er mich an. Dann brach der Sturm von neuem
+los. Auch meine Mutter mischte sich hinein, -- von den teuflischen
+Verführungskünsten des Gottesleugners hörte ich sie etwas sagen, auch
+von Weimar sprach sie und versuchte, mich zu bestimmen, meinen für das
+nächste Frühjahr beabsichtigten Besuch auf die allernächsten Tage
+festzusetzen. An meinen Ehrgeiz, an meine Eitelkeit appellierte sie,
+während meines Vaters Stimmung, wie stets nach einem solchen Ausbruch
+der Leidenschaft, immer weicher wurde. »Wir sind an allem Schuld, wir
+allein,« sagte er, »wir haben dir keinen Verkehr verschafft, wie du ihn
+zu fordern ein Recht hast. Aber das soll anders -- ganz anders werden.
+Wir werden an den Hof gehen, wo wir hingehören. Und du wirst nun auch
+mein gutes Kind sein und gehorchen!«
+
+»Nein, Papa! -- Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Wäre ich Euer Sohn,
+statt Eure Tochter, ihr würdet es selbstverständlich finden, wenn ich
+meine eigenen Wege ginge. Ich kann nicht denken wie ihr, und ich bin
+außerstande, nichts als eine Haustochter zu sein. Paßt Euch der Verkehr
+nicht, der mir notwendig ist, wollt Ihr Euch nicht mit mir
+identifizieren, -- so laßt mich in Frieden meiner Wege gehen, -- gebt
+mir freiwillig die Freiheit!«
+
+Meine Worte wirkten verblüffend. Die Eltern waren plötzlich ganz ruhig
+geworden. Sie schienen auf das tiefste verletzt. »Daß wir über solchen
+Wahnwitz mit dir verhandeln, wirst du selbst nicht erwarten können,«
+sagte Papa kalt. »Geh in dein Zimmer. Bis morgen früh dürftest du wohl
+zur Vernunft gekommen sein.«
+
+Aber der Morgen kam und fand mich entschlossen, eher das Haus zu
+verlassen, als auf meine Besuche bei Herrn von Glyzcinski zu verzichten.
+Und die Eltern, die zwischen dem Skandal einer davonlaufenden Tochter
+und dem Eingehen auf ihre Wünsche zu wählen hatten, gaben mir nach. Eine
+drückende Stimmung, wie geladen von Mißtrauen und Feindseligkeit, blieb
+zurück. Nur Papa gab sich alle Mühe, meine Interessen auf andere Wege zu
+leiten. Meine Teilnahme an den Bestrebungen Egidys schien ihm sogar
+erwünscht, um die Einflüsse von der anderen Seite zu paralysieren. Er
+selbst hielt sich davon zurück. »Es widerstrebt mir, mich als
+preußischer General in irgendeine öffentliche Bewegung zu mischen. Ich
+bin Soldat, -- nichts weiter,« sagte er zu Egidy bei unserem
+Gegenbesuch, der der erste und letzte war, den er bei ihm machte. Um so
+häufiger geleitete mich meine Mutter in die Spenerstraße, zuerst mit
+mißmutig aufeinander gepreßten Lippen, nur aus Pflichtgefühl, -- den
+Standesgenossen gegenüber mußte doch die Form gewahrt werden, die einem
+jungen Mädchen nicht gestattete, allein in Gesellschaft zu gehen! --
+Dann mit steigender persönlicher Neigung. Diese bunte Welt, die sich
+jeden Dienstag Abend in dem gastfreien Hause zusammenfand, war eine
+völlig neue für sie, und mit einer fast kindlichen Neugierde
+beschäftigte sie sich mit jedem Besucher, während bei mir das Interesse
+an dem bloß Neuen und Fremdartigen um so mehr erlahmte, je
+leidenschaftlicher ich nach Gesinnungsgenossen suchte.
+
+Eigenbrödler aller Art füllten die Salons der Familie Egidy, bis zu
+solchen herab, deren armer enger Geist durch die unablässige
+Beschäftigung mit einem einzigen Gedanken mehr und mehr in Verwirrung
+geraten war. Da gab es Menschen, die von der Rückkehr zur Natur das Heil
+der Welt erwarteten, barfuß gingen im Gewande des Nazareners, von
+Körnern lebten, die sie in der Tasche trugen; andere mit fahlen,
+asketischen Zügen, die mit der ganzen mühselig zurückgedämmten
+Leidenschaftlichkeit ihres Inneren die Selbstvernichtung der Menschheit
+predigten, und, als ihr Gegensatz, fanatische Anarchisten, die die
+Freiheit ihrer eigenen kleinen Gelüste mit dem Schlagwort vom
+schrankenlosen Ausleben der Persönlichkeit zu rechtfertigen suchten.
+Studenten und Studentinnen aller Nationen fanden sich ein, deren
+jugendlicher Überschwang in Egidy einen neuen Heiland verehrte, und
+eine Menge ältliche Damen, die aus dem stillen Winkel ihres leeren
+Lebens hervorgekrochen schienen wie Maulwürfe, die die Sonne suchen, und
+mit dem Rest ihrer unterdrückten Gefühle verschwärmt zu Egidys Füßen
+saßen; verschämte Arme, die hier nichts wollten als den reich gedeckten
+Tisch, an dem sie einmal in der Woche satt werden konnten; mitten darin
+Abenteurer aller Art, die den reichen, nur allzu vertrauensseligen Mann
+für ihre Zwecke zu gewinnen suchten, und dazwischen -- vereinzelt --
+ernste aufrichtige Anhänger, junge Literaten und Theologen zumeist, die
+sich vergebens bemühten, Egidy vor sich selbst zu schützen. Er hatte für
+Alle Zeit, für jeden Herzenskummer, der ihm anvertraut wurde, ein
+freundliches Interesse; und warnte man ihn vor diesem und jenem seiner
+Gäste, der ein notorischer Hochstapler war, so sagte er mit fester
+Überzeugung: »Wer zu mir kommt, der beweist dadurch, daß er gewillt ist,
+ein Anderer zu werden. Und ich sollte ihm mein Haus verschließen?«
+
+Aber auch ernste, reife Menschen erschienen, Männer und Frauen mit
+berühmten Namen, die auf irgend einem reformbedürftigen Gebiet des
+öffentlichen Lebens tätig waren und alle versuchten, Egidy auf ihre
+Seite zu ziehen: Abstinenzler, Friedensfreunde und Bodenreformer,
+moderne Pädagogen und Frauenrechtlerinnen. Warteten sie nicht alle, die
+ihre Kräfte in dramatischen Gesten oder in der Kleinarbeit winziger
+Reförmchen erschöpften, ihrer selbst unbewußt, auf irgend ein
+Zauberwort, das ihre eigenen Fesseln sprengen und sie zu gemeinsamer
+großer Leistung vereinigen würde? War Egidy der Mann, der es
+aussprechen sollte?
+
+Ich hatte inzwischen die Bücher Glyzcinskis gelesen: seine eigene
+Moralphilosophie und die Schriften der Gründer und Leiter der Ethischen
+Gesellschaften Amerikas und Englands. Sie vertraten die Einheit der
+Moral gegenüber der Vielheit der Religionen, sie waren überzeugt, daß
+alle Menschen, die ernstlich das Gute wollen, sich, unabhängig von ihren
+verschiedenartigen transzendenten Anschauungen, auf dem Boden allgemein
+gültiger Ethik zu dem großen Werk sittlicher und sozialer Reform
+vereinigen könnten. Über Gott und den Göttern stand für sie das
+Absolute, die Moral; denn nicht darum ist das Gute gut, sagten sie, weil
+Gott es seinen Gläubigen zu tun befiehlt, er befiehlt es vielmehr, weil
+es gut ist, also muß auch für die Gottgläubigen das Gute das
+Allumfassende sein. Sie selbst stellten für das sittliche Handeln keine
+Einzelvorschriften auf, sie erkannten vielmehr als dessen Richtschnur
+und Prüfstein das größtmögliche Glück der größten Mehrzahl.
+
+Auf mich wirkten diese Werke wie eine Offenbarung: hier war das
+erlösende Wort, das nicht nur all die auf Seitenwegen Umherirrenden
+zusammen rufen und dem gemeinsamen Ziel entgegenführen würde, hier war
+der Zauberstab, der aus den Felsenherzen der Menschen lebendige Brunnen
+tatkräftigen Wirkens hervorlocken könnte; hier breitete sich vor meinen
+inneren Augen jungfräulicher Boden aus, den ich mit zu roden und zu
+bebauen bestimmt schien. Eine Ethische Gesellschaft in Deutschland zu
+gründen, die das öffentliche Gewissen der Nation werden sollte, --
+darauf richteten sich alle meine Gedanken.
+
+Ich ging täglich zum Professor. Schon lange hegte er denselben Wunsch
+wie ich, ohne, seiner eigenen Gebrechlichkeit wegen, an die Möglichkeit
+naher Erfüllung zu glauben.
+
+»Hatte ich nicht recht,« sagte er einmal, »wenn ich meinte, ich müsse
+eigentlich dem lieben Gott dankbar sein für die merkwürdige Begegnung
+mit Ihnen? Durch Sie wird der Lieblingstraum meines Lebens in Erfüllung
+gehen!«
+
+Wir arbeiteten unseren Plan in allen Einzelheiten aus: Mitglieder der
+verschiedensten religiösen und politischen Richtungen sollten den ersten
+Aufruf zur Gründung der Ethischen Gesellschaft unterzeichnen. Ihr Zweck
+sollte sein, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem alle Menschen
+ihre Gedanken freimütig über alle brennenden Fragen der Gegenwart
+auszutauschen vermöchten, von dem aus gemeinsam geschaffene
+Gesetzesvorschläge den Regierungen unterbreitet und zu den Ereignissen
+des öffentlichen Lebens Stellung genommen werden sollte. Niemand dürfe
+um seines Glaubens oder seinen politischen Anschauungen wegen bekämpft
+oder ausgeschlossen werden, es sei denn, daß er dadurch gegen das
+Grundprinzip der Gesellschaft verstoße: das größte Glück der größten
+Anzahl zu fördern.
+
+Mein Gedankengang geriet bei diesem Punkt ins Stocken. »Wenn ichs mir
+recht überlege,« sagte ich nachdenklich, »kann ein echter Christ sich
+unserem Bunde nicht anschließen. Toleranz gegen Andersgläubige kann bei
+denjenigen kaum erwartet werden, die überzeugt sind, daß ihr Glaube der
+allein selig machende sei; und das größte Glück als Ziel unseres
+Strebens aufstellen, ist vollends ganz und gar unchristlich.«
+
+Glyzcinski lachte: »Sie haben einen hellen Kopf, liebe Freundin, darum
+lassen Sie mich ihnen noch eins verraten. Niemand, der von Herzen an
+einen lebendigen Gott glaubt, kann auf unsere Seite treten; oder dürfte
+er zugeben, daß Gott selbst sich der Moral unterordnet?! Die Religion
+als vager metaphysischer Glaube, als flüchtig berauschendes Genußmittel
+schwacher Seelen kann innerhalb unserer Reihen Anhänger haben, nicht
+aber die Religion als Grundlage der Sittlichkeit, -- und damit wird ihr
+Halt und Inhalt zugleich entzogen. Der Kaiser und die Junker haben von
+ihrem Standpunkt aus vollkommen recht, wenn sie dem Volke die Religion
+erhalten und die Schule der Kirche mit Haut und Haar ausliefern möchten:
+nichts hindert die Verbreitung wahrer ethischer Kultur mehr als die
+Religion. Die Dankbarkeit für alles, was wir haben und sind, körperlich
+und geistig, wird in sentimentalen Gefühlen auf Gott gelenkt, statt daß
+sie sich in Taten auslöst für die Menschheit, der wir in Wirklichkeit
+alles verdanken. Aller Widerstand gegen das Böse, alle Kampfeslust gegen
+das Unglück wird dadurch gelähmt, daß man den Menschen lehrt, sich
+demütig vor Gottes Willen zu neigen, und ihnen den Glauben an die ewige
+Seligkeit einflößt. Und alle Tapferkeit, alle Menschenliebe, alle Kraft
+zur Selbstbefreiung und zur Befreiung der Menschheit aus Elend und
+Knechtschaft wird im Keime erstickt, wenn die Verantwortlichkeit für das
+Leiden auf die Gottheit abgewälzt werden kann.«
+
+»Ich verstehe Sie nicht, -- Sie scheinen gegen den eigenen Plan zu
+sprechen, -- nach Ihnen müßte keine ethische, sondern eine atheistische
+Gemeinschaft gegründet werden,« wandte ich ein.
+
+»Sie irren, -- atheistische Pfaffen, die wir in diesem Fall züchten
+würden, schaden unserer Sache mindestens ebenso viel wie kirchliche.
+Ethik wollen wir verbreiten, und in dieser Ethik ruht die Kraft der
+Wahrhaftigkeit, die allmählich alle alten Gespenster austreiben wird.
+Für mich -- wir beide sprechen offen miteinander! -- ist die
+Hauptaufgabe der Ethischen Gesellschaft nicht die, für Gerade und Krumme
+ein gleichmäßig passendes moralisches Mäntelchen zuzuschneiden, sondern
+im Dienst der sittlichen und sozialen Entwicklung dem Antichristentum
+und dem Sozialismus die Wege zu bereiten!«
+
+Ich schwieg; ein tiefer Schrecken vor unbekannten Gefahren hatte mich
+erfaßt. Der Sozialismus! -- Männer mit niedrigen Stirnen und
+schwieligen Fäusten sah ich, schwindsüchtige Frauen und Kinder mit
+Greisengesichtern, ein Zug von Gestalten, haßerfüllt die Züge, die
+Fäuste drohend erhoben wider alles, was unser Leben schön und reich
+machte, eingehüllt in einen Geruch von Schweiß und Blut. Helfen wollte
+ich ihnen, -- einen Weg wollte ich hauen durch die Wildnis ihres Elends,
+ich fürchtete nicht die Dornen, die mir die Hände zerreißen, die
+fallenden Äste, die mich verwunden würden, -- aber mich ihrem Zuge
+einreihen --, mich schauderte.
+
+»Wie sind Sie blaß und still geworden!« hörte ich Glyzcinskis warme
+Stimme. »Verzeihen Sie mir -- ich habe mich schon so daran gewöhnt, vor
+Ihnen laut zu denken, daß mir nicht einfiel, wie sehr ich Sie dadurch
+erschrecken könnte!«
+
+»Sie haben nur, wie immer, zu gut von mir gedacht, und ich bedarf ihrer
+Verzeihung, -- nicht umgekehrt,« antwortete ich. »Sie müssen Geduld mit
+mir haben, -- ich muß mich erst an die Neuheit des Gedankens gewöhnen.
+Ich weiß ja auch im Grunde gar nichts vom Wesen des Sozialismus. Vieles,
+was ich hörte, stimmte wohl mit meinen eigenen Ansichten überein, vieles
+aber hat mich immer abgestoßen --.«
+
+»Ich werde wieder meine stummen Freunde für mich sprechen lassen!« Und
+Glyzcinski bezeichnete mir die Bücher und Broschüren, die ich aus seinem
+Bücherschrank nehmen sollte. »Nur eins möchte ich Ihnen gleich heute
+sagen: Auf dem Wege wissenschaftlichen Studiums bin ich zu meinen
+ethischen Überzeugungen gelangt, auf demselben Wege habe ich erkannt,
+daß die Entwicklung zum Sozialismus eine gesetzmäßige, unabänderliche
+ist, gleichgültig, ob unser Gefühl sich dagegen sträubt oder nicht.
+Nachdem ich das aber einmal erkannt habe, kann es für mich von meinem
+ethischen Standpunkt aus keine andere Wahl geben, als die, mich in den
+Dienst der Entwicklung zu stellen und mit allen Kräften dahin zu wirken,
+daß sie eine möglichst friedliche, das Glück der Menschen möglichst
+wenig gefährdende sei. Andere denselben Weg der Erkenntnis zu führen,
+den ich gegangen bin, -- das ist daher meine Aufgabe --, das ist die
+Aufgabe, die die Ethischen Gesellschaften haben sollten.«
+
+»Und Sie glauben, daß die Menschen sich dahin führen lassen werden?!«
+
+Des Professors Gesicht nahm jenen kindlich-strahlenden Ausdruck an, der
+mich immer an gotische Heiligenbilder erinnerte.
+
+»Ich glaube daran! Sonst müßte ich mich selbst für eine Ausnahme aller
+Regel halten!«
+
+Auch Egidy, dachte ich auf dem Heimweg, ist solch ein Gläubiger; bei ihm
+soll das Einige Christentum vollenden, was der Professor von der
+Ethischen Kultur erwartet.
+
+Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei jedem Umschlagen einer
+Seite erwartete ich das Gräßliche zu finden, das so vielen Menschen das
+Recht gab, den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln zu
+bekämpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte mich, und wenn ich
+überrascht war, so nur über die Selbstverständlichkeit jeder Kritik am
+Bestehenden und jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im
+stillen vor Freude, wenn ich eigene, längst vertraute Ideen wiederfand;
+und wo meine Gedanken nicht Schritt halten konnten, sagte mein Gefühl ja
+und tausendmal ja. Gleiche Rechte für alle: Männer und Frauen; Freiheit
+der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst,
+Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle;
+freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste,
+der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens --: wie konnte irgend jemand,
+der auch nur über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der
+Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!
+
+Eugen Richters famose Broschüre, die ich im Sommer gelesen hatte, und
+die Onkel Walter in Pirgallen gratis unter die Arbeiter verteilte, fiel
+mir ein. Sollte der Verfasser wissentlich gelogen haben? Und war es
+Lüge, nichts als Lüge, was die Gegner vom Sozialismus verbreiteten? Daß
+der Professor mir irgend etwas vorenthalten haben konnte, war doch
+unmöglich!
+
+Ich besprach alles mit ihm: meine freudige Zustimmung und meine Zweifel
+und Bedenken. Der erfurter Parteitag war eben geschlossen worden, das
+neue Programm lag vor, und Glyzcinski erklärte es mir in allen seinen
+Einzelheiten. Ich sah, daß die vielverlästerte und mir immer lächerlich
+erschienene Forderung nach der Verteilung allen Besitzes in Wirklichkeit
+nicht vorhanden war, daß nur der Grund und Boden, der seine privaten
+Besitzer reich machte, ohne daß sie arbeiteten, und die
+Produktionsmittel der Industrie, durch die ihre Eigentümer zu
+Millionären wurden und ihre Arbeiter zu abhängigen Sklaven, in den
+Besitz der Allgemeinheit übergehen sollten. Dabei konnten wir alle nur
+gewinnen, -- wir vielen, die wir doch auch nichts als Besitzlose waren!
+-- Warum sträubten wir uns dann?
+
+»Sie sehen selbst: Unwissenheit und Selbstsucht sind die Gegner der
+Sozialdemokratie, die Lüge ihre Waffe,« sagte der Professor, »und wir
+sollten sie zu besiegen nicht imstande sein?!«
+
+Die Zeit damals war geladen mit Elektrizität. Überall schien die alte
+Erde von unterirdischen Donnern erschüttert, und hie und da klaffte ein
+dunkelgähnender Abgrund, wo noch eben grüne Wiesen gelacht hatten.
+Schmutzige Geldgeschichten in preußischen Ministerhotels,
+Betrugsanklagen gegen Vertreter der deutschen Regierung im Ausland;
+Unterschlagungen von Kirchengeldern und wohltätigen Stiftungen durch
+christliche, vom Hof protegierte Bankhäuser erschütterten das noch
+vorhandene Vertrauen in die Unantastbarkeit preußischen Beamtentums und
+christlicher Tugenden. Und wer, wie ich, von den Tiefen menschlichen
+Elends und menschlicher Verworfenheit noch wenig wußte, dem riß der
+Prozeß Heintze die letzten Schleier von den Augen. Diese gewaltsame
+Enthüllung der Wahrheit, die selbst die, die nicht sehen wollten, zum
+Sehen zwang, wirkte wie Wetterleuchten, das großen Umwälzungen
+vorhergeht.
+
+Im Egidyschen Kreise, den ich jetzt um so seltener fern blieb, als ich
+gerade hier die erfolgreichste Propaganda für die Ideen der Ethischen
+Kultur glaubte machen zu können, trat die durch die öffentlichen
+Ereignisse hervorgerufene Erregung deutlich zutage. Egidy pflegte kurze
+Vorträge zu halten, in denen Tagesfragen stets berührt wurden; selten
+nur begegnete ihm ein Widerspruch, fast immer konnte er der jubelnden
+Zustimmung seiner Gäste sicher sein, wenn er in seiner halb kindlichen,
+halb herrischen Weise alle Fragen spielend löste. »Wir brauchen nur
+Christen zu sein, ganz und gar Christen, und wir haben keine Rasse-,
+keine Geschlechts- und keine sozialen Probleme mehr,« erklärte er, und
+mit unerschütterlichem Optimismus hoffte er auf den Kaiser: »Nach einem
+Führer unserer Bewegung, die das ganze Volk ohne Ausnahme umfassen wird,
+braucht ein Land nicht zu suchen, dem Fürsten _geboren_ werden.« Ich war
+fast die einzige, die nicht nur skeptisch blieb, sondern alles daran
+setzte, die große Persönlichkeit dieses Mannes, die mir wie geschaffen
+zu sein schien, Hunderttausende mit sich zu reißen, den Ideen der
+Ethischen Bewegung zu gewinnen. Wir debattierten oft stundenlang und
+setzten dann noch brieflich unsere Diskussionen fort.
+
+»Wir wollen beide dasselbe,« sagte er einmal, »und auf diesen ernsten
+Willen kommt es an.«
+
+»Ist unser Wille der gleiche, und sind unsere Gedanken dieselben, so
+haben Sie so wenig das Recht wie ich, sich für neuen Wein alter
+Schläuche zu bedienen!« antwortete ich.
+
+»Das Christentum -- mein Christentum Jesu ist aber nicht der alte
+Schlauch, den die Kirche gemacht hat, mit der ich ganz und gar nichts zu
+tun habe,« beharrte er.
+
+»Ich will überhaupt nur, daß etwas wird,« schrieb er bald darauf: »Wir
+wollen die Religion _leben_; setzen Sie für das Wort: Religion -- Ethik,
+so ist's mir recht, aber für das Wort: leben sollen Sie mir kein anderes
+setzen. -- Wir müssen das Christentum ernst nehmen; setzen Sie für
+Christentum -- Ethik, so ist's mir recht, das Ernstnehmen aber lasse ich
+mir nicht fortstreichen. Wir haben lange genug entwickelt, -- ich will
+nun Entfaltung sehen. Wieder bloß reden, bloß predigen, bloß erziehen,
+derweilen die Menschen weiter hungern und die Welt aus Laune einzelner
+in Waffen starrt, -- nein! Mein Streben geht darauf hin, Zustände zu
+schaffen, die _verwirklichen_, was Sie predigen. Der Staat soll eine
+große ethische Gesellschaft sein, jede Schule eine in Ihrem Sinne
+ethische, in meinem Sinne religiöse Gemeinschaft erziehen. Glauben Sie
+mir: ich marschiere ganz auf realem Boden. Daß auch Fräulein von Kleve
+-- traurig oder lächelnd? -- den Kopf schüttelt, tut mir furchtbar weh.
+Entmutigen aber darf es mich nicht. Sie waren ja vor mir auf dem
+Schlachtfelde, -- ich weiß das recht gut. Die Frage wird schließlich
+einfach die sein: wer der Menschheit zumeist genützt haben wird, --
+Ethische Gesellschaft oder Angewandtes Christentum. Sie beantwortet sich
+allenfalls heute schon daraus: womit begründet jemand seine Ansprüche an
+die Gemeinsamkeit wirksamer: indem er auf Grund ethischer Prinzipien --
+'neuer Werte' -- fordert, oder indem er auf Grund des 'gerade von euch,
+ihr Herren' gepredigten Christentums, im Namen des Jesus von Nazareth
+verlangt? ...«
+
+»Auch ich will, daß etwas wird,« antwortete ich ihm, »aber ich sehe
+nicht, daß wir, die wir jede gewaltsame Durchsetzung neuer Zustände
+ablehnen, dieses Werden anders fördern können, als durch 'reden',
+'erziehen', 'predigen', das heißt durch Verbreitung neuer Ideen. Sie tun
+doch auch nichts anderes! Und Sie werden mir gewiß zugeben, daß Reden --
+'bloß reden' (!) -- eine mutigere und an Folgen reichere Tat sein kann,
+als Schlachten schlagen. Auf diese Folgen kommt es an, sagen Sie, und
+wieder finden Sie mich auf Ihrer Seite. Wenn ich aber wirklich zuweilen
+traurig -- niemals lächelnd! -- den Kopf schüttele, so nur deshalb, weil
+ich überzeugt bin, daß die Folgen der von Ihnen ins Leben gerufenen
+Bewegung größere sein würden, wenn Sie sich anderer Mittel bedienten.
+Die ursprüngliche Lehre Jesu mag mit Ihren Ansichten übereinstimmen --
+das zu entscheiden wäre Sache gelehrter theologischer Forschung --, aber
+das, was heute die ganze Welt unter Christentum versteht, ist etwas im
+Laufe der Jahrhunderte historisch Gewordenes, das umzustoßen viel mehr
+Zeit, viel mehr Kraft erfordern würde, -- falls es überhaupt möglich
+ist! --, als neue Werte unter neuem Namen in die Köpfe und Herzen zu
+pflanzen ...«
+
+Aber all unsere Auseinandersetzungen, in denen wir im Grunde mit
+größerer Leidenschaft um einander, als um Ideen kämpften, blieben
+fruchtlos. »Also -- ich reite allein!« schrieb mir Egidy in einem
+Augenblick, wo wir, wie erschöpft vom Kampf, mit gesenktem Degen stumm
+voneinander gegangen waren, »aber -- den Glauben dürfen, richtiger:
+können Sie mir nicht rauben, daß Sie und ich im kleinsten Finger
+dasselbe meinen; ich habe Sie erfaßt, nur Sie mich nicht! Warum? ich
+werde es Ihnen einmal sagen, -- nicht schreiben; ich habe ein ganz
+klares Bewußtsein davon ...«
+
+Glyzcinski gegenüber gab ich meinem Unmut über das Vergebliche meines
+Bemühens lebhaften Ausdruck. Er selbst hatte ursprünglich auf Egidy, als
+einen unserer künftigen Mitkämpfer, außerordentlichen Wert gelegt.
+Allmählich grub sich eine kleine Falte zwischen seine Brauen, wenn ich
+von ihm erzählte. »Sie sollten Ihre Kräfte nicht länger an eine
+verlorene Sache verschwenden,« meinte er dann. Aber ich konnte mich um
+so weniger beruhigen, als mir ein Zusammenstoß zwischen den beiden
+Bewegungen unvermeidlich schien, je mehr sie an Bedeutung gewannen.
+
+Einer der Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas war auf
+Glyzcinskis Veranlagung nach Berlin gekommen, seine Vorträge hatten
+große Aufmerksamkeit erregt und im Kreise der Intellektuellen lebhafte
+Debatten hervorgerufen. Ich sah, wie schmerzlich Egidy und seine
+Anhänger das Auftreten des Ethikers empfanden. An den folgenden
+Dienstagabenden drängten sich die Menschen mehr als sonst in den Salons
+der Spenerstraße; die hektisch geröteten Wangen vieler Besucher
+verrieten ihre krankhaft gesteigerte Aufregung; und welcher Gruppe ich
+mich auch näherte: die Plaudernden verstummten oder stoben scheu
+auseinander.
+
+»Man hat Sie als Spitzel der Ethischen Bewegung verdächtigt,« sagte
+lachend Wilhelm von Polenz, ein treuer Freund und ständiger Gast des
+Egidyschen Hauses, den ich um Aufklärung bat. »Bande!« -- stieß ich
+zwischen den Zähnen hervor. »Sie haben mit Ihrer Bezeichnung, fürcht'
+ich, mehr recht, als Sie ahnen,« -- des jungen Dichters Züge waren
+ernst, fast traurig geworden -- »es ist ein Jammer, daß unser Freund
+diese Umgebung hat und duldet. Aber es muß anders werden!« fügte er nach
+einer Pause hinzu. »Ich denke an solche, die fähig und würdig sind,
+Träger seiner Ideen zu sein, und die -- vielleicht unbewußt -- nach
+Vertiefung und Bereicherung ihres Innenlebens lechzen: an unsere jungen
+Künstler und Literaten.« Egidy begann zu reden und unterbrach unser
+Gespräch. Meine Gedanken waren aber noch dabei; Polenz hatte recht, ganz
+recht: die Dichter der »Ehre«, der »Familie Selicke«, des »Vor
+Sonnenaufgang« waren unsere geborenen Mitkämpfer. Unsere?! -- die der
+Ethischen Bewegung natürlich!
+
+»... Jetzt haben die Ethiker den Triumph, daß Orthodoxe und Liberale
+ihnen Beifall rauschen,« hörte ich Egidys klare, scharfe Kommandostimme,
+»weil sie erklären, die allgemein menschliche Moral zu vertreten und den
+religiösen Glauben des einzelnen nicht tasten. Ich aber muß es über mich
+ergehen lassen, daß man sich schaudernd von mir wendet, weil ich dem
+dogmatischen Christentum zu Leibe gehe. Ich sage Ihnen, daß ich jedem
+Dogma zu Leibe gehe, -- aber mit offenem Visire, nicht so, daß man erst
+gar nichts Böses hinter mir ahnt und ich mich dann erst als Erzketzer
+entpuppe, sondern: erst Ketzer -- dann ganzer und wahrer und Nur-Mensch,
+-- -- so sind noch nicht viele in die Schranken des öffentlichen Lebens
+eingeritten ...« Ein langer Blick traf mich, und irgend etwas
+Unbestimmtes -- wars Ärger, wars Beschämung? -- ließ mich erröten ...
+»Doch im Namen wahrer Religion tue ich es. Die Ethiker haben keinen
+Namen, der so alles in sich schließt, wie Religion. Hat man den Namen
+bisher mißbraucht, so soll man ihn jetzt zu Ehren bringen: Religion
+nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst Religion! Und diese
+Religion bezeichne ich mit dem Worte Christentum. Mögen die Ethiker es
+doch versuchen, mit einem anderen Wort etwas zu erreichen! Aufs
+Erreichen kommt es an, nicht auf den Widerwillen, den man gegen Begriffe
+und Worte hat, die achtzehnhundert Jahre lang der Deckmantel schnödester
+Frevel waren. Jetzt aber soll es anders werden. Wille wird! aber nicht,
+indem man das Banner fortwirft, und es der Menge überläßt, kopfscheu
+auseinander zu rennen, sondern indem man es höher denn je erhebt und
+mutig ausruft: Alle hierher! Eben entdecken wir erst, daß es noch nie
+richtig entrollt war -- in den Falten, die man unseren Blicken entzog,
+steht ja ganz was anderes --, die ganze Menschheit soll dies Banner
+stützen, und nicht die Kirche!«
+
+Es war sekundenlang still. Egidy hatte sich ein für allemal jede
+Beifallsäußerung streng verboten. Die Zunächststehenden sahen mich
+erwartungsvoll an. Das Herz klopfte mir bis zum Halse herauf -- mir
+wurde heiß und kalt --, ich fühlte, ich mußte sprechen. Es dunkelte mir
+vor den Augen, die Angst schnürte mir fast die Kehle zu, -- wie sollt'
+ich die Worte finden, wie reden, wenn all die vielen feindseligen Blicke
+mir entgegenblitzten?! Und doch: durft' ich zum erstenmal, wo die
+Gelegenheit sich bot, die große Sache zu verteidigen, -- meine Sache!
+--, durfte ich feige schweigen?!
+
+»Herr von Egidy stellte die Lage so dar, als ob es hieße: Hie
+Christentum -- hie Ethik,« begann ich, die zitternden Hände krampfhaft
+auf die Stuhllehne vor mir stützend, »während wir alle, deren gleiches
+Ziel die Wohlfahrt der Menschheit ist, nicht die Verschiedenheiten
+unserer Anschauungsweisen hervorsuchen, sondern die Einheit unserer
+Aufgaben betonen sollten ...«
+
+»Die Zerstörung der Kirche ist unsere Aufgabe!« rief eine krächzende
+Stimme dazwischen. Ich suchte einen Augenblick verwirrt nach dem
+zerrissenen Faden meiner Rede und fuhr dann fort. »Wir Vertreter der
+Ethischen Bewegung legen auf das gemeinsame Handeln den größten Wert und
+meinen, daß es weit richtiger ist, gegen Hunger und Not zu kämpfen, als
+gegen die Kirche ...«
+
+Eine lebhaft gestikulierende Dame, der das Haar in stumpfblonden
+Strähnen über die Stirne hing, reckte die dürren Hände plötzlich hoch
+empor und schrie gellend: »Sie verleumdet Egidy, -- duldet das nicht,
+duldet das nicht!« Egidy machte eine kurze, beruhigende Bewegung und
+stand dann wieder mit verschränkten Armen, die Blicke starr auf mich
+gerichtet, unter dem Türrahmen. Ich weiß, daß ich in diesem Moment, wo
+die Aufregung um mich stieg, wie um Hilfe flehend zu ihm hinübersah.
+
+»Wir sind der Überzeugung, daß das Gemeinsame der Menschen --« fast
+mechanisch sprach ich jetzt und ausdruckslos -- »nicht die Religion, die
+im Gegenteil die Welt in feindselige Lager teilt, wohl aber eine
+allgemeine Moral sein kann, auf Grund deren wir handeln.« Mir wurde,
+angesichts der größeren Ruhe um mich her, freier ums Herz. »Das größte
+Glück der größten Anzahl -- diese sittliche Richtschnur kann von allen
+anerkannt werden, ohne daß der Glaube des einzelnen verletzt zu werden
+braucht.«
+
+»Dazu sind Sie ja viel zu feige!« -- wie ein gut gezielter Pfeilschoß
+flogen mir die Worte zu.
+
+Ich sah auf Egidy -- noch rührte er sich nicht -- das Herz tat mir weh,
+und zugleich kam mir blitzartig die Erkenntnis, daß er im Grunde in
+seiner Rede dasselbe gemeint hatte. Ich zwang mich zur Ruhe und würdigte
+den Zwischenrufer keiner Antwort. »Herr von Egidy rühmte sich mit Recht,
+daß er mit offenem Visir kämpfe, -- und wir und meine Freunde sind die
+letzten, die seinen Mut bezweifeln. Wir ehren jede Überzeugung, indem
+wir sie nicht antasten und über ihre Schranken hinweg den anderen die
+Hände reichen ...«
+
+Ein spöttisches Gelächter neben mir reizte meinen kaum unterdrückten
+Zorn, und alle Selbstbeherrschung verlierend, stürzten mir die Worte
+über die Lippen: »Sie sind feige, die Sie mich hinterrücks angreifen, --
+nicht ich! Viel rücksichtsloser als bei irgend einem unter Ihnen ist
+meine Gegnerschaft zur Kirche, zu den Dogmen, ja, zum Christentum
+selbst, dessen Inhalt, dessen Tendenz volks- und kulturfeindlich ist.«
+
+»Alix!« -- meiner Mutter Stimme war's, -- in ein fassungsloses
+Schluchzen brach sie aus. Meine harte Mutter, die Empfindungen kaum zu
+kennen schien, sie zum mindesten immer in eisernen Fesseln hielt, --
+meine Mutter weinte! Wir führten sie hinaus, Egidy und ich. Er sprach
+ihr beruhigend zu, und ihre Augen wurden trocken, ihre Lippen bewegten
+sich zu mühsamem Lächeln. An der Tür streckte er mir die Hand entgegen,
+-- ich übersah sie. Wir fuhren wortlos nach Haus. Erst als ich vor
+meinem Schlafzimmer ein leises »Gute Nacht« flüsterte, schien sie sich
+des Geschehenen wieder zu erinnern.
+
+»Du -- du wagst es, mir eine gute Nacht zu wünschen?!« kam es stoßweise
+über ihre Lippen. »Hast du mir nicht schon genug Kummer gemacht, und nun
+muß ich noch das Fürchterliche erleben, daß du in aller Öffentlichkeit
+unseren Herren und Heiland verleugnest?! ... Dazu also hast du die
+Freiheit benutzt, die wir törichte, mehr als rücksichtsvolle Eltern dir
+gewährten, hast dir von dem Professor, der uns gegenüber die Maske des
+duldsamen Ethikers trägt, den Kopf verdrehen lassen! Ein schöner Dank
+für all unsere Liebe -- -- Aber das schwör' ich dir zu: keinen Fuß setzt
+du mehr über die Schwelle dieses Elenden!« Ich wollte heftig erwidern,
+aber schon war sie fort und schob geräuschvoll den Riegel vor ihre Türe.
+
+Noch in der Nacht schrieb ich zwei Briefe, den einen an Egidy, worin ich
+mich bitter beklagte, daß er mich in seinem eigenen Hause den Angriffen
+seiner Anhänger schutzlos preisgegeben habe, und daß ich dafür nur eine
+Antwort hätte: ihm von nun an fern zu bleiben, und einen anderen an
+meine Kusine Mathilde, durch den ich sie bat, mich so rasch wie möglich
+zu sich einzuladen, da ich Berlin auf einige Zeit verlassen müsse. In
+aller Frühe steckte ich beide in den Kasten und ging zu Glyzcinski. Als
+ich bei ihm eintrat, in dies stille, vertraute Zimmer voll Licht und
+Frieden und Vogelgezwitscher, überfiel mich ein Schwindel, --
+sekundenlang lehnte ich mit fest auf das Herz gepreßten Händen an der
+Türe. Er hatte sich krampfhaft aufgerichtet und starrte mich an, die
+Augen angstvoll aufgerissen, die Züge leichenfahl. Und dann hielt er
+meine Hand in der seinen und ließ sie nicht los, so lange ich erzählte.
+
+»Meine liebes, armes Schwesterchen!« sagte er immer wieder. »Aber es
+mußte einmal so kommen, -- Sie werden sich mit dem Gedanken vertraut
+machen müssen, daß schließlich ein Bruch zwischen Ihnen und den Ihren
+unvermeidlich ist.« Ich ließ mutlos den Kopf sinken. »Dann erst werden
+Sie leisten können, was Sie zu leisten berufen sind.«
+
+Ich sprach von meiner Absicht, abzureisen. Es legte sich wie ein
+Schleier über seine Augen, und ein fast unmerkliches Zucken ging durch
+seinen Körper. »Aber ich bleibe ohne Besinnen, wenn es Ihnen lieber
+ist,« fügte ich rasch hinzu. Er lächelte gezwungen: »Mir scheint es
+freilich fast unmöglich, Sie zu missen, -- aber gehen Sie -- gehen Sie
+nur! Wie könnt' ich verlangen, daß Sie mir ein Opfer bringen?!« ...
+
+Ein Opfer?! schoß es mir durch den Kopf, -- ist nicht der Gedanke für
+mich selbst beinahe unerträglich, ihn zu verlassen?! -- --
+
+Noch am Nachmittag kam ein Brief von Egidy. »Der Vorwurf, den Sie mir
+machen, bekümmert mich sehr,« hieß es darin. »Ich habe nicht den
+Eindruck gehabt, daß mein Schutz Ihnen nötig war. Ich fand, daß Sie sich
+selbst an besten verteidigen konnten. Am tiefsten aber betrübt es mir,
+daß Sie jetzt von einem Wegbleiben reden. Der Gedanke, Sie missen zu
+müssen, ist mir schmerzlich. Ich habe Herz und Kopf noch so voll für
+Sie, -- ich habe sie richtig lieb. Am schmerzlichsten aber ist der
+Stachel, den Ihre Worte mir ins Herz gesenkt: daß Ihnen dies Wegbleiben
+gar etwa so schwer nicht würde! Ich meine: andernfalls dürften Ihnen
+Vorkommnisse solcher Art einen solchen Gedanken nicht eingeben, vielmehr
+müßten Sie eine Befriedigung im Überwinden derartiger Dinge finden; dies
+um so mehr, als Sie meiner ritterlichen Verteidigung wohl überzeugt sein
+dürfen, sofern ich sehe, daß Sie derselben irgend benötigen. So
+wenigstens denke ich von der Aufrechterhaltung eines Bandes, das zu
+keinem anderen Zwecke besteht als zu dem: den Menschen zu dienen; -- --
+ganz abgesehen von einem Gefühl wohltuender Freundschaft: 'oh reiß den
+Faden nicht der Freundschaft kurz entzwei -- wird sie auch wieder fest
+-- ein Knoten bleibt dabei --' Wir werden uns aussprechen, -- ich bin in
+wenigen Stunden bei Ihnen ...«
+
+Und er kam. Ich wollte ihn nicht sehen, meine Mutter empfing ihn; er
+blieb lange bei ihr, und als er gegangen war, trat sie mir mit ganz
+verändertem Ausdruck entgegen. »Egidy läßt dich grüßen,« sagte sie,
+»danke es diesem prachtvollen Menschen, daß ich dir noch einmal
+verzeihe und deine Freiheit nicht antasten will.«
+
+Noch am Abend brachte der Diener Glyzcinskis mir ein paar Zeilen von
+ihm: »Eben verläßt mich Egidy. Sein Besuch war mir eine doppelte Freude:
+Ich erfuhr, daß er Ihre Mutter beruhigen konnte, und lernte einen Mann
+kennen, wie es -- trotz all seiner Schrullen und Eigenheiten -- wenige
+geben mag. Nicht wahr, nun darf ich auch hoffen, daß Sie bleiben werden
+und bei mir wieder jeden Nachmittag Sonntag ist?!«
+
+Egidy selbst schrieb mir nur vier Worte: »Hab ichs recht gemacht?!«
+
+ * * * * *
+
+Ein politisches Ereignis von weittragender Bedeutung sollte dem Einigen
+Christentum Egidys und der Ethischen Bewegung, die bisher beide einen
+verhältnismäßig kleinen Kreis Getreuer umfaßten, gewaltigen Vorschub
+leisten: der Zedlitzsche Volksschulgesetzentwurf. Wer die Wissenschaft
+vertrat, oder einen auch nur gemäßigten Fortschritt, fühlte sich in
+seinen Idealen persönlich verletzt und suchte nach Gleichgesinnten, um
+den Mut zu gemeinsamen Protesten zu finden, den er für sich allein nicht
+aufbrachte. Die sich Christen nannten, strömten Egidy zu, die Juden und
+die Freidenker zeigten ein täglich wachsendes Interesse an der Ethischen
+Bewegung. Egidy selbst war zuerst so gedrückt durch die Täuschung, die
+sein Vertrauen auf den Kaiser gefunden hatte, -- denn daß der Entwurf
+dessen persönlichstes Werk war, daran zweifelte kaum einer --, daß die
+neue Anhängerschaft ihn dafür nicht zu entschädigen vermochte. Vor der
+Menge zeigte er sich stark und hoffnungsfroh; sprach ich ihn allein, so
+schien mirs, als sänke dieser stramm aufgerichtete Soldat zum erstenmal
+müde zusammen. Kam ich dagegen zu Glyzcinski, so fand ich den Gelähmten
+in einer Stimmung, die strahlend aus seinem Antlitz sprach und täglich
+zuversichtlicher wurde. »Denen, die das Gute wollen, müssen alle Dinge
+zum Besten dienen,« rief er mir zu, kaum daß ich eintrat. »Sehen Sie
+hier: --« und er schwenkte ein paar Briefbogen wie eine Fahne, »nichts
+als Beitritts- und Zustimmungserklärungen. Mein alter Traum geht
+wirklich in Erfüllung: wir werden in Deutschland eine Ethische
+Gesellschaft haben!«
+
+Ich erzählte es Egidy, -- seit jenem bösen Dienstagabend war die
+Ethische Bewegung zwischen uns nicht mehr erwähnt worden --, er
+schüttelte langsam den Kopf: »Wenn es doch bei der bloßen Bewegung
+geblieben wäre!« sagte er, »wie ganz anders flössen unsere Bestrebungen
+nicht nur neben- sondern ineinander, wenn Sie die Ihrigen nicht durch
+Satzungen zu einem künstlich gemauerten Kanal formen würden. Gedanken
+verbreiten, -- das ist das einzig Not tuende! -- Sie werden vor lauter
+Statutenberatungen und Vorstandssitzungen für diese Hauptsache gar keine
+Kraft und Zeit mehr übrig haben. Ein Verein -- nun ja, -- das ist ja
+ganz nett, aber -- und nun glauben Sie mir einmal! -- über kurz oder
+lang arten sie alle in Sport aus. Der Starke ist am mächtigsten allein!«
+
+»Das sagen Sie!« antwortete ich, ein wenig ärgerlich, »und doch tun Sie
+nichts anderes als Anhänger werben, die sich zwar nicht auf Statuten,
+wohl aber auf Ihren Namen verpflichten müssen. Sogar an Bebel hat sich
+Ihr Freund, der asketische Kandidat der Theologie, neulich
+gewandt -- --«
+
+»Gewiß -- und mit meiner Zustimmung,« unterbrach mich Egidy, »das
+Christentum schließt, wie alles andere Entwicklungsfähige, so auch den
+Sozialismus in seinen lebensfähigen und würdigen Forderungen in sich.
+Und einem Führer, wie Bebel, hätte ich eine richtigere Einsicht
+zugetraut. Wollen Sie seine Antwort lesen?«
+
+Ich bejahte lebhaft und las den Brief nicht nur, sondern schrieb ihn
+auch ab, um ihn Glyzcinski zeigen zu können. Es hieß darin: » ... Das
+Bürgertum sieht die Religion heute als eins der wirksamsten Kampfmittel
+gegen die Sozialdemokratie an. Daher die Macht, die seit zwölf bis
+fünfzehn Jahren das Pfaffentum erlangte, und die Erscheinungen, die
+Herrn von Egidy zu seinem Kampfe gegen die herrschende Strömung
+aufreizten. Die Bürgerklasse, obwohl meist freigeistig, wird sich daher
+in ihrer Masse den Bestrebungen des Herrn von Egidy fernhalten,
+andererseits kann sich auch die Sozialdemokratie nicht für diesen Kampf
+begeistern, weil seine Ziele ihrer Natur nach nur eine Halbheit sein
+können und an dem sozialen und politischen Zustande, der hauptsächlich
+auf den Massen lastet, und dessen Beseitigung ihre Hauptaufgabe ist,
+nichts ändert. Sich für die Bestrebungen des Herrn von Egidy
+unsererseits zu engagieren, hieße unsere Kräfte zersplittern, aber auch
+zugleich seine Bestrebungen als sozialdemokratische stigmatisteren und
+ihm die Mehrzahl seiner Anhänger vertreiben ... Voller Sympathie also
+für die Sache an sich, insofern uns jeder Kampf gegen bestehende Übel
+willkommen ist und den bestehenden Bau erschüttern hilft, können wir
+doch nicht gemeinsam wirken, weil unser Ziel weit über das von Herrn von
+Egidy gesteckte hinausführt ... Da also der Berg nicht zu Mohammed
+kommen kann, muß Mohammed eben zum Berge kommen! ...«
+
+Hier war kein Satz, dem ich hätte widersprechen können: gewiß, seine
+Partei konnte sicher und ruhig ihren Zielen entgegen gehen; sie bedurfte
+unser nicht. Aber eines, so schien mir, vergaß Bebel: daß es neben dem
+Proletariat Millionen Menschen gibt, die nicht nur der endlichen
+Erlösung ebenso würdig und bedürftig sind, die sich vielmehr auch im
+Augenblick, wo die Arbeiterklasse schon die Fahne des Sieges
+aufzupflanzen imstande wäre, ihr wie eine Barriere in den Weg stellen
+würden. Mich und meinen Glauben an unsere Sache entmutigte weder Egidy
+noch Bebel. Und der Professor -- dessen war ich gewiß -- würde nicht
+anders denken als ich.
+
+Mit Bebels Brief in der Hand, überschritt ich wieder einmal den engen
+Hof, die dunkle Treppe, den lichtlosen Flur, und stand schon vor seiner
+Türe, als eine Stimme von innen meinen Fuß stocken ließ. Sie klang tief
+und warm und hatte jenen österreichischen Akzent, der uns Norddeutsche,
+wie alles, was vom Süden kommt, so seltsam anheimelt.
+
+»Alle Ströme fließen in unser Meer ...« sagte sie.
+
+»Ich bin ganz Ihrer Meinung und wünschte, daß Ihre Partei uns ebenso
+einschätzt: als einen Nebenfluß, der ihr reiche Schätze zuzutragen
+vermag,« antwortete der Professor. Noch ein Stühlerücken, ein paar
+Höflichkeitsphrasen, ein fester Tritt, -- ich öffnete rasch die Türe, um
+nicht als Horcherin ertappt zu werden. Ein großer, blonder Mann stand
+mir gegenüber, wir sahen einander einen Augenblick lang ins Gesicht, und
+mit einer stummen Verbeugung ging er an mir vorbei zum Zimmer hinaus.
+
+»Wer war das?« frug ich erstaunt und strich mir mechanisch mit der Hand
+über die Stirne, -- ich mußte diesen Menschen schon irgendwo gesehen
+haben.
+
+»Dr. Brandt, -- der bekannte sozialdemokratische Schriftsteller,« sagte
+Glyzcinski, er strahlte noch vor Freude über den Besuch. »Was meinen
+Sie, sollen seine Worte der geheime Wahlspruch werden, den wir Beide an
+die Spitze unserer Satzungen stellen?«
+
+»Alle Ströme fließen in unser Meer,« wiederholte ich und drückte fest
+die Hand, die er mir entgegenstreckte -- »hier haben Sie mich zum
+Bundesgenossen!«
+
+
+
+
+Achtzehntes Kapitel
+
+
+ Kranz, 15. 6. 92
+Verehrter Herr Professor!
+
+Wir sind wohlbehalten hier angekommen und ich benutze den herrlichen
+Morgen, um Ihnen gleich die erste Nachricht zu geben. Seit gestern
+Abend, wo Onkel Walter, kaum daß ich den Reisestaub abgeschüttelt hatte,
+mich bereits ganz gegen seine Gewohnheit in ein politisches Gespräch
+verwickelte, zweifle ich nicht mehr daran, daß nicht meiner Schwester
+Bleichsucht, sondern mein 'gefährlicher' Geisteszustand die Eltern
+veranlaßte, uns Beide so unerwartet rasch auf Reisen zu schicken. Der
+Onkel erzählte mir, daß die Regierung, d. h. heute kaum etwas anderes als
+S. M., Egidy, diesem 'kompletten Narren', nur aus Rücksicht auf seine
+Familienbeziehungen noch 'keinen Maulkorb' vorgebunden habe, man werde
+dafür bei Zeiten seinen Parteigängern an den Kragen gehen, die im
+Polizeipräsidium als Anarchisten wohl bekannt seien. 'Aber Dein
+Professor ist viel gefährlicher', fügte er dann hinzu, 'und er wäre
+längst beseitigt worden, wenn er nicht ein kranker Mann wäre.' Da mir
+die schlechte Gewohnheit des Schweigens inzwischen glücklich abhanden
+gekommen ist, gab es eine erregte Aussprache. 'Das kommt davon, wenn
+Frauen sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen,' sagte der Onkel,
+als ich Ihre Stellung zum seligen Volksschulgesetzentwurf und zur
+Arbeitslosenbewegung verteidigt und als die meinige bezeichnet hatte.
+Wir seien nichts anderes als Helfershelfer der Sozialdemokratie,
+erklärte er mit der Hellsichtigkeit des Hasses. Und nun war es mir nicht
+nur höchst interessant, ihn seinen eigenen Standpunkt auseinandersetzen
+zu hören, sondern -- lachen Sie mich bitte nicht aus! -- zum erstenmal,
+seit ich ihn kenne, fing ich an, ihn ernst zu nehmen und zu begreifen.
+Wer, auch ohne den Dogmenglauben zu besitzen, gesättigt von dem ganzen
+Pessimismus des Christentums, alle Menschen für Sünder und die Welt für
+ein Jammertal, bestenfalls für eine fegefeuerähnliche Durchgangsstation
+hält, daneben aber sich der ungeheuern Vorteile alter Kultur und
+angestammter Herrenrechte voll bewußt ist, der kann den Sozialismus und
+alle seine Begleiterscheinungen nur für das Ende aller Dinge halten,
+gegen das er sich naturgemäß wehren muß. Offen gestanden, sind mir solch
+ehrliche Junker hundertmal lieber als die Richter und Konsorten, die wir
+ja eben zur Genüge kennen gelernt haben. Übrigens nahm ich die
+Gelegenheit wahr, um Onkel auf seinen Monarchismus hin festzunageln,
+'der mir angesichts der Haltung seiner Partei gegenüber den
+Handelsverträgen einigermaßen fadenscheinig vorkäme.' -- 'Unser
+Monarchismus besteht nicht in hündischer Treue gegenüber dem einzelnen
+Monarchen,' antwortete er 'sondern in der Hochhaltung und Verteidigung
+alles dessen, was die Monarchie stützt und kräftigt, -- auch gegen den
+Monarchen, wenn es sein muß!' Mich würde diese geistreiche Definition
+in seinem Munde verblüfft haben, wenn mir nicht rechtzeitig eingefallen
+wäre, daß in letzter Zeit seine ganze geistige Nahrung in den
+Apostata-Artikeln der 'Gegenwart' bestanden hat.
+
+Hoffentlich höre ich bald von Ihnen, von Ihrem persönlichen Ergehen, von
+der Entwicklung der Beratungen. Soll ich Ihnen gestehen, daß ich ohne
+Bedenken auf die Teilnahme an ihnen verzichtet hätte, wenn meine Eltern
+mir dafür erlaubt haben würden jeden Nachmittag bei Ihnen allein meine
+Tasse Kaffee zu trinken?!
+
+Mit herzlichen Grüßen
+
+ Ihre dankbar ergebene
+ Alix von Kleve.«
+
+
+ »Berlin, 18. 6. 92
+Gnädigstes Fräulein!
+
+So rasch eine Nachricht von Ihnen zu bekommen, war eine aufrichtige
+Freude, und Ihre Schilderung Ihres Gesprächs mit Ihrem Herrn Onkel
+interessierte mich natürlich lebhaft. Daß man die Ethische Bewegung
+'oben' nicht ohne Besorgnis betrachtet, weiß ich. Geheimrat Althoff ließ
+sich dieser Tage von mir alles auf sie bezügliche Material kommen, und
+in der Universität, wo der Gestrenge mich, wenn wir uns begegneten,
+höchst liebenswürdig zu begrüßen pflegte, ging er heute stirnrunzelnd an
+mir vorüber.
+
+Ihr Urteil über die Junker teile ich nicht. Nur der krasseste Egoismus
+ist es, der sie, die Jahrhunderte lang alle Vorzüge des Besitzes und der
+Kultur genossen haben, den Forderungen der neuen Zeit verschließt. Mit
+vollem Recht kann von ihnen verlangt werden, daß sie auf dem Wege
+wissenschaftlicher -- das heißt in diesem Fall ethischer und sozialer --
+Einsicht zu denselben Überzeugungen kommen, die sich die Armen und
+Entrechteten nur durch die Erkenntnis ihrer ökonomischen Lage zu
+erwerben vermögen. Adel verpflichtet! Und sind wir nicht auch 'Junker'?!
+
+Die letzte Sitzung unserer Kommission verlief ziemlich stürmisch, und
+mir kamen wieder arge Bedenken über deren Zusammensetzung. Die einen
+forderten in erregtester Weise, daß die Religion innerhalb der Ethischen
+Gesellschaft überhaupt nicht berührt werden dürfte, die anderen,
+Professor Seefried an der Spitze, erklärten das Hineinziehen der
+sozialen Frage für außerordentlich bedenklich, worauf ich mich zu der
+Erklärung gezwungen sah, daß eine Ethische Gesellschaft, die ihr aus dem
+Wege ginge, nicht wert sei, zu existieren. Die milde, versöhnliche Art
+unseres Vorsitzenden goß Öl auf die Wogen unserer Erregung, aber was er
+zu berichten hatte, wirkte wieder wie ein Sturm. Eine hiesige Zeitung
+wollte aus 'bester Quelle' erfahren haben, die Haupttendenz unserer
+Gesellschaft sei eine antisozialistische; im Anschluß daran hielt
+Geheimrat Frommann eine höchst charakteristische kleine Rede, deren
+Hauptpunkte ich Ihnen nicht vorenthalten will. 'Ich kann nur insoweit
+mit der Sozialdemokratie mitgehen, als ich die Verstaatlichung des Grund
+und Bodens für notwendig und durchführbar halte,' sagte er, wobei ich
+ihn mit dem Zitat 'du wirst dich weiter noch entschließen müssen,'
+unterbrach. Die 'irdische Zukunftspoesie' der Sozialdemokratie erklärte
+er für utopischer als den Himmel der Frommen, und den Glauben an die
+Verwirklichung solcher Träume für eine gefährliche Ablenkung von ernster
+Arbeit. Ich ließ es bei meiner Erwiderung natürlich wieder an dem
+nötigen ethischen Maß fehlen. Was ich sagte, war etwa dies: daß ich das
+Emporkommen der Arbeiterklasse und einen sozialistischen Staat im
+Gegensatz zu dem so vielfach herrschenden anarchischen Individualismus
+für das erstrebenswerteste Ziel ansähe, das sich auch ohne Zweifel
+verwirklichen werde, -- in vernünftiger Weise, wenn die leitenden Kreise
+vernünftig, in unvernünftiger, wenn sie einsichtslos bleiben; und ich
+habe hinzugefügt, daß ich mich sofort von einer Bewegung lossagen würde,
+welche dem Sozialismus direkt oder indirekt entgegenwirken wolle. Damit
+war der Anstoß zu einer erregten Sozialistendebatte gegeben, und Helma
+Kurz, deren Wirken in der Frauenbewegung sie mir so ungemein sympatisch
+machte, enttäuschte mich bitter, indem sie all ihre Waffen gegen die
+Sozis aus Eugen Richters Rüstkammer holte: 'Auflösung der Familie', --
+als ob es nicht der Kapitalismus wäre, der Väter, Mütter und Kinder in
+die Fabriken hetzt! -- 'Weibergemeinschaft', -- als ob nicht die heutige
+Gesellschaftsordnung die armen Frauen zur käuflichen Waare machte!
+
+Da ich mich etwas beschämt als den eigentlichen Ruhestörer empfand, bin
+ich nachher still gewesen, und das endliche praktische Resultat unserer
+Sitzung waren der beifolgende Aufruf und Statutenentwurf. Sie werden
+selbst empfinden, wie wenig mir deren Farblosigkeit gefallen kann. Daß
+unsere Aufgabe sein soll, 'der Feindseligkeit und dem Unmaß in der
+Menschenwelt Schranken zu ziehen und eine entsprechende Gestaltung der
+Erziehung und der Lebensführung zu fördern', heißt, fürchte ich, Egidys
+Versöhnung noch übertrumpfen, und daß aus dem § 2 der Statuten die Worte
+'Besitzlose' und 'Schutz vor Ausbeutung' gestrichen wurden, gab mir
+ordentlich einen Stich ins Herz. Für die Zukunft brauche ich dringend
+Ihre Unterstützung, wenn anders unsere Idee sich nicht allmählich in ihr
+Gegenteil verwandeln soll. Ich habe Sie darum als Kommissions-Mitglied
+vorgeschlagen und bin beauftragt, Sie um Annahme der erfolgten Wahl zu
+bitten. Ich hoffe bestimmt, daß Sie sich nicht auch jetzt noch durch
+falsche Bescheidenheit und ebenso falsche Rücksicht auf Ihre Eltern
+abhalten lassen, in den Dienst unserer Sache zu treten.
+
+Übrigens hatte ich gestern die Ehre des Besuchs Ihrer Frau Mutter. Sie
+suchte mich zu bestimmen, meinen 'großen Einfluß' auf Sie geltend zu
+machen, um Sie wieder in den Schoß Weimars und unter den Schutz des
+weißen Falken zurückzuführen. Ich lehnte entschieden ab und betonte, daß
+Sie zu Größerem berufen seien, und daß es Pflicht der Eltern wäre, Ihnen
+vollkommen freie Bahn zu lassen. Daraufhin empfahl sich Ihre Exzellenz
+recht kühl und, wie es schien, verletzt.
+
+Auch Egidy war vor ein paar Tagen bei mir. Ich fürchte, daß er mehr und
+mehr alle Distanz zu sich selbst und der Welt verliert. So sieht er uns
+-- ernstlich! -- als ein Konkurrenzunternehmen an und vermag in seiner
+ungeheuern Selbstüberschätzung nicht einzusehen, daß er doch nur, wie
+wir, einer der vielen Arbeiter ist, die von den Ruinen der Vergangenheit
+Stein um Stein abtragen, um dem Bau der Zukunft Platz zu machen.
+
+Ich habe meine einsamen Zoo-Fahrten wieder aufgekommen. Auch zu
+Pfingsten war ich dort und ließ die Menschen an mir vorüberfluten. Diese
+Physiognomien könnten selbst mich beinahe glauben machen, daß wir vom
+Zukunftsstaat noch grenzenlos weit entfernt sind! -- Alle alten
+Bekannten fanden sich um den Stammtisch ein, -- wie schrecklich
+gleichgültig und langweilig sie mir doch inzwischen geworden sind! Wie
+gern ich auf sie und den ganzen Zoo verzichtete, wenn Sie auch nur einen
+einzigen Nachmittag wieder neben mir säßen!
+
+Sie herzlichst grüßend, verbleibe ich
+
+ Ihr treuergebenster
+ Georg von Glyzcinski.
+
+Allerlei Lektüre, auch der 'Vorwärts', folgt anbei!«
+
+
+ »Kranz, 29. 6. 92
+Verehrter Herr Professor!
+
+Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief, den ich erst heute beantworte,
+weil wir inzwischen von einem sogenannten Vergnügen zum anderen hetzten
+und Ilschen den Rest meiner Zeit mit ihrer Kur in Anspruch nahm. Die
+Gesellschaft, in der ich mich ständig befunden habe und die doch
+eigentlich die meine ist, wird mir bis zur Verständnislosigkeit fremd.
+Ihre Atmosphäre legt sich mir beklemmend aufs Herz, wie die eines
+überfüllten Saales; und wenn ich versuche ein Fenster zu öffnen, so
+schreit alles, aus Angst vor Erkältung.
+
+Nach Ihrem letzten Bericht über die Kommissionsverhandlungen und nach
+dem Empfang des Programms und der Statuten ist das glühende Feuer meiner
+Hoffnung freilich durch einen recht abkühlenden Wasserstrahl getroffen
+worden. Ich finde -- verzeihen Sie mir meine Ehrlichkeit! --, daß beide
+stark nach Phrase schmecken. Der Ausdruck 'Unmaß in der Menschenwelt'
+stört mich besonders. Zu sehr Maß halten, zu ängstlich darauf sehen, es
+mit keinem zu verderben, mag an sich ethisch sein, kann aber zu sehr
+unethischen Konsequenzen führen. Und zu der Stellung von Professor
+Seefried und Helma Kurz kann ich nur sagen: wer nicht für uns ist, der
+ist wider uns.
+
+Nach alledem ist es für mich selbstverständlich, daß ich die Wahl in die
+Kommission annehmen muß. Wenn ich nur nicht auch zu einer Enttäuschung
+für Sie werde! Es muß wohl doch nicht allein ein Ergebnis meiner
+Erziehung, sondern ein Teil meines Wesens sein, daß es mir so
+schrecklich schwer wird, vor Fremden meine innersten Gedanken zu
+entwickeln, -- als ob ich mich vor allem Volk nackt zeigen müßte! Da ich
+aber einsehe, daß die geistige Nacktheit das große Opfer ist, das die
+Menschheit von denen verlangt, die sich in ihre Dienste stellen, so will
+ich versuchen, mich dazu zu erziehen.
+
+Bei den Ausflügen, die wir in die Umgegend gemacht haben, bin ich durch
+das, was ich sah, in meinem Vorsatz bestärkt worden: wie viel Jammer und
+Elend auf dem Hintergrund des blauen Himmelsgewölbes und des unendlichen
+brandenden Meeres! Fast möchte man, wie die Menschen bisher, verzweifelt
+darüber die Hände untätig in den Schoß legen, oder, wie die Anarchisten,
+Vernichtung predigen, weil anders eine Rettung nicht möglich erscheint.
+Je mehr ich offenen Auges um mich sehe, desto mehr entwickelt sich bei
+mir ein Zug zum Fanatismus, und ich muß mir immerfort das Gebot der
+Toleranz und die Pflicht, leidenschaftslos zu urteilen, vorhalten. Von
+dem Augenblick an, daß man sich klar wird, -- es mag vielleicht paradox
+klingen, aber die meisten werden sich wirklich niemals klar darüber! --,
+daß jenes in Schmutz, Hunger und Stumpfheit aufgewachsene Fischerkind
+auch ein Mensch ist, genau wie man selber, kein fremdartiges Geschöpf,
+-- von dem Augenblick an beginnt man überhaupt erst zu sehen. Und wenn
+mir jetzt vorgehalten wird: die Leute empfinden ihr Elend nicht, -- so
+kann ich mich nicht mehr dabei beruhigen. Ich fühle vielmehr, -- und
+fühls mit allen Schmerzen peinigenden Selbstvorwurfs, -- daß gerade
+dies, was ein Trost sein soll, das größte Unglück ist und jeder einzelne
+von uns die Verantwortung dafür trägt.
+
+Das Erwecken der Menschen zu dem Bewußtsein ihres Elends ist sicher der
+erste Schritt zu ihrer Erhebung, und wenn ich jetzt den 'Vorwärts', dank
+Ihrer Güte, regelmäßig lese, so scheint mir das Hauptverdienst der
+Sozialdemokratie darin zu bestehen, daß sie überall die Sturmglocke
+läutet. Womit ich mich aber nicht befreunden kann, -- das ist die
+unterschiedslose Verdammung aller Bestrebungen, die nicht von vornherein
+rot abgestempelt sind. Warum entdeckt der Vorwärts nicht, wie Dr.
+Brandt, die 'Ströme, die in sein Meer fließen'? So ist sein Angriff auf
+die Ethische Bewegung ebenso töricht wie ungerecht. Er müßte uns
+wahrhaftig von Bildungsanstalten Richterscher und Stöckerscher Art
+unterscheiden können! Und warum Haß und hämischen Neid gegen die
+einzelnen Mitglieder anderer Klassen groß ziehen, -- der nichts zur
+Folge hat, als lähmende Bitterkeit --, statt nur den Haß gegen die
+Zustände, der Mut und Kampflust auslöst? Gerade der Sozialismus lehrt
+doch, daß die Menschen Ergebnisse der sozialen und wirtschaftlichen
+Verhältnisse sind; man setzt sich also in Widerspruch zu den eigenen
+Grundprinzipien, wenn man den Haß gegen Personen verbreitet, die doch so
+werden mußten, wie sie wurden.
+
+Damit komme ich noch mit einem Wort auf unseren alten Streitpunkt, die
+Junker betreffend, zurück. Sie erinnern mich daran und werden es
+vielleicht jetzt wieder tun, daß wir beide doch auch Junker wären und
+uns trotzdem, lediglich auf Grund unserer ethischen Einsicht, zum
+Sozialismus bekennen. Nun denn -- lachen Sie mich nur ruhig aus, ich
+höre Sie so gerne lachen! --, ich bestreite Ihre Behauptung! Sind wir
+nicht von Jugend an Abhängige gewesen, -- wir und unsere Eltern, -- von
+unserem Brotgeber, dem Staat? Hätten meine Eltern sich frei bewegen
+können, ohne sich den Kopf an der Mauer einzurennen, die der Staat um
+sie gezogen hat? Können Sie es? Und diese Abhängigkeit -- macht sie
+nicht den Proletarier? Ich aber, die ich ein Weib bin, gehöre von Rechts
+wegen noch tausendmal mehr als Sie zu der großen, dunkeln, darbenden
+Masse der Enterbten!
+
+Mich hat diese Erkenntnis mit neuer Freudigkeit erfüllt und mit neuer
+Hoffnung; gilt doch dann dasselbe für unseresgleichen wie für das arme
+Fischerkind: es bedarf nur der Erweckung, und Tausende neuer Kämpfer
+gesellen sich brüderlich zu denen, die vorangingen! Wie viele gibt es,
+deren ganzes Wesen nach Befreiung und Betätigung verlangt, deren
+geistige Kräfte, ihnen selbst vielleicht oft kaum bewußt, schon im
+Dienst der großen Menschheitssache stehen, -- denken Sie nur an all
+unsere jungen Künstler und Schriftsteller!
+
+Wenn der Kaiser jetzt gegen die moderne Kunst redet, Burgen mit
+Schießscharten baut und Wildenbruch und Lauff zu Hofpoeten macht, so
+spricht das nicht nur für seinen Scharfsinn, der die Revolution wittert,
+wo andere nur die blaue Blume neuer Dichtung sehen, sondern er zeigt
+sich abermals als unser bester Agitator, der nun auch die geistigen
+Arbeiter in die Schranken ruft. Wir sollten jetzt zur Stelle sein und
+das Eisen ihrer Entrüstung schmieden, solange es warm ist.
+
+Vielleicht, daß ich demnächst nach dieser Richtung einen ersten Versuch
+machen kann. Eine alte Freundin von mir, einstiges Mitglied des
+Schweriner Hoftheaters, die mit einem Königsberger Professor verheiratet
+ist, lud mich ein. Zuerst zögerte ich, hinzugehen: sie konnte, solange
+sie Schauspielerin war, das gutbürgerliche Milieu, aus dem sie stammte,
+nicht vergessen; und nun, da sie dorthin zurückkehrte, klebt ihrem Wesen
+die Erinnerung an die Bühne an. Aber die Aussicht, Sindermann, einen
+jungen Schriftsteller, bei ihr kennen zu lernen, war entscheidend, und
+ich warte nur noch auf die Bestimmung des Tages, um hinzufahren. Ein
+Mann, der durch seine Werke der bürgerlichen Welt das Verdammungsurteil
+ins Gesicht schleudern konnte, gehört von vornherein zu uns und müßte
+der Bannerträger des Emanzipationskampfs der geistigen Arbeiter werden.
+
+Verzeihen Sie den langen Brief. Ich habe hier niemanden, mit dem ich
+mich auszusprechen vermöchte, und Sie haben mich so sehr verwöhnt!
+
+Meine Eltern sind seit gestern hier; vergebens bat ich sie, nach Berlin
+zurückkehren zu dürfen. Allein in unserer Wohnung zu sein, halten sie
+für unpassend, und zu Egidys zu gehen, die mich in freundlichster Weise
+einluden, ist ihnen auch bedenklich! Bin ich notwendig, so komme ich
+ohne ihre Erlaubnis.
+
+ Mit herzlichsten Grüßen
+ Ihre dankbar ergebene
+ Alix von Kleve.«
+
+
+ »Berlin, den 1. Juli 1892
+Mein liebes gnädiges Fräulein!
+
+Wundern Sie sich nicht über meine rasche Antwort: jeden Tag häuft sich
+so viel an, was ich Ihnen sagen möchte, und Ihr Brief weckt überdies
+solch eine Menge Empfindungen und Gedanken, daß ich nicht anders kann,
+als schreiben, sobald ich Ihre Schrift vor mir sehe. Entschuldigen Sie
+nur meine häßlichen zitternden Krakelfüße, -- ich bin nicht ganz auf dem
+Posten und muß ausgestreckt liegen.
+
+Für die Annahme Ihrer Wahl danke ich Ihnen ganz persönlich: Sie werden
+unserer Sache von größtem Nutzen sein und -- was mich besonders
+befriedigt! -- das weibliche Geschlecht allein zu vertreten haben. Helma
+Kurz und Frau Schaper haben -- infolge 'starker Arbeitslast'! -- ihre
+Ämter niedergelegt. Ich habe nun die Wahl von zwei Sozialdemokraten
+vorgeschlagen, so daß wir uns möglicherweise sehr verbessern werden. Sie
+werden dann auch Gelegenheit haben, sich mit diesen über Ihre
+Erweiterung des Begriffs Proletarier auseinandersetzen, der, wie ich
+glaube, durchaus im Rahmen marxistischer Entwicklungslehre liegt: der
+Arbeiter, der 'mit dem Hirne pflügt' wird als Gleichberechtigter und
+Gleichentrechteter neben den Handarbeiter gestellt.
+
+Mit Ihrer Kritik des Vorwärts freilich würden Sie sich weniger in
+Übereinstimmung mit den 'Genossen' befinden, -- auch mit Ihrem getreuen
+'Genossen' Glyzcinski nicht! Ich kann seine Haltung uns gegenüber nicht
+verurteilen: ohne Zweifel werden in der Ethischen Gesellschaft alsbald
+viele sein, welche von dessen Urteil getroffen werden und nichts als
+'Harmonieduselei' treiben wollen. Wer aber bürgt dafür, daß sie nicht
+schließlich herrschen und 'gefährliche' Elemente hinausdrängen?!
+
+Suchen Sie Sindermann für uns zu gewinnen. Mein Vetter Paul, den Sie
+einmal bei mir sahen, und der dem Friedrichshagener Kreis angehört, hält
+zwar nichts von ihm und meint, Eitelkeit und Ehrgeiz würden ihn eher
+immer weiter von uns entfernen, als ihn uns näher bringen. Er rühmte mir
+dagegen den jungen Dichter des Dramas 'Vor Sonnenaufgang', den er für
+den 'Kommenden' hält; aber bei der Manier dieser Art junger Leute, aus
+jedem bunten Kälbchen einen Götzen zu machen, vor dem sie anbetend auf
+dem Bauche liegen, bin ich vorläufig noch sehr skeptisch.
+
+Unsere Kommissionssitzungen sind einstweilen eingestellt worden. Alles
+denkt ans Reisen, und es wird im Zoo immer stiller. Wie schön und
+ungestört ließe sichs jetzt dort plaudern! Nicht wahr, Sie gönnen mir
+die Vorfreude und teilen mir zeitlich mit, wann ich Sie erwarten darf?
+
+Mit herzlichsten Grüßen
+
+ Ihr treuergebener
+ Georg von Glyzcinski.«
+
+Ich vermochte den Brief kaum zu Ende zu lesen, nichts als leere Worte
+tanzten mir vor den Augen; denn nur ein Satz hatte sich mir schreckhaft
+eingeprägt: »ich bin nicht auf dem Posten -- muß ausgestreckt liegen.«
+Und ich sah ihn deutlich vor mir, den kranken Mann mit dem Apostelkopf
+und dem wesenlosen Körper, wie er allein, von einem ungeschickten Diener
+kaum bedient, geschweige denn gepflegt, in seinem stillen Zimmer lag,
+die weißen schmalen Hände auf der schwarzen Pelzdecke, die Kinderaugen
+sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und
+ich wußte auf einmal, wohin ich gehörte.
+
+Mechanisch faltete ich einen zweiten Brief auseinander: von Lisbeth; --
+noch heute sollte ich zu ihr kommen, Sindermann habe sich zum Abend
+angesagt, schrieb sie. Ich ging in mein Zimmer, raffte das Notwendigste
+eilig zusammen und hinterließ meiner Mutter, die mit allen anderen auf
+ein Nachbargut gefahren war, zwei Zeilen: »Frau Professor Landmann lädt
+mich soeben ein, noch heute nach Königsberg zu kommen. Da ich Eurer
+Erlaubnis sicher zu sein glaube, fahre ich mit dem nächsten Zug.«
+
+Unterwegs erst wurde ich Herr einer Erregung, die mich den fernen Freund
+schon mit geschlossenen Augen und erblaßten Lippen auf dem Totenbette
+sehen ließ. Ich hatte beschlossen, den Nachtzug nach Berlin zu
+benutzen, -- aber konnte -- durfte ich den Kranken durch meine
+überraschende Ankunft erschrecken? Sah das nicht doch vielleicht nach
+einem unwürdigen Sichaufdrängen aus? Ich errötete unwillkürlich. Auf dem
+Bahnhof bat ich ihn telegraphisch um Nachricht über sein Befinden und
+kündigte meine Rückkehr an. Dann erst fuhr ich hinauf in die stille
+Tragheimer Kirchenstraße mit ihrem ausgefahrenen Pflaster und ihren
+altersgrauen Häusern. Welch eine strenge, ernste Stadt ist doch dies
+Königsberg, dachte ich; eine Stadt, die in jedem Winkel an den Ernst des
+Lebens erinnert und ihre Bürger zwingt, still in sich selbst Einkehr zu
+halten. Wäre ich hier aufgewachsen, vielleicht hätte meine Sehnsucht nie
+über ihre Wälle und Gräben hinaus verlangt!
+
+Im phantastischen Kostüm einer Zarewna, Augen und Wangen glühend vor
+Eifer, empfing mich Lisbeth. So -- gerade so hatte ich sie einmal in
+Schwerin auf der Bühne gesehen. Was sie spielte, vergaß ich oder wußte
+es nie. »Wie schön sie ist!« hatte ich damals bewundernd geflüstert »Du
+-- du bist viel tausendmal schöner --« war mir aus dem Dunkel der Loge
+heiß ins Ohr geklungen ...
+
+Ein Wortschwall zärtlicher Begrüßung entriß mich dem Taumel der
+Erinnerung. Still -- ein bißchen verlegen, die Augen in offenbarer
+Bewunderung auf seine Frau gerichtet, stand ihr Mann daneben, der
+typische deutsche Professor, mit kurzsichtig zwinkernden Äuglein und
+linkischen Bewegungen. Ich wurde hineingezogen. In eine Laube von
+blühenden Sommerblumen war das Wohnzimmer verwandelt, grüne Girlanden
+hingen von der Decke herab, bunte Lampions schaukelten dazwischen. Und
+plötzlich trat hinter dem Epheugerank am Fenster ein weißes,
+goldhaariges Geschöpfchen lächelnd auf mich zu. Lisbeths sprudelndes
+Plaudern brach ab, ihr erhitztes Gesicht nahm einen Ausdruck
+still-seliger Verklärung an; -- »mein Kind!« sagte sie leise und legte
+die Hand auf das schimmernde Haar des Kleinen. Mir stiegen Tränen,
+brennendheiße, in die Augen: Ihr Kind! -- Wie reich mußte sie sein!
+
+Wir brachten ihn gemeinsam zu Bett, den herzigen Buben; seine rosigen
+Füßchen, seine runden Ärmchen, die Grübchen in den Händen und in den
+Knieen mußte ich bewundern. Dann trat ich still beiseite: Mutter und
+Kind, die einander Gute Nacht sagen, sind wie inbrünstig-fromme Beter,
+die selbst der Ungläubigste nicht zu stören wagt. In diesem Augenblick
+lag es um mich wie ungeheure Einsamkeit.
+
+Noch war ich zerstreut und bedrückt, als Sindermann kam.
+
+Wir ertragen angesichts eines tiefen inneren Erlebens nur die
+Allernächsten, und seine Erscheinung wirkte völlig fremd. Ein »bel
+homme« -- es gibt keinen deutschen Ausdruck, der denselben Sinn hätte --
+mit liebevoll gepflegtem schwarzem Vollbart, erzwungen aristokratischen
+Allüren, großen breiten Händen und runden fleischigen Fingern daran.
+
+Es herrschte jene spezifisch norddeutsche Stimmung reservierter
+Verschlossenheit, die zu der phantastischen Umgebung und dem
+romantischen Kostüm der Hausfrau in demselben peinlich-komischen
+Gegensatz stand wie die Nüchternheit aller Ostelbier zum
+Karnevalstrubel. Nur einem Gegner pflegt sie allmählich zu weichen: dem
+Wein. Als in Lisbeths von dem gedämpften Kerzenlicht bunter Lampions
+erhellten künstlichen Garten die Erdbeerbowle auf dem Tische stand und
+die Ketten und die Rheinkiesel auf Kopf und Hals und Armen der falschen
+Zarewna leuchteten und glänzten wie Perlen und Brillanten, verschwand
+nach und nach jener erste Eindruck der Fremdheit.
+
+Wir sprachen von allem, was die Zeit bewegte: von der Kunst der Moderne,
+von der Frauenfrage, von der Sozialdemokratie. »Ich bin Sozialist,«
+sagte Sindermann, »weil ein denkender Mensch heute nichts andres sein
+kann, --« schon klopfte mir das Herz höher vor Freude -- »aber ich
+glaube nicht, daß die Ideen des Sozialismus sich in absehbarer Zeit
+erfüllen werden.« Und nun entwickelte ich die Prinzipien und die
+Zukunftshoffnungen der Ethischen Bewegung und führte all meine Gründe
+ins Feuer, um ihn zu einem der unseren zu machen. Er lächelte; in dem
+rötlichen Dämmer des Raums vermochte ich nicht zu unterscheiden, ob es
+das Lächeln des Spötters oder das tragisch-resignierte des Pessimisten
+war. »Wir Deutschen sind vorläufig unfähig, uns zu würdigeren inneren
+und äußeren Zuständen aufzuschwingen,« meinte er dann, »und so sehr ich
+alle Ihre Ideen anerkenne, so wenig glaube ich, daß Sie unter den
+Künstlern Proselyten machen werden. Nicht viele fassen ihre Aufgabe auf
+wie ich --« er schwieg und betrachtete nachdenklich seine Fingerspitzen.
+Dann warf er einen kurzen, erwartungsvollen Blick auf mich.
+
+»Und Ihre Auffassung wäre?!« frug ich gespannt.
+
+»Der Dichter muß das Leben wiedergeben, wie es sich ihm darstellt; das
+vermag er nur dann, wenn sein Herz weit genug ist, um das ganze Leid
+der Gegenwart mit zu fühlen. Während die Dichter der Vergangenheit
+Tugend und Laster auf die Bühne brachten und den Zuschauer dadurch
+befriedigten, daß eine vergeltende Gerechtigkeit den Schluß
+herbeiführte, zeichnet der moderne Dichter das wahre Bild des Lebens und
+ruft den Zuschauern zu: so ist es, geht hin und helft! Ich will mein
+Publikum nicht amüsieren, ich will ihm nicht die Zeit tot schlagen
+helfen, ich will es aufrütteln, will es zur Erkenntnis von Wahrheiten
+führen, denen es im Leben aus dem Wege geht. Heißt das nicht auch
+ethisch handeln?«
+
+Ich war entzückt. So hatte ich mir das Wirken des Künstlers vorgestellt!
+Er wurde wärmer und lebhafter.
+
+»Glauben Sie mir,« sagte er mit einer großen Geste, »wenn ich könnte,
+würde ich nur vor Arbeitern meine Stücke aufführen lassen, -- die
+verstehen, die würdigen mich!« Und dann erzählte er von der berliner
+Gesellschaft der Kunstkenner, Ästheten und Mäcene, die wahl- und
+kritiklos jeder neu auftauchenden Größe nachliefen. »Bewundert haben
+mich alle als den berühmten Mann,« und wieder zeigte sich jenes
+unbestimmte tragisch-resignierte Lächeln, -- ich erinnerte mich flüchtig
+eines Schauspielers, dem meine Altersgenossinnen in Posen um solch eines
+Lächelns willen zu Füßen lagen -- »aber die meisten wußten nicht, ob
+dieses notwendige Salonrequisit ein Bildhauer oder sonst was wäre.«
+
+Es mochte Mitternacht geworden sein, als auf sein neuestes Werk die Rede
+kam, das im nächsten Winter das Licht der Rampen erblicken sollte. Ich
+horchte um so gespannter auf, je mehr ich von seinem Inhalt erfuhr. Ein
+Weib sollte die Heldin sein, deren Künstlernatur sie aus dem engen
+Zuhause einer Offiziersfamilie hinaustrieb in die Welt.
+
+Und meine Phantasie arbeitete noch rascher, als der Dichter zu erzählen
+vermochte: Ich selbst war dies Weib, das sich endlich losriß, um die
+Heimat seines Wesens zu finden, -- war nicht am Ende auch der alte
+Oberst, der in der Verzweiflung zur Pistole griff, -- mein Vater?! Die
+Heimat, -- das ist das Schicksal, es vernichtet uns, wenn wir die
+Schwächeren sind, und es ist wie die antike Tragödie, die immer Tote auf
+der Wahlstatt läßt.
+
+Ich war ganz still geworden, versunken in die Gedanken, die des Gastes
+Werk in mir ausgelöst hatte.
+
+Draußen dämmerte der Tag. Die Blumen im Zimmer hingen erschlafft die
+Köpfchen; ein feiner Zigarettenrauch zog seine Kreise um die
+verglimmenden Kerzen. Und plötzlich übermannte uns bleierne Müdigkeit.
+Sindermann erhob sich. Verwirrt sah ich auf: da war er ja wieder, vom
+ersten Frühlicht beleuchtet, der »bel homme«, der Mann mit dem liebevoll
+gepflegten Bart, den großen Händen und den runden fleischigen Fingern
+daran. Seltsam, wie fremd, wie störend er wirkte. War er es wirklich
+gewesen, der mir eben mein Schicksal gedeutet hatte?
+
+Zwei Stunden schlief ich den unruhigen Schlaf der Erschöpfung. Das
+rasche Klingeln des Telegraphenboten weckte mich: »Befinden wechselnd.
+Freue mich unbeschreiblich auf Ihre Rückkehr. Glyzcinski.« Ich hatte
+noch gerade Zeit, die Eltern schriftlich meines raschen Entschlusses
+wegen um Entschuldigung zu bitten. »Der Professor ist krank; Ihr wißt,
+sein Leben hängt nur an einem Faden; ich würde es mir nie verzeihen,
+wenn er einsam und ohne Pflege leiden und sterben müßte,« schrieb ich.
+
+Am Abend war ich bei ihm. Er saß vor dem Schreibtisch am Fenster wie
+immer, und schon wollt' ich freudig überrascht auf ihn zueilen, als
+seine Augen mir entgegensahen: flackernde Fieberlichter brannten darin;
+auf seinen schmalen Wangen glühten rote Flecken, und die Hand bebte, die
+er mir bot. »Sie haben sich meinetwegen aus dem Bett gewagt!« rief ich
+erschrocken.
+
+»Darf ich denn dies glückliche Ereignis nicht auf meine Art feiern?!« --
+sein ganzes Antlitz strahlte -- »es geht mir ja besser, viel besser --
+und ich glaubte schon« -- seine Stimme senkte sich -- »ich glaubte, ich
+würde Sie niemals wiedersehen!«
+
+Minutenlang blieb es still zwischen uns. Er lehnte den Kopf zurück, mit
+halb geschlossenen Augen, ich sah nichts als sein Gesicht, das ein
+Ausdruck seligen Friedens verklärte. Und dann hatten wir einander so
+viel zu sagen, daß selbst die schlagende Uhr uns an die vorrückende
+Stunde nicht zu erinnern vermochte.
+
+Der Diener trat ein. »Es ist zehn Uhr, Herr Professor,« sagte er und sah
+mich halb verwundert, halb mißbilligend an. Erschrocken sprang ich auf.
+»Wie komm' ich nun ins Haus -- und wie in die Wohnung!« Ich hatte
+vergessen, mich dem Mädchen anzukündigen.
+
+»So bleiben Sie eben hier,« entschied Glyzcinski, »nebenan auf dem Sofa
+hat mein Bruder oft geschlafen, -- Friedrich braucht Ihnen nur die
+Betten aus dem Schrank zu geben.«
+
+War das eine stille Nacht! Nur aus der Ferne drang das Geräusch der
+Großstadt durch die offenen Fenster. Wie geborgen kam ich mir vor! Am
+nächsten Morgen beeilte ich mich, auf dem grünumbuschten Balkon den
+Frühstückstisch zu decken und achtete wenig auf das mürrische Gebahren
+des Dieners. Erst als er seinen Herrn im Rollstuhl hinausfuhr, traf mich
+aus zwinkerndem Augenwinkel ein hämisch-vielsagender Blick, vor dem mir
+fast der Morgengruß im Munde erstickte. Gott Lob -- Glyzcinski bemerkte
+nichts. Seine Augen hatten den alten, klaren Schein, seine Wangen die
+gleichmäßige Färbung.
+
+»So gut habe ich es in meinem Leben nicht gehabt!« sagte er und behielt
+meine Hand in der seinen.
+
+Zu Hause fand ich ein Telegramm von der Mutter: »Papa über deine Abreise
+äußerst empört, verlangt sofortige Rückkehr oder Übersiedlung zu
+Egidys.« Noch am gleichen Tage zog ich auf Glyzcinskis Rat in die
+Spenerstraße. Egidy selbst war verreist, und so konnte ich, ohne zu
+verletzen, den Tag über abwesend sein. Fast immer war ich bei
+Glyzcinski. Wenn er es auch niemals zuließ, daß ich ihn pflegte, so
+konnte ich doch überwachen, ob die Vorschriften des Arztes befolgt, die
+verschiedenen Umschläge und Kompressen zur rechten Zeit gewechselt
+wurden. Meiner alten Kochkünste erinnerte ich mich wieder und freute
+mich wie ein Kind, wenn ich zusah, mit welch wachsendem Behagen der
+liebe Kranke meine Suppen aß. Einmal gelang es mir, den Arzt allein zu
+sprechen: »Nur der Geist hält diesen Körper aufrecht,« sagte er ernst.
+»Leidet er?« frug ich und lehnte mich, um meine Angst zu verbergen, tief
+in den dunkelsten Schatten der Treppe.
+
+»Ein gewöhnlicher Mensch würde dies Dasein kaum ertragen, aber er, --
+wir Gesunden könnten ihn fast um das Glücksgefühl beneiden, das ihm
+unveränderlich aus den Augen strahlt.«
+
+»Wird er genesen und -- leben?« brachte ich mühsam hervor.
+
+Mit einem prüfenden, langen Blick sah mir der Arzt ins Auge und reichte
+mir die Hand zum Abschied:
+
+»Genesen, -- niemals! Leben?! Glück und Liebe sind Elixire, die schon
+Sterbende ins Dasein zurückriefen. Verordnen können wir sie leider
+nicht!«
+
+Glyzcinski wurde von Tag zu Tag frischer und froher. Morgens, wenn ich
+kam, begrüßte er mich, als wäre ich Jahre fort gewesen, und des Abends,
+wenn ich ging, zuckten seine Lippen, wie die kleiner Kinder, die weinen
+wollen. Unsere Tage verliefen in ruhigem Gleichmaß. Der Philosophie war
+der Vormittag gewidmet -- »in einem Jahr müssen Sie Ihr Doktorexamen
+machen können,« hatte Glyzcinski mir versichert, und es war ein
+förmlicher systematischer Unterricht, den er mir erteilte. Er wollte
+dabei niemals zugeben, was ich immer deutlicher empfand: daß mir für
+große Gebiete des Wissens die sprachlichen und -- noch mehr -- die
+mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse fehlten. Oft
+wünschte ich, mich noch auf irgendeine gymnasiale Schulbank setzen zu
+können, aber dann lachte er mich aus: »Sie kennen das Leben, -- das ist
+mehr wert, als aller Wissenskram; und Sie sollen handeln, -- das ist
+besser, als mathematische Aufgaben lösen und den Plato im Urtext
+verstehen können.«
+
+Während der Nachmittagstunden beschäftigten wir uns mit der
+Tagespolitik und der modernen Literatur. Die Militärvorlage warf damals
+ihre Schatten voraus; die sozialdemokratische Presse entfaltete eine
+lebhafte Agitation dagegen und kritisierte auf das schärfste das
+Verhalten der Regierung, die, statt alte feierliche Versprechungen auf
+dem Gebiet der Sozialpolitik einzulösen, die Lebenshaltung des Volkes
+nur durch neue, ungeheure Lasten herabdrücke. Ich lernte durch dürre
+Zahlen belegte Tatsachen über Löhne, Lebensmittelpreise, Arbeits- und
+Existenzbedingungen kennen, durch die die graue Nebelwelt des Elends,
+wie ich sie hie und da vor mir hatte aufsteigen sehen, eine immer
+deutlichere, fest umrissenere Gestalt annahm. Meine philosophischen
+Interessen traten mehr und mehr zurück: hier war ein Gebiet, das empfand
+ich instinktiv, das zu erschöpfen die ganze Kraft erforderte. Und die
+Zeit, die mich trug, kam mir auch darin entgegen: von allen Seiten
+strömten mir in Form von Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln
+Aufklärungen aller Art zu. Wir vertieften uns mit brennendem Eifer in
+den ersten Band von Marx Kapital und in die Schriften von Friedrich
+Engels, wir lasen Paul Göhres »Drei Monate Fabrikarbeiter,« dessen
+ungewollte agitatorische Kraft uns mit sich fortriß; und als Dr. Brandt
+dem Professor eines Tages die Probenummer einer von ihm ins Leben
+gerufenen Zeitschrift zuschickte, die ausschließlich Fragen der
+Sozialpolitik behandeln sollte, las ich sie mit brennendem Eifer und sah
+von da an jeder Nummer mit einer Spannung entgegen, wie der Backfisch
+einer Romanfortsetzung. Auch Egidy, der inzwischen heimgekehrt war,
+erblickte nicht mehr in der Überwindung der Dogmen den Ausgangspunkt
+allen Heils, sondern im Kampf gegen Not und Unterdrückung.
+
+»Es ist eine Lust, zu leben, wo alles sich rührt, und alles wächst, --
+dem gleichen Himmel zu, ob auch die Wurzeln im verschiedensten Erdboden
+stehen,« pflegte Glyzcinski zu sagen. Und wenn ich ungeduldig seufzte:
+»Könnten wir nur den Anfang der künftigen Ordnung der Dinge noch
+erleben,« so antwortete er: »Aber wir sind ja schon mitten darin!«
+
+Tatsächlich schien diese eine Bewegung mit einer ungeheuern magnetischen
+Kraft alles an sich zu ziehen. Die Wissenschaft trat in ihre Dienste,
+die Kunst schmiedete Waffen für sie. Was waren Hauptmanns »Weber«
+andres, als ihr dröhnender Schlachtgesang?! Jener Fanatismus, der nichts
+sieht als sein Ziel, der ihm entgegenstürmt mit blutenden Füßen und
+keuchendem Atem, die stillen Stege nicht kennt, die abseits von seinem
+Wege auf duftende Blumenwiesen, in dämmernde Wälder und hoch auf die
+Berge der weiten Ausblicke führen, den kein Ausruhen lockt im Schatten
+der Dorflinde und der Kirchenpforten, -- derselbe Fanatismus, der die
+ersten Christen zwang, die weißen Marmorleiber heidnischer Götter in die
+pontinischen Sümpfe zu werfen, hatte von mir Besitz ergriffen.
+
+Und meine Seele schloß leise, daß keiner es merkte, die Pforte der
+Kammer zu, hinter der lebte, was zu tiefst mein Eigen war.
+
+Fast wie eine Störung empfand ichs, als Sindermann mich zur Vorlesung
+seines nunmehr vollendeten Dramas einlud. Aber war er nicht auch einer,
+der mit uns kämpfte?
+
+Wir fuhren miteinander hinaus nach Chorin, einem jener stillen
+melancholischen Waldwinkel der Mark, wo schwarze Kiefern sich in kleinen
+tiefen Seeen spiegeln und in zerbröckelnde Klosterruinen der mattblaue
+Himmel hineinscheint. Freunde des Dichters erwarteten ihn hier, und ein
+fremder »Kollege«, wie er sich mit einem seltsam feinen Lächeln nannte,
+war dabei: Detlev von Liliencron.
+
+Niemand ist in seiner Wahrhaftigkeit so unbarmherzig wie die Natur. Sie
+scheidet grausam Echtes vom Unechten, ihr Licht, das durch keine
+Schleier und keine Papierlaternen gedämpft wird, beleuchtet grell, was
+am Menschen ihr entspricht, und was ihn von ihr trennt. Frauen mit
+kunstvollen Lockengebänden auf zarten Köpfchen, in modischen Kleidern
+und zierlichen Hackenschuhen, die in der Stadt schön sind und im Salon
+blenden, wirken, wo die Natur herrscht, plötzlich halb lächerlich, halb
+gespensterhaft. Und moderne Männer mit lüstern-blasiertem Lächeln und
+der »interessanten« Blässe endloser Kaffeehausnächte auf den Zügen,
+richtet sie ohne Nachsicht, als das, was sie sind. Werfen sich diese
+Damen und Herren in dem instinktiven, unbehaglichen Gefühl, zu sein, wo
+sie nicht hingehören, aber gar in Dirndlkostüme und Lodenjoppen und
+setzen naiv grüne Hütchen auf ihre gebrannten Haare und müden Glatzen,
+so tritt ihre gräßliche Disharmonie zur Natur in tragischer Deutlichkeit
+hervor, und von den geistreichen Helden und Heldinnen großstädtischen
+Lebens bleibt nichts übrig als die armselige Maske kleiner
+Vorstadtkomödianten.
+
+Aber auch große Menschen vermögen der Natur nicht immer Stand zu
+halten. Wer zu sehen gelernt hat, dem enthüllen sie ihre Blößen, daß es
+einem beinahe wehe tut.
+
+Wir gingen vom Bahnhof durch den Wald bis zu dem kleinen Wirtshaus am
+See. Warum hatte nur unser Dichter solch glänzend-schwarzen Bart und so
+geistreiche Augen -- so fleischige Finger und eine so starke Männerhand?
+Auch hier war eine Disharmonie, die schmerzte. Wie ein Stück dieser
+märkischen Natur selbst schritt dagegen der andere, mir noch völlig
+fremde, neben uns, ein Mann aus einem Guß, bei dem alles zueinander
+paßte.
+
+Ein Gewitter stand drohend am Himmel, als Sindermann zu lesen begann,
+und Blitz und Donner begleiteten die sich entwickelnde Katastrophe.
+Rasch war ich wieder im Bann des Werkes. Das war ja alles mein eigenes
+Erleben: wie dieser Maria die Heimat zur Fremde wurde, in der die
+Menschen eine unverständliche Sprache sprechen, wie sie sich selbst
+retten muß vor den Schlingen, die die Heimat wieder nach ihrer Freiheit
+auswirft. Und ich war es selbst, die sprach: »Es muß klar werden
+zwischen der Heimat und mir!«
+
+Der Beifall in dem kleinen Kreis der Zuhörer war groß. Daß man jede
+Szene stundenlang unter dem Gesichtspunkt der Bühnenwirksamkeit
+besprach, verletzte mich freilich. Erst auf dem Rückweg zur Bahn fing
+man an, die Tendenz des Stückes zu erörtern.
+
+»Daß das individualistische Prinzip darin zu so starkem Ausdruck kommt,
+befriedigt mich ganz besonders,« sagte einer.
+
+»Diese Maria ist die Personifizierung der Idee Nietzsches!« fügte
+enthusiastisch ein anderer hinzu, »sie hat die Umwertung aller Werte für
+sich vollzogen, sie steht jenseits von gut und böse, sie ist der
+Übermensch, obwohl sie ein Weib ist!«
+
+Der Übermensch, -- diese Maria, die sich von einem Elenden hatte
+verführen lassen?! dachte ich. Und die Umwertung aller Werte sollte sie
+vollzogen haben, weil sie die Heimat überwand?! Wäre es möglich, daß ich
+meinen Nietzsche so gar nicht verstanden hatte? -- Die Unterhaltung
+wurde lebhafter. Man sprach über die Notwendigkeit, den Sozialismus
+durch den Individualismus zu überwinden, die Sklavenmoral durch die
+Herrenmoral.
+
+»Wir Künstler haben inmitten der gefährlichen Nivellierungsbestrebungen
+unserer Zeit die Aufgabe, das Recht der Adelsmenschen zu vertreten,«
+rief ein kleiner Mann mit einem Spitzbauch, während ihm die hellen
+Schweißtropfen über das runde Gesicht liefen.
+
+»Und worin besteht dieses Recht?« frug ich neugierig, das Lachen mühsam
+verbeißend.
+
+Verblüfft sah er mich an. »In dem Recht, sich zu behaupten, seine
+Persönlichkeit auszuleben,« sagte er schließlich und hieb sich mit der
+flachen Hand auf den breiten Sportgürtel, daß die dicke Goldkette
+klirrte, die weithin leuchtend darüber hing.
+
+»Sofern man eine hat,« meinte Liliencron lakonisch, der bisher fast
+immer geschwiegen hatte.
+
+»Gewiß -- gewiß,« echote der erhitzte Individualist, sichtlich froh, daß
+der einfahrende Zug ihn einer weiteren Erörterung überhob.
+
+Am nächsten Tag fiel mein philosophischer Unterricht aus: wir stritten
+uns über Nietzsche, und zum erstenmal seit unserer Bekanntschaft
+verteidigte Glyzcinski seine Ansichten mit offenbarer Heftigkeit. »Wie
+im Anarchismus die große Gefahr für die Verbreitung des Sozialismus in
+der Arbeiterklasse zu suchen ist,« sagte er, »so kann die Ausbreitung
+der Ideen Nietzsches die Wirksamkeit der Ethischen Bewegung in den
+oberen Klassen völlig untergraben. Die Ausbildung der Persönlichkeit als
+Selbstzweck steht zu unserem Ziel -- dem größten Glück der größten
+Mehrheit -- in direktem Gegensatz.«
+
+»Verzeihen Sie mir, wenn ich das bestreite,« antwortete ich schüchtern,
+aber doch im Augenblick meiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher. »Mir
+scheint nämlich, als ob gerade sie unser Ziel wäre. Höchstes Glück der
+Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit, -- so ähnlich heißt es schon bei
+Goethe. Und der Sozialismus soll eben die Möglichkeit für alle schaffen,
+ein Glück sich zu erringen, das heute nur wenige genießen können.«
+
+»Wenn der arme Nietzsche geistig nicht tot wäre,« lachte Glyzcinski, »so
+würde ihn diese Ihre Auslegung daran mahnen, zum Weibe nicht ohne
+Peitsche zu kommen! -- Sehen Sie doch um sich: sind seine lautesten
+Anhänger nicht unsere ärgsten Feinde?«
+
+»Weil sie es sind, die ihn mißverstehen, nicht ich! Sich ausleben,
+bedeutet doch nichts anderes, als alle Fesseln zerreißen und
+zersprengen, die uns hindern können, die Glieder im Dienst der
+Menschheit zu regen!«
+
+»Das, mein liebes Schwesterchen, ist aber kein Originalgedanke
+Nietzsches, sondern eine Forderung, die schon Fichte und Kant und viele
+andere mehr ausgesprochen haben,« antwortete der Professor. »Ich
+fürchtete schon, wir beide könnten uneins werden, und nun sehe ich, daß
+selbst Ihre Verteidigung Nietzsches nur ein neuer Beweis unserer
+Einigkeit ist.«
+
+Ein unbestimmter Widerspruch, über dessen Inhalt ich mir nicht klar zu
+werden vermochte, regte sich zwar noch in mir, aber ich war viel zu
+glücklich über die Brücke des Verständnisses, die wir betreten hatten,
+als daß ich weiter darüber hätte nachdenken mögen.
+
+ * * * * *
+
+Die Eltern kehrten zurück. Die Stimmung des Vaters mir gegenüber
+wechselte täglich: er konnte zärtlich sein und voller Interesse für
+mich, meine Studien, meinen Verkehr; und in der nächsten Stunde schon
+wandelte sich seine Liebe in rauhen Zorn, seine Teilnahme in ungerechte
+Verdammungsurteile, wenn irgendein politisches Ereignis, eine
+sozialdemokratische Demonstration, eine Darstellung der Ethischen
+Bewegung in der konservativen Presse, den Aristokraten, den General, den
+Monarchisten in ihm über den Vater siegen ließen. Die Mutter dagegen
+blieb fast immer kühl, zurückhaltend, beobachtend. Klein-Ilschen ging
+mir scheu aus dem Wege. Und als ich sie nach der Ursache frug, gestand
+sie, daß der Konfirmandenunterricht ihr eine nähere Beziehung zu mir
+unmöglich mache.
+
+Bisher hatte ich es stumm ertragen, die Rolle der ungern Geduldeten zu
+spielen, -- an dem Tage aber, wo dies blonde Kind sich von mir wandte,
+weinte ich.
+
+Die konstituierende Versammlung der Ethischen Gesellschaft stand vor
+der Tür. Aus allen Teilen Deutschlands strömten uns Begrüßungsschreiben,
+Beitrittserklärungen, Zustimmungskundgebungen zu, -- es schien wirklich,
+als hätten sich viele im stillen nach einer geistigen Vereinigung auf
+dieser Basis gesehnt. Selten nur traf ich Glyzcinski nachmittags allein:
+Gelehrte und Ungelehrte, Leute mit berühmten Namen und mit Würden
+beladen erschienen neben armen Handwerkern, und Frauen aus allen Kreisen
+fanden sich ein. Es war ein anderes Publikum, als das bei Egidy gewesen
+war: entschiedener in seiner antireligiösen Gesinnung, von sozialem
+Pflichtbewußtsein stärker durchdrungen. Und die nahende Vollendung
+des lange vorbereiteten Werks gestaltete auch die letzten
+Kommissionssitzungen harmonischer. Wir waren alle voll Zuversicht und
+voll guten Willens, uns auf dem Boden »allgemein menschlicher Ethik«
+zusammenzufinden.
+
+Von jener Begeisterung getragen, die die Geburtsstunde jeder neuen
+humanitären Schöpfung begleitet und die Teilnehmer glauben läßt, der
+Beginn sei schon die Vollendung, verliefen die offiziellen Gründungstage
+unserer Gesellschaft. Es tat förmlich weh, zu der Nüchternheit der
+Alltagsaufgaben zurückzukehren, und die meisten Menschen, die uns eben
+noch zugejubelt hatten, ergriffen vor ihnen die Flucht. Mir, die ich von
+der Welterlösung geträumt hatte, wurde es besonders schwer, an all den
+internen Beratungen und Zusammenkünften teil zu nehmen, wo über Fragen,
+wie die der Versammlungslokale, der Einkassierung der Beiträge, und
+dergleichen mehr oft stundenlang verhandelt wurde. Ich ging regelmäßig
+hin, um Glyzcinski darüber zu berichten, der nur ausnahmsweise an den
+Sitzungen teilnehmen konnte, und daher auch oft den Grad meiner
+Ernüchterung nicht verstand. In Rücksicht auf ihn, dessen Freundschaft
+mit mir kein Geheimnis war, mehr als in Anerkennung meiner sehr geringen
+Verdienste um die Gesellschaft, wurde mir, statt seiner -- der jede Wahl
+von vornherein abgelehnt hatte -- der Schriftführerposten im
+Hauptvorstand angeboten. Ich zögerte keinen Augenblick, ihn anzunehmen,
+da ich mir wohl bewußt war, gerade durch ihn den größten Einfluß
+gewinnen zu können. Zu Hause erzählte ich nicht ohne Stolz von der mir
+widerfahrenen Ehre. Der Vater kam gerade aus seinem Klub, und ich hatte
+in meiner Freude auf seine Mienen nicht geachtet und Mamas heimliche
+Zeichen nicht bemerkt.
+
+»Wie --«, fuhr er los, »ein Mensch, der meinen ehrlichen Namen trägt,
+offizieller Vertreter dieser Gesellschaft internationaler Schwindler?!«
+Ich wollte ihn unterbrechen, aber er ließ mich nicht zu Worte kommen.
+»Habt ihr vielleicht nicht soeben, wie ich natürlich von Fremden
+erfahren mußte, für die wahnwitzige Utopie ewigen Friedens demonstriert,
+was nichts anderes bedeutet, als diesen Schuften, den Sozialdemokraten,
+Wasser auf ihre Mühle treiben!« Seine Stimme schwoll an, als stünde er
+auf dem Kasernenhof, »und die Religion wollt ihr schon den Kindern durch
+euren sogenannten Moralunterricht austreiben. Eine nette Moral das --
+wahrhaftig!« Er trat auf mich zu: »Ich verbiete dir ein- für allemal,
+mit diesen Gottesleugnern und Vaterlandsverrätern gemeinsame Sache zu
+machen -- sonst --«
+
+»Du erlaubst, daß ich mich entferne --« unterbrach ich den Tobenden und
+ging hinaus.
+
+Am nächsten Morgen kam er mir entgegen: ganz blaß, mit überwachten,
+müden Augen. »Höre auf deinen alten Vater, mein Kind, der es gut mit dir
+meint, -- du bist auf falschem Wege, -- schneide dir nicht die Rückkehr
+ab, indem du dich öffentlich engagierst!«
+
+»Laß mir Zeit zum Überlegen, lieber Vater,« bat ich stockend, innerlich
+fast schon überwunden; nur bei Glyzcinski wollte ich mir noch Rats
+erholen.
+
+»Geben Sie nach, -- für diesmal noch!« sagte er, »das geringste Maß von
+Schmerz sollen wir anderen zufügen. Und am schönsten ists, wenn der
+Gegner sich uns aus Überzeugung schließlich selbst ergibt.«
+
+Meinen Vater überwältigte fast die Rührung, als ich ihm sagte, daß ich
+mich seinem Wunsche fügen wolle. Er ging selbst zum Professor und
+unterhielt sich ruhig und eingehend mit ihm, »wie ein vollendeter
+Ethiker.« Dann mußt ich mit ihm in die Stadt, um mir ein Kleid
+auszusuchen: »Ich will nicht, daß du durch die ewige Näherei in der
+Arbeit gestört wirst, die dir am Herzen liegt!«
+
+Es dauerte jedoch nicht lange, und ich fühlte, daß es nur
+eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um einen neuen Sturm
+heraufzubeschwören.
+
+Ich schwebte in ständiger Angst. Schon der Tritt meines Vaters auf der
+Treppe machte mich zittern, und möglichst leise verließ ich nachmittags
+das Haus, um erst dann erleichtert aufzuatmen, wenn die Tür von
+Glyzcinskis Studierstube sich hinter mir schloß.
+
+»Jetzt müßt' ich Sie pflegen können, wie Sie mich,« sagte er dann wohl,
+und sein warmer Blick voll Liebe und Mitleid ruhte auf mir.
+
+Eines Novemberabends -- ich hatte infolge eines heftigen
+Erkältungsfiebers ein paar Tage das Bett hüten müssen -- kam ein Brief
+vom Professor:
+
+»Mein gnädigstes Fräulein!
+
+Wir haben schon oft miteinander besprochen, daß die Schaffung eines
+Ethischen Journals sich angesichts der Entwicklung der Gesellschaft als
+eine immer stärkere Notwendigkeit erweist. Dieser Tage habe ich
+innerhalb unserer literarischen Gruppe die Frage erörtert, und der
+Verleger unserer Flugblätter hat sich bereit erklärt, eine Zeitschrift,
+wie wir sie brauchen, in Gemeinschaft mit mir ins Leben zu rufen; da ich
+jedoch außerstande bin, sie allein zu leiten, -- der Redakteur eines
+solchen Blattes muß persönlich bei wichtigen Vorkommnissen zugegen sein
+können --, liegt die letzte Entscheidung der Sache in Ihrer Hand. Die
+Stellung als mein Mitredakteur wird Ihre Arbeitskraft stark in Anspruch
+nehmen, und im Anfang ist der Verlag leider außerstande, Ihnen ein
+höheres Honorar, als etwa fünfzehnhundert bis zweitausend Mark jährlich
+zu bieten. Aber ich hoffe und glaube, daß Ihre Liebe zur Sache groß
+genug ist, um über diese Schwierigkeiten hinwegzusehen.
+
+Mit verbindlichen Empfehlungen den Exzellenzen und herzlichen Grüßen an
+Sie
+
+ Ihr treuergebenster
+ Georg von Glyzcinski.«
+
+Das ist die Befreiung! jubelte ich -- und zitterte doch vor Angst, als
+ich den Brief meinen Eltern gab. Die Szene, die folgte, war schlimmer
+als je vorher. »Solange du meinen Namen trägst, niemals -- niemals!«
+Dabei blieb der Vater. Ich lief in die Nettelbeckstraße und brach,
+aufschluchzend, neben dem Stuhl des Freundes zusammen. Minutenlang
+vermochte ich nicht zu sprechen und fühlte nur, wie der schmalen Hand,
+die mir leise über die Stirne strich, wohltätige Ruhe entströmte. Und
+dann erzählte ich --
+
+»'Solange du meinen Namen trägst' -- das sagte Ihr Vater?« Glyzcinski
+wandte den Kopf und sah zum Fenster hinaus, wo die roten und gelben
+Blätter im Herbststurm tanzten. Es dunkelte schon, -- eine Mahnung zum
+Aufbruch.
+
+»Ich fürchte mich so --« murmelte ich mit neu hervorstürzenden Tränen.
+Und aus dem Zwielicht und der Stille hörte ich seine leise Stimme sagen:
+»Möchtest du bei mir bleiben, mein Schwesterchen?« -- »Immer -- immer
+--« stöhnte ich und preßte meine Lippen, ehe ers hindern konnte, auf die
+Hand, die weiß und unirdisch im Dämmer leuchtete.
+
+Am frühen Morgen des nächsten Tages erhielt ich diesen Brief:
+
+»Mein liebes, gnädiges Fräulein!
+
+Schon vor Monaten habe ich mir oft gedacht: wenn Sie eine Anzahl Jahre
+älter geworden wären, ohne das Glück gefunden zu haben, das Sie in so
+reichem Maße verdienen, -- wenn Sie sich mit dem Gedanken, auf Liebe und
+Glück verzichten zu müssen, vertraut gemacht hätten, dann wollte ich
+fragen: Liebe Freundin, wollen wir zueinander ziehen, Mann und Frau
+werden, dabei aber -- wie es mir beschieden wäre -- als Bruder und
+Schwester weiterleben?!
+
+Der Umstand nun, daß sich jetzt ein Arbeitsplan für uns meldet, dessen
+Verwirklichung, nach dem Standpunkt, den Ihr Herr Vater einnimmt, zu
+schließen, durch jene Lebensvereinigung sehr erleichtert werden würde,
+ist der Grund, daß ich schon heut mit dieser Frage an Sie herantrete.
+
+Wir würden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und Arbeitsehe
+führen; sie würde für Sie alles andere eher als eine 'Versorgung' sein;
+wir würden wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch
+eigene Arbeit erhält. Ich bin ohne Vermögen und habe nur ein geringes
+Einkommen. Im übrigen wissen Sie, daß mein Leben jeden Tag zu Ende sein
+kann.
+
+Und nun dürfen Sie rasch 'nein' sagen. Meine Freundschaft zu Ihnen würde
+auch dann immer dieselbe bleiben. Das 'ja' würde jedenfalls eine lange
+Überlegung notwendig machen. Handelt es sich doch um etwas Ähnliches,
+als wenn ein Mädchen den Nonnenschleier nimmt. Sollten Sie trotz alledem
+einmal 'ja' sagen, so könnte es doch eine in ihrer Art schöne Ehe
+werden.
+
+ Ewig
+ Ihr treuer Freund
+ Georg von Glyzcinski.«
+
+Ich hatte kaum zu Ende gelesen -- mit klopfendem Herzen und tiefen
+Atemzügen --, als ich schon am Schreibtisch saß und meine Feder über das
+Papier flog:
+
+»Mein lieber Freund!
+
+Es bedarf für mich keiner Überlegung, um meine Hand mit einem
+freudig-dankbaren Ja in die Ihre zu legen. Und es geschieht nicht im
+Gefühl, auf Glück und Liebe verzichten zu müssen: für mich gibt es nur
+ein Glück, und das ist bei Ihnen; und alles was an Liebe in mir ist,
+gehört Ihnen. Auch ich habe, wie die Kinder, einmal von einem Paradies
+geträumt, das dem Himmel der Frommen ähnlich sah. Jetzt könnte es mir
+fast wie die Hölle erscheinen, -- während Sie mir bieten, was die
+Erfüllung meiner heißesten Wünsche in sich schließt.
+
+Ich sehe einen Urwald, bewohnt von allerhand Raubzeug, oft
+undurchdringlich dicht, daß die Sonne nicht bis auf den Boden dringen
+kann. Und mitten darin wir beide, eng verbunden, mit den Beilen
+bewaffnet, die Du uns schmiedetest. Und aus der Nähe und aus der Ferne
+tönen die Axtschläge vieler anderer Arbeiter zu uns herüber. Das ist
+Musik für unser Ohr. Freilich fehlt es nicht an niederfallenden Ästen,
+die uns verwunden, an giftigen Schlangen, die uns umdrohen. Aber solange
+wir uns selber haben, solange uns das Werkzeug nicht entfällt, solange
+wir offnen Auges das Licht immer mächtiger in die Tiefen des Waldes
+fluten sehen, -- solange ist er uns das Paradies unseres Lebens ...«
+
+Ich schickte meine Antwort voran und folgte ihr auf dem Fuße. Leise trat
+ich ins Zimmer -- Georg bemerkte mich nicht. Auf dem Schreibtisch vor
+ihm lag mein Brief, die Hände hatte er darüber gefaltet und die Stirn
+wie versunken darauf gepreßt.
+
+»Georg --«
+
+»Alix --«, er fuhr zusammen, ein Antlitz wandte sich mir zu, überströmt
+von Tränen. Und er nahm meine Hände und küßte sie und zog meinen Kopf zu
+sich hernieder, und ich fühlte, wie sein Mund sanft meine Augen
+berührte.
+
+Mit ruhiger Fassung sah ich den Ereignissen entgegen, die nun folgen
+mußten, -- daß meine Eltern gegen meine Heirat wesentliche Einwände
+erheben würden, nahm ich nicht an: Georg war von gutem, alten Adel --
+und im übrigen konnte es von ihnen nur als Erleichterung empfunden
+werden, mich endlich aus dem Hause zu haben. Ich war wie versteinert vor
+Schreck, als Georgs offizieller Brief an meinen Vater gekommen war und
+ich in seinem Zimmer vor ihm stand. Schwer atmend, mit dunkel gefärbtem
+Gesicht, die Augen rot unterlaufen, saß er auf seinem Stuhl, den Rock
+geöffnet, mit den Fingern ungeduldig an seinem Kragen zerrend, als
+fürchte er, zu ersticken. Heiser, ruckweise, mit einer Stimme, die die
+seine nicht war, begann er zu reden, während die Mutter, im Sofa
+zusammengekauert, leise vor sich hin weinte.
+
+»Das mir -- das mir! -- hat Gott mich nicht schon genug gestraft?! --
+Dich -- dich -- auf die ich so stolz gewesen bin! -- Die du mein -- mein
+Kind warst vor allem! -- Dich, um die ein König noch hätte betteln
+müssen! -- Dich will dieser -- dieser -- den Gott selbst als einen
+Ausgestoßenen brandmarkte --«
+
+»Papa --!« schrie ich und taumelte bis an die Tür zurück.
+
+Er sprang auf, um sich im nächsten Augenblick, wie von einem Schwindel
+erfaßt, mit beiden Fäusten schwer auf den Tisch zu stützen. Den Kopf
+weit vorgestreckt, die Augen stier auf mich gerichtet, fuhr er mich an:
+
+»Du läufst mir nicht wieder davon, -- und wenn ich dich mit Gewalt
+festhalten müßte! Und deinen sauberen Galan --« er lachte grell auf --
+»ein Kerl, der nicht einmal ein Mann ist, -- niederschießen tu ich ihn,
+wie einen tollen Hund -- --.« Mit einem unartikulierten Laut fiel er in
+den Stuhl zurück. Ich lief nach Wasser, -- benetzte ihm die Lippen, --
+rieb ihm die Stirn, -- es war ja ein Kranker, den ich vor mir hatte!
+Aber kaum war er zu sich gekommen, stieß er mich auch schon von sich.
+
+Mama, Ilse und der Diener brachten ihn zu Bett. Fast die ganze Nacht saß
+ich horchend vor seiner Schlafzimmertür. Wie eine Mörderin kam ich mir
+vor. Als der Morgen graute, schrieb ich ein paar Zeilen an Glyzcinski,
+und kaum daß der graue Novembertag mit schwerfällig-langsamen Schritten
+durch die Straßen geschlichen kam, hörte ich den Vater schon wieder in
+seinem Zimmer auf und nieder gehen. Er rief nach mir, -- die Angst
+schnürte mir die Kehle zu, aber ich folgte. Wie entsetzlich sah er aus!
+In einer einzigen Nacht, -- wie furchtbar gealtert!
+
+»Fürchte dich nicht, -- ich tue dir nichts --« sagte er und verzog den
+Mund mit den gesprungenen Lippen zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein
+sollte. »Ich will nur mit dir reden, will dir klar machen, -- was du
+nicht weißt -- nicht wissen kannst, und was der Professor --« es war ihm
+offenbar unmöglich, den verhaßten Namen zu nennen -- »vielleicht auch
+nicht weiß. Die einzige Entschuldigung, die ich ihm zubilligen kann!«
+Ich mußte mich neben ihn setzen, wie in früheren Jahren, und er behielt,
+während er sprach, meine Hand in der seinen.
+
+»Ich sagte dir schon, -- du bist mein Kind! Du hast meine
+Leidenschaften, mein heißes Herz, mein wildes Blut. Bist du die -- die
+Frau dieses Mannes, so wird -- ich weiß es genau, ganz genau! -- eine
+Zeit kommen, früher oder später, wo dein Herz sich vor Qualen
+zusammenkrampft, wo dein Blut nach Liebe schreit -- schreit!! -- hörst
+du? -- Nach einer Liebe, die dieser Mann dir nie wird geben können! --
+Dann wirst du unglücklich werden, totunglücklich -- oder --,« er brachte
+nur mit äußerster Anstrengung die letzten Worte hervor -- »eine Ehrlose,
+-- eine -- eine Dirne!«
+
+»Papa, lieber Papa!« ich streichelte ihm die Hände, »du könntest so
+nicht sprechen, wenn du mich besser kennen würdest! -- Ich bin kein Kind
+mehr -- ich habe viel erlebt, -- sehr, sehr viel gelitten, mein Blut hat
+endgültig ausgetobt, mein Herz weiß von keiner anderen Liebe als von
+der, die Georg mir bietet!«
+
+»Du irrst, -- und dieser Irrtum wird dein Unglück werden. Ich kenne dich
+besser, als du dich in diesem Augenblick kennst --.« Seine überwachten
+Augen sahen ins Weite, er schien immer mehr zu vergessen, daß ich neben
+ihm saß. »Auch ich liebte -- und verzehrte mich nach Liebe! Und warb ein
+viertel Jahrhundert lang um sie, die mein Weib war. Ich wollte nicht
+begreifen, daß all meine Leidenschaft sie nicht erwärmen konnte --! Bis
+ich ein alter Mann geworden bin, bis ich einsehen lernte, daß nichts --
+nichts im Leben mir Wort hielt, -- auch meine Liebeshoffnung nicht! --«
+Er schwieg, überwältigt von der Erinnerung.
+
+»Verstehst du nun, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, dich ebenso
+-- nein -- noch viel unglücklicher werden zu sehen als mich? -- Du wirst
+ja nicht einmal Kinder haben!«
+
+Ich zuckte zusammen, -- aber rasch und gewaltsam hatte ich die
+Empfindung auch schon niedergekämpft, die ihm Recht hätte geben können.
+
+»Alle armen, alle verlassenen Kinder in der Welt werden meine Kinder
+sein --« antwortete ich, »für sie werde ich denken und arbeiten!«
+
+Papa stand auf: »So habe ich dir nichts mehr zu sagen. Du bist majorenn,
+du bedarfst meiner Erlaubnis nicht. Nur um eins bitte ich dich, und
+deine Mutter wird dieselbe Bitte dem -- dem Professor vortragen -- ich
+selbst fühle mich nicht stark genug, ihn zu sehen --: Warte nur noch ein
+halbes Jahr, -- prüfe dich währenddessen. Du kannst, ungehindert durch
+mich, deinen Verkehr in derselben Weise fortsetzen wie bisher, -- bist
+du dann noch entschlossen, -- so strecke ich die Waffen.«
+
+Ich wollte danken, -- war doch dies Zugeständnis weit mehr, als ich nach
+dem gestrigen Auftritt noch glaubte erwarten zu dürfen, -- aber er
+entzog mir seine Hand und verließ hastig das Zimmer.
+
+Noch am Abend schrieb mir Georg, den meine Mutter inzwischen aufgesucht
+hatte:
+
+»... Wir hatten eine lange ernste Unterredung miteinander, die mir um so
+größeren Eindruck machte, als kurz vorher der Oberst Glyzcinski hier
+gewesen war, dem ich mich in meiner Aufregung verriet, und der mir aus
+meinem Vorgehen die heftigsten Vorwürfe machte. 'Geschieht, was du in
+deiner Unkenntnis der Welt und der Menschen als dein Glück ansiehst, so
+geht Ihr zugrunde,' sagte er. Meine geliebte Alix, -- sind wir nicht in
+einer Hinsicht wirklich unwissende Kinder? Es sollte doch keiner von uns
+zugrunde gehen! Wir haben doch beide eine Mission! Es gibt so gar
+wenige, die unseren Enthusiasmus für unsere Sache haben! Sollten wir uns
+beide nicht dieser Sache erhalten? Vielleicht ist es ein Verhängnis, das
+der schönen Tochter der Exzellenz den alten Professor zurseite schob und
+in ein stilles, beschauliches, von allen irdischen Freuden
+abgeschlossenes Gelehrtenleben plötzlich eine Fee hineinversetzte.
+Sollten wir dies Verhängnis nicht in ein segensreiches Schicksal
+verwandeln können, wenn wir, wenn vor allem ich mich selbst
+bezwinge? ...
+
+Drei Stunden täglich Liebe und Sonnenschein? Ist das nicht viel? Die
+armen Millionen, denen sie nimmer scheint, die liebe Sonne! Ich freilich
+dürste nach mehr, aber dann geht einer von uns zugrunde!! -- Und lieber
+lebe ich dauernd in tiefster Nacht, als daß ich über das Haupt des
+liebsten Menschen solch Schicksal heraufbeschwöre!
+
+Machen wir also den ernsten Versuch, geliebte Freundin, uns mit ein
+wenig Glück -- für mich ist das schon überschwenglich viel! -- und viel
+Arbeit zu begnügen, und bitte Deine Eltern, daß sie es Dir leicht machen
+sollen ...«
+
+Aber seine Blicke straften die scheinbare Ruhe dieser Verzichtleistung
+Lügen. Das strahlende Licht war aus seinen Augen verschwunden, wie das
+sonnige Lächeln um seine Lippen. Und verließ ich ihn des Abends, so
+hielt er mich oft mit einem Ausdruck fest, als litte er alle Qualen
+eines Abschieds auf immer. Wir sahen uns täglich. Bald aber merkte ich,
+wie mein Vater durch Einladungen und Verabredungen aller Art meine
+Besuche bei Georg zu hindern suchte. Erinnerte ich ihn an sein
+Versprechen, so wurde er heftig, setzte ich seinen Wünschen Widerstand
+entgegen, so konnte ich sicher sein, bei der Heimkehr die Mutter
+verweint, die Schwester verschüchtert, den Vater stumm und finster
+wieder zu finden. Blieb ich des Abends fort -- Versammlungen und
+Kommissionssitzungen, über die ich in unserer Zeitschrift berichten
+mußte, machten es häufig genug notwendig --, so schlich ich mich in
+zitternder Furcht nach Hause, weil der Vater mich schon oft mit den
+ungerechtfertigsten Vorwürfen empfangen hatte. Jeder Artikel, den ich in
+unserem Blatt unter meinem Namen schrieb -- die Anonymität war mir als
+eine Feigheit verhaßt --, gab Anlaß zu den peinlichsten
+Auseinandersetzungen, und die politischen Ereignisse der Zeit benutzte
+er, um das, was mir heilig war, maßlos zu verunglimpfen. Ich wurde
+schließlich von einem so dauernden, Angstgefühl gefoltert, daß ich oft
+meinte, vom Verfolgungswahn gepackt zu sein. Der täglich wiederholte
+Versuch, vor Georg heiter zu sein, mißlang immer vollständiger, und
+eines Tages gestanden wir einander das Unerträgliche unseres Zustands.
+
+»So willst du wirklich -- wirklich diesen Krüppel heiraten, den man im
+Mittelalter der Zauberei angeklagt, und ganz gewiß verbrannt haben
+würde?« sagte er mit ungläubigem Lächeln.
+
+»Ich will!« antwortete ich fest »und wenn es sein muß, ohne den Segen
+der Eltern.« Da ich wußte, daß meines Vaters Heftigkeit mich nicht würde
+zu Worte kommen lassen, so schrieb ich ihm einen langen, liebevollen
+Brief, in dem ich ihm klar zu machen versuchte, daß ich alt genug sei,
+um nach eigener Überzeugung mein Leben zu gestalten, daß es im höheren
+Sinne gewissenlos und pflichtwidrig wäre, statt der eigenen Einsicht und
+dem eigenen Gefühl sklavisch dem Machtgebot anderer zu gehorchen, daß es
+schlimmer sei als töten, wenn ein Mensch den anderen zeitlebens zur
+Unmündigkeit und Unfreiheit verdamme.
+
+Einen ganzen Vormittag lang schien mein Vater meinen Brief zu
+ignorieren, erst als ich das Haus verlassen wollte, trat er mir im Flur
+entgegen.
+
+»Du bleibst!« rief er und umklammerte mein Handgelenk. »Die sechs Monate
+Frist, die ich dir gestellt habe, sind noch nicht um, -- aber du zwingst
+mich, meine Bedingungen zu ändern. Du wirst von heute ab deine Besuche
+einstellen. Dieser sittenstrenge Ethiker soll mir nicht ganz und gar
+deine Seele vergiften.«
+
+»Du brichst dein Versprechen, Papa --« stieß ich hervor und riß mich
+gewaltsam los. In demselben Augenblick griff er nach der alten
+Reiterpistole auf seinem Schreibtisch --.
+
+»Ein Schritt noch und ich schieße --.« Aber schon lief ich die Treppe
+hinunter -- über die Straße -- über den Platz, -- Menschen und Wagen und
+Häuser sah ich wie Schatten an mir vorüberfliegen.
+
+Wie ich zu Georg kam, -- ich weiß es nicht, -- der gelle Angstschrei,
+den er ausstieß, als ich mitten in seinem Zimmer niederfiel, brachte
+mich zur Besinnung. Noch an demselben Abend fuhr ich zu Freunden von
+ihm, die mir auf alle Fälle ihr Haus schon zur Verfügung gestellt
+hatten. Ohne Angabe meiner Adresse teilte ich den Eltern mit, daß ich
+nicht mehr zu ihnen zurückkehren werde. Aber noch ehe mein Brief sie
+erreicht haben konnte, benachrichtigte mich Georg, daß Onkel Walter mich
+zu sprechen wünsche. Er erwarte mich im Reichstag. Ich ging hin. Und
+während im Plenarsaal die Redeschlacht um die Militärvorlage tobte,
+gingen wir ruhig und gemessen in der Wandelhalle auf und ab, und niemand
+konnte ahnen, daß sich hier ein Schicksal entschied.
+
+»Hans war bei mir, -- gleich nach jener Szene. Er sprach, dramatisch wie
+immer, von Verstoßen, Verfluchen und dergleichen,« begann Onkel Walter
+in geschäftsmäßigem Ton. »Ich habe ihm erklärt, daß es unser aller
+Pflicht sei, einen Familienskandal zu vermeiden, und daß ich -- wenn er
+auf seinem Standpunkt beharren wolle -- meine Nichte, die Tochter meiner
+Schwester, in mein Haus nehmen, und daß sie dort unter meinem Schutz
+heiraten würde. Ilse ist, Gott Lob, ganz meiner Meinung. Ein Zustand,
+wie der bisherige, ist für alle Teile auf die Dauer unhaltbar. Von mir
+aus ist Hans bei Geheimrat Frommann gewesen, der ihm zugeredet hat,
+nachzugeben, und dich und deinen Verlobten in den höchsten Tönen pries.
+Infolgedessen hat dein Vater sich wesentlich beruhigt. Er wird morgen
+meine Frau nach Pirgallen begleiten und erlaubte deiner Mutter, alle
+Vorbereitungen zu deiner Hochzeit zu treffen, an der er natürlich selbst
+nicht teilnehmen wird.«
+
+Mir traten die Tränen in die Augen, -- die Erschütterung dieses neuen
+plötzlichen Umschwungs war zu groß für mich!
+
+»Du hast keine Ursache, mir zu danken,« schnitt Onkel Walter schroff
+jede Antwort ab, »ich tat nur meine Pflicht im Interesse der Ehre
+unserer Familie. Im übrigen ist es hohe Zeit, daß wir Ruhe vor dir
+haben.« Damit war ich entlassen.
+
+Ich kehrte nach Hause zurück, nachdem mein Vater abgereist war.
+
+Mit ihrem kühlsten Gesichtsausdruck empfing mich die Mutter. »Deiner
+Heirat steht nichts mehr im Wege,« sagte sie, »außer einer Kleinigkeit,
+die du natürlich vergessen hast: der Ausstattung. Wir sind, wie du
+weißt, nicht in der Lage, sie dir zu beschaffen, du wirst dich also mit
+der kleinen Summe aus der Kleveschen Familienstiftung begnügen müssen.
+Und was die Wohnung betrifft, so -- --«
+
+Ich mußte wider Willen lachen: »Das sind aber doch wirklich nichts als
+Kleinigkeiten, Mama!« unterbrach ich sie. »Wir haben, was wir brauchen,
+-- und Georgs Wohnung ist viel zu hübsch, als daß ich sie aufgeben
+möchte!«
+
+»Eine Hofwohnung -- und nur drei Zimmer!« Mama kräuselte verächtlich die
+Lippen.
+
+»Übergenug für uns! -- du siehst: wenn das Aufgebot morgen erfolgt,
+können wir in vierzehn Tagen getraut werden -- --«
+
+»Selbstverständlich! -- Ich werde heute noch mit Euren Papieren auf das
+Standesamt und womöglich auch gleich zum Geistlichen gehen.«
+
+»Zum -- Geistlichen?!« Ich starrte sie verständnislos an. Wir
+»dezidierten Nichtchristen« sollten uns geistlich trauen lassen?!
+
+»Georg ist Atheist --«
+
+»Schlimm genug!« rief die Mutter, »aber du heiratest unter dem Schutz
+deiner gläubigen Eltern und wirst es nach unserem Glauben tun -- oder
+gar nicht.«
+
+All meine Erklärungen und Bitten prallten an ihrem unbeugsamen Willen
+ab. Ich sah aufs neue die schwer erkämpfte Zukunft gefährdet. Aber als
+ich Georg mit vor Aufregung zitternder Stimme von der mütterlichen
+Entscheidung erzählte, zog nur ein leichter Schatten über seine Züge.
+
+»Wenn deiner Mutter Herz an dieser Zeremonie hängt, so lassen wir ihr
+die Freude,« meinte er nach kurzem Überlegen. »Dürfen wir unser Leben
+und seine Aufgabe von einer bloßen Formel abhängig machen?!« Ich senkte
+stumm den Kopf, so recht aufrichtig hätte ich seiner Ansicht doch nicht
+zustimmen können.
+
+Den nächsten Verwandten war meine bevorstehende Heirat mitgeteilt
+worden. Mit einer gewissen Genugtuung zeigte mir die Mutter, um deren
+Mundwinkel sich die Falten der Bitterkeit täglich tiefer gruben, ihre
+teils entsetzten, teils mitleidigen Briefe. An Tante Klotilde hatte ich
+selbst geschrieben; ein paar Tage vor der Hochzeit antwortete sie mir:
+»Was du tust, ist Wahnsinn, ja, schlimmer noch: ein widernatürliches
+Verbrechen. Auf welch traurigen Abwegen du dich befindest, habe ich
+schon durch deine potsdamer Kusinen erfahren. Daß es aber soweit mit dir
+kommen würde, hätte ich nimmer gedacht. Wolle Gott, daß meine
+schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft nicht in Erfüllung gehen! Das
+ist der einzige Wunsch, mit dem ich deine Heirat begleite...«
+
+Aber je näher ich meinem Ziele war, desto gleichgültiger ließen mich all
+die Nadelstiche des täglichen Lebens.
+
+Als ich jedoch am Abend vor der Trauung zum letztenmal in die elterliche
+Wohnung zurückkehrte, stockte mir schon vor der Türe der Atem, und in
+den dunkeln Räumen legte sich mir die Luft zentnerschwer auf das Herz.
+In dem verlassenen Zimmer des Vaters war es totenstill, selbst die Uhr
+tickte nicht mehr; -- hatte ich -- ich, die Tochter, die er am meisten
+liebte, ihn nicht hinaus getrieben?! Stumm und in sich gekehrt saßen
+Mutter und Schwester und ich um den gedeckten Tisch und zerbröckelten
+das Brot zwischen den Fingern. Die Lampe wollte heute nicht leuchten,
+und der Teekessel summte schwermütig, -- groß und vorwurfsvoll sah mir
+zuweilen das blaue Augenpaar der Schwester entgegen, -- die Mutter
+vermied meinen Blick; und was sie sagte, kam ihr rauh und hart aus der
+Kehle. In mein Zimmer trieb es mich früher als sonst. Ich legte
+mechanisch meine letzten zurückgebliebenen Sachen in den Koffer. Da
+klopfte es leise -- und in den unruhigen Schein der Kerze trat
+Klein-Ilse mit heiß-geweinten Wangen, einen Kranz von Orangenblüten in
+der Hand und einen weißen Schleier. Sie wollte sprechen, -- sie konnte
+es nicht, -- unaufhaltsam flossen ihr die Tränen aus den Augen; -- mit
+einer Bewegung, die Schmerz, Haß und Liebe zugleich zu diktieren
+schienen, warf sie ihre Gabe auf den Tisch und war im nächsten
+Augenblick wieder verschwunden. Ich lächelte müde, -- einen anderen
+Kranz hatte ich mir wohl vor langen Jahren erträumt; -- fort mit allem
+blassen Erinnern, -- draußen stand die Arbeit, stand das Leben und
+begehrte meiner!
+
+Noch einmal klopfte es: ein Brief von Georg:
+
+»Mein Liebling! Zum letztenmal sag ich Dir aus der Ferne Gute Nacht. Von
+morgen ab wirst Du bei mir sein und bleiben. Eine heilige Lebensaufgabe
+liegt vor uns, die wir zum Wohle der Menschheit erfüllen wollen, und
+eine, die unsere bräutliche Ehe uns persönlich auferlegt.
+
+Nach meinem Tode kannst Du -- aber ganz aufrichtig, meine tapfere Alix!
+-- der Welt erzählen, wie ihre Lösung gelang, -- anderen zur Warnung,
+oder zur Nachahmung. Nur ein Versprechen verlange ich heute von Dir:
+sollte jene Liebe Dich jemals gefangen nehmen, vor der die Menschen uns
+warnen, und die sich auf mich, Deinen Gatten, nicht richten kann, -- so
+denke, ich sei Dein Vater, und schenke mir Dein Vertrauen. Ich werde
+mich seiner würdig erweisen, und nie soll ein Stück Papier für Dich eine
+Fessel werden. In keiner Lebenslage würdest Du mich verlieren.
+
+ Dein in Zeit und Ewigkeit!
+ Georg.«
+
+Und die Schatten der Vergangenheit zerstoben; ruhig und glücklich
+schlief ich dem Morgen entgegen.
+
+Meine Kusine Mathilde war gekommen, -- auch sie mit einem Gesicht, als
+sollte sie an einer Beerdigung und nicht an einer Hochzeit teilnehmen.
+Zu Fuß gingen wir vier in die Nettelbeckstraße. Wir gingen rascher --
+immer rascher, als wollte einer dem anderen entlaufen. Kein Wort der
+Liebe war meiner Mutter bisher über die Lippen gekommen. Vor der Haustür
+blieb sie aufatmend stehen. »Nun hast du deinen Willen durchgesetzt,«
+stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
+
+In meinem künftigen Schlafzimmer, einem großen Raum, dessen einziges
+Fenster auf den dunklen Hof hinaussah, zog ich mein Brautkleid an. Kranz
+und Schleier lagen bereit; niemand kam, mir zu helfen. Sie waren alle
+vorn und schmückten den Altar! Da hört' ich eine zaghafte Stimme an der
+Tür: »Darf ich?«, und eine kleine Frau schlüpfte herein, verlegen und
+lächelnd an der großen weißen Schürze zupfend, in den roten Händen einen
+bunten Nelkenstrauß. Ich kannte sie flüchtig: die Frau vom Tischler
+nebenan war's, dem Georg aus dem Elend geholfen hatte, und der jetzt
+täglich kam, um sich den »Vorwärts« zu holen. »Ich konnt' doch heut
+nicht fehlen,« stotterte sie, »ich mußt' doch dem gnädigen Fräulein
+zeigen, wie mächtig wir uns freuen, mein Karl und ich! So schön ist's,
+daß der gute Herr Professor nu nich mehr so alleinich is, -- so heilig
+schön, daß Sie seine Frau werden!« Dabei faltete sie die Hände und sah
+mich aus ihren hellen runden Augen an, wie der gute Katholik ein
+wundertätiges Heiligenbild. Und dann nahm sie vorsichtig den Schleier
+und steckte ihn mir auf die Locken und legte mit ihren groben
+Arbeitshänden ganz leicht und zart den Kranz darauf: »Der liebe Gott
+segne Sie! --«
+
+War es, weil ich aus dem Dunkel kam, oder weil helle Freudentränen mir
+in den Augen standen, -- ich sah, als ich in Georgs Zimmer trat, nichts
+als Wogen goldschimmernden Glanzes. Wie Schattenbilder, die uns nichts
+angingen, bewegten sich die Menschen darin. Ich hörte Worte, mit denen
+sich mir kein Sinn verband, und leises Schluchzen, das von weit her kam.
+Um den Tisch hinter der schwarzen Gestalt des Pfarrers schwebte eine
+Woge weichen Blumendufts zu mir herüber, ein weißes Kreuz leuchtete auf
+grünem Grund, -- es hatte einst auf Großmamas Schreibtisch gestanden --
+und die schwarze Schrift darauf war die Traupredigt, die ich allein
+vernahm: »Die Liebe höret nimmer auf.« Ein paar Händedrücke fühlt' ich
+noch, eine paar zeremonielle Küsse auf der Stirn -- Kleiderrauschen --
+halblautes Schwatzen -- Türen schlagen -- und noch einmal den grellen
+Ton der Glocke: Ein Telegramm. »In zärtlichster Liebe bin ich bei dir
+und Georg. Dein Vater.«
+
+Dann ward es still, ganz still bei uns. Wir waren allein.
+
+
+
+
+Neunzehntes Kapitel
+
+
+In einem Tal des Friedens lebte ich. Sanfte Höhenzüge hüteten es vor der
+Welt, wie freundliche Wächter. Meine Wege kannten keine jähen Abhänge
+mehr, an denen der Fuß ängstlich strauchelt, nirgends drohte ein Fels,
+kein Habicht lauerte auf meine singenden Vögel. Die Bäche dämpften ihr
+Geschwätz, der Wind streichelte leise Blätter und Blumen, der Sonne
+Licht war wie ein mütterliches Lächeln.
+
+Wie kam es nur, daß die Tage vorüberflossen ohne Angst -- ohne Streit,
+daß die Stunden nicht mehr erfüllt waren von der lastenden Luft
+heimlichen Zornes? Und daß ich sagen durfte, was ich dachte?! Wie war es
+möglich, daß ich kein Kettenklirren hörte, wenn mein Fuß neue Pfade
+betrat, daß ich nicht allein war und mich doch niemand scheltend
+zurückriß, wenn ich vom Berge weit -- weit in die Ferne sah? Einer war
+neben mir und hütete jeden meiner Schritte und ging mir zugleich voran,
+ein Pfadfinder.
+
+Der Pöbel strömte herzu mit seiner Neugierde und seiner Niedrigkeit,
+aber unsichtbare Kräfte verschlossen ihm unser Tal des Friedens. Wir
+allein gingen ungehindert ein und aus. Aber ob wir gleich in der Welt
+wandelten und unsere Schwerter kreuzten mit Krämern und Philistern, so
+war doch unsere Seele immer in ihm. Und seine Quellen heilten alle
+unsere Wunden ...
+
+Fieberhaft rasch klopfte damals das Herz der Zeit. Sie war, wie ein
+geniales Kind, das über dem Reichtum seines Innern unruhig von einem der
+goldenen Schätze zum anderen springt.
+
+Der Kaiser hatte den Reichstag aufgelöst. Wieder einmal war der Monarch,
+der unter dem nivellierenden Rock des Europäers stets den
+mystisch-schimmernden Herrschermantel des Gottesgnadentums trug, mit dem
+Volk aufeinandergestoßen. Daß er es nicht begriff, nicht begreifen
+konnte, war weniger seine Schuld als die des unlösbar-tragischen
+Widerspruchs zwischen der uralten Tradition der Könige und der zum
+Bewußtsein ihrer selbst erwachten Menschheit. Väter pflegen selten zu
+begreifen, daß ihre Kinder Menschen werden. Für ihn blieb das Volk --
+»mein« Volk!, -- das Kind, das willenlose, und immer nur waren es
+»Hetzer« und »Unberufene«, die sich als seine Wortführer aufspielten.
+Darum galt ihm das Heer, -- ein durch die Macht der Disziplin in das
+Stadium der Kindheit zurückgedrängtes Volk --, stets als »die einzige
+Säule, auf der unser Reich besteht,« und ein Volksverräter war, wer
+seine Entwicklung hemmte. Im festen Glauben an die ihm von Gott selbst
+gegebene Macht, -- »suprema lex regis voluntas,« hatte er ein Jahr
+vorher in das goldene Buch Münchens geschrieben --, verkündete er seinen
+Willen allen hörbar, und nahm die stummen Verbeugungen deren, die um ihn
+standen, als Zeichen für die allgemeine Ergebenheit.
+
+Um die Militärvorlage tobte der Wahlkampf, der alte Parteien
+auseinanderriß und wie Scheidewasser die Geister voneinander trennte. In
+atemloser Spannung sah ich zu. Auch Egidy, der tapfere Träumer, der
+»Edel-Anarchist«, der keine Partei anerkannte und doch, getrieben von
+der unbestechlichen Wahrhaftigkeit seines Wesens, die Wahlparole der
+Sozialdemokratie nur in seine Sprache übersetzte, stand auf der
+Wahlstatt.
+
+»Was sagen Sie dazu, daß unser gemeinsamer Freund sich zum Reichstag
+aufgestellt hat?« schrieb mir Wilhelm von Polenz. »Überrascht er nicht
+immer wieder durch seinen Mut und die Konsequenz seiner Entwicklung? Ich
+komme dieser Tage nach Berlin und möchte Sie gern in eine seiner
+Wahlversammlungen begleiten.«
+
+Wenigen Ereignissen stand ich erwartungsvoller gegenüber als diesem
+ersten Besuch einer Volksversammlung!
+
+Es war ein halbdunkler Raum, niedrig und verräuchert, in den wir
+eintraten. Er füllte sich nur langsam. Zuerst kam der Kreis der engeren
+Gemeinde Egidys, die seit seinem entschiedenen Eintritt in das
+praktisch-politische Leben sehr zusammengeschmolzen war; dann erschienen
+die vielen, die überall dabei sein müssen: sensationslüsterne Weiber,
+kühl-neugierige Skribenten; ganz nach vorn drängten sich die russischen
+Studenten und Studentinnen, die stets mit sicherem Instinkt die Luft
+geistiger Revolutionen wittern, und schließlich strömte es herein von
+Männern und Frauen, von denen ich nicht recht wußte, wohin sie gehörten.
+»Arbeiter!« sagte Polenz. Arbeiter?! Diese ernsten, ruhigen Menschen,
+deren bürgerliche Kleidung in nichts an den Kittel und das Schurzfell
+erinnerte?! Sie waren die stillsten, als Egidy sprach. Nur zuweilen
+warf einer eine ironische Bemerkung, einen derben Witz dazwischen, und
+die feinen Damen vorn entrüsteten sich und klatschten barbarischen
+Beifall, den der Redner vergebens zu beschwichtigen suchte.
+
+»Kurage hat er!« flüsterte ein blasses Mädchen mit wund gestichelten
+Fingern am Tisch neben mir. »Wat ick mir dafor koofe!« brummte ihr
+Begleiter. »Jetzt red' er uns zum Mund, weil er in 'n Reichstag will --
+un nachher is er doch man bloß ein Junker mehr!«
+
+»Bahn frei! Den neuen Männern und den neuen Zeiten!« -- tönte es von der
+Rednertribüne, »aus dem Wege räumen, was eine kulturentsprechende, Gott
+gewollte Entwicklung hemmt« -- irgendwo pfiff einer durch die Finger --,
+»wir Deutschen wollen das Christentum verwirklichen« -- »Quatsch!«
+schrie jemand -- »Sst -- sst!« antwortete einmütig die Menge, -- »ein
+Reich des Friedens gründen, wo jeder -- Männer und Frauen -- ein Recht
+an das Leben hat, wo niemand hungernd daneben steht, wenn die andern
+schwelgen.« -- Die Studenten schrieen, und ihre Gefährtinnen winkten mit
+Hüten und Taschentüchern. -- »Wir sind ein mündiges Volk und werden uns
+aus eigener Kraft andere Zustände schaffen. Die nächsten Wochen sollen
+uns einen tüchtigen Schritt vorwärts bringen. Das Alte stürzt, und neues
+Leben blüht aus den Ruinen, -- damit an die Arbeit!« Ein kurzer Beifall,
+wie ein plötzlich ausbrechendes Gewitter, dann Stille, -- die Damen
+rückten an den Stühlen, die kleine Gemeinde bildete erwartungsvoll an
+der Türe Spalier. Da plötzlich stand das blasse Mädchen mit den
+zerstochenen Fingern auf der Tribüne; sie war sehr klein, ein echtes
+Proletarierkind, dem die Not von je her die schwere Hand auf den Kopf
+gedrückt hatte, so daß es nicht wachsen konnte, und die Züge formte, so
+daß sie zeitlos blieben. Sie wechselte ein paar Worte mit Egidy, strich
+sich über den glatten, stumpfblonden Scheitel und begann mit einer
+Stimme zu reden, deren Ton etwas rauhes, knarrendes an sich hatte.
+
+»Der Herr Referent sagte mir, daß es in seinen Versammlungen nicht
+üblich ist, sich zur Diskussion zu melden. Er hat mir aber erlaubt, ihm
+eine Frage zu stellen, die mir und manchen meiner Parteigenossen« -- ein
+paar Journalisten riefen höhnend »Aha«, reckten die Köpfe, und klemmten
+sich den Zwicker auf die Nase, um die Rednerin genauer ins Auge fassen
+zu können -- »während seiner Ausführungen auf den Lippen schwebte. Was
+er sagte, ist für uns nichts Neues gewesen. Es gehört seit Jahrzehnten
+zum eisernen Bestand der Sozialdemokratie, die dafür von seiten der
+herrschenden Klassen unterdrückt, verfolgt und mißachtet wird,« -- ein
+paar Damen steckten tuschelnd die Köpfe zusammen --, »die Gleichheit vor
+dem Gesetz, die allgemeine Einheitsschule, die Abschaffung der stehenden
+Heere, -- das alles sind Forderungen des Erfurter Programms. Und für die
+Befreiung des weiblichen Geschlechts aus politischer und sozialer
+Versklavung kämpft eine Partei von anderthalb Millionen
+deutschen Arbeitern, während die bürgerlichen Damen in ihren
+Wohltätigkeitskränzchen so was nicht einmal unter vier Augen zu flüstern
+wagen.« -- »Aber -- aber!« rief eine Frauenrechtlerin kopfschüttelnd und
+hob die schweren Lider wie eine gut geschulte Tragödin. Ich jedoch
+zuckte zusammen, als müßt' ich mich persönlich getroffen fühlen. -- »Und
+wenn der Herr Referent mit so viel dankenswertem Eifer für den
+gesetzlichen Arbeiterschutz eintritt, so hätte er -- zur Aufklärung für
+all die Herrschaften, die in unsere Versammlungen doch nicht kommen --
+wohl ein Wörtchen darüber sagen können, daß wir es waren und sind, deren
+rastloser Arbeit, nach Fürst Bismarcks eigenem Ausspruch, das bißchen
+Arbeiterschutz zu verdanken ist, das wir haben. Den Herren da oben ist
+das schon zu viel, sie schreien nach Flinten und Kanonen gegen den
+inneren Feind und winseln nach Liebesgaben für ihre Taschen ...« Sie
+brach ab, ihre Stimme war kreischend geworden. Egidy stand ruhig mit
+verschränkten Armen und einer tiefen Falte auf der Stirn neben ihr.
+
+»Und Ihre Frage, mein Fräulein?« frug er.
+
+»Ach so -- meine Frage --« ein verlegenes Lächeln ließ sie plötzlich
+ganz jung erscheinen, dann reckte sie sich, stemmte die Arme fest auf
+das Pult vor ihr, sah Egidy gerade ins Gesicht und sagte. »Wenn Sie
+dasselbe wollen, wie wir, -- warum sind Sie nicht Sozialdemokrat?«
+
+Ein spannender Moment: tausend Augenpaare bohrten sich in das blasse,
+erregte Gesicht Egidys. »Das hab' ich gefürchtet --« flüsterte Polenz
+neben mir.
+
+»Ich habe den Soldatenrock ausgezogen um meiner Überzeugung willen, --
+darnach gibt es für mich kein Opfer mehr, das ich ihr nicht leichten
+Herzens bringen könnte. Ich bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei
+das tiefste Bedürfnis der Menschenseele, das religiöse, niederhöhnt und
+niedertrampelt -- --«
+
+»Das ist gelogen!« schrie eine Stimme ihm entgegen; er wurde noch um
+einen Schein blasser.
+
+»Ich lüge nie,« dröhnte es in den Saal. »Und ich bin nicht
+Sozialdemokrat, weil Ihre Partei für eine gute Sache mit schlechten
+Waffen kämpft --«
+
+Ein allgemeiner Tumult verschlang, was er noch sagte. »Bravo« -- »sehr
+richtig« klangs von der einen Seite -- »Pfui« -- dröhnte es langgedehnt
+aus dem Hintergrunde. Der Polizeileutnant griff nach dem Helm, Egidy
+stand regungslos wie eine Mauer und starrte auf die sich erschrocken
+hinausdrängende Menge, die kleine Näherin suchte sich vergebens Gehör zu
+schaffen.
+
+Ein Mann, auf eine Krücke gestützt, wirre schwarze Haarsträhnen um
+gelbe, eingefallene Züge, brach sich in diesem Augenblick Bahn bis zur
+Tribüne. »Genosse Reinhard, -- Gott Lob«, die kleine Näherin streckte
+ihm von oben die Hand entgegen, ein paar andere sprangen helfend herzu,
+und neben ihr stand er.
+
+»Genossen --« wie unter einen Zauberschlag schwieg alles, -- der
+Polizeileutnant legte den Helm auf den Tisch, die sich ins Freie
+Schiebenden wandten sich um, und blieben stehen, in Egidys steinerne
+Ruhe kehrte das Leben zurück; -- »es ist unser unwürdig, eine
+Versammlung durch Lärm zu stören, in der wir nichts als Gäste sind. Noch
+weniger haben wir einen Grund, uns darüber aufzuregen, daß Herr von
+Egidy die Frage der Genossin Bartels ehrlich beantwortet hat. Mir war
+seine Antwort vielmehr höchst interessant. Alle jene bürgerlichen
+Ideologen, von den Ethikern an, die die Welt durch die Moral erobern
+wollen, bis zu den Christlichsozialen um Naumann würden uns eine
+ähnliche haben geben können. Und weil Sie so ehrlich sind, Herr von
+Egidy, --« er wandte sich mit einer kleinen Kopfneigung zu dem neben ihm
+stehenden, »darum lassen Sie sich auch unsere ehrliche Antwort gefallen:
+rechnen Sie nicht auf unsere Stimmen. Sie sind ein braver Mann -- Sie
+mögen allerlei brave Leute hinter sich haben, -- aber unsere Sache
+bedarf solcher Kerle, wie wir sind -- die den Dreschflegel und den
+Hammer -- 'die schlechten Waffen!' -- zu führen gelernt haben, denen die
+Maschine die Glieder zerriß, --« er hob die Krücke wie ein Trophäe --
+»an deren Leibern die Tuberkelbazillen fressen« -- er reckte den mageren
+Arm in die Höhe. »Neunzehnhundert Jahre haben wir gewartet, daß Eure
+christlichen Liebes- und Barmherzigkeitspredigten uns helfen möchten, --
+jetzt ist unsere Geduld erschöpft. Und wenn Euch unsere Waffen nicht
+ritterlich genug sind, -- Ihr selbst seid daran schuld, daß wir sie
+brauchen müssen!« --
+
+Die Augen des Redners weiteten sich, sie sahen ekstatisch in die Ferne,
+hinweg über die Menschen unter ihm, die Krücke fiel krachend zu Boden,
+und die Arme streckten sich aus. Still war's sekundenlang, man hörte nur
+die eigenen Atemzüge, -- dann brach es los: »Hoch Genosse Reinhard« --,
+»Hoch die Sozialdemokratie« -- »Nieder der Militarismus«, -- und
+plötzlich vereinigten sich die durcheinanderschreienden Stimmen zu einem
+einzigen vollen Gesang: der Schritt heranrückender Massen, die
+überwältigende Einheit eines beherrschenden Gefühls, die rücksichtslose
+Kraft der Jugend lag darin.
+
+»Kommen Sie --« sagte Polenz leise. Wie aus einem Traume sah ich auf.
+Der Saal war schon halb leer. Nur droben auf der Tribüne stand Egidy
+noch mit der kleinen Näherin.
+
+»Lassen Sie mich --« antwortete ich hastig und trat rasch auf die beiden
+zu. »Darf ich einmal zu Ihnen kommen?« -- ganz zaghaft nur sprach ich
+dem jungen Mädchen meine Bitte aus. Sie sah mich an, noch mit dem Glanz
+strahlender Freude auf den Zügen: »Sicherlich!« -- Und ich notierte ihre
+Adresse.
+
+Nicht schnell genug konnte ich zu Hause sein und ließ mir nicht die
+Zeit, Hut und Mantel abzulegen, um Georg zu erzählen, was ich erlebt
+hatte. Er hörte mich lächelnd an. »Was ist mein Liebling für ein
+feuriger Redner,« sagte er, als ich endlich schwieg.
+
+»Ich wollte, ich wäre es! Auf alle Tribünen der Welt würde ich steigen
+und die steinernen Herzen warm machen und die Schlafenden
+aufrütteln ...« Mit einem tiefen Seufzer warf ich mich in den Stuhl.
+
+»So versuch es doch einmal ...«
+
+Ich sprang auf: »Meinst du?!«
+
+Schon am nächsten Morgen ging ich zu Martha Bartels. Weit draußen im
+Osten wohnte sie. Durch zwei schmutzige Fabrikhöfe mußte ich hindurch
+bis zu dem niedrigen Häuschen mit der wackligen Holztreppe, die an einem
+Stall vorbei hinauf in ihre Wohnung führte. Das Rattern der Nähmaschine
+wies mir den Weg; eine laute gleichmäßig lesende Männerstimme begleitete
+es. »... die Befreiung der Arbeiterklasse kann also nur ein Werk der
+Arbeiterklasse selbst sein,« hörte ich durch die Türe. Ein graubärtiger
+Alter öffnete mir. »Laß die Dame nur herein, Vater,« rief Martha Bartels
+aus dem Zimmer, »das ist sicher die Frau Professor --« Mit
+ausgestreckter Hand kam sie mir entgegen.
+
+Ein freundlicher Raum wars, in den ich eintrat: auf den beiden Betten
+lagen rotgewürfelt und glattgestrichen die Kissen, vor dem alten braunen
+Sofa mit dem sorgfältig geflickten Bezug stand auf drei geschwungenen
+Beinen ein runder Tisch, auf dem nicht ein Stäubchen sich zeigte. Nur um
+die Maschine am Fenster bauschte sich weiße Leinwand, sonst herrschte
+peinlichste Ordnung überall. Als einziger Schmuck prangten die Bilder
+von Marx und Lassalle an den Wänden.
+
+Mit Fragen begann ich das Gespräch; Vater und Tochter ergänzten einander
+im Erzählen: wie er einst, als kleiner Schuhmachermeister, lange und
+hartnäckig den Kampf gegen die übermächtige Fabrik geführt habe, wie sie
+-- früh mutterlos -- schon als Schulkind mit verdienen mußte und der
+kleine Haushalt überdies auf sie allein angewiesen war.
+
+»Damals haderte ich mit dem Geschick,« sagte der Alte, »an den lieben
+Gott zu glauben hatte ich längst aufgehört, und oft wußt ich nicht,
+sollt ich den Fabrikanten erschlagen, oder lieber mit dem Kinde zusammen
+dem elenden Leben ein Ende machen.«
+
+»In der Werkstatt, wo ich mit immer müden Augen und einem Stumpfsinn,
+der mir bald alles gleichgültig machte, Knopflöcher nähte, -- Tag aus,
+Tag ein, vom grauen Morgen bis tief in die Nacht immer bloß Knopflöcher!
+--« fuhr die Tochter fort »lernte ich einen Bügler kennen, der nahm mich
+zuerst in Versammlungen mit und steckte mir heimlich Zeitungen und
+Flugblätter zu. Wie mir da die Augen aufgingen!«
+
+Der Alte streichelte mit der runzligen Hand die Wange der Tochter.
+»Sehen Sie, und damit hat mir die Kleine das Leben gerettet! Wir waren
+auf einmal nicht mehr allein, und der Mühe wert wars auch für uns arme
+Leute, zu leben! Hier in diesem Zimmer sind wir während des
+Sozialistengesetzes oft genug mit den Genossen zusammen gekommen, und
+draußen in der Fabrik, wo ich arbeitete -- der Meisterhochmut war mir
+glücklich vergangen! --, und in der Werkstatt, wohin die Martha ging,
+haben wir ganz im stillen immer neue Freunde geworben.«
+
+Die Tochter lachte: »Jetzt gehts dem Vater eigentlich viel zu friedlich
+zu! Sie hätten ihn sehen sollen, wie er mit seinem ehrlichen Gesicht den
+Spitzeln eine Nase drehte und unsere Zeitungen überall einzuschmuggeln
+verstand! -- Na, lange dauerts nicht mehr, und er wird sich seiner alten
+Künste erinnern müssen!«
+
+Und dann erfuhr ich von ihrer jetzigen Tätigkeit: wie sie für ihre
+Gewerkschaft auf Agitationsreisen ging, wie sie in täglicher Kleinarbeit
+für die Partei die Kollegen und Kolleginnen zu gewinnen suchte, wie sie
+im Arbeiterinnenverein die Proletarierfrauen durch Vorlesen aus Büchern
+und Zeitschriften zu geistigen Interessen erzog.
+
+»Wo aber nehmen Sie bloß die Zeit und die Kenntnisse her?« frug ich mit
+steigendem Erstaunen. »Sie müssen doch wohl verdienen, wie ich sehe!«
+
+»Gewiß muß sie das und für Zwei sogar!« antwortete der Vater, »mich will
+sie durchaus nicht mehr in die Fabrik gehen lassen.«
+
+»Er ist mir zu nötig!« unterbrach sie ihn. »Er liest mir vor, wenn ich
+nähe, und wenn wir Feierabend machen, brauch' ich ihn wieder. Er hat
+eine bessere Schulbildung als ich und erklärt mir, was ich in unseren
+Büchern nicht verstehe.« Sie sah nach der Uhr: »Seien Sie nicht böse --
+aber jetzt muß ich fort, -- wir tragen heut in unserem Bezirk
+Wahlflugblätter aus --«
+
+Wir gingen zusammen. Unterwegs erzählte sie mir von ihrem Frauenverein,
+von den polizeilichen Verfolgungen, denen er ausgesetzt wäre. »Sie
+sollten mal hinkommen, Frau Professor!«
+
+»Mit Freuden, wenn ich darf! Aber -- bitte -- nennen Sie mich nicht
+'Frau Professor', Frauentitel sind mir zuwider, wenn sie nicht selbst
+erworben sind.«
+
+Sie blinzelte mich von der Seite an: »Ja -- wie soll ich Sie sonst
+anreden -- ich verschnappe mich am Ende noch mal und sage: Genossin!«
+
+Sie hatte ihr Ziel erreicht. Vor einer kleinen Kneipe strömten die
+Menschen zusammen, Frauen und Männer, junge und alte Leute. Sie grüßten
+einander, wie lauter Freunde. Still trat ich beiseite. Wie sie alle
+fröhlich waren und siegesbewußt! Ein paar mißtrauische Blicke streiften
+mich, mit spöttischem Augenzwinkern gingen Arm in Arm ein paar Mädchen
+an mir vorüber. Und mit jähem Schmerzgefühl empfand ich: daß ich hier
+eine Fremde war.
+
+Acht Tage später begleitete ich Georg zum Wahllokal. Während er im
+Rollstuhl vor der Tür stand, streckten sich ihm von allen Seiten die
+Hände mit den Wahlzetteln entgegen. »Wir wählen den Sozi,« sagte er laut
+und lustig, »meine Frau und ich!«
+
+Aber der Rollstuhl ging nicht über die Stufen. Der Diener, der ihn
+schob, mußte den Gelähmten hineintragen. Ein Auflauf Neugieriger
+entstand. Ich deckte rasch die schwarze Pelzdecke über den armen,
+schmalen Körper -- »Frauen raus!« sauste mich eine rauhe Stimme an, kaum
+daß ich den Fuß auf die Schwelle setzte. Ich ballte unwillkürlich die
+Fäuste und schritt mit zurückgeworfenem Kopf an dem Schreier vorbei in
+den Saal, wo ich vor dem Tisch des Bureaus stehen blieb, bis Georg
+seinen Zettel in die Urne geworfen hatte.
+
+Daß wir uns innerlich mit wachsender Sicherheit zum Sozialismus
+bekannten, spiegelte sich in jeder Nummer unserer Zeitschrift wieder.
+Wir hatten des alten Bartels Selbstbiographie veröffentlicht und,
+dadurch angeregt, durch die sozialdemokratische Presse Aufforderungen
+zur Einsendung solcher Lebensbilder verbreiten lassen. Von allen Seiten
+kamen sie uns zu, und wir erwarteten Wunder von den Folgen der in ihrer
+Einfachheit doppelt erschütternden Bekenntnisse. Aber statt dessen
+liefen aus den Mitgliederkreisen der Ethischen Gesellschaft Klagen um
+Klagen ein über den »aufreizenden, unethischen Ton«, den wir anschlügen,
+und Professor Seefried, Georgs alter Gegner, erschien in Berlin, um
+durch einen öffentlichen Vortrag die politische Neutralität der
+Gesellschaft aufs neue scharf zu betonen und sich in ihrem Namen gegen
+die »einer höheren ethischen Welt- und Lebensauffassung widerstreitenden
+Ideen des Kollektivismus« zu erklären. Eine heftige Debatte in unserer
+Zeitschrift schloß sich daran; und in den Sitzungen und Versammlungen
+der Gesellschaft traten die tiefen geistigen Gegensätze zwischen
+Sozialisten und Antisozialisten trotz aller Aufrechterhaltung ethischer
+Formen immer deutlicher hervor. Ich beteiligte mich bald genug nur aus
+Rücksicht auf Georgs Wünsche an den Vereinsversammlungen.
+
+»Wir müssen uns vor dem zweisamen Egoismus hüten, Kindchen,« mahnte er
+oft; »das hieße den Frieden und die geistige Eintracht unseres
+persönlichen Lebens höher stellen, als unsere Sache.«
+
+Und so mußt ich denn so manchen Abend opfern und kam doch fast immer mit
+einem Gefühl peinlicher Leere nach Hause. Gearbeitet wurde, --
+zweifellos. Da war eine kluge, warmherzige Frau, die eine
+Auskunftsstelle für Bedürftige und Verlassene gegründet hatte und der
+Sorge für die vielen Fragenden all ihre Zeit opferte; da war eine
+andere, die voll tiefen Erbarmens Tag aus, Tag ein denen nachging, die
+eigene Leidenschaft und männliche Lüsternheit in des Lebens tiefste
+Abgründe riß; eine Gruppe gab es, die zu einer künftigen Volksbibliothek
+die Bücher Stück für Stück mühselig zusammentrug. Und Reden wurden
+gehalten, zu Tagesfragen Stellung genommen, und manch ein Schwankender
+sicherlich auf neue Wege geführt.
+
+Aber was galt das alles mir? Entsprach dieser Verein mit seinen paar
+hundert Mitgliedern jener großen Bewegung, wie ich sie erwartet hatte?
+Vergebens erinnerte mich Georg daran, daß wir im ersten Anfang unserer
+Entwickelung stünden. Mir kam es vor, als ob die mit vielem Eifer
+ergriffene praktische Arbeit innerhalb der Gesellschaft den großen
+starken Strom der Idee in hundert klägliche Wasserleitungen teile, deren
+jede grade nur ausreichte, ein paar dünne Süppchen zu kochen.
+
+Oder fehlte es unserer Sache nur an den richtigen Menschen? Unsere
+Zeitschrift und unser Haus wurden allmählich der Mittelpunkt, um den
+sich scharte, was unseres Geistes war. »Eine gefährliche
+Nebenregierung!« hatte Dr. Jacob mir einmal mit sauersüßem Lächeln
+gesagt, -- derselbe Dr. Jacob, der, wie mir dienstfertige Freunde
+berichteten, jedem anvertraute, daß Fräulein von Kleve den Professor von
+Glyzcinski nur geheiratet hätte, um eine Rolle zu spielen.
+
+Selten nur waren wir nachmittags an unserem Teetisch allein. Georgs
+Beziehungen zu den Gelehrten des Auslands zogen uns Gäste aus aller
+Herren Ländern zu; Amerikaner und Engländer fehlten nie; aber auch
+Russen, Rumänen und Japaner fanden sich ein: Studenten und Studentinnen,
+die heißhungrig in wenigen Monden Deutschlands ganze Kultur in sich
+aufzunehmen verlangten, Professoren, die dem alten Witzblattypus in
+nichts mehr glichen, für die das Leben Wissenschaft und die Wissenschaft
+Leben war.
+
+Ein geistvoller Kopf, mit den Spuren mancher Säbelmensur auf den Zügen,
+tauchte häufig zwischen ihnen auf: der des Sozialdemokraten Schönlank.
+Niemand verstand wie er, die Ideen der Partei darzustellen und zu
+verteidigen, und stets umgab ihn eine aufmerksame Zuhörerschaft. Auch
+Egidy kam, und Martha Bartels und ihr Vater. Eines Tages brachte sie
+sogar den lahmen Reinhard mit, den Professor Tondern, unser
+sozialpolitisch am meisten links stehendes Vorstandsmitglied, sofort mit
+Beschlag belegte, um mit der Gewerkschaftsbewegung Fühlung zu gewinnen.
+Auch der Leiter der Neuen Freien Volksbühne war ein häufiger Gast, und
+manch ein junger Theologe, voll ehrlicher Begeisterung für die neuen
+Aufgaben, die der christlich-soziale Kongreß den Vertretern der Kirche
+stellte, fand den Weg zu uns. Bertha von Suttner erschien, sobald sie in
+Berlin war, beseelt von jenem strahlenden Glauben an die Sache, der das
+Kennzeichen geborener Reformatoren ist, und über den nur engherzige
+Alltagsleute lächeln. Denselben heiteren Optimismus, der die ganze
+Atmosphäre in starke Schwingungen zu versetzen scheint, brachte Frances
+Willard in unseren Kreis, die tapfere Amerikanerin, die auf dem Feldzug
+gegen Laster und Not entdeckt hatte, daß ihrem Geschlecht zu seiner
+Durchführung die Waffen fehlten, und die nun mit einer Energie ohne
+Gleichen den Gedanken des Frauenstimmrechts von einem Ende der Welt zum
+anderen trug.
+
+So verschiedenartig die Menschen waren, die über den dunkeln Hof und die
+finstere Treppe den Weg in unsere hellen Zimmer fanden, -- zweierlei war
+ihnen allen gemeinsam: die Überzeugung, daß unsere Welt sich das
+Lebensrecht verscherzt habe, und die Kraft, die Welt der Zukunft mit der
+Hingabe des ganzen Lebens aufzubauen.
+
+»Ist das nicht recht eigentlich unsere Ethische Gesellschaft?« sagte
+Georg eines Tages, als unsere Gäste all ihre Reformpläne und
+Umsturzideen miteinander ausgetauscht hatten und im Rausch der eigenen
+Begeisterung bis zum späten Abend bei uns geblieben waren. »Von allen
+Seiten bohren sie schon den Felsen an, der unser Nordland vom
+Zukunftssüden trennt!« Er strahlte wieder wie ein Kind.
+
+»Ich möchte auch bohren, Georg!« meinte ich -- eine tiefe
+Unzufriedenheit mit mir selbst hatte mich innerhalb dieses Kreises
+selbständig schaffender Menschen ergriffen --, »nicht immer bloß
+nachschleichen, wo die anderen schon den ersten Schritt getan haben.«
+Schon längst beschäftigte mich der Gedanke, daß die Frauen vor allem
+berufen seien, Trägerinnen der sozialen Bewegung zu werden, die
+notwendig zum Sozialismus führen müsse.
+
+»Unsere politische Rechtlosigkeit, unsere wirtschaftliche Abhängigkeit,
+unsere soziale Unterdrückung stellt uns auch ohne unser Wissen und
+Wollen auf die Seite aller Entrechteten. Unsere mütterlichen
+Empfindungen machen uns überdies hellsichtiger für Not und Elend. Hätten
+wir die Frauen, -- wir hätten die Welt!« Ich lief aufgeregt im Zimmer
+umher -- »das ist eine Aufgabe, die sich der Mühe lohnt -- --«
+
+»Und die meine Alix erfüllen kann,« unterbrach mich Georg, mir beide
+Hände entgegenstreckend.
+
+Gleich am nächsten Tage ließ ich mich in die Vortragsliste der Ethischen
+Gesellschaft einzeichnen. Da es immer an Rednern fehlte, wurde meine
+Anmeldung mit Freuden begrüßt. Und nun ging ich an die Vorbereitung.
+Durch amerikanische und englische Frauenzeitschriften war ich über den
+Stand der Bewegung im Ausland vollkommen orientiert; der »Vorwärts,« die
+Arbeiterinnenzeitung, die Versammlungen des Arbeiterinnenvereins, die
+ich mit Martha Bartels besuchte, hatten mir ein Bild von der Lage der
+Proletarierinnen, ihren Wünschen und ihren Bestrebungen gegeben; nur von
+der deutschen Frauenbewegung wußte ich noch nicht viel.
+
+Seit einem halben Jahrhundert kämpfte sie um die Eröffnung bürgerlicher
+Berufe, um höhere Bildung. Sie kämpfte?! Ach nein; sie hatte in Vereinen
+und Vereinchen Resolutionen und Petitionen verfaßt, -- aber die Welt
+außerhalb ihrer Kreise wußte nichts von ihr. Ich las die Broschüren von
+Helma Kurz; ich besuchte Frau Vanselow, die ich bei Egidy kennen gelernt
+hatte, und deren Ruf, von allen Frauenrechtlerinnen die radikalste zu
+sein, sie mir sympathisch machte. Aber die Tendenzen ihres Vereins und
+seines kleinen Organs waren keine anderen als die der Kurz.
+
+»Ich begreife nicht, wie Sie bei solchen Forderungen stehen bleiben
+können!« rief ich, als Frau Vanselow mir ihre Prinzipien
+auseinandersetzte. »Und wenn wir schon Pastoren, Professoren und
+Advokaten werden können, was haben wir dann besonderes, als einige
+Berufsphilister und Bildungsproleten mehr! Damit ist die Frauenfrage
+ebenso wenig gelöst, wie sie etwa bei den Arbeiterinnen gelöst ist, die
+längst das Recht haben, zu schuften wie die Männer.«
+
+»Ich bin ganz Ihrer Meinung -- ganz und gar --« nickte Frau Vanselow
+eifrig und hob die schweren Lider von den berühmt schönen Augen -- »aber
+wir müssen vorsichtig -- sehr vorsichtig sein, um zunächst nur einzelne
+Konzessionen zu erringen. Sie sind jung, -- kämpfen Sie erst so lange
+Jahre wie ich, meine liebe Freundin, und Sie werden einsehen, daß wir
+Frauen nur Schritt für Schritt vorgehen dürfen. Ich besonders habe
+schwer zu ringen -- niemand versteht mich -- meine Vereinsdamen sind die
+Ängstlichkeit selbst --«, sie griff nach meiner Hand und behielt sie in
+der ihren -- »wie froh wäre ich, in Ihnen eine frische Hilfskraft
+gewinnen zu können!« Ich errötete erfreut; hier bot sich mir eine neue
+Gelegenheit, um zu wirken. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen,«
+antwortete ich, »aber ehe ich mich Ihnen verpflichte, sollten Sie erst
+abwarten, was ich leisten kann.«
+
+Mit steigendem Eifer arbeitete ich an meinem Vortrag. Ich lernte ihn
+Satz für Satz auswendig. Am Abend vor der Versammlung war »Generalprobe«
+vor Georg als meinem einzigen Zuhörer. »Wenn ich mich schon vor dir so
+fürchte, wie soll das bloß morgen werden!« sagte ich, und das Papier
+zitterte in meinen Händen. Da klingelte es, -- ich hörte eine Stimme,
+die mir in diesem Augenblick gespannter Erregung die Tränen in die Augen
+trieb: mein Vater! Ich hatte seine Rückkehr noch nicht erwartet und nun
+stand er vor mir -- sehr gealtert, ganz blaß, die Hände schwer auf den
+Stock stützend --, wie an den Boden gewurzelt.
+
+»Papa!«
+
+»Mein liebes Herzenskind!« Ich lag in seinen Armen. Und dann nahm er
+meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mich an. »Wie rosig du
+aussiehst -- und wie -- wie glücklich!« Mit einer raschen Bewegung
+näherte er sich Georg und reichte ihm die Hand. »Verzeiht mir, Kinder,
+verzeiht! -- Und du, hab Dank, tausend Dank, daß ich meine Alix so
+wiederfinde!« Er konnte sich nicht trennen; jedes Bild an der Wand,
+jeder Zimmerwinkel mußte einmal und noch einmal besichtigt werden. »Wie
+hübsch und friedlich es bei Euch ist!« Er legte mit einem Seufzer die
+Hand über die Augen. »Da werdet Ihr mich so leicht nicht mehr los
+werden!«
+
+Von allem erzählte er, was ihn in den Monaten seit unserer Trennung
+beschäftigt hatte, und vergaß in der Lebhaftigkeit rasch, wen er vor
+sich sah: »Diese Rasselbande, die die Militärvorlage ablehnte, -- und
+dann diese infamen Wahlen -- --.«
+
+Wir schwiegen, aber ein harter Zug trat auf Georgs Gesicht. Er räusperte
+sich vernehmbar. Der Vater stockte. »Ach soo --« sagte er gedehnt, biß
+sich heftig auf die Lippen und stand auf. Ich begleitete ihn hinaus. An
+der Türe hielt er meine Hand noch einmal fest: »Auf allen Litfaßsäulen
+steht dein Name -- mich hat das nicht wenig entsetzt -- du wirst kaum
+auf mich rechnen in der Versammlung -- Mama wird mir berichten. -- Gute
+Nacht, mein Kind.«
+
+ * * * * *
+
+Am Abend darauf trat ich in den hellen, dicht gefüllten Saal des
+Langenbeck-Hauses. Einen Augenblick lang schien die Erde zu schwanken,
+die Lichter tanzten einen wahnsinnigen Ringelreihen, und mir war, als
+müßten die vielen Menschen auf den amphitheatralisch hoch aufsteigenden
+Bänken wie eine Lawine auf mich niederstürzen. Da fiel mein Blick auf
+Georg: seine strahlenden Augen ruhten fest auf mir, und ein Gefühl
+sicherer Ruhe überkam mich. Ich sprach zuerst nur für ihn. Allmählich
+aber strömte etwas mir entgegen wie ein lebendig gewordenes Verstehen,
+-- ich fühlte die Menschen, die unter meinen Worten _ein_ Mensch
+geworden waren, -- mit _einem_ klopfenden Herzen, _einem_ horchenden
+Verstand.
+
+»Jedes Stück unserer Kleidung, von der Leinwand an bis zu dem
+Seidenkleid, von den Nägeln unserer Stiefel bis zu dem feinen Leder
+unserer Handschuhe könnte von hohläugigen, müden Frauen, von blassen um
+ihre Jugend betrogenen Mädchen qualvolle Leidensgeschichten erzählen.
+Der hohe Spiegel, der das Bild der schönen, glücklichen Frau
+wiederstrahlt, hat vielleicht ein keimendes Leben vernichtet ... Und der
+Damast, der unsere Tafeln deckt, -- Leopold Jakoby singt von ihm:
+'Daraus hervor grauenhaft -- das Gespenst des Hungers grinst mich an --
+über den Tisch ...«
+
+Ein Aufseufzen ging durch den Saal wie eine schwere Woge, die mich trug
+-- mich empor hob -- hoch -- immer höher, so daß meine Stimme über alle
+hinweg in die Ferne drang.
+
+»... die Prostitution ist das einzige Privilegium der Frau ... Ein
+Mädchen darf, solange es minorenn ist, ohne die Einwilligung ihres
+Vaters nicht heiraten, aber es darf sich preisgeben, ohne daß sein Vater
+es daran hindern kann. Die Frau darf -- bei uns in Deutschland! -- nicht
+Medizin studieren, weil man für ihre Weiblichkeit so zärtlich besorgt
+ist und ihre Sittlichkeit hüten will, aber sie darf sich einen
+Gewerbeschein verschaffen, der sie berechtigt, sich und andere physisch
+und moralisch zugrunde zu richten. Sie darf -- bei uns in Deutschland!
+-- an keiner öffentlichen Wahl sich beteiligen, aber sie darf von ihrem
+durch den Verkauf ihres Körpers schmählich erworbenen Geld dem Staate
+Abgaben zahlen ...«
+
+Jetzt war es der Sturm, der von drüben mir entgegenschlug, -- der Sturm
+der Empörung, und mein war die Macht, ihn zu lenken, wo es Ruinen
+einzureißen, dürre Bäume zu stürzen galt!
+
+»... Was tun? fragen wir mit dem großen russischen Dichter, dessen Werk
+nur ein Ausdruck des Gefühls von Hunderttausenden ist. Wir werden nicht
+mehr petitionieren, sondern fordern, uns nicht mehr hinter den
+verschlossenen Türen unserer Vereine über unsere frommen Wünsche
+unterhalten, sondern auf den offenen Markt hinaustreten und für ihre
+Erfüllung kämpfen, gleichgültig, ob man mit Steinen nach uns wirft ...«
+
+Brausender Beifall unterbrach mich, -- ich sah nur Georg, der weit
+vorgebeugt in seinem Rollstuhl saß und die Augen nicht von mir ließ.
+
+»... Aber was wir auch fordern mögen zugunsten unseres Geschlechts, das
+die wirtschaftliche Entwicklung aus dem Frieden des Hauses hinaus in den
+Kampf ums Dasein trieb, -- man wird uns mit Phrasen und kläglichen
+Pflastern für unsere Wunden abspeisen, solange die politische Macht uns
+fehlt ...«
+
+Erneuter, dröhnender Beifall, -- aber von irgendwo her mischte sich ein
+giftiger, zischender Laut hinein.
+
+»... Von der geistigen Inferiorität der Frau höre ich große und kleine
+Leute sprechen, die, darauf gestützt, unsere Forderung der politischen
+Gleichberechtigung glauben ablehnen zu dürfen. Aber erst wenn die Frauen
+ebenso viele Jahrhunderte lang wie die Männer die Hilfe der
+Wissenschaften, die Schulung des Lebens und den Sporn des Ruhmes
+genossen haben werden, wird es an der Zeit sein, zu fragen, wie es mit
+ihrem Verstande steht. Das weibliche Geschlecht -- so wirft man weiter
+ein -- habe noch kein Genie hervorgebracht. Hat man bei den Negern
+Amerikas auf das Genie gewartet, ehe man ihnen politische Rechte gab?
+Hat man ihre Gewährung beim Mann von einer Prüfung seiner Geisteskräfte
+abhängig gemacht?... Sie können der Wehrpflicht nicht genügen, darum
+kommt den Frauen das Stimmrecht nicht zu, lautet das letzte Argument der
+in die Enge getriebenen Gegner. Ich aber frage: der Mann, der sein Leben
+vor dem Feinde in die Schanze schlägt, und die Frau, die mit Gefahr
+ihres Lebens dem Staate die Bürger gebiert -- haben sie nicht die
+gleiche Berechtigung über das Wohl und Wehe des Vaterlands zu
+entscheiden? Jede dreißigste Frau stirbt an diesem ihrem natürlichen
+Beruf, und sie wird trotz aller Fortschritte der Wissenschaft auch dann
+noch in Lebensgefahr schweben, wenn der Völkermord längst der Erinnerung
+angehören wird ...«
+
+Ich hatte geendet -- mir war, als versänke ich in einem vom Orkan
+gepeitschten Ozean. Es dunkelte mir vor den Augen -- ich fühlte
+Händedrücke -- sah in hundert unbekannte Gesichter, -- -- vor all diesen
+fremden Menschen hatte ich eben gesprochen?! Wie war das nur möglich
+gewesen?! -- Meine Mutter stand auf einmal vor mir, mit heißem, erregten
+Gesicht -- meine Schwester umarmte mich stürmisch. -- An der Tür drängte
+sich Martha Bartels durch die Menge, -- ich fühlte nur, wie sich ihre
+heißen Finger schmerzhaft fest um die meinen preßten. Endlich -- endlich
+sah ich Georg! Was galten mir die anderen alle, -- von ihm allein
+erwartete ich die Wahrheit: seine Augen waren feucht, -- er beugte den
+Kopf über meine Hand und küßte sie.
+
+Die Menschen hatten sich verlaufen. Fast unbemerkt traten wir in die
+stille, dunkle Ziegelstraße, und leise rollten die Räder des Fahrstuhls
+über das Pflaster. An einer Straßenecke legte sich mir eine Hand auf
+die Schulter. Erschrocken wandte ich den Kopf: Mein Vater stand vor
+uns. »Ich habs zu Hause nicht ausgehalten, -- und nun ließ ich all deine
+Zuhörer Revue passieren. Wie stolz bin ich auf deinen Erfolg!« Und er
+ging den ganzen langen Weg durch die Karlstraße und den nachtdunkeln
+Tiergarten mit uns.
+
+Diese Nacht schlief ich nicht: die alten wachen Kinderträume umgaukelten
+mich. Strahlte nicht auf meiner Fahne, wie auf der Johannas von Orleans,
+das Bild der Mutter des Menschen? Heute hatte ich sie entfaltet, -- im
+Sturme würde ich sie zum Siege führen!
+
+Als mir Professor Tondern am nächsten Tage spöttisch von der
+»Premieren-Publikums-Begeisterung« sprach, »an deren Feuer sich kaum ein
+Nachtlicht anzünden läßt«, empfand ich seine Bemerkung nur als Ausfluß
+seiner pessimistischen Weltanschauung. Georg bestärkte mich darin.
+
+»Ihr Unglauben an die Menschennatur lähmt Ihre Tatkraft,« sagte er ihm.
+
+»Und Ihr weltfremder Idealismus wird zwar nicht Sie, wohl aber Ihre Frau
+in einem Meer von Enttäuschung untergehen lassen,« antwortete er
+ärgerlich und fuhr sich nervös mit allen zehn Fingern durch die langen,
+roten Haare.
+
+»Warum halten Sie mich allein für gefeit?« frug Georg lächelnd.
+
+»Weil Sie vom Frieden Ihres Zimmers aus die Welt betrachten -- und Ihre
+Frau mit beiden Füßen zugleich mitten in den Strudel springt --«,
+Professor Tondern ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Weil Ihnen
+gegenüber alle bösen Triebe der lieben Nächsten sich in den dunkelsten
+Winkel verkriechen -- Verleumdungssucht, Ehrgeiz, Neid -- und sie Ihrer
+Frau um so zähnefletschender an die Gurgel springen ...«
+
+Ich sah ihm fest in die Augen: »Sie würden so nicht sprechen, wenn Sie
+nicht gewichtige Gründe hätten. -- Trotzdem: ich will -- ich darf nicht
+Ihrer Ansicht sein! Auf meinem Glauben an die Menschen beruht meine
+Kraft.«
+
+Er nagte nervös an der Unterlippe. »Glauben Sie an die Sache, -- das
+wäre besser für Sie und uns!«
+
+Frau Vanselows Besuch unterbrach unser Gespräch. Sie hatte nicht Worte
+genug, um die Größe meines Erfolgs zu schildern. »Und nun dürfen Sie
+sich uns nicht mehr entziehen,« sie richtete ihre feucht gewordenen
+Augen mit einem Ausdruck zärtlichen Flehens auf mich, »sie müssen ihren
+Vortrag in unserem Verein wiederholen!«
+
+»Nein, verehrte Frau!« Meine Energie ließ mich fast erschrecken.
+»Ich wiederhole weder diesen Vortrag, noch spreche ich vor
+Vereinsmitgliedern. Veranstalten Sie eine Volksversammlung! Wir müssen
+die gewinnen, die noch nicht die unseren sind, -- wir müssen vor der
+breitesten Öffentlichkeit die Forderung des Frauenstimmrechts erheben!«
+
+Sie starrte mich entgeistert an: »Eine Volksversammlung?! Aber das ist
+ja -- das ist ja -- sozialdemokratisch!« Es bedurfte jedoch nur eines
+kurzen Zuredens, an dem Georg sich lebhaft beteiligte, um sie zu
+gewinnen.
+
+»Sie haben ganz und gar meine Ansicht ausgesprochen, mein teuerster Herr
+Professor, und der Verein Frauenrecht wird es sich nicht entgehen
+lassen, auch in diesem Fall an der Spitze zu schreiten! -- Aber nicht
+wahr -- meine liebe junge Freundin --, Sie werden ihre Wünsche vor
+unserem Vorstand selbst vertreten?«
+
+Ich versprach ihr, was sie wollte, und wandte mich, als sie fort war,
+mit einem triumphierenden »Nun?!« an Tondern. Er fuhr, wie erschrocken,
+aus seiner Schweigsamkeit auf: »Erlassen Sie mir die Antwort! Sonst
+entdecken Sie am Ende noch Ihre Seelenverwandtschaft mit S. M., und
+verlangen von dem Nörgler, daß er den Staub von seinen Pantoffeln
+schüttele!« Und mit überstürzter Hast empfahl er sich.
+
+Frau Vanselow führte mich im Vorstand des Vereins Frauenrecht ein: »Sie
+werden sich mit mir freuen, meine Damen, daß es mir gelungen ist, diese
+junge vielversprechende Kraft gerade unserem Verein gewonnen zu haben.«
+Die Damen begrüßten mich mit neugierig-kühler Reserviertheit. Ich war
+doch wieder in recht beklommener Stimmung. All diese Frauen, die seit
+Jahrzehnten in der Bewegung standen, die an Wissen, an Erfahrungen, an
+Verdiensten reich waren, sollte ich -- ein Neuling auf allen Gebieten --
+meinem Willen gefügig machen!
+
+Aber je öfter ich mit ihnen zusammenkam -- und es bedurfte zahlreicher
+Sitzungen, um nur um kleine Schritte vorwärts zu kommen --, desto mehr
+erstaunte ich. Es war, als ob der Verein um ihr Denken und Streben eine
+Mauer gezogen hätte. Von dem, was jenseits lag, wußten sie nichts, und
+nur widerstrebend ließen sie sich von mir an einen Ausguck ziehen, von
+wo aus sie den Feminismus im Ausland, seine großen Kämpfe und Siege und
+den Stand der Stimmrechtsbewegung überschauen konnten.
+
+»Das ist alles ganz schön und gut, aber nichts für uns deutsche Frauen,«
+meinte kopfschüttelnd ein rundliches, bebrilltes Persönchen, dessen
+Doktortitel sie mir äußerst interessant erscheinen ließ; »wir würden das
+Wichtigste gefährden: die endliche Zulassung der deutschen Frauen zum
+Medizinstudium, wenn wir so bedenkliche Fragen wie die politischer
+Rechte berühren wollten!«
+
+»Und unser Verein, der sowieso schwer genug kämpfen muß, würde
+zweifellos seine einflußreichen und opferwilligsten Mitglieder
+verlieren,« jammerte ein dürre alte Jungfer.
+
+»An das Gefährlichste denken Sie natürlich zuletzt, meine Damen,« fügte
+eine Dritte hinzu und setzte eine geheimnisvoll-wissende Miene auf.
+»Angesichts der jetzigen Strömung innerhalb der Regierungskreise würde
+es unseren Verein politisch anrüchig machen und der Gefahr der Auflösung
+aussetzen, wenn wir öffentlich eine sozialdemokratische Forderung
+aufstellen würden.«
+
+»So lassen Sie doch den Verein zugrunde gehen; sein Märtyrertum wird nur
+der großen Sache nützen!« rief ich ungeduldig. Mitleidiges Lächeln,
+mißbilligendes Kopfschütteln waren die Antwort. Es blieb bei der
+Ablehnung, das letzte Argument war ausschlaggebend gewesen.
+
+»So werde ich versuchen, Helma Kurz und ihren Verein zu gewinnen.« Ohne
+jeden Nebengedanken hatte ich ausgesprochen, was mir eben durch den Kopf
+gegangen war.
+
+Frau Vanselow, die mir bisher nur vielsagend-melancholische Blicke
+zugeworfen hatte, war aufgesprungen. »Helma Kurz?! -- Niemals!« rief
+sie. »Das, meine Damen, werden Sie nicht zugeben!« Eine erregte, von
+allen zugleich geführte Debatte entspann sich. Ihr Resultat war, daß der
+Verein als solcher sich statutengemäß für die Stimmrechtsfrage nicht
+engagieren könne, daß er jedoch unter der Hand das Arrangement und die
+Kosten einer öffentlichen Versammlung und seine Vorsitzende ihre Leitung
+übernehmen wolle.
+
+Ich mußte mich nur noch verpflichten, meinen Vortrag vorher in extenso
+der Zensur des Vorstandes zu unterwerfen.
+
+Nicht wie eine Siegerin kam ich nach Hause. Vergebens suchte Georg mich
+zu trösten: »Das Wichtigste ist doch, daß du die Sache durchgesetzt
+hast!«
+
+»Meinst du? -- Wenn aber der Sache die Träger, die Menschen, fehlen?!«
+
+»Bist du nicht da? -- Und bin ich nicht bei dir?« Er streichelte mir
+leise den herabhängenden Arm, eine Bewegung, bei der mich immer ein
+Gefühl tiefer Ruhe überkam.
+
+Dankbar küßte ich seine Stirn, -- unter meinen Lippen stieg es auf wie
+eine Flamme.
+
+»Sag, Georg -- lieber Georg -- sag es mir ganz ehrlich --« flüsterte ich
+und trat beschämt von ihm zurück, »hast dus nicht gern, wenn ich dich
+küsse?«
+
+Mit einem langen, tiefen Blick aus dunkel erweiterten Pupillen sah er zu
+mir auf. Und ich sank vor ihm in die Kniee, preßte das erglühende
+Gesicht in die schwarze Pelzdecke und fühlte, wie seine zitternden
+Finger mir zärtlich die Locken von den Schläfen strichen ...
+
+Meinen neuen Vortrag schrieb ich wie im Fluge, kaum daß die Feder den
+einstürmenden Gedanken zu folgen vermochte. Und die Stimme zitterte mir
+vor Erregung, als ich ihn das erste Mal vorlas. Meine gestrengen
+Zuhörerinnen aber blieben merkwürdig kühl. Nur Frau Vanselow nahm meine
+beiden Hände mit einem verständnisinnigen Druck zwischen die ihren.
+
+»Ich habe mir die Punkte notiert, die Sie ändern, respektive fortlassen
+müssen,« sagte das rundliche Fräulein Doktor und rückte die Brille
+fester auf ihr viel zu kurz geratenes Näschen. »Zunächst dürfen Sie
+nicht sagen, daß die Existenz von Wohltätigkeitsvereinen ein
+Armutszeugnis für den Staat sei und die Gebenden sich ihrer
+Wohltätigkeitsakte ebenso schämen müßten, wie die Empfangenden. Sie
+schlagen damit die Besten vor den Kopf --.«
+
+Ich verteidigte meine Anschauung, aber die Abstimmung entschied gegen
+mich.
+
+»Auch Ihre Elendsschilderungen sind viel zu übertrieben und wirken in
+höchstem Maße aufreizend,« meinte die Hagere.
+
+»So sollen sie wirken!« entgegnete ich, »und überdies stammen all meine
+Angaben aus amtlichen Quellen.« Nach einer kurzen, scharfen
+Auseinandersetzung gab meine Kritikerin seufzend nach.
+
+»Unbedingt notwendig aber ist es, daß Sie den Satz über die
+Sozialdemokratie streichen,« erklärte eine andere Vorstandsdame, deren
+verwandtschaftliche Beziehung zu einem freisinnigen Abgeordneten ihr
+eine Art Respektstellung geschaffen hatte.
+
+»Das ist im Rahmen meines Vortrags einfach unmöglich;« widersprach ich.
+»Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die für die
+Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts eintritt.«
+
+»Schlimm genug! Wir werden darum immer verdächtig erscheinen, wenn wir
+ihre Wünsche zu den unseren machen, -- das habe ich ja schon oft betont,
+ohne Gehör zu finden.«
+
+Ich hielt hartnäckig an dem beanstandeten Satze fest und war nahe daran,
+den ganzen Vortrag zurückzuziehen. Aber mußte ich nicht Konzessionen
+machen, um nur überhaupt etwas durchzusetzen?! Ich wurde wieder
+überstimmt, -- Frau Vanselow allein enthielt sich mit einem bedauernden
+Achselzucken der Abstimmung.
+
+In dem großen Saal des Konzerthauses in der Leipzigerstraße fand an
+einem Sonntag Vormittag die Versammlung statt. Bis in die Gallerien
+hinauf drängten sich die Menschen. An langen Tischen unter der
+Rednertribüne saßen mit blasierten Gesichtern und gespitzten Bleistiften
+die Journalisten. Mit triumphierendem Lächeln, den Kopf von einem
+Spitzenschleier malerisch bedeckt, die ebenmäßige Gestalt eng von
+schwarzer Seide umschlossen, stand Frau Vanselow neben mir. »Helma Kurz,
+-- sehen Sie nur! Ganz grün ist sie vor Ärger --« hatte sie mir noch
+hastig zugezischelt. Ein Polizeileutnant saß an meiner anderen Seite,
+ein weißes Papier breit vor sich auf dem Tisch, an dessen Kopf zunächst
+nichts weiter als mein Name stand.
+
+Und dann sprach ich, und wieder trug mich die Woge, und ich empfand die
+dunkle Menge vor mir wie Ton, der sich nach meinem Willen formte.
+Achtlos zerknitterte ich mein Manuskript zwischen den Händen. Ich
+bedurfte seiner nicht. Vor dem Rednerpult fielen mir kräftigere Worte
+und stärkere Beweisführungen ein als am Schreibtisch. Gestern erst hatte
+Martha Bartels mir von der polizeilichen Auflösung eines
+Arbeiterinnenvereins berichtet. Gab es ein besseres Beispiel als dies,
+um die Rechtlosigkeit der Frauen zu beleuchten? »Die Rücksicht auf die
+Weiblichkeit gebietet solch ein Vorgehen, sagen die Männer,« rief ich
+aus, »aber die Rücksicht auf dieselbe Weiblichkeit hat noch keinen Mann
+verhindert, Frauen in die Steinbrüche und Bergwerke zu schicken, und
+werdende Mütter in die Giftluft der Fabrik!« Frenetischer Beifall von
+den Galerien herunter ließ mich minutenlang nicht zu Worte kommen. Der
+Polizeileutnant stenographierte, -- entgeistert sah Frau Vanselow mich
+an: »Das ist gegen die Abmachung!« flüsterte sie erregt. Ich lächelte.
+
+»Und nun frage ich euch, meine Schwestern, habt ihr wirklich nichts zu
+tun für euer Geschlecht? -- Denkt an die jüngste Vergangenheit, wo der
+Vertreter Sr. Majestät des Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen schändete,
+aber dessen ungeachtet für einen 'tüchtigen und pflichttreuen Beamten'
+erklärt wurde, -- und dann wagt es noch, zu sagen: wir haben keine
+Bürgerpflicht!... Von Ort zu Ort will ich wandern und jene heilsame
+Unzufriedenheit, die die Mutter aller Reformen ist, in die Herzen der
+Frauen pflanzen!...« Der Polizeileutnant wurde rot vor Eifer, ich hörte
+das Kritzeln seines Stifts durch alles Klatschen hindurch. Und ich
+vergaß mein Versprechen und sprach von der Sozialdemokratie, von »den
+Rittern der Arbeit, die heute die einzigen Ritter der Frauen sind.«
+
+Jetzt brauste der Beifall wie der Frühlingssturm, der die dürren Blätter
+jauchzend niederschüttelt, um den jungen Knospen Licht und Luft zu
+schaffen ...
+
+Die folgenden Tage waren ein einziger Ikarussturz, -- nur daß die Arme
+der Liebe mich auffingen, ehe ich den harten Boden berührte. Im Verein
+Frauenrecht kam es fast zu einem Staatsstreich, um den Vorstand aus dem
+Sattel zu heben; mit Vorwürfen wurde ich überschüttet. Die Zeitungen
+berichteten halb höhnisch, halb wegwerfend über die »verkappte
+Genossin«, konservative Blätter unterließen nicht, den »unerhörten
+Seitensprung der Frau eines preußischen Universitätsprofessors« an die
+große Glocke zu hängen, und Georg kam eines Morgens ernst und versonnen
+aus seiner Vorlesung zurück: »Althoff hat mir einen wohlmeinenden Wink
+gegeben!« sagte er. Auch mein Vater erschien und machte mir eine Szene,
+als wäre ich noch zu Haus.
+
+»... Mit Fingern weisen die Leute auf mich ... Im Reichstag -- im Klub
+kann ich mich nicht mehr sehen lassen ...« schrie er. Georg hatte sich,
+auf beide Hände gestützt, hoch aufgerichtet.
+
+»Exzellenz vergessen,« sagte er kalt und scharf, »daß Sie sich bei mir
+befinden!« Einen Moment lang maßen sich die beiden Männer mit einem
+Blick angriffsbereiter Feindschaft, dann verließ mein Vater wortlos das
+Zimmer, und erschöpft sank Georg in den Stuhl zurück.
+
+Von Mama erhielt ich einen langen Brief: »Ich bin viel zu erregt, um
+Dich sehen zu können. Wie könnt Ihr Ethiker es vor Eurem Gewissen
+verantworten, dem eigenen Vater die Türe zu weisen! In welche Abgründe
+die Gottlosigkeit Euch treibt, das hast Du freilich durch Deinen Vortrag
+schon bewiesen: Was ist es anders als eine teuflische Eingebung, in
+einer Zeit, wo dem Volke nichts so nottut als christliche Ergebenheit
+und Demut, die Unzufriedenheit zu predigen!...«
+
+So schwer es mir wurde, Georg allein zu lassen, dessen fahle Blässe mich
+jetzt oft entsetzte, so empfand ichs persönlich doch wie eine
+Erleichterung, daß meine Delegation zur Generalversammlung der Ethischen
+Gesellschaft mich für einige Tage von Berlin fortführte. Wir fuhren
+zusammen: Geheimrat Frommann, Frau Schwabach, die Leiterin der
+Auskunftsstelle, Professor Tondern und ich. Schon unsere
+Eisenbahnunterhaltungen gaben einen Vorgeschmack der kommenden
+Diskussionen. Mit einer Schärfe, die von der milden, versöhnlichen Form
+kaum abgeschwächt wurde, gab unser Vorsitzender mir zu verstehen, wie
+wenig unsere Zeitschrift der Aufgabe, allgemein menschliche Ethik zu
+verbreiten, entspräche, und Frau Schwabach hielt mir ernstlich vor, wie
+unethisch meine Angriffe auf die bürgerliche Gesellschaft in meiner
+letzten Rede und in jedem meiner Artikel wären.
+
+»Sie würden unendlich viel stärker wirken, wenn Sie alle Negation
+beiseite ließen --« sagte sie.
+
+»Und die guten Leute streichelten, damit sie im besten Fall schnurren
+wie die Katzen,« fügte Tondern höhnisch hinzu. »Wer keine Kritik
+verträgt und dem Spiegel nicht dankbar ist, der alle Flecken und Falten
+wiedergibt, -- der soll sich nur gleich begraben lassen!«
+
+Noch am Abend in Leipzig zeigte er mir den Antrag, den er stellen
+wollte: »Die Ethische Gesellschaft nimmt mit Genugtuung davon Kenntnis,
+daß der Kongreß für Hygiene sich für den Achtstundentag ausgesprochen
+hat, und erklärt, von ethischen Gesichtspunkten ausgehend, sich dieser
+Forderung anzuschließen.«
+
+»Das wird uns vorwärts bringen!« sagte ich und gab ihm freudig meine
+Unterschrift.
+
+Er verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln: »Vorwärts
+bringen?! Gewiß, die reinliche Scheidung der Geister ist allemal ein
+Fortschritt!«
+
+Zwei Tage später saßen wir einander an demselben Tisch gegenüber: seine
+Augenwinkel zuckten nervös, unruhig trommelten seine Finger auf der
+Tischplatte, während ich, totmüde von den langen Verhandlungen,
+gedankenlos in einer Zeitung blätterte.
+
+»Was sagen Sie nun?!« unterbrach er unser langes Schweigen. »Ich -- ich
+bin noch ein Optimist gewesen! Eine Ethische Gesellschaft, die
+geschlossen gegen uns beide den Achtstundentag ablehnt! -- Weil er ein
+'Schlagwort' ist! -- Weil seine Annahme den Verein sprengen würde! --
+Weil es 'unethisch' ist, andere zu 'verletzen'! -- Was meinen Sie: ist
+es vom Standpunkt unserer Privatethik aus zu rechtfertigen, wenn wir
+immer noch nichts als heimliche Sozis sind?!«
+
+Ich senkte den Kopf tiefer. Ich dachte an Georg, an seine strahlenden,
+hoffnungsvollen Kinderaugen, an seine zarten, schmalen Hände, seinen
+armen gelähmten Körper. »Nur eine Aufgabe kann ich erfüllen,« hatte er
+einmal gesagt, »von meinem Katheder aus die Jugend 'vergiften'!« Und
+dann fiel mein Blick auf den breiten Trauring an der Hand meines
+Gefährten, -- er hatte ein Weib daheim und vier kleine Kinder.
+
+»Sind wir so frei, um tun zu können, was wir wollen?« kam es mir leise,
+wie im Selbstgespräch über die Lippen.
+
+»Sie haben recht -- wir müssen uns abfinden -- so oder so!« ...
+
+Früher, als Georg mich erwartet hatte, kam ich nach Haus. Ganz leise
+schloß ich die Wohnungstür auf, -- um die Zeit war er immer in seine
+Studien vertieft, dann hörte und sah er nichts. Aber kaum hatte ich den
+Fuß über die Schwelle gesetzt, klang mir schon seine Stimme entgegen --
+
+»Alix!!« -- Ein einziger Laut, -- und der Jubel, die Sehnsucht, die
+Liebe eines ganzen Herzens darin! Ach, und wie seine Lippen bebten und
+brannten, -- zum erstenmal hatte er mich auf den Mund geküßt.
+
+»Das Leben ist kurz, Alix, viel -- viel zu kurz! Du mußt mich nie mehr
+verlassen!«
+
+»Nie mehr, Georg -- nie mehr!« -- Angstvoll forschte ich in seinen
+Zügen. -- »Hast du gelitten, -- mehr als sonst?«
+
+»Sprechen wir nicht davon, -- jetzt ist es ja gut -- alles gut!« Und er
+lächelte mit seinem strahlendsten Lächeln.
+
+
+
+
+Zwanzigstes Kapitel
+
+
+An einem schönen Sommersonntag besuchten uns die Eltern wieder. Sie
+berührten das Vergangene nicht mehr. Und von da an kamen sie oft, aber
+meist jeder allein. »Bei Euch ist's so schön ruhig!« pflegte Mama zu
+sagen, wenn sie sich tief in den Lehnstuhl gleiten ließ. »So viel Sonne
+habt Ihr!« bemerkte der Vater und stellte sich mit dem Rücken ans
+Fenster in die hellsten Strahlen, als fröstle ihn. Auch das
+Schwesterchen lief oft herüber. Sie war ein bildhübscher Backfisch
+geworden, mit einem suchenden Glanz in den Augen. »Papa brummt immer, --
+wir gehen ihm so viel als möglich aus dem Wege!« erzählte sie.
+
+Sonntags mußte ich zu Tisch zu den Eltern kommen, oder zu Onkel Walters.
+Es war jedes Mal eine Quälerei, denn um zwecklosen Auseinandersetzungen
+aus dem Wege zu gehen, blieb mir nichts übrig, als zu schweigen, während
+mir das Blut oft vor Zorn in den Schläfen klopfte. Man vermied zwar von
+der Ethischen Bewegung zu sprechen, schimpfte aber um so mehr auf Juden,
+Kathedersozialisten und Egidyaner, als den »Hilfstruppen« der
+Sozialdemokratie, und die Tante besonders fand ein Vergnügen darin, mich
+durch ihre schwärmerische Kaiser-Verehrung zu reizen.
+
+Einmal nahm mich der Onkel beiseite, und ich erwartete schon eine
+wohlgemeinte politische Belehrung, als er von Egidy zu sprechen begann.
+»Er ist ein Phantast, aber trotz alledem ein Edelmann und dein Freund,«
+sagte er, »da gehört sich's, daß du ihn vor Schaden bewahrst. Er hat
+sich droben bei uns mit einem meiner Nachbarn, einem notorischen
+Schwindler -- Wohlfahrt heißt der Kerl zum Überfluß! --, wie ich höre,
+das Näheren eingelassen. Warne ihn, ehe es zu spät ist.« Ich ließ mir
+die nötigen Details geben und bat Egidy um seinen Besuch.
+
+Wir hatten einander ein paar Monate lang nicht gesehen. Er aber sah um
+Jahre gealtert aus. Kaum hatte ich den Mut, diesem müden Gesicht
+gegenüber zu sagen, was ich wußte. Er starrte mich an, die Finger
+ineinandergekrampft, die Augen weit aufgerissen. Und plötzlich sank sein
+Kopf auf die gefalteten Hände, und seine breiten Schultern bebten, von
+lautlosem Schluchzen erschüttert. Fassungslos stand ich vor ihm: er, der
+dem Spott und Haß einer ganzen Welt getrotzt hatte, dessen sieghafter
+Glaube an die Menschen ihn unüberwindlich zu machen schien, -- er saß
+hier vor mir, zusammengebrochen, als wäre ein Fels ihm auf den starken
+Nacken gestürzt, -- und weinte!
+
+»Meine Kinder -- meine armen Kinder!« stieß er abgebrochen hervor --
+»alles habe ich diesem Menschen geopfert, -- mein Letztes!«
+
+Georg kam nach Hause. Egidy raffte sich auf, um ihn zu begrüßen, aber
+die Kniee wankten ihm. Und dann war's, als müßte er sein Herz
+ausschütten, aussprechen, was er vielleicht vor sich selbst noch
+verhehlt hatte: Wie seine Hoffnungen ihn betrogen, die Scharen seiner
+Gefolgschaft ihn verlassen hatten, sein Haus leer geworden war, seitdem
+er nicht mehr Wein und Braten aufzutischen vermochte.
+
+»Jetzt erst, wo die Menschen Sie nicht mehr als einen Märtyrer
+bewundern, werden Sie zeigen können, daß Sie ein Mann sind!« sagte
+Georg, als er schwieg.
+
+Mit einer raschen Bewegung, als wolle er jeden Rest von Schwäche
+verscheuchen, strich sich Egidy über die Stirn und reichte Georg die
+Hand: »Weiß Gott, -- ich werde es beweisen!« Und sich zu mir sich
+wendend, fuhr er fort: »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen in Hannover
+sagte: 'Im schlimmsten Fall reite ich allein -- langsamen Schritt
+vorwärts -- nach Zählen -- im Kugelregen.' -- Leben Sie wohl.«
+
+Mich ließ er schweren Herzens zurück. »Allein -- im Kugelregen!«
+wiederholte ich leise und kreuzte fröstelnd die Arme unter der Brust.
+
+»Meine Alix fürchtet sich?! -- Vergiß niemals, was der große
+Sklavenbefreier William Lloyd Garrison sagte: Einer mit der Wahrheit im
+Bunde ist mächtiger als alle. In diesem Glauben siegte er!« Georgs
+blasse Haut leuchtete im Abenddämmer.
+
+War ich so schwach, daß ich immer Menschen suchte -- Gleichgesinnte? --
+und mich freute wie ein Kind, das hinter den Felsen hundert Gespielen
+wähnt, wenn irgendwo ein Echo meiner Stimme mir entgegenklang?...
+
+Der Verein Frauenrecht hatte mich trotz meiner Sünden in seinen
+Vorstand gewählt: Ich war ein »Name«, -- damit hatte Frau Vanselow die
+Mitglieder für ihren Plan gewonnen. Und ich hatte trotz meiner inneren
+Abneigung die Wahl angenommen: der Verein war am Ende doch ein wirksames
+Mittel zum Zweck. Vor allem galt es eins durchzusetzen: die deutsche
+Frauenbewegung aus ihrem Veilchen-Dasein zu befreien. Fünfundzwanzig
+Jahre hatte ich selbst gelebt, ehe ich von ihrer Existenz etwas erfuhr.
+Die deutsche Presse nahm noch jetzt kaum je irgendwelche Notiz von ihr.
+
+Es gelang mir zunächst -- nachdem ich von vornherein die Arbeit dafür
+auf mich genommen hatte --, eine Zeitungs-Korrespondenz durchzusetzen,
+und ich hatte die Genugtuung, daß meine Notizen in zahlreichen Blättern
+Aufnahme fanden. Nun mußte ein Organ geschaffen werden, -- eine weithin
+sichtbare Fahne für unsere Sache. Ich gewann den Verleger der Ethischen
+Blätter für die Idee und kam strahlend über diesen Erfolg in die
+Vorstandssitzung des Vereins. Aber statt allgemeiner Freude begegnete
+ich allgemeinem Widerstand. Über die Verantwortung, die wir damit auf
+uns nehmen müßten, jammerte die eine, über die »seit Jahren
+liebgewordenen« Vereinsmitteilungen, an deren Stelle die Zeitschrift
+treten sollte, die andere.
+
+»Und die Frage der Redaktion ist doch vor allem eine schwer zu
+entscheidende,« meinte mit bedenklich hoch gezogenen Augenbrauen Frau
+Vanselow und sah mich prüfend an. Ich begriff.
+
+»Selbstverständlich wird sie unserer verehrten Vorsitzenden anvertraut
+werden,« sagte ich rasch. »Und meine liebe Frau von Glyzcinski wird mir
+hilfreich wie immer zur Seite stehen,« ergänzte Frau Vanselow und
+streckte mir über den Tisch hinweg die Hand entgegen.
+
+»Ich halte dies Vorgehen für unethisch,« tönte Frau Schwabachs scharfe
+Stimme dazwischen. Erstaunt sah ich auf: »Das begreife, wer kann!«
+
+»Unser liebes, heute leider fehlendes Fräulein Georgi hat die
+Mitteilungen bisher als Schriftführerin zu unser aller Zufriedenheit und
+-- unentgeltlich --« ein vielsagender Blick traf mich -- »in selbstloser
+Hingabe an die Sache geleitet. Ich gebe meine Zustimmung nicht, wenn man
+sie beiseite schiebt!«
+
+Empört fuhr ich auf: »Es handelt sich hier um die Sache und nicht um die
+Personen, um ein öffentliches Unternehmen und nicht um ein
+Vereinsblättchen! Jeder Fortschritt verletzt irgendwen, -- und wenn Ihre
+Ethik im Gegensatz zum Fortschritt steht, so gebe ich sie preis und
+wähle diesen!«
+
+Ich erhob mich rasch und überließ den Vorstand sich selber.
+
+Vier Wochen später erschien die erste Nummer der »Frauenfrage« unter
+Frau Vanselows und meiner Redaktion. Georg eröffnete sie mit einem
+Artikel für das Frauenstimmrecht. Etwa zu gleicher Zeit versandte Helma
+Kurz ein Zirkular an die deutschen Frauenvereine, durch das sie zur
+Gründung eines nationalen Frauenbundes aufforderte, der sich dem bereits
+bestehenden in Amerika ins Leben gerufenen internationalen Verbande
+anschließen sollte.
+
+Mit einem harten »Niemals« begegnete Frau Vanselow meiner Begeisterung
+für diesen Zusammenschluß. »Aufspielen will sich die Kurz, von sich
+reden machen, nachdem ihr angesichts unserer Erfolge längst schon die
+Galle überläuft ...« Nur schwer gelang es mir, sie zu beruhigen und zur
+Teilnahme an den vorbereitenden Sitzungen zu bewegen. Ein Heer von
+Frauen, in der ganzen Welt zu einer Organisation zusammengeschlossen, --
+war das nicht die welterobernde Macht der Zukunft?! Hier würde die
+Arbeiterin neben der Bourgeoisdame, die Sozialdemokratin neben der Frau
+des Ostelbiers zu Worte kommen; im friedlichen Austausch der Ideen würde
+schließlich die lebenskräftigste siegen, -- durch die Mütter der
+kommenden Generation würde leise und natürlich die Quelle in die
+Menschheit gelenkt werden, die bestimmt war, als Strom die Schiffe der
+Zukunft zu tragen!
+
+»Also eine Ethische Gesellschaft der Frauen, -- nach unserem Plan!«
+meinte Georg. Ich benutzte den nächsten freien Augenblick, um mit Martha
+Bartels die Sache zu besprechen. Seltsam: sie wußte von nichts, das
+Zirkular war ihr nicht zugegangen. »Und wenn ich es schon erhalten
+hätte,« sagte sie, »es ist mir zweifelhaft, ob meine Genossinnen eine
+Beteiligung für nützlich gehalten haben würden.«
+
+»Aber bedenken Sie doch, welch ein Agitationsgebiet sich Ihnen eröffnen
+würde« -- eiferte ich, auf das schmerzlichste überrascht durch ihre
+ablehnende Haltung, -- denn daß die Aufforderung sie nur durch irgend
+einen Zufall nicht erreicht hatte, davon war ich überzeugt, -- es war ja
+im Zirkular die Rede von »allen Frauen«.
+
+»Unser Agitationsgebiet ist das gesamte Proletariat, -- groß genug für
+die gewaltigsten Arbeitskräfte! Eine Vereinigung mit der bürgerlichen
+Frauenbewegung würde zersplitternd und verwirrend wirken. Die große
+Masse unserer Arbeiterinnen ist noch nicht so selbstbewußt, um sich den
+Damen gegenüber als Gleichberechtigte zu fühlen.«
+
+Mir schien, als ob aus ihren Worten mehr Gekränktheit über die
+Zurücksetzung als Überzeugung sprach.
+
+»Wir reden noch darüber,« sagte ich, innerlich ordentlich froh über die
+Aufgabe, die sich mir eröffnete: Ich sah sie schon erfüllt, sah in
+Gedanken Martha Bartels auf der Tribüne stehen und durch ihre schlichte
+Wahrhaftigkeit die Frauen gewinnen. Ich schrieb an Helma Kurz, um sie
+auf das Versäumte aufmerksam zu machen, -- ich erhielt keine Antwort.
+Bei dem Begrüßungsabend der deutschen Delegierten erwartete ich mit
+Ungeduld das Ende des Diners, um sie persönlich zu sprechen. Ich fand es
+zum mindesten geschmacklos, solch ein Werk bei Wein und Rehbraten in
+großer Toilette zu beginnen und einander durch Toaste anzuhimmeln, noch
+ehe irgend etwas geschehen war. Endlich erreichte ich Helma Kurz; sie
+wurde dunkelrot, als sie mich sah. »Hier ist nicht der Ort, prinzipielle
+Fragen zu erörtern,« sagte sie heftig und drehte mir den breiten Rücken
+zu.
+
+Am nächsten Morgen in der Sitzung meldete ich mich als eine der ersten
+zur Debatte. Es wurden endlose Reden gehalten: über die Einigkeit aller
+Frauen, über die gemeinsamen großen Ziele, -- vergebens wartete ich
+Stunde um Stunde, daß mir das Wort erteilt werden würde. Ich meldete
+mich noch einmal. »Sie müssen Ihren Antrag schriftlich formulieren!«
+schrie Helma Kurz mich bitterböse an. Ich tat es. Ein erregtes Tuscheln
+um den Vorstandstisch -- »Ihr Antrag steht außerhalb der Tagesordnung«
+-- verkündete die Vorsitzende. Ich versuchte mir gewaltsam Gehör zu
+verschaffen. Um mich kreischten erregte Stimmen: »Schweigen Sie!« --
+»Hinaus!« -- »Wie unethisch!«
+
+Majestätisch richtete sich die schwere Gestalt der Kurz hinter dem
+Vorstandstisch auf: »An dieser Störung unserer schönen Harmonie sehen
+Sie, meine Damen, wes Geistes Kind diejenige sein muß, die sie
+hervorrief!« erklärte sie mit feierlicher Würde, jedes Wort betonend.
+»Ich werde trotzdem, nicht aus Rücksicht auf die Delegierte des Vereins
+Frauenrecht« -- sie lächelte spöttisch -- »sondern auf unsere hier
+anwesenden bewährten Mitkämpferinnen die Erklärung abgeben, die in einer
+Weise gefordert wird, wie sie bis dato nur in sozialdemokratischen
+Radauversammlungen üblich war. Sämtliche deutsche Frauenvereine
+sind zu dieser Zusammenkunft aufgefordert worden, mit Ausnahme
+derjenigen natürlich, die nicht auf dem Boden unserer Staats- und
+Gesellschaftsordnung stehen.« -- Ein langanhaltendes Bravo-Rufen
+unterbrach sie -- »Ihre Teilnahme würde die Auflösung des Verbandes zur
+notwendigen Folge gehabt haben ...« Ich sprang auf und warf noch einmal
+meine Karte auf den Vorstandstisch. »Im Interesse der ruhigen
+Fortführung unserer Verhandlungen haben wir beschlossen, Frau von
+Glyzcinski das Wort zu verweigern.« Erneuter allgemeiner Beifall --
+
+Ich hatte rasch einen Protest gegen den Ausschluß der
+Arbeiterinnenvereine zu Papier gebracht und benutzte die Pause zum
+Sammeln von Unterschriften. Aber wem ich auch in die Nähe trat, --
+schon vor meiner Person zog man sich scheu zurück. Entrüstet blitzte
+mich Frau Schwabach mit ihren klugen dunkeln Augen an: »Und Sie sind
+eine Ethikerin, die das allen Gemeinsame pflegen und betonen soll!« Ich
+fand in der großen Versammlung nur zwei Stimmen, die sich mir
+anschlossen, unter ihnen die Frau Vanselows. »Sie schicken das an die
+Presse? -- Famos! Ein empfindlicher Schlag für Helma Kurz!« sagte sie.
+
+»Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden,« tröstete mich Georg, als
+ich verstimmt und enttäuscht nach Hause kam. Es dauerte lange, ehe der
+heilende Trank seines Menschenglaubens mir die tiefe Verbitterung aus
+dem Herzen trieb. Aber den letzten Keim der Krankheit tötete er nicht.
+Was ich in unserer Zeitschrift und in der »Frauenfrage« veröffentlichte,
+wurde immer schärfer im Ton. Die Menschen, denen ich begegnete, die
+Bücher, die ich las, die dramatischen Werke, die ich sah, -- ich
+beurteilte sie alle nur von dem einen Gesichtspunkt aus: ihrer Stellung
+zur sozialen Frage, zum Sozialismus.
+
+ * * * * *
+
+Aus der Dichtung und aus der bildenden Kunst verschwand damals
+allmählich die Elendsschilderung, die in Hauptmanns Webern noch die
+Peitsche gewesen war, die rücksichtslos blutige Striemen zog, und in
+seinem »Hannele« das Bettlerkind schon in Märchenkleidern zeigte.
+Künstlerische Begeisterung entzündet sich an jungen Ideen, solange sie
+flackernde Flammen sind und die Gefahr des Erlöschens ihnen
+phantastisch-spannenden Reiz verleiht. Mit ihrer Reife erstarren sie zu
+Schwertern, die der Kämpferarme bedürfen, während das Seherauge des
+Künstlers schon sehnsüchtig nach neu auftauchenden Lichtern im fernen
+Dunkel Ausschau hält. Aber was Notwendigkeit ist, erschien mir wie
+Treulosigkeit und Schwäche, und der Ich-Kultus, der an Stelle des Kultus
+der Menschheit trat, wie ein frevelhafter Rückschritt.
+
+Gegen eine Welt von Widersachern hatten die Ibsen und Nietzsche die
+Freiheit der Persönlichkeit verkündet, in jahrelangem, schmerzvollem
+Ringen hatten wir sie erobert; ein Heiligtum war sie uns, dessen ewige
+Lampe sich von unserem Herzblut tränkte. Und nun kamen die vielen
+lärmenden Leute und griffen nach ihr ohne Ehrfurcht, und nichts als ein
+neues Spielzeug war sie ihnen. Dem gebildeten Pöbel galt jeder als ein
+Freier, der schrankenlos seinen Begierden folgte. Die entgötterte
+Menschheit suchte nach Götzen, und jeder fand eine anbetende Gemeinde,
+der alte Werte mit Füßen trat.
+
+»Die sexuelle Freiheit ist doch nicht die Freiheit an sich!« sagte ich
+einmal voller Empörung zu Polenz, der mir Hartlebens »Hanna Jagert«
+gebracht hatte. »Gewiß gibt es Frauen mit denselben sinnlichen
+Leidenschaften, wie Männer sie haben, aber in ihnen den 'großen freien
+Weibtypus der Zukunft' zu suchen, ist ebenso frevelhaft, als wenn man
+den modernen Lebemann für das Ideal der Männlichkeit erklären würde.«
+
+»Sie kennen eben unsere jungen Dichter nicht, die zumeist aus dem
+engsten Kleinbürgertum stammen und von da aus direkt der Großstadtbohême
+in die Arme laufen. Eine andere Welt ist ihnen fast allen fremd und
+bleibt ihnen fast immer verschlossen. Gerade Sie sollten es wagen, in
+die Höhle der Löwen zu kommen,« antwortete Polenz.
+
+Ich zögerte noch, aber Georg, dem jedes Mittel willkommen war, das ihm
+geeignet schien, mich heiterer zu stimmen, redete zu, und so folgte ich
+eines Abends Polenz' Einladung. Er hatte eine heterogene Gesellschaft
+zusammen gebeten: alte Regimentskameraden und anarchistelnde
+Schriftsteller, sächsische Gesandschaftsattachés und die Blüte der
+berliner Kaffeehaus-Literaten. Eine unbehagliche Stimmung herrschte; die
+Herren von der Feder fühlten sich sichtlich nicht wohl in ihren Fräcken,
+und die Damen, die sich von ihnen etwas ungeheuer Interessantes erwartet
+hatten, vermochten trotz aller Mühe die genierte Steifheit der fremden
+Gäste nicht zu überwinden. Erst bei Tisch und beim Wein wurde es ein
+wenig lebendiger. Einer der modernsten und beliebtesten Schriftsteller,
+der mit einer gewissen Grazie die gewagtesten Dinge zu schildern
+pflegte, saß neben mir, ein anderer, der die Hoffnung der Moderne war,
+mit dunkler Brille über den lebhaften Augen, mir gegenüber. Ich ließ
+alle meine oft erprobten, geselligen Künste spielen, schlug alle Saiten
+an, von denen ich einen Ton erwarten konnte, -- vergebens. Wie
+Backfische, die zuerst in Gesellschaft kommen, antworteten sie mit einem
+Ja, einem Nein und einem verlegenen Lächeln, wenn ich glaubte, gerade
+ihre Interessen berührt zu haben. Ich sah forschend die lange Tafel
+herauf und herunter: überall dasselbe Bild, -- und langsam legte sich
+eine bleierne Langeweile über die zu krampfhaftem Höflichkeitsgrinsen
+verzerrten Züge. Man atmete schließlich erleichtert auf, als das Essen
+zu Ende war; und so rasch sie konnten, verschwanden die Herren im
+Nebenzimmer, von wo bei Kognak und Zigarrren bald dröhnendes Lachen
+herrüberscholl.
+
+Als ich, die Elektrische erwartend, auf der Straße stand, trat eine
+kleine Frau mit blitzenden Saphiraugen, ein Spitzentuch lässig über den
+dicken, blonden Schopf geworfen, auf mich zu. »Er ist wohl noch immer da
+drin, der Franzl,« sagte sie und wies mit dem Daumen zu der erleuchteten
+Etage herauf, die ich eben verlassen hatte. Überrascht sah ich sie an --
+»Juliane Déry! Was machen Sie denn hier?« -- »Ich warte! -- mit dem
+letzten Bissen im Munde wollte er diesem Menschenragout entlaufen. Aber
+es muß doch pikanter ausgefallen sein, als ich prophezeite ...« Ich
+lachte hellauf und gab ihr eine Schilderung der letzten drei Stunden.
+»Und Sie dachten wirklich an gedeckten Tischen, zwischen Grafen und
+Baroninnen, unsere jungen Genies kennen zu lernen?!« Sie konnte sich vor
+Vergnügen nicht lassen, amüsiert blieben die Vorübergehenden bereits
+neben uns stehen. »Kommen Sie!« mahnte ich leise und schob meinen Arm in
+den ihren.
+
+»Richtig! -- Wir haben ja schon einmal eine nächtliche Promenade
+gemacht! Seitdem sind Sie ethisch geworden und haben --« sie stockte ein
+wenig -- »geheiratet!«
+
+»Und Sie?« Ich frug ohne Interesse, im Grunde nur, um irgend etwas zu
+sagen.
+
+»Ich? -- Gott -- Sie sehen: ich lebe! Was sollte unsereins auch sonst
+noch tun!« Ein düsterer Schatten verdunkelte einen Augenblick lang ihre
+Augen, dann lächelte sie wieder: »Wissen Sie was? Kommen Sie heute mit
+mir, -- ich bin ein besserer Cicerone der Bohème als Ihre Gastgeber
+eben! Überdies --« sie musterte mich unter der nächsten Laterne von
+oben bis unten -- »werde ich mit Ihnen Furore machen.«
+
+Bis zu unserem Ziel, einer kleinen Weinstube in der Friedrichstadt,
+erzählte sie mir mit der ihr eigenen sprühenden Lebhaftigkeit von all
+den freien Geistern, die ich finden würde. »Der große...«, »der
+geniale...«, »der einzige...«, -- mit diesen Adjektiven begleitete sie
+Namen, die mir kaum bekannt waren.
+
+Als wir eintraten, schlug ein Wolke dicken Rauches uns entgegen; ein
+paar Lampen, ein paar Lichtpünktchen brennender Zigaretten leuchteten
+hindurch. Ein Chor schwatzender Stimmen machte jedes Wort
+unverständlich. Erst als wir im Lichtkreis der Gasflammen standen,
+verstummte die Gesellschaft. Die Herren erhoben sich und umringten uns.
+Sie rochen nach Kognak, -- unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück.
+Man hörte meinen Namen. »Bist wohl verrückt geworden, Juliane!« brummte
+eine Männerstimme, und ein Arm legte sich um ihre Taille. Ich setzte
+mich abseits in eine Ecke. Nach einer Weile schien ich vergessen und
+fühlte mich wie eine Zuschauerin vor der Bühne. Es war zweifellos ein
+interessantes Spektakelstück, das ich sah, und Menschen eigener Art, die
+darin spielten.
+
+Zu Füßen eines großen, tiefbrünetten Mannes, um den sich allmählich die
+leeren Flaschen häuften, saß eine blasse Frau mit blonder Haarkrone auf
+dem vornehmen Köpfchen. Das mußte die dänische Gräfin sein, die der
+»satanische« Dichter, wie die Déry ihn nannte, entführt hatte. Wenn er
+redete, sah sie andächtig zu ihm auf, und die Nächststehenden schwiegen.
+
+»Ja -- was ich sagen wollte -- --« er sprach mit einem scharfen
+slawischen Akzent -- »was -- was war es doch?« Er goß sich roten Wein in
+das Glas, -- ein paar Tropfen spritzten der Frau zu seinen Füßen auf die
+weiße Stirn, -- er vergaß zu trinken und starrte sie an: »wie schön das
+ist: die Dornen deines unsichtbaren Kranzes haben dich verwundet, -- wie
+ein Rubin leuchtet dein königliches Blut ...«
+
+»Zum Donnerwetter, was schweigt ihr,« brüllte er im nächsten Augenblick
+und stürzte den Wein hinunter, »was geht das Euch Kanaillen an?!« Die
+anderen lachten.
+
+»Du hast uns deinen Helden schildern wollen!« sagte jemand.
+
+»Meinen Helden!« begann er wieder, »das wird ein Kerl sein! Kein
+waschlappiger Schmachtfetzen, der die Weiber anhimmelt, sondern einer,
+der zupackt, wie ich!« -- seine Riesenfaust umklammerte den Arm der
+blonden Frau, die schmerzhaft zusammenfuhr, -- »keiner, der den Lahmen
+Krücken schenkt und den Blinden Brillen, sondern einer, der beiseite
+stößt, was ihm im Wege steht. Oder meint ihr, das Gesindel um uns sei
+was besseres wert?! Glaubt mir, wenn wir nicht empor kommen, die
+Starken, die Hartherzigen, dann wird das Gewürm, das Junge wirft wie die
+Kaninchen, uns auffressen. Den Schwachen helfen, winselt ihr mit dem
+verwässerten Christenblut in den Adern? Nein, sage ich: den Schwachen
+den Gnadenstoß geben, damit die Starken Platz haben!«
+
+Ich hielt mich nicht länger. »Es muß sich aber erst erweisen, wer die
+Starken sind,« rief ich.
+
+»Erweisen? Nein, schönste Frau, -- wenn wirs nur von uns selber wissen,«
+antwortete er, stand auf und trat auf mich zu, -- er schwankte ein
+wenig -- »Sie sind ja so Eine, die sich opfert -- der Menschheit -- der
+Ethik -- pfui Teufel! Mit so einem Gesicht und solcher Gestalt --« seine
+große Hand streckte sich, ich wich ihr erschrocken aus -- »sich
+behaupten sollten Sie, -- Glück schenken und Liebe, -- das ist mehr als
+Traktätchen -- und -- und -- Kinder kriegen --«
+
+Er fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach zu Boden. Ich strebte
+hastig der Türe zu. Juliane Déry kam mir nach und drängte ihr glühendes
+Gesicht dicht an das meine.
+
+»So bleiben Sie doch -- Schönste -- Beste,« schmeichelte sie -- ich
+fühlte ihre Hand auf meiner Hüfte. »Ist er nicht groß? -- herrlich? Und
+jetzt wird es erst schön -- komm! komm! -- laß uns Freundinnen sein --«
+Sie versuchte mich zu küssen. Ich schüttelte sie ab. »Hochmütige Närrin
+--« knirschte sie.
+
+»Sie -- sie hat kein Herz -- kein Herz -- wie all die -- die
+Tribünenweiber!« lallte der Betrunkene, der sich halb aufgerichtet
+hatte.
+
+Ich lief hinaus wie gejagt und sprang in den nächsten Wagen. Warum nur
+brach ich schluchzend in den Kissen zusammen, -- warum?!
+
+Leise schlich ich in die Wohnung, in mein Zimmer. Zum erstenmal
+verschwieg ich Georg, was ich erlebt hatte; nur von dem Abend bei Polenz
+erzählte ich und von den Menschen dort, die »auch nicht die unseren
+sind«.
+
+Er hörte kaum zu, seine Gedanken waren bei dem Brief, den er zwischen
+den Fingern rollte und mir lächelnd reichte.
+
+»Hier werden wir die unseren finden!« sagte er.
+
+Es war eine Einladung zu einem Festkommers »unserem verehrten Genossen
+Friedrich Engels zu Ehren«, von den Mitgliedern des Parteivorstands
+unterschrieben. »Du willst hingehen?« frug ich erstaunt, »als
+preußischer Universitätsprofessor?!«
+
+»Die Freude will ich mir nicht entgehen lassen, einmal im Leben dazu zu
+gehören! -- und den Kragen wird es nicht kosten!«
+
+ * * * * *
+
+Ein großer Saal. Grüne Girlanden, mit roten Blumen besteckt, schwebten
+in runden Bogen um die Galerien, von einer Säule zur anderen.
+»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« leuchtete es in riesigen
+Goldbuchstaben auf rotem Grund von der Tribünenwand herab den
+Eintretenden entgegen. Unter Lorbeerbüschen glänzten die weißen Büsten
+von Marx und Lassalle. Als wir kamen, war der Riesenraum schon dicht
+gefüllt: Männer im Festtagsrock, Frauen und Mädchen in bunten Blusen und
+hellen Kleidern, die Gesichter verklärt, wie die der Kinder von
+Weihnachtsvorfreude. Ein Glanz der Jugend strahlte aus allen Augen und
+verwischte die Furchen, die Leidenszüge, die Kummerfalten, und gab den
+früh gebleichten Wangen die Röte der Kinder des Glücks.
+
+Neugierig richteten sich alle Blicke auf uns: den bleichen Mann im
+Rollstuhl und die junge Frau ihm zur Seite. Der alte Bartels führte uns
+bis nach vorn, wo an gedeckten Tischen die Plätze für die Gäste
+reserviert waren.
+
+»Daß ich das noch erlebe -- Herr Professor -- das noch erlebe,«
+wiederholte er immer wieder, mit dicken Freudentränen in den kleinen,
+zwinkernden Äuglein.
+
+Brausende Hochrufe erschütterten die Luft. -- Alles erhob sich --
+schwenkte die Hüte und wehte mit den Taschentüchern -- auf die Tische
+und auf die Schultern wurden die Kinder gehoben, so daß ihre Köpfchen
+wie Blumen aus dichtem Wiesengrund über die Massen emporragten. Und
+durch den breiten Mittelgang, an dem sich rechts und links, eine
+undurchdringliche Mauer, die Menge staute, kamen sie alle, die alten
+Kämpfer, deren Namen ein blutiger Schrecken für die einen, ein Symbol
+künftiger Glückseligkeit für die anderen war.
+
+Mein Blick blieb nur auf den vier Voranschreitenden haften, die ich um
+mich herum immer wieder flüsternd nennen hörte: Liebknecht -- Bebel --
+Auer -- Engels. Groß war der eine, mit grauem Vollbart, hoher Stirn,
+geistvoll sprühenden Augen, einen feinen Zug von Sarkasmus um den Mund,
+klein der andere, mit widerspenstiger voller Haarsträhne, die ihm immer
+wieder nach vorne fiel, so daß sein Blick sich noch mehr verschleierte,
+-- jener merkwürdige Blick, wie ihn nur Dichter und Träumer haben. Einen
+breiten, hellen Germanenkopf trug der Dritte stolz auf den starken
+Schultern, ein paar Augen, die gewiß kampflustig zu blitzen verstanden
+wie die alter Häuptlinge, sahen über die Menge hinweg. Vorne aber ging
+der alte gefeierte Gast mit einem Lächeln so voll gerührter Güte und
+freudiger Menschenliebe, als wären das alles seine Kinder, die ihm
+entgegenjauchzten.
+
+Gesang, Musik, Begrüßungsreden wechselten miteinander ab, wie bei einem
+großen Familienfest. Nichts Pathetisches, aber auch nichts, das an
+Aufruhr und revolutionäre Schrecken erinnerte, störte die Stimmung. Das
+Rot der vielen Schleifen und Fahnen im Saal schien heute nur die Farbe
+der Freude zu sein, nicht die des Bluts. Auch die 'Freiheit', die
+auftrat, mit der phrygischen Mütze auf dem schwarzen Krauskopf, ihre
+Verse skandierend wie ein Schulkind, glich mehr einem Boten des
+Frühlings als der Revolution.
+
+Drunten im Saal, wie oben auf der Tribüne herrschte eitel Fröhlichkeit.
+
+Von einem Tisch zum anderen begrüßten sich die Bekannten, und er, der
+Held des Tages, drängte sich mit den Freunden immer wieder durch die
+Reihen und schüttelte die Hände alter Kampfgenossen aus den schweren
+Zeiten der Verfolgung. Sie kamen auch zu uns und setzten sich um Georgs
+Rollstuhl, und seine Lippen zuckten, und seine Augen wurden feucht vor
+Bewegung. Mit einer altväterisch-chevaleresken Verbeugung schenkte mir
+Engels ein paar Blumen aus der Fülle, die ihm gegeben worden war. »Ein
+gefährliches Zeichen,« lachte Liebknecht und wies auf die rote Nelke
+darunter. »Eins des Sieges, wie ich hoffe,« antwortete ich.
+
+Wir gingen still nach Haus. Eine große Freudigkeit erfüllte uns.
+
+ * * * * *
+
+An einem grauen, naßkalten Dezembertag war es. Das Reichshaus sollte
+eingeweiht werden. Am Brandenburger Tor stand ich, Eindrücke zu sammeln
+für das, was ich schreiben wollte. Man lachte -- schwatzte -- höhnte
+rings um mich her: vom »Gipfel der Geschmacklosigkeit« sprach der Eine,
+-- so hatte S. M. jüngst in Italien den Bau Wallots bezeichnet --, von
+der leeren Tafel über den Toren erzählte der andere, die auf die
+Inschrift »Dem deutschen Volke« vermutlich vergebens warten würde; --
+»den Junkern und Pfaffen, -- wirds statt dessen heißen,« fügte bissig
+ein Dritter hinzu. »Wenn man die Umsturzvorlage det janze Dings nich
+umstürzen wird,« zischelte es dicht neben mir. Der stramme
+Polizeileutnant, der hier Wache hielt, wandte stirnrunzelnd den Kopf. In
+offenem Wagen fuhren die Abgeordneten vorüber: Zivilisten mit glänzenden
+Zylindern auf dem Kopf und bunten Bändchen im Knopfloch, auf den Zügen
+den Ausdruck ernsthafter Wichtigkeit, Geistliche in der schwarzen
+Soutane mit runden glänzenden Gesichtern; Reserveoffiziere, denen der
+enge Kragen das Blut blaurot in die Stirne trieb, und deren bunter Rock
+sich in Falten über Brust und Leib spannte. »Drum müssen sie doch alle
+stramm stehen vor dem obersten Kriegsherrn, -- die M. d. R.s --«
+zischelte dieselbe Stimme wie vorhin.
+
+Aufgeregt sprengten die Polizisten noch einmal hin und her, -- ihre
+Pferde drängten die angstvoll aufkreischenden Zuschauer zur Seite.
+
+Vom Schloß die Linden hinunter trabte eine Schwadron Garde du Korps in
+glänzender Uniform mit wehenden Fähnlein. Da plötzlich ein klirrender
+Stoß -- ein Schrei, -- und zwei Reiter wälzten sich unter ihren Pferden.
+
+Im gleichen Augenblick nahte ein Wagen: der Kaiser! Schweigend --
+erwartungsvoll -- kaum, daß ein paar Hüte von den Köpfen flogen --
+harrte die Menge, -- schwankend, mit totblassem Gesicht richtete der
+eine der gefallenen Soldaten sich auf die Kniee, -- dicht vor ihm
+schlugen die Hufe des Viergespanns schon auf das Pflaster.
+
+Das Bronzegesicht des Monarchen tauchte sekundenlang auf -- ein einziger
+kalter Blick streifte den Garde du Korps -- die feindselig-stumme Menge
+hinter ihm, -- und vorüber raste der Wagen.
+
+Erregt, mit verbissenem Grimm stoben die Menschen auseinander. Das war,
+so schien mir, der rechte Auftakt für das kommende Schauspiel: den Kampf
+um die Umsturzvorlage, die als erster Gesetzentwurf den Volksvertretern
+im neuen Hause zur Entscheidung vorlag.
+
+Unter kriegerischem Gepränge war es heute geweiht worden, --
+Kriegszeiten standen bevor.
+
+Auf dem Wege durch den feuchtdunstigen Tiergarten war mein Plan gefaßt,
+und noch ehe Georg aus der Universität zurückkam, lag meine »Erklärung«
+schon auf dem Schreibtisch. »Im Namen des weiblichen Geschlechts
+protestieren wir unterzeichneten Frauen gegen die Umsturzvorlage,«
+begann sie, und weiter hieß es darin: »'Beschimpfende Äußerungen gegen
+Ehe und Familie' gefährden das sittliche Leben des Volkes nicht so sehr
+wie die gesetzliche Sanktionierung der Unsittlichkeit; und nicht durch
+'Kundgebungen' werden 'weite Bevölkerungkreise' zu dem Glauben verführt,
+daß die Grundlagen unseres Lebens auf 'Unwahrheit und Ungerechtigkeit'
+beruhen, sondern durch eine Gesetzgebung, die die Hälfte des
+Menschengeschlechts, die Mütter der Staatsbürger, mit Unmündigen,
+Wahnsinnigen und Verbrechern auf eine Stufe stellt und durch
+wirtschaftliche Zustände, die Millionen von Frauen in den Kampf ums
+Dasein treiben, das Familienleben zerstören, die Ehe erschüttern ...«
+
+Ich versandte noch an demselben Abend meine Erklärung mit der Bitte um
+Unterschriften an die Presse. Kaum war sie veröffentlicht, als Onkel
+Walter mich mit seinem Besuch überraschte. »Ich komme, dich zu warnen,«
+sagte er, »man hat ein Auge auf dich, man kennt im Polizeipräsidium
+deine geheimen Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei, und heute im
+Reichstag hat der Minister des Innern mir im Vertrauen gesagt, daß, wenn
+die Umsturzvorlage oder ein dem Sinne nach ihr ähnliches Gesetz in Kraft
+treten sollte, du zu den Ersten gehören wirst, die davon getroffen
+werden; -- vorausgesetzt natürlich --,« er sprach langsam und betonte
+jede Silbe -- »daß du nicht klug genug bist, vorher andere Wege
+einzuschlagen.«
+
+»Ich danke dir für deine Freundschaft, lieber Onkel, -- aber daß ich
+deinem Rat folgen werde, wirst du von mir kaum erwarten.«
+
+»So sind wir geschiedene Leute!« rief er, und krachend fiel hinter ihm
+die Tür ins Schloß.
+
+Seltsam, -- er hatte mir niemals nahe gestanden, und doch: in diesem
+Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen, -- ein Stück der
+Kindheitsheimat nahm er mit sich fort. Was wird der Vater sagen, dachte
+ich furchtsam. Aber er kam nicht, er schrieb mir nur zwei Zeilen ohne
+Anrede und Unterschrift: »Nach Deinem letzten Benehmen wirst Du Dich
+nicht wundern, wenn wir Dir eine Zeitlang fern bleiben. Wir hoffen zu
+Gott, daß er Dich wieder auf den rechten Weg leiten möge! ...«
+
+ * * * * *
+
+Eisig fegte der Ostwind durch die Straßen, feine, schimmernde
+Eiskristalle tanzten in der Luft, und der Rauhreif wandelte den
+Tiergarten in ein Wintermärchen. Jeden Morgen begleitete ich jetzt Georg
+in die Universität. Seine Vorlesungen über soziale Ethik füllten das
+Auditorium bis in den fernsten Winkel und leidenschaftlich erregte
+Menschen -- alte und junge -- Männer und Frauen -- begrüßten ihn mit
+heftigem Beifallsgetrampel. Hinter dem Pult war nichts von ihm zu sehen
+als der bleiche, dunkel umrahmte Kopf mit den strahlenden Kinderaugen.
+Er sprach, wie er noch nie gesprochen hatte, er geißelte die Sünden des
+Kapitalismus mit einer Schärfe, wie sie in diesen Räumen noch nie gehört
+worden war, und verteidigte die Rechte der Frauen und die der Arbeiter
+mit einer Begeisterung, die alles mit sich fort riß.
+
+»Der Glaube, daß wir jetzt vor tief gehenden Wandlungen, vor einer
+Weltwende stehen, wie die Menschheit noch keine erlebt hat, ist eine
+Überzeugung, die immer weitere Kreise ergreift ... Jetzt ist keine Zeit
+mehr zu beschaulichem Träumen ...« -- Seine Stimme hob sich in
+ungewohnter Kraft und bekam einen Klang wie eine tiefe Glocke. »... Wir
+müssen uns klar werden über die Lage der Dinge und wach sein für die
+Nöte des Tages ... Wir müssen uns bewußt werden, wohin wir gehören ...«
+
+»Er spricht sein Todesurteil ...« hörte ich leise flüstern. Kirchenstill
+war es. Er wurde vom Katheder heruntergehoben, sein Rollstuhl setzte
+sich in Bewegung, mit scheuer Ehrfurcht grüßten ihn die Studenten.
+
+Fauchend schlug ihm der Wind in das heiße Gesicht, als wir ins Freie
+traten, und fröstelnd zog er sich den Pelzkragen höher. Vergebens bat
+ich ihn, sich aus seinem offenen Rollstuhl in einen geschlossenen Wagen
+heben zu lassen. Den ganzen langen Weg über die Linden, durch den
+Tiergarten, über den Lützowplatz kämpften wir mühsam wider den
+Schneesturm.
+
+Vor unserem Hause ging ein Herr auf und ab: groß und schlank, den
+feingeschnittenen Kopf zurückgeworfen, den Bart keck in die Höhe
+gewirbelt, -- »Hessenstein!« rief ich überrascht.
+
+»Kein anderer, gnädige Frau!« sagte er und küßte mir die Hand -- »ich
+warte auf Sie -- ich konnte Europa nicht verlassen, ohne von Ihnen
+Abschied zu nehmen --«
+
+Wir begaben uns zusammen in unsere Wohnung. Seltsam fragend betrachtete
+Georg den Gast, den ich so freudig willkommen hieß.
+
+»Sie verlassen Europa?« frug ich, »und warum?«
+
+»Seit meinen kriegerischen Erfahrungen im Bergwerksbezirk war mir nicht
+mehr wohl im bunten Rock --« antwortete er, während sein Blick
+sekundenlang peinlich überrascht zwischen Georg und mir hin und her flog
+-- »und die neu eröffnete Aussicht, gelegentlich einmal auf Eltern und
+Geschwister schießen lassen zu müssen, hat meinen militärischen Ehrgeiz
+auch nicht wesentlich steigern können. -- -- Ich habe einen Bruder in
+Java, -- dorthin will ich. Eigentlich auch kein erstrebenswertes Ziel!
+Aber -- was soll man tun --, wenn man den Mut nicht aufbringt, unter die
+Roten zu gehen!«
+
+»Dann ist Ihre Wahl sicherlich die beste,« sagte Georg mit feindseliger
+Schärfe. Rote Flecken brannten ihm über den Backenknochen.
+
+Sichtlich verletzt, erhob sich Hessenstein. In dem Wunsch, gut machen zu
+wollen, was Georg verfehlt hatte, war ich doppelt herzlich.
+
+»Vielleicht treffen sich unsere Wege doch einmal wieder! Möchten Sie
+recht, recht glücklich werden« -- damit reichte ich ihm beide Hände. Er
+senkte tief den Kopf darauf. »Ich danke Ihnen!« flüsterte er bewegt.
+
+Kaum war er fort, als Georg mich zu sich rief. Sein Kopf glühte -- seine
+Hände waren heiß.
+
+»Du fieberst!« rief ich erschrocken.
+
+»Mir war schon diese Nacht nicht recht wohl, -- ich wollte nur heute die
+Universität nicht versäumen --« ein harter Husten ließ ihn verstummen.
+»Aber es ist nichts, Kindchen, nichts, -- ein Katarrh vielleicht!«
+Wieder eine Pause. -- »Komm einmal her zu mir, Liebling, -- ganz nah --«
+ich kniete neben ihm -- sein rascher, heißer Atem berührte mein Gesicht
+-- »du -- du -- liebtest wohl jenen Hessenstein?«
+
+»Georg!!« Mir stieg das Blut in die Schläfen. »Wie kommst du darauf?«
+
+»Ihr -- ihr saht euch an -- wie -- wie Menschen, die zusammen gehören!«
+
+Lächelnd drückte ich meine Wange an seine schmalen Hände. »Nie -- Georg,
+-- nie -- gehörten wir zusammen!« meine Augen richteten sich klar auf
+ihn. »Und wenn es gewesen wäre, -- bin ich heute nicht dein -- nur
+dein?!«
+
+»O du -- du!« stöhnte er; seine Arme preßten sich sich um meine
+Schultern, -- in meinen Haaren vergrub er sein Gesicht, -- gegen meine
+Brust pochte sein Herz in wilden Schlägen.
+
+Er hatte keine Ruhe mehr vor dem Schreibtisch, ich mußte ihn auf und ab
+fahren; der Husten nahm zu, und jedesmal, wenn er den armen Körper
+schüttelte, verzogen sich schmerzhaft die Züge. Ich schickte zum Arzt.
+Er untersuchte ihn und lächelte beruhigend, als Georgs Blick in
+angstvoller Frage den seinen suchte.
+
+»Eine Erkältung. Halten Sie sich hübsch ruhig, -- dann ists bald
+vorbei.«
+
+In der Nacht stieg das Fieber. Er ließ meine Hand nicht los. Von Zeit zu
+Zeit sah er mich flehend an, und flüsterte kaum hörbar: »Küsse mich!«
+
+Ich wich nicht von seiner Seite, drei Tage und drei Nächte lang.
+
+»Sie müssen Hilfe haben,« -- sagte schließlich der Arzt. Ich schüttelte
+nur den Kopf. Am Nachmittag des vierten Tages schien das Fieber zu
+sinken. Die Augen wurden wieder klar.
+
+»Ich habe mit dir zu sprechen, meine Alix,« begann der Kranke mit
+ruhiger, fester Stimme. »Es geht zu Ende mit mir, -- weine nicht,
+Kindchen, -- bitte, weine nicht! -- Ich habe, glaube ich, meine
+Schuldigkeit getan --; was ich ungetan ließ, -- du, du wirst es
+vollenden! -- -- Du wirst mir treu sein, -- im höchsten Sinne treu --«
+fassungslos brach ich neben ihm zusammen -- seine Hände lagen auf meinem
+Kopf -- »über alles in der Welt habe ich dich geliebt --.« Nur wie ein
+Hauch kamen die Worte über seine Lippen -- »zum Paradiese hast du mir
+das Leben gemacht, -- hab Dank, -- Dank --.« Ich verlor die Besinnung --
+
+Auf meinem Bett fand ich mich wieder; es war tief in der Nacht, nur ein
+Licht brannte im Zimmer, die Mutter war neben mir, -- so sanft und gut
+und leise, wie immer, wenn sie Kranke pflegte.
+
+»Alix --« klang es tonlos aus dem Nebenzimmer. Ich stürzte hinein.
+Aufrecht auf seinem Stuhl saß Georg. Ich schlang den Arm um seine
+Schulter.
+
+»Warum -- warum läßt du mich sterben?!« flüsterte es vor meinem Ohr.
+Sein Kopf sank an meine Schläfe. Tiefe, röchelnde Atemzüge kamen aus
+seiner Brust.
+
+Wie lange ich regungslos saß, -- ich weiß es nicht. -- Fahl dämmerte der
+Tag durch die Scheiben. Der Arzt trat ein und umfaßte die wachsbleiche
+Hand --
+
+»Es ist vorüber --«
+
+
+
+
+Einundzwanzigstes Kapitel.
+
+
+Ein heißer Sommertag. Auf den Wiesen Grainaus brannte die Sonne. In
+üppiger Farbenpracht glänzten die bunten Blumen, ein sprühender
+Perlenregen war der Bach. Die Zugspitze spiegelte ihre leuchtenden
+Schneefelder im Rosensee. Schwül duftete um das Haus der Jasmin.
+
+Ich lag in Decken gehüllt auf der Altane, -- ich sah das alles, und doch
+sah ichs nicht. Tante Klotilde ging ab und zu. Sie war in Berlin eines
+Tages in mein Zimmer getreten, hatte mich tränenüberströmt in die Arme
+geschlossen und immer wieder die zwei Worte wiederholt: verzeih mir! Ich
+hatte ihr versprechen müssen, im Sommer zu ihr zu kommen.
+
+Und nun war ich hier, -- zu einer letzten, stillen Rast. Ich wußte, was
+ich zu tun hatte, wenn ich ihm, der unter grünem Epheu und roten Rosen
+lag, treu sein wollte. Mein Entschluß war gefaßt. In meinem Schreibtisch
+lag mein Abschiedswort an die Leser der Zeitschrift, die wir miteinander
+geleitet hatten, -- und der Brief an meine Eltern, von dem ich wußte,
+daß er sie schmerzen würde, wie nichts vorher. »Sie werden es überwinden
+--« dachte ich in meinen schlaflosen Nächten, -- »ich werde ihnen von
+da an eine Gestorbene sein!«
+
+All das war mir nicht einmal schwer geworden, solange ich zu Hause in
+meinen einsamen Räumen war. Losgelöst fühlte ich mich schon von aller
+Vergangenheit: Zu den Eltern zurückkehren sollte ich, hatten Vater und
+Mutter in sorgender Liebe gemeint, -- so wenig wußten sie von mir!
+Großmamas Heim im Schloß von Pirgallen hatte mir Onkel Walter als
+Ruhesitz angeboten, -- so wenig ahnten sie, daß ich nicht ruhen durfte!
+
+Nur Martha Bartels hatte mich verstehen gelernt, während sie mir in den
+schwersten Tagen der ersten Einsamkeit viele Arbeitsstunden opferte.
+
+»Sie werden uns eine liebe Genossin sein --« hatte sie gesagt.
+
+Eine Genossin! -- Keines Menschen Geliebte, keines Kindes Mutter, --
+eine Gefährtin nur der Elenden und der Verfolgten. Es war fast ein
+Gefühl von Freude gewesen, mit dem ich Abschied genommen hatte.
+
+Und nun wurde es mir auf einmal so bitter schwer!
+
+O du Sommertag über den Bergen, wie wunderschön bist du!
+
+Es liegt in der Luft wie eine große Sehnsucht, -- und jubelnde Erfüllung
+zwitschern die Vögel und duften die Blumen. In den Sonnenstrahlen glüht
+jedes Blatt wie Gold, blutrot färben sich zur Abendstunde die grauen
+Felsen. Und ein ganzer, großer Korb blühender Alpenrosen steht vor mir.
+-- Ich will die Augen schließen, will das prangende Leben nicht sehen,
+-- aber dann schleicht auf unhörbar linden Sohlen die Erinnerung in
+meine Träume ... Hier begegnete mir vor Zeiten das Glück ...
+
+In der Morgenfrühe gleitet mein Kahn über den Badersee. Tief, tief bis
+zum Grund kann ich sehen, wo um samaragdne Moose glitzernd die Forellen
+streichen und versteinerte Baumriesen schlafen. Langsam schlepp ich
+meine müden Füße heimwärts durch den Wald, wo die Orchideen blühen.
+
+Drüben beim Bärenbauern herrscht jetzt der Sepp als Hausherr. Sein
+junges blondes Weib trägt den ersten Buben an der Brust. Verlegen, die
+Mütze zwischen den Händen drehend, hatte er die alte Spielgefährtin
+begrüßt. Sie wußten im Dorf von mir: daß ich die »heilige Kirche«
+bekämpfte und es mit den Freidenkern hielt! Warum schmerzt mich das
+alles so sehr? Was konnten die Wenigen mir sein, da ich den Vielen
+gehörte?
+
+ * * * * *
+
+»Übermorgen muß ich fort,« sagte ich entschlossen zu meiner Tante, --
+»du weißt, die Arbeit wartet nicht, und ich bedarf ihrer --«
+
+»Bleib noch, mein Kind, bleib noch, -- du bist noch so schwach --« bat
+sie.
+
+»Ich werde dir morgen beweisen, daß ich stark bin --« lächelte ich ...
+
+ * * * * *
+
+Es läutete gerade zur Frühmesse, als ich aus dem Gartentor trat. Einen
+Atemzug lang stand ich still, die Hände auf dem pochenden Herzen. Mir
+war, als hätte ich drüben, zwischen den Bäumen einen Menschen gesehen,
+-- eine Erscheinung aus ferner, ferner Vergangenheit.
+
+Dann ging ich festen Schrittes weiter und warf ohne Besinnen meine
+Briefe in den blauen Kasten an der Post. Hörte ich nicht einen Schritt?
+-- Es war wohl nur das Klopfen und Rauschen meines eigenen Blutes in den
+Ohren.
+
+Auf den Stock gestützt, schritt ich langsam bergauf. Wie doch die Bäume
+gewachsen waren auf der Schonung! Früher reiften hier in der Sonne die
+süßesten roten Beeren. Und weiter droben war ein neuer Schlag, --
+kleinwinzige Tannenpflänzchen guckten schon neugierig zwischen
+Grasbüscheln und alten Wurzeln hervor.
+
+Über die Steinhalde lief ich sonst, -- heute wurde mir das Atmen recht
+schwer!
+
+Nun gings durch den Wald über Sturzbäche, höher und höher, bis der Weg
+nur als schmales Band an der schroffen Felsenwand des Waxensteins
+entlang führt. Tief unten braust und schäumt der Höllentalbach.
+
+O, ich kenne noch keinen Schwindel, -- findet meine Sohle nur einen Fuß
+breit Erde, so stehe ich sicher!
+
+Wie frei weht die Luft hier oben, -- wie leicht läßt es sich atmen! Über
+himmelhohem Abgrund schwingt sich die eiserne Brücke von Berg zu Berg,
+und jenseits führen Leitern wieder empor. Auf weichem Moos unter einer
+Tanne, die ihre Wurzeln keck um einen Felsvorsprung klammert, halte ich
+Rast. Im Halbkreis schieben sich hier die Berge aneinander, ein Zirkus,
+von Riesen gebaut, bestimmt für die Spiele unsterblicher Götter.
+
+Da hör' ich Schritte, -- Nagelschuhe auf Felsstufen, -- ein Wilddieb
+vielleicht, oder ein Bergführer, der über die Knappenhäuser zur Hochalm
+will. Ich stehe auf -- die Hand fest um den Stock --, hier gibt es kein
+Ausweichen. Und schon sehe ich ihn vor mir, den einsamen Wanderer, die
+Spielhahnfeder am grünen Hut, ein gebräuntes Antlitz darunter, mit Augen
+-- --! Ein Zittern durchläuft meinen Körper --
+
+»Warum erschrickst du vor mir, Alix, -- ich bin ja nur ein Gespenst
+unserer Jugend --«
+
+Ich raffe mich zusammen und seh ihm gerad' ins Gesicht. Wie hart sind
+die weichen Züge geworden, denke ich. Das Blut strömt mir wieder zum
+Herzen.
+
+»Laß mich vorüber, -- ich glaube nicht an Gespenster,« sag' ich, den Ton
+meiner Stimme zur Kälte zwingend.
+
+»Du gingst denselben Weg, wie ich: hinauf!« gibt er leise zurück und
+rührt sich nicht von der Stelle.
+
+»Denselben Weg?! Nein, -- unsere Wege sind längst auseinandergegangen,
+-- und daß der deine emporführt, -- daran erlaubst du mir wohl, zu
+zweifeln!« antworte ich höhnisch, -- meine eigenen Worte stechen mich
+wie lauter Nadeln.
+
+»Ich suchte dich, Alix, -- seit Wochen, -- kein Zufall ists, daß ich
+hier bin --;« aus seinen Augen dringt ein blaues Blitzen --
+
+»Du -- mich?!« Ich lache, daß es vom Felsen wiederklingt, -- aber in
+meinem Herzen weint es.
+
+»Ich liebe dich,« flüstert er -- »ich habe geglaubt, ich könnte dich
+vergessen, -- aber meine Sehnsucht bliebst du, -- mein ganzes Leben war
+ein einziges Warten auf dich. Endlich hab' ich dich gefunden! Alix, mein
+Lieb, -- verlaß mich nicht wieder!« Und flehend, wie ein Hungernder,
+streckt er die geöffneten Hände mir entgegen.
+
+»An eine Nacht denke ich, Hellmut, in der ich vor dir stand und dir
+schenken wollte, was du heut' begehrst; -- jetzt hab' ich nichts mehr,
+bin bettelarm! -- Ich liebe nur noch die Erinnerung, -- nicht dich; --
+du bist ein fremder Mann für mich, -- an dem ich vorüber muß --«
+
+In meinem Herzen zuckt es, wie ein verborgenes Leben, das mit dem Tode
+ringt --
+
+»Ich will um dich werben, Alix, -- demütig -- geduldig, -- an meiner
+Liebe wirst du Kalte wieder warm werden --«
+
+Ich schüttle den Kopf. »Nein!« sagt eine harte Stimme. War das die
+meine?!
+
+Er richtet sich auf, sein Blick erstarrt, -- er tritt zurück, und ohne
+aufzusehen, schreite ich an ihm vorbei, -- sehr langsam, schwer atmend,
+auf den Stock gestützt.
+
+Hoch oben, wo auf grüner Halde um die Ruinen der Knappenhäuser in
+dichten Büschen dunkelblaue Vergißmeinnicht blühen, sah ich noch einmal
+hinab: auf dem Wege zu Tal steht eine graue Gestalt, vom Dunst der Tiefe
+halb verwischt: meine Jugend.
+
+Und der steile Steg, den ich gehen will, wohin führt er?
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
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+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+Title: Memoiren einer Sozialistin
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+Author: Lily Braun
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+Release Date: July 15, 2005 [EBook #16301]
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+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
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+<h1><a name="Page_-1" id="Page_-1"></a>Memoiren einer Sozialistin</h1>
+
+
+<h2>Lehrjahre</h2>
+
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+<h2>Roman</h2>
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+<h2>von</h2>
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+
+<h2>Albert Langen, M&uuml;nchen</h2>
+
+<h2>1909</h2>
+
+<hr style="width: 65%;" />
+
+<h3>An meinen Sohn</h3><p><a name="Page_0" id="Page_0"></a></p><p><a name="Page_1" id="Page_1"></a></p>
+
+
+<p>Die Rosen bl&uuml;hen und die Linden duften. &Uuml;ber
+dunkle W&auml;lder und saftgr&uuml;ne Matten ragen die
+Berge meiner Heimat zum Himmel empor, an
+dem die Sterne funkeln und strahlen, ungetr&uuml;bt von den
+D&uuml;nsten der St&auml;dte und den Nebeln der Niederung.
+Die grauen Felsriesen schimmern silbern im Mondlicht,
+und in ihren tausend Furchen und Spalten gl&auml;nzt noch
+der Schnee.</p>
+
+<p>Das ist die sch&ouml;nste Nacht des Jahres, die Nacht,
+in der's in Wald und Feld von alten M&auml;rchen raunt
+und fl&uuml;stert, die Nacht, mein Sohn, die dich mir geschenkt:
+ein Sonnwendskind, ein Sonntagskind. Elf
+Jahre sind es heute. Ist es mir doch, als w&auml;re es
+erst gestern gewesen, da&szlig; du an meiner Brust gelegen,
+da&szlig; du die ersten Worte lautest, zum erstenmal die
+F&uuml;&szlig;chen setztest. Und nun bist du ein gro&szlig;er Junge!
+Die Kindheit bereitet sich aufs Abschiednehmen vor.</p>
+
+<p>Fast am gleichen Tage war es, und mehr als drei Jahrzehnte
+sind es her, da&szlig; auch ich zu F&uuml;&szlig;en dieser Berge meinen
+elften Geburtstag feierte. Die Tafel bog sich damals
+unter der F&uuml;lle der Geschenke &mdash; auf deinem Tisch,
+mein Sohn, lagen heute neben dem duftenden Kuchen
+unsrer alten Marie nur ein paar B&uuml;cher! &mdash;, und Eltern,<a name="Page_2" id="Page_2"></a>
+Verwandte und Freunde umgaben mich, mit sch&auml;umendem
+Sekt und schmeichelnden Reden das Geburtstagskind
+feiernd, &mdash; wir dagegen waren heute allein und
+hatten nur tiroler Landwein in den Gl&auml;sern. Das
+Geburtstagskind von damals war ein blasses, langaufgeschossenes
+M&auml;dchen mit einem alten, hochm&uuml;tig-sarkastischen
+Zug um den Mund, dessen L&auml;cheln der
+Dankbarkeit nur die Frucht guter Erziehung war; du
+aber bist ein bl&uuml;hender Knabe, der im &Uuml;berschwang
+seiner Freude seine Mutter und die alte Marie abwechselnd
+in tollem Tanz auf der Wiese umherwirbelte.
+Nur zweierlei ist sich gleich geblieben &mdash; damals und
+heute &mdash;: auf deinem Tisch wie auf dem meinen lag
+das erste, langersehnte Tagebuch, dessen wei&szlig;e Bl&auml;tter
+so verlockend sind f&uuml;r ein elfj&auml;hriges Herz, wie der
+Eingang ins Zauberreich des Lebens selbst, und vor
+dir wie vor mir ragten dieselben Bergesriesen, und derselbe
+Wald umrauschte unsre Kindertr&auml;ume.</p>
+
+<p>Mich hat mein Tagebuch durch's ganze Leben begleitet,
+und der Gewohnheit, mir allabendlich vor ihm Rechenschaft
+abzulegen &uuml;ber des Tages Soll und Haben, bin
+ich immer treu geblieben. Am Schlusse jeden Jahres
+habe ich an seiner Hand den verflossenen Lebensabschnitt
+&uuml;berlegt und sein Fazit gezogen. Seine lakonischen
+Bemerkungen &mdash; ein blo&szlig;es trockenes Tatsachenmaterial &mdash; bildeten
+den festen Rahmen, den die Erinnerung mit
+den bunten Bildern des Lebens f&uuml;llte, und unverzerrt
+durch jene schlechtesten Portr&auml;tisten der Welt &mdash; Ha&szlig;
+oder Bewunderung &mdash;, blickte mein Ich mir daraus entgegen.</p>
+
+<p>Als ich diesmal aus der Tretm&uuml;hle und der Fabrikatmosph&auml;re<a name="Page_3" id="Page_3"></a>
+meines Berliner Arbeitslebens in unsre stille
+Bergeinsamkeit floh, nahm ich die zweiunddrei&szlig;ig Jahreshefte
+meines Tagebuches mit mir. Generalabrechnung
+mu&szlig; ich halten.</p>
+
+<p>Auf steilem Felsenpfad bin ich bis hierher gestiegen,
+meinem wegkundigen Blick, meiner Kraft vertrauend,
+weit entfernt von den Lebenssph&auml;ren, die Tradition und
+Sitte mit Wegweisern versah, damit auch der Gedankenlose
+nicht irre gehe. Jetzt aber mu&szlig; ich stille stehen,
+mu&szlig; Atem sch&ouml;pfen, denn die gro&szlig;e Einsamkeit um mich
+her l&auml;&szlig;t mich schaudern. Wohin nun? Hinab zu Tal,
+zu den Wegweisern? Oder weiter auf selbstgew&auml;hltem
+Steige?</p>
+
+<p>Die Menschen z&uuml;rnen mir, und alle nennen mich fahnenfl&uuml;chtig,
+die irgendwann auf der Lebensreise ein St&uuml;ck
+Weges mit mir gingen; mir aber erscheinen sie als die
+Ungetreuen. Wer hat recht von uns: sie oder ich? Um
+die Antwort zu finden, will ich den letzten Wurzeln
+meines Daseins nachsp&uuml;ren, wie seinen &auml;u&szlig;ersten Ver&auml;stelungen;
+und an dich, mein Sohn, will ich denken
+dabei, auf da&szlig; du, zum Manne gereift, deine Mutter
+verstehen m&ouml;gest.</p>
+
+<p>In der Sonnwendnacht, die dich mir geschenkt, in
+der Sonnwendnacht, in der ringsum auf den H&ouml;hen
+die Feuer gl&uuml;hen, in der Sonnwendnacht, wo aufersteht,
+was ewigen Lebens w&uuml;rdig war, seien die Geister der
+Vergangenheit zuerst heraufbeschworen.</p>
+
+<p>Obergrainau, den 24. Juni 1908</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_4" id="Page_4"></a></p><p><a name="Page_5" id="Page_5"></a></p>
+<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Wo die kurische Nehrung beginnt, ihre D&uuml;nen
+in die Ostsee hinauszustrecken, und das
+Meer auf der einen, das Haff auf der
+andern Seite das Land besp&uuml;lt, steht das Haus
+meiner Gro&szlig;eltern, in dem ich geboren bin. Vor Jahrhunderten
+haben deutsche Ordensritter es als festes
+Bollwerk gegen das heidnische Volk des Samlands erbaut;
+der breite, viereckige Turm, die dicken Mauern
+und der Graben ringsum erinnern noch an seinen Ursprung.
+Ein Ordensbruder soll es gewesen sein, der
+als einer der ersten im Samland zur Lehre Luthers
+&uuml;bertrat, &mdash; nicht aus Gewissenszwang, denn das h&auml;tte
+dem blonden derben Junker aus dem th&uuml;ringischen
+Geschlecht der Golzows wenig &auml;hnlich gesehen, sondern
+aus Liebe zu einem sch&ouml;nen Fr&auml;ulein, die ihn das
+Keuschheitsgel&uuml;bde brechen hie&szlig;. Er wurde auf dem
+Schlo&szlig; von Pirgallen der Stammvater des preu&szlig;ischen
+Zweigs der Familie und der Vorfahr meines Gro&szlig;vaters.
+Mit dem Besitz schien sich aber auch die lebenbestimmende
+Liebesleidenschaft des Ahnherrn von Generation
+zu Generation zu vererben. Nur selten f&uuml;gte
+sich ein Golzow dem Rate der Familiensippe, wenn es
+galt, sich die Eheliebste zu w&auml;hlen, und so wurden viele
+<a name="Page_6" id="Page_6"></a>fremde Blumen in den nordischen Garten verpflanzt.
+Manch eine mag dabei im Frost erstarrt, vom Meersturm
+zerzaust worden sein, andere aber bl&uuml;hten, trugen
+Frucht und streuten den Samen ihrer Heimaterde in
+das Land, wo er &uuml;ppig aufging, so da&szlig; es zwischen den
+gelben D&uuml;nen, den wei&szlig;en Birkenst&auml;mmen und knorrigen
+Eichen gar seltsam anzuschauen war.</p>
+
+<p>Auch meine Gro&szlig;mutter war solch eine fremde Blume
+gewesen: ein Kind der Liebe, dem heimlichen Bund
+eines K&ouml;nigs mit einem kleinen els&auml;ssischen Komte&szlig;chen
+entsprossen. Und sie war wohl nie recht heimisch geworden
+da oben. Sie fror immer, sa&szlig; auch im Sommer
+gern am Kaminfeuer der Halle, und schwere schleppende
+Samtkleider, mit Pelz verbr&auml;mt, trug sie am liebsten.
+Sie blieb auch einsam trotz der gro&szlig;en Kinderschar, die
+sie umgab. Das Blut der Golzows war lebenskr&auml;ftiger
+als das ihre, denn all die Buben und M&auml;deln, die sie
+gebar, waren nicht eigentlich ihre Kinder: mit hellen
+blauen Augen aus rosigwei&szlig;en Gesichtern blickten sie in
+die Welt, und Jagd und Tanz, Spiel und Liebe blieb
+ihnen Lebensinhalt.</p>
+
+<p>An meine Mutter, ihr j&uuml;ngstes Kind, die goldblonde
+Ilse, hatte sie sich mit aller Kraft ihrer
+Sehnsucht geklammert. Lange hoffte sie, sich selbst
+in ihr wiederzufinden, und verdeckte mit den bunten Gew&auml;ndern
+ihrer Phantasie in z&auml;rtlicher Selbstt&auml;uschung
+alles, was ihr fremd war an ihrer Tochter. Sie
+half ihr auch den Starrsinn des Vaters brechen, der
+sich ihrer Verbindung mit einem armen Infanterieleutnant
+widersetzte. Die Ehe mit dem ernsten, strebsamen
+Mann w&uuml;rde, so meinte sie, ihr eigentliches<a name="Page_7" id="Page_7"></a>
+Wesen erst zur Entfaltung bringen, &mdash; das Wesen, das
+sich schon deutlich genug dadurch auszudr&uuml;cken schien,
+da&szlig; ihre Wahl unter allen ihren gl&auml;nzenden Bewerbern
+grade auf diesen gefallen war. Sie wu&szlig;te nicht, da&szlig;
+nur der Rausch Golzowscher Liebesleidenschaft &mdash; hei&szlig;
+und kurz, wie die Sommer Pirgallens &mdash; Ilse beherrschte.
+Ihr Gatte kannte die Tochter besser als sie,
+darum gab er die Hoffnung nicht auf, statt des &raquo;heimatlosen
+Landsknechts&laquo;, wie er ihren Erw&auml;hlten, den Leutnant
+Hans von Kleve, sp&ouml;ttisch nannte, einen der
+Standesherrn des Landes als Schwiegersohn zu begr&uuml;&szlig;en.</p>
+
+<p>Kleve besa&szlig; nichts als seinen guten Namen und
+seinen Ehrgeiz. Nachdem sein Vater, ein leichtsinniger
+Gardeleutnant, mit dem sp&auml;rlichen Rest seines rasch
+verjubelten Verm&ouml;gens und einer lustigen kleinen Frau,
+deren b&uuml;rgerliche Herkunft ihn den sch&ouml;nen bunten Rock
+auszuziehen zwang, ein G&uuml;tchen in der N&auml;he Berlins
+erworben hatte, um dort nichts zu tun, als zu sterben,
+war seiner Mutter kaum das notwendigste &uuml;brig geblieben,
+um ihn und seine vier Geschwister zu erziehen.
+Wie gut, da&szlig; sie an Arbeit gew&ouml;hnt gewesen war ihr
+Leben lang! Zu stolz, die reichen Verwandten ihres
+Mannes, die sie ihrer Herkunft wegen nie hatten anerkennen
+wollen, in Anspruch zu nehmen, zog sie sich
+in eine kleine m&auml;rkische Stadt zur&uuml;ck, wo sie ihre
+Kinder mit eiserner Strenge und in spartanischer Einfachheit
+erzog. Hans war zw&ouml;lf Jahre alt, als er in
+diese harte Schule genommen wurde. Er empfand
+die Beschr&auml;nktheit des Lebens am tiefsten und litt
+st&auml;ndig unter den Anforderungen, die seine Mutter an
+<a name="Page_8" id="Page_8"></a>seine geistige und moralische Leistungskraft stellte. Sein
+Liebesbed&uuml;rfnis fand wenig Verst&auml;ndnis bei ihr, die
+unter dem dauernden Druck qu&auml;lender Sorgen die Z&auml;rtlichkeit
+gl&uuml;cklicher M&uuml;tter eingeb&uuml;&szlig;t hatte. Eine Schwester,
+die ihm im Alter am n&auml;chsten stand, und der er sein
+ganzes Herz zuwandte, wurde ihm fr&uuml;h durch v&auml;terliche
+Verwandte, die sich pl&ouml;tzlich der armen Witwe
+und ihrer Kinder erinnert hatten, entrissen; so blieb er
+ganz auf sich allein angewiesen und konzentrierte all
+seine Energie auf das eine Ziel: sich selbst das Leben
+zu erobern.</p>
+
+<p>Mit sechzehn Jahren machte er das Abiturientenexamen
+und trat in ein K&ouml;nigsberger Infanterieregiment
+ein. Kavallerist zu werden, was er sich gew&uuml;nscht
+hatte &mdash; denn die Reiterleidenschaft sa&szlig; ihm tief im
+Blute &mdash;, erlaubten seine Mittel ihm nicht, und die
+Schwester, die von ihrem reichen Onkel wie ein eignes
+Kind gehalten wurde, hatte dem Bruder, &mdash; um ihre
+pers&ouml;nliche Stellung besorgt, &mdash; rundweg abgeschlagen,
+eine Zulage f&uuml;r ihn zu erbitten. Von selbst reichte des
+Onkels Generosit&auml;t &uuml;ber das Geburtstags- und Weihnachtsgoldst&uuml;ck
+und gelegentliche Urlaubsreisen nach
+dem Familiengut in Oberfranken nicht hinaus, und
+so bestand des jungen Mannes Dasein in unaufh&ouml;rlichen
+Verzichtleistungen. Er lebte nur seinem Beruf;
+sein Empfindungsleben schien durch die Arbeit v&ouml;llig erstickt
+zu sein.</p>
+
+<p>Um diese Zeit lernte er Ilse Golzow kennen, und
+alles, was an Liebessehnsucht in seiner Seele gelebt
+hatte von klein auf, brach ungest&uuml;m hervor. Das Weib
+war ihm unbekannt geblieben bis dahin; die Arbeit
+<a name="Page_9" id="Page_9"></a>hatte ihn taub und blind gemacht, und eine angeborene
+Reinheit der Gesinnung hatte ihn das Gemeine stets
+als gemein empfinden lassen. So vereinte sich in der
+ersten Liebe des Achtundzwanzigj&auml;hrigen die volle phantastische
+Schw&auml;rmerei des J&uuml;nglings mit der tiefen
+Neigung des reifen Mannes. Die Erf&uuml;llung alles
+dessen, was er in seinen stillsten Stunden f&uuml;r sich an
+Gl&uuml;ck ertr&auml;umt hatte, erwartete er von dem Besitz
+dieses holden blonden M&auml;dchens. Da&szlig; ihm dies Gl&uuml;ck
+nicht kampflos in den Scho&szlig; fiel, erh&ouml;hte nur seinen
+Wert f&uuml;r ihn.</p>
+
+<p>Um ihretwillen vertauschte er seine Studierstube mit
+dem Ballsaal; er entwickelte gesellige Talente, die bisher
+niemand in ihm vermutet hatte, er wurde das
+belebende Element aller gro&szlig;en und kleinen Feste. Auf
+dem Wege zwischen K&ouml;nigsberg und Pirgallen ritt er
+sein Pferd fast zu Schanden, das er sich endlich als
+Regimentsadjutant halten konnte, und auf den Schnitzeljagden
+stellte er durch seine Reiterkunst s&auml;mtliche
+K&uuml;rassierleutnants in den Schatten. Ein instinktives
+Verst&auml;ndnis f&uuml;r die weibliche Natur lehrte ihn, da&szlig;
+M&auml;dchen, wie die sch&ouml;ne Ilse, durch die Bewunderung,
+die man ihnen abn&ouml;tigt, am sichersten zu gewinnen sind.
+Von dem Vater der Geliebten aber mu&szlig;te er sich eine
+zweimalige Ablehnung gefallen lassen; erst als er zum
+drittenmal wieder kam und die Tr&auml;nen Ilsens sich mit
+seinen Bitten vereinigten, w&auml;hrend ihre Mutter alle
+Gr&uuml;nde der Liebe und der Vernunft zu seinen Gunsten
+zur Geltung brachte, hie&szlig; er ihn &mdash; mit aller Reserviertheit
+des Bezwungenen, nicht des &Uuml;berzeugten &mdash; als
+Schwiegersohn willkommen.</p>
+
+<p><a name="Page_10" id="Page_10"></a>An einem Maiensonntag des Jahres 1863 fand die
+Trauung des jungen Paares in der alten Pirgallener
+Dorfkirche statt. Als &raquo;Burg des Christengottes&laquo;, so erz&auml;hlt
+die Sage, galt sie einst dem heidnischen Volk,
+und an eine Burg mehr als an eine Kirche erinnern
+noch heut die aus ungef&uuml;gen Steinbl&ouml;cken zusammengesetzten
+Mauern und der viereckige Turm mit den
+kleinen Fenstern, den dichter Efeu fast ganz &uuml;berwucherte.
+Die d&auml;mmerige Halle verst&auml;rkte diesen Eindruck:
+vor dem Zeichen des Speeres, dem Wappenbilde
+der Golzows, verschwand fast das des Kreuzes,
+und statt der Bilder des Heilands und der Apostel
+reihte sich ein Grabstein neben dem andern an den
+W&auml;nden, mit Ritterhelmen und Schwertern geschm&uuml;ckt,
+oder mit steinernen Bildnissen, die alle denselben Typus
+ostdeutschen Adels aufwiesen, ob ihr Antlitz mit den
+regelm&auml;&szlig;igen, etwas leblosen Z&uuml;gen und den hochm&uuml;tig
+gesch&uuml;rzten Lippen nun unter dem Stechhelm oder der
+Allongeper&uuml;cke hervorsah. Auf den Grabsteinen der
+Frauen erz&auml;hlten die Doppelwappen, wie selten nur die
+ritterb&uuml;rtige Ahnenreihe unterbrochen worden war. Und
+da&szlig; sie alle zu einem Geschlechte geh&ouml;rten: diese
+stummen Zeugen der Hochzeit Ilsens und die vielen
+derer von Golzow, die sich in der alten Kirche zusammenfanden, &mdash; das
+bewiesen diese schlanken Menschen
+mit den schmalen Handgelenken und den langen
+spitzen Fingern, die an harte Arbeit nie gew&ouml;hnt gewesen
+waren. Nur da&szlig; die Kraft der Ahnen sich in
+l&auml;ssige Grazie verwandelt und ihre rassige Vornehmheit
+einen leisen Schein m&uuml;der Dekadenz angenommen
+hatte.</p>
+
+<p><a name="Page_11" id="Page_11"></a>Auch des Br&auml;utigams Verwandte waren vollz&auml;hlig erschienen.
+Sie hatten sich die Teilnahme an dem Familienfest
+um so weniger entgehen lassen, als Hans Kleves
+Heirat die Mesallianz seines Vaters verschmerzen lie&szlig;.
+Von anderem Schlag waren sie als die Golzows: Das
+Blut fahrender Landsknechte und alt-n&uuml;rnberger Patrizier
+mischte sich in ihren Adern, und breit, gro&szlig; und
+st&auml;mmig waren ihre Gestalten. Die Kniehosen und
+Wadenstr&uuml;mpfe ihres bayerischen Berglands lie&szlig;en ihnen
+besser, als Frack und Zylinder, und seltsam stach vor
+allem des Br&auml;utigams &uuml;ppige rotblonde Schwester
+Klotilde ab gegen die zarte Elfengestalt seiner Braut.</p>
+
+<p>Als Menschen eigner Art jedoch, nicht als blo&szlig;e
+Glieder einer Familie, traten zwei Erscheinungen aus
+dem gro&szlig;en Kreise hervor: die M&uuml;tter des jungen
+Paares waren es. Das Leben hatte sie beide auf
+seine H&ouml;hen gef&uuml;hrt und in seine Abgr&uuml;nde hineingerissen,
+sie waren von ihm gezeichnet; die eine &mdash; das
+K&ouml;nigskind, das Kind der Liebe &mdash;, um deren hohe Gestalt
+das Samtgewand wie ein Kr&ouml;nungsmantel niederflo&szlig;,
+deren schwerm&uuml;tig-dunkle Augen Geist und G&uuml;te
+strahlten, &mdash; die andere &mdash;, ein Kind des Volkes und
+der Arbeit, die sich nicht zu Hause f&uuml;hlte in dem
+schwarzen Seidenkleid, deren harte H&auml;nde von z&auml;hem
+Flei&szlig;e, deren durchfurchte Z&uuml;ge von eiserner Willenskraft
+sprachen, und in deren braunen Augen doch der
+kecke Humor noch lachte, der &uuml;ber alles Ungemach hinweghilft.</p>
+
+<p><a name="Page_12" id="Page_12"></a>K&ouml;nigsberg, die Garnison meines Vaters, als er
+heiratete, war mit dem raschen Golzowschen
+Gespann von Pirgallen aus in drei Stunden
+zu erreichen. Es war daher f&uuml;r die Tochter kein Abschied
+von zu Hause, der den Schmerz langer Trennung
+in sich birgt. Ja, sie blieb im Grunde daheim, denn
+im alten Stadthaus ihrer Eltern wurde dem jungen
+Paare die Wohnung eingerichtet.</p>
+
+<p>W&auml;hrend es auf der Hochzeitsreise war, schm&uuml;ckte die
+Gro&szlig;mutter das k&uuml;nftige Nest ihrer Kinder. All ihren Geschmack,
+all ihre Tr&auml;ume und Gedanken &uuml;ber die Sch&ouml;nheit,
+Harmonie und Behaglichkeit einer Familienwohnung verwirklichte
+sie hier. Da war der gr&uuml;ne Salon mit den
+tiefen englischen Lehnst&uuml;hlen, dem ger&auml;umigen Sofa am
+breiten Fensterpfeiler, mit dem runden, von einer Tuchdecke
+bedeckten gro&szlig;en Tisch davor, dem m&auml;chtigen roten
+Marmorkamin an der L&auml;ngswand ihm gegen&uuml;ber; daneben,
+nur durch Portieren getrennt, das helle Boudoir
+mit seinen kretonne&uuml;berzogenen W&auml;nden und M&ouml;beln,
+dem Schreibtisch voller Familienbilder, &uuml;berragt von
+Thorwaldsens segnendem Christus; und auf der andern
+Seite des Vaters Zimmer mit seinen schweren geschnitzten
+Eichenm&ouml;beln, in deren Arabesken das Wappentier der
+Kleves, die gekr&ouml;nte Eule, sich vielfach wiederholte. F&uuml;r
+das Speisezimmer hatte die Gro&szlig;mutter die alten Empirem&ouml;bel
+ihrer Mutter hergegeben: Mahagoni mit Bronzebeschl&auml;gen
+und gelbseidnen Sesselbez&uuml;gen. Hier prangte
+auch eine Reihe alter Familienbilder an den W&auml;nden:
+Frauen im Reifrock mit m&auml;rchenhaft d&uuml;nner Taille und
+gepuderten Haaren, M&auml;nner in goldstrotzender Uniform
+<a name="Page_13" id="Page_13"></a>und m&auml;chtiger Lockenper&uuml;cke, und mitten unter ihnen ein
+rosiges, l&auml;chelndes, goldlockiges Frauenk&ouml;pfchen, das die
+Mutter in sp&auml;tern Jahren immer in den dunkelsten Winkel
+zu h&auml;ngen pflegte: Alix, die Urgro&szlig;mutter, das K&ouml;nigsliebchen.</p>
+
+<p>Ein gro&szlig;es, helles Schlafzimmer, eine Fremdenstube und
+ein sorgf&auml;ltig abgeschlossner, von der Gro&szlig;mutter streng
+beh&uuml;teter Raum &mdash; als h&auml;tte Blaubart seine Frauen darin &mdash; vollendeten
+die Wohnung. In Ost und West, in S&uuml;d
+und Nord &mdash; wohin immer das Soldatenschicksal uns getrieben
+hat, &mdash; dieser Rahmen des Lebens ist sich stets
+gleich geblieben. Ein Gesellschaftszimmer, ein Tanzsaal
+kamen sp&auml;ter wohl hinzu, sie haben mich aber immer
+wie etwas Fremdes angemutet. &raquo;Ihr habt keine Heimat,&laquo;
+pflegte die Gro&szlig;mutter zu sagen, &raquo;da m&uuml;&szlig;t ihr sie als
+Ersatz, wie die Schnecke ihr Haus, mit euch tragen.&laquo;</p>
+
+<p>Als die Eltern nach der Hochzeitsreise diese R&auml;ume,
+die geschaffen schienen, Liebe und Freude in sich zu
+schlie&szlig;en, betraten, war auf ihr Ehegl&uuml;ck schon ein Reif
+gefallen. Ahnungslos, wie alle wohlgeh&uuml;teten M&auml;dchen
+ihrer Zeit und ihrer Lebenskreise, war Ilse in die Ehe
+getreten. Keusch wie sie war der Mann, dem sie sich
+verm&auml;hlt hatte, aber um so gewaltiger war die Glut
+seiner Liebe und seines Begehrens, w&auml;hrend ihre Sinne
+noch schliefen und das gro&szlig;e, tiefe Geheimnis des Geschlechts
+sich ihr wie eine gr&auml;&szlig;liche Untat offenbarte.
+Sie hat mir oft erz&auml;hlt, da&szlig; sie in den ersten acht Tagen
+ihres Zusammenlebens mit ihrem Mann am liebsten
+davongelaufen w&auml;re, wenn sie sich nicht vor ihren Eltern
+gesch&auml;mt h&auml;tte. Erst ganz allm&auml;hlich kam ihr die Erkenntnis,
+da&szlig; ihr Gatte kein Verbrecher, ihr Schicksal
+<a name="Page_14" id="Page_14"></a>kein abnormes war. Zu den seelischen Leiden, mit denen
+sie ihn, der so liebevoll, so zartf&uuml;hlend und weichherzig
+war, wohl noch mehr qu&auml;lte als sich selbst, kamen
+k&ouml;rperliche Beschwerden hinzu, deren Ursachen sie ebenso
+verst&auml;ndnislos gegen&uuml;berstand. Sie suchte sie mit der
+ihr eignen Energie zu beherrschen, um so mehr, als sie
+sich unter den ihr fremden Kleveschen Verwandten
+befand; sie teilte auch ihrer Mutter nichts davon mit,
+um die &Uuml;ber&auml;ngstliche nicht unn&ouml;tig, wie sie meinte, aufzuregen.
+Tapfer beteiligte sie sich an allen Ausfl&uuml;gen,
+allen l&auml;ndlichen Festen; tanzte und ritt, obwohl es ihr
+oft vor den Augen dunkelte und der Schwindel sie zu
+&uuml;bermannen drohte. So kehrte die junge Frau bleich
+und m&uuml;de zur&uuml;ck, die, ein Bild bl&uuml;hender Gesundheit,
+das Elternhaus verlassen hatte. Der Schatten dieser
+ersten Schmerzen und Entt&auml;uschungen fiel &uuml;ber ihr ganzes
+Leben.</p>
+
+<p>Der Gro&szlig;mutter blutete das Herz, als sie ihr Kind
+wiedersah. Bald aber war sie beruhigt und z&auml;rtlicher
+Freude voll in dem Gedanken an das junge Leben, das
+sich im Scho&szlig;e der Tochter entwickelte. Nur allzu fr&uuml;h
+sollte die Hoffnung, die von Ilse selbst nur qualvoll
+empfunden wurde, zerst&ouml;rt werden; und statt einer
+W&ouml;chnerin pflegte die Gro&szlig;mutter eine schwer kranke
+junge Frau. Erst die w&uuml;rzige Herbstluft von Pirgallen
+heilte sie, und der K&ouml;nigsberger Karneval sah sie als
+eine der sch&ouml;nsten der Sch&ouml;nen im fr&ouml;hlichen Kreise der
+Jugend wieder. Sie tanzte gern, sie sah sich gern von
+Bewunderern umgeben, und ihr Mann war &uuml;bergl&uuml;cklich,
+wenn er sie heiter wu&szlig;te.</p>
+
+<p>Im zweiten Jahre ihrer Ehe stellten sich wieder Hoff<a name="Page_15" id="Page_15"></a>nungen
+ein; mit hellem Jubel begr&uuml;&szlig;te sie Hans Kleve,
+mit tiefer R&uuml;hrung die Gro&szlig;mutter; nur die, unter
+deren Herzen das neue Leben erwachte, sp&uuml;rte nichts
+von alledem. Die Fassung, mit der sie sich in ihr
+Schicksal ergab, das Vorgef&uuml;hl ernster kommender
+Pflichten war das einzige, was sie ihm gegen&uuml;ber aufbringen
+konnte.</p>
+
+<p>Indessen richtete die Gro&szlig;mutter des Enkelkindes
+erstes St&uuml;bchen ein: Alles darin war wei&szlig; und rot,
+einfach und freundlich, nur das Sofa war mit braunem
+Rips bezogen und der Tisch davor mit braunem Wachstuch.
+Du gutes altes Sofa! Auf dir hab ich die
+Glieder im ersten Lebensgef&uuml;hl gestreckt, auf dir bin ich
+umhergeklettert, als ich die Beinchen regen konnte; in
+deinen Winkeln hab ich mein Lieblingsspielzeug geheimnisvoll
+verwahrt, habe, tief in deine Polster geschmiegt,
+meine M&auml;rchenb&uuml;cher verschlungen und meine
+ersten Tr&auml;ume auf dir getr&auml;umt!</p>
+
+<p>Mitten in den Vorbereitungen zum Empfange des
+kleinen Erdenb&uuml;rgers warf eine Lungenentz&uuml;ndung den
+alten Golzow aufs Krankenlager. Bei einer der h&auml;ufig
+wiederkehrenden &Uuml;berschwemmungen, die durch die wilden,
+alle D&auml;mme durchrei&szlig;enden Wogen des kurischen Haffs
+entstanden und die Wiesen stets auf Jahre hinaus
+wertlos machten, hatte er stundenlang, bis an die Kniee
+im Wasser, mit den Knechten um die Wette die L&ouml;cher
+der D&auml;mme zu verstopfen gesucht und sich dabei eine
+Erk&auml;ltung zugezogen. Auf die Nachricht seiner Erkrankung
+siedelte Ilse, die ihrem Vater besonders nahe
+stand, nach Pirgallen &uuml;ber. Noch wochenlang sah sie
+dem wilden Kampf des starken Mannes gegen den All<a name="Page_16" id="Page_16"></a>&uuml;berwinder
+zu, der ihn schlie&szlig;lich sanft in seine Arme
+nahm.</p>
+
+<p>Ein Maiensonntag war es abermals, als der Gutsherr
+mit all dem Pomp, der die Sprossen eines der
+&auml;ltesten Geschlechter des Landes von jeher zu Grabe
+leitete, in die Gruft seiner Vorfahren gesenkt wurde.
+Vollz&auml;hlig war wieder die Familie versammelt, vollz&auml;hlig
+war auch das Offizierkorps des K&ouml;nigsberger
+K&uuml;rassierregiments zugegen, dem Walter, der &auml;lteste Sohn
+des Verstorbenen, angeh&ouml;rte, und seine Trompeter bliesen
+die Trauerchor&auml;le. In langem Zuge folgten die Knechte
+und die Instleute dem Sarge, den der greise F&ouml;rster,
+des Toten Lebensgef&auml;hrte, mit seinen J&auml;gern trug.
+Ehrliche Trauer blickte aus den Z&uuml;gen aller der wettergebr&auml;unten
+M&auml;nner der Arbeit. Werner Golzow war
+ihnen ein guter Herr gewesen. Sie hatten nie seine
+Faust und nie seine Peitsche gesp&uuml;rt, wie ihre Kollegen
+ringsum auf den Nachbarg&uuml;tern, und sie f&uuml;rchteten sich
+vor dem Junker, seinem Erben. Sein junges h&uuml;bsches
+Gesicht war hart und hochm&uuml;tig, auf die unbeholfenen,
+teilnehmenden Worte der Diener seines Vaters antwortete
+er nur mit einem leichten Neigen des Kopfes,
+die Hand, die sie, der alten preu&szlig;ischen Sitte gem&auml;&szlig;,
+k&uuml;ssen wollten, zog er ungeduldig zur&uuml;ck. Als die Gutsleute
+nach der Beisetzung in der gro&szlig;en Halle des
+Herrenhauses von der Gro&szlig;mutter empfangen wurden,
+sp&uuml;rten sie doppelt ihre G&uuml;te, die nichts Herablassendes
+hatte, die den Untergebenen niemals den Abstand
+zwischen Herrn und Diener f&uuml;hlen lie&szlig;. Und einer nach
+dem andern richtete die angstvolle Frage an sie: Unsre
+Frau Baronin wird uns doch nicht verlassen? Sie
+<a name="Page_17" id="Page_17"></a>sch&uuml;ttelte nur wehm&uuml;tig l&auml;chelnd den Kopf dazu, und
+halb und halb beruhigt ging alles auseinander.</p>
+
+<p>Sechs Wochen sp&auml;ter wurde ich geboren. Es war
+ein gl&uuml;hhei&szlig;er Junisonntag; in voller Pracht bl&uuml;hten
+die Rosen, und in der alten dunkeln Gespensterallee, wo
+die &raquo;b&ouml;se Frau von Pirgallen&laquo; n&auml;chtlicherweile mit dem
+Kopf unter dem Arme umging, dufteten berauschend die
+Linden. Das Gel&auml;ut der Glocken begleitete gerade die
+heimkehrenden Kirchg&auml;nger, als ich zur Welt kam. Ich
+konnte das Leben nicht erwarten, denn den Weg hinein
+fand ich ohne Hilfe, &mdash; die weise Frau kam erst, als
+die Gro&szlig;mutter mich schon in den Armen hielt und dem
+Vater beim Anblick seines Kindes gro&szlig;e Tr&auml;nen der
+R&uuml;hrung &uuml;ber die Wangen liefen.</p>
+
+<p>In der alten Kirche, &uuml;ber der Gruft der Golzows
+und unter ihren Speeren, wurde ich getauft. Die Gutskinder
+hatten den d&uuml;stern Raum in eine Laube von
+Jasmin verwandelt, &mdash; darum hab ich wohl mein Lebtag
+keinen Blumenduft so geliebt wie den dieser wei&szlig;en
+Sterne. Selbst im geweihten Wasser des Taufsteins
+schwammen ihre Bl&auml;tter, und als der greise Pfarrer es
+mir auf die Stirn tr&auml;ufelte, blieb eins davon auf meinem
+dunkeln K&ouml;pfchen haften. &raquo;Und wenn ich mit Menschen- und
+Engelzungen redete und h&auml;tte der Liebe nicht, ich
+w&auml;re ein t&ouml;nend Erz und eine klingende Schelle&laquo; &mdash; lautete
+der Text der Taufpredigt und Alix der Name,
+der mir gegeben wurde. Beides hatte die Gro&szlig;mutter
+gew&auml;hlt; den Namen hatte sie gegen den Widerstand
+der Tochter f&uuml;r ihr erstes Enkelkind durchgesetzt, &mdash; den
+Namen ihrer Mutter, die sie um so inniger geliebt,
+je mehr die Welt sie verdammt hatte.</p>
+
+<p><a name="Page_18" id="Page_18"></a>Ich blieb in Pirgallen. Vergebens hatte man versucht,
+mich an die Brust meiner Mutter zu legen. War
+es ihre innere Abneigung, die sie nur im Gef&uuml;hl, eine
+Pflicht erf&uuml;llen zu m&uuml;ssen, &uuml;berwinden wollte, war es
+mein fr&uuml;h erwachter Eigensinn, &mdash; kurz, Mutter und
+Kind schienen nichts von einander wissen zu wollen,
+und eine derbe Fischerfrau, die mich mit ihrem
+S&ouml;hnchen zusammen n&auml;hrte, wurde meine Amme. Beh&uuml;tet
+von ihr und der Gro&szlig;mutter, der das schwarzhaarige,
+dunkel&auml;ugige Baby so &auml;hnlich sah, verbrachte
+ich auch den Winter bei ihr; seufzend hatte es mein
+Vater zugegeben, da er sah, da&szlig; ich hier besser aufgehoben
+war als in K&ouml;nigsberg, wo die Freuden der
+Gef&auml;lligkeit meiner Mutter ganze Zeit in Anspruch
+nahmen. Oft aber packte ihn die Sehnsucht so sehr,
+da&szlig; er Sturm und Wetter nicht scheute und, wie einst
+zu der Geliebten, zu der Braut, nun zu dem T&ouml;chterlein
+hinausritt, um es zu k&uuml;ssen, und in den Armen zu
+schaukeln. Die Gro&szlig;mutter hat immer dabei weinen
+m&uuml;ssen, erz&auml;hlte mir die Amme sp&auml;ter. Lange wu&szlig;te
+ich nicht, warum.</p>
+
+<p>Dann kam der Krieg, der b&ouml;se deutsche Bruderkrieg.
+Mein Vater wurde Kompagnief&uuml;hrer in einem jener
+Regimenter, die durch die m&ouml;rderischen K&auml;mpfe in
+B&ouml;hmen fast v&ouml;llig aufgerieben wurden. In den W&auml;ldern
+um K&ouml;niggr&auml;tz warf ihn eine Kugel zu Boden.
+W&auml;ren nicht ein paar seiner treuen Grenadiere, die ihn
+wie einen Vater liebten, der eignen Ersch&ouml;pfung nicht
+achtend, noch sp&auml;t des Nachts ausgezogen, um, wie sie
+meinten, die Leiche ihres Hauptmanns zu suchen, er w&auml;re
+elend verblutet. Puckchens, unseres Affenpinschers, kl&auml;g<a name="Page_19" id="Page_19"></a>liches
+Winseln f&uuml;hrte sie auf die Spur des Verwundeten.
+Sobald er transportf&auml;hig war, brachte man ihn nach
+K&ouml;nigsberg. Die Mutter, sonst eine so starke Frau,
+brach zusammen beim Anblick des entkr&auml;fteten, vollkommen
+entstellten Mannes. Er war es, der sie l&auml;chelnd tr&ouml;sten
+mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Viele, viele Wochen lag er auf dem Krankenlager,
+das ihm in seinem Wohnzimmer errichtet worden war.
+Je mehr seine Genesung vorschritt, desto eifriger besch&auml;ftigte
+er sich mit mir. Ich habe nie einen Mann
+gesehen, der wie er mit kleinen Kindern spielen konnte.</p>
+
+<p>Meine erste traumhafte Erinnerung, &mdash; ich bin immer
+ausgelacht worden, wenn ich von ihr erz&auml;hlte, da ich
+doch damals noch nicht zwei Jahre alt war &mdash;, f&uuml;hrt
+mich in einen dunkel verh&auml;ngten Raum vor ein gro&szlig;es
+braunes Bett, aus dem mir ein blasser Mann die Arme
+entgegenstreckte. Ich wei&szlig;, da&szlig; ich laut aufschrie, da&szlig;
+der Mann den Kopf m&uuml;de zur&uuml;cklegte und ich mich ausatmend
+in meinem hellen St&uuml;bchen wiederfand. Und
+sp&auml;ter sah ich ihn im Rollstuhl wieder und mich auf
+seinem Scho&szlig; mit seiner gro&szlig;en, dicken Uhr spielend, die,
+weil sie mit so z&auml;rtlichem, feinen Stimmchen alle Viertelstunden
+schlug, f&uuml;r mich immer etwas Lebendiges gewesen
+ist. Wende ich ein andres Blatt der Erinnerung um, so
+seh ich gro&szlig;e rote Blumenkerzen in mein Fenster hereinleuchten.
+Das war in Potsdam, wohin mein Vater
+nach dem Feldzug versetzt wurde, und wo wir in einem
+gartenums&auml;umten Haus, vor dem ein alter Kastanienbaum
+Wache hielt, das erste Stockwerk bezogen. Neben
+uns, nur durch den Gartenzaun getrennt, wohnte meiner
+Mutter zweiter Bruder Max, der bei den Gardehusaren<a name="Page_20" id="Page_20"></a>
+Leutnant war und eine els&auml;ssische Cousine geheiratet hatte.
+Werner, ihr Sohn, war nur um wenige Monate j&uuml;nger
+als ich. Unter uns aber, in die Parterrewohnung mit
+der gro&szlig;en Terrasse, auf deren Balustrade kleine Steinengelchen
+sa&szlig;en, die in meinen Tr&auml;umen immer lebendig
+wurden, zog, kaum ein Jahr nach unsrer &Uuml;bersiedlung,
+die Gro&szlig;mutter ein.</p>
+
+<p>Walter Golzow hatte nach dem Kriege den bunten
+Rock mit dem sch&ouml;nen himmelblauen Kragen ausgezogen
+und das Gut &uuml;bernommen, dessen Gesch&auml;fte die Gro&szlig;mutter
+bis dahin mit Hilfe des erprobten Verwalters
+gewissenhaft und in der alten Weise geleitet hatte. Sie
+versuchte dann noch eine Zeitlang, neben dem Sohn zu
+wirken und zu arbeiten, wie sie es fr&uuml;her gewohnt gewesen
+war. Aber zu hart stie&szlig;en die Gegens&auml;tze aneinander:
+in ihrer Milde sah Walter Schw&auml;che, in ihrer
+Wohlt&auml;tigkeit Verschwendung. Es kam auch tats&auml;chlich
+zuweilen vor, da&szlig; ihre G&uuml;te mi&szlig;braucht wurde, da&szlig; man
+die allzeit Hilfsbereite, die an jedem Menschen etwas
+Gutes sah oder herauszulocken verstand, hinterging und
+betrog. Das nahm ihr Sohn zum Vorwand, ihrem
+barmherzigen Wirken mehr und mehr Hindernisse in den
+Weg zu legen. Doch dies alles h&auml;tte sie nicht so schwer
+getroffen, da sie als Herrin ihres Verm&ouml;gens damit
+machen konnte, was ihr gut schien; unertr&auml;glich wurde
+ihr die Existenz vielmehr erst durch die fast fieberhafte
+Neuerungssucht Walters: nichts in der Wirtschaft und
+im Hause schien ihm mehr gut genug, und Umwandlungen
+und Neuanschaffungen, die ein vorsichtiger, auf
+alle M&ouml;glichkeiten schlechter Jahre vorbereiteter Gutsherr
+auf einen langen Zeitraum verteilt, sollten jetzt in we<a name="Page_21" id="Page_21"></a>nigen
+Monden vor sich gehen. Die Gro&szlig;mutter sorgte,
+warnte, bat, &mdash; sie predigte tauben Ohren. Die St&auml;lle
+f&uuml;llten sich mit Luxuspferden, die Wirtschaftsr&auml;ume mit
+neuen Maschinen aller Art, deren Handhabung selten
+einer verstand, das Herrenhaus mit modernen M&ouml;beln,
+vor deren geschmacklosem Prunk der alte, solide Hausrat
+aus Urv&auml;ter Tagen weichen mu&szlig;te. Es kam zu scharfen
+Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn, die
+ihren H&ouml;hepunkt erreichten, als sie sah, wie er auf die
+Wange eines ungeschickten Reitknechts die Peitsche
+niedersausen lie&szlig;, so da&szlig; der junge Mensch blutend zu
+Boden sank. Wenige Tage darauf entf&uuml;hrte der alte
+breite Kutschwagen mit den wohlgen&auml;hrten Braunen
+davor die Gro&szlig;mutter von der St&auml;tte ihrer jahrzehntelangen
+Wirksamkeit, von dem erinnerungsreichen Boden
+ihrer zweiten Heimat. Sie sah sich nicht um, und sie
+weinte nicht; zu tief empfand sie das schwerste Geschick,
+das ein Weib treffen kann: fremde Kinder zu haben.</p>
+
+<p>Ich war vier Jahre, als die Gro&szlig;mutter nach Potsdam
+kam. Ein &Ouml;lbild von Tochter und Enkelin, das
+damals f&uuml;r sie gemalt worden war, zeigt, da&szlig; auch ich
+meiner Mutter solch ein fremdes Kind gewesen bin:
+von ihrer lichten Erscheinung mit dem hellblonden Haar,
+der durchsichtigen Haut, den meerblauen Augen sticht
+das kleine M&auml;dchen seltsam ab, um dessen schmales gelbliches
+Antlitz dunkle schwere Locken sich ringeln, dessen
+schwarze Augen fragend und vertr&auml;umt ins Weite sehen.
+Von klein an bewunderte ich neidvoll meiner Mutter
+nordische Sch&ouml;nheit, und wenn meine Freunde mir
+Tr&auml;nen des Zorns entlocken wollten, brauchten sie mich
+nur &raquo;schwarze Alix&laquo; zu rufen; sie waren selbst alle blond,
+<a name="Page_22" id="Page_22"></a>und schon bei den Unm&uuml;ndigen wirkt die Majorit&auml;t &uuml;berzeugend.
+Die Anf&uuml;hrer bei solchen Sp&auml;&szlig;en, die mir den
+Umgang mit meinesgleichen fr&uuml;h verleideten, waren meist
+mein Vetter Werner und Adda, das T&ouml;chterchen eines
+der Regimentskameraden meines Vaters. Mit jener
+Grausamkeit, die nur den kleinen Menschentieren eigen
+ist, r&auml;chten sie sich durch ihre Neckereien an meiner Besonderheit.
+Einig waren wir drei eigentlich nur, wenn
+es galt, unseren franz&ouml;sischen Bonnen einen Schabernack
+zu spielen. Wir konnten sie alle nicht leiden und empfanden
+sie nur als notwendiges &Uuml;bel, unter dem wir
+gemeinsam zu leiden hatten.</p>
+
+<p>An jedem sch&ouml;nen Morgen f&uuml;hrten sie uns in den
+Park von Sanssouci; kein Wort Deutsch durften wir
+sprechen, und artig mu&szlig;ten wir nebeneinander gehen.
+Wenn die drei Fr&auml;uleins aber erst h&auml;kelnd auf einer
+der B&auml;nke sa&szlig;en und die Lebhaftigkeit ihres Gespr&auml;chs
+einen gewissen H&ouml;hepunkt erreicht hatte, benutzten wir
+schleunigst die Gelegenheit, aus ihrem Gesichtskreis zu
+verschwinden, und dann war ich die Anf&uuml;hrerin. Wo
+die B&uuml;sche am dichtesten waren, versteckten wir uns
+und spielten im gr&uuml;nen D&auml;mmerlicht phantastische
+M&auml;rchen. Meine bl&uuml;hende Phantasie steckte die beiden
+andern an: unter halbverwitterten steinernen G&ouml;ttern
+gruben sie eifrig nach den Sch&auml;tzen, von denen ich
+ganz genau zu erz&auml;hlen wu&szlig;te, oder sie umschlichen geduldig
+immer wieder des alten Fritzen Schlo&szlig; oben auf
+den Blumenterrassen, die Ritter und die Feen mit Herzklopfen
+erwartend, die ich schon &raquo;soo&laquo; oft gesehen hatte.
+Wenn freilich durchaus nichts von dem Erwarteten sich
+zeigen wollte, mu&szlig;te ichs bitter b&uuml;&szlig;en, und wenn wir
+<a name="Page_23" id="Page_23"></a>unsrer schmutzigen H&auml;nde und zerdr&uuml;ckten Kleider wegen
+von unsern drei Gestrengen gescholten wurden, war allemal
+ich die Hauptschuldige. Allm&auml;hlich gew&ouml;hnte sich
+mein sehr robuster und prosaischer kleiner Vetter daran,
+den lebhaften Ausbr&uuml;chen meiner Einbildungskraft mit
+einem ver&auml;chtlichen &raquo;zu dumm&laquo; zu begegnen, was mich
+bis zu Tr&auml;nen kr&auml;nkte und mehr und mehr verstummen
+lie&szlig;. Spielte ich dann artig mit Ball und Reifen, ohne
+in die B&uuml;sche zu kriechen, dann lobte mich Mademoiselle:
+&raquo;<em class="antiqua">Comme elle devient raisonable!</em>&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>Noch stand ich nicht fest auf dieser Staffel der guten
+Erziehung, als mir ein schwerer Kummer widerfuhr. In
+unserm Garten, in dem wir nachmittags zu spielen
+pflegten, lagen auf den Wegen viele bunte Kieselsteine.
+In einem Winkel, unter einem Jasminstrauch &mdash; zu
+den wei&szlig;en Bl&uuml;ten trug ich immer meine tiefsten Geheimnisse &mdash; sammelte
+ich die sch&ouml;nsten, die ich finden
+konnte. Ich war fest &uuml;berzeugt, da&szlig; sie in ihrem Innern
+goldne Wagen mit wei&szlig;en Pferdchen davor, blitzende
+K&ouml;nigskronen und schimmernde Schl&ouml;sser bargen, und
+versuchte, sie mit einem Hammer aufzuschlagen. Schlie&szlig;lich
+kamen Werner und Adda hinter mein Geheimnis; mein
+Vetter, den meine gl&uuml;hende Begeisterung f&uuml;r die zu erwartenden
+Herrlichkeiten anstecken mochte, bem&uuml;hte sich
+auch seinerseits, die Kiesel zu &ouml;ffnen, und es gelang.
+&raquo;Bist du dumm,&laquo; rief er &auml;rgerlich, als er die grauen
+Splitter in der Hand hielt, &raquo;es sind ja nur ganz gew&ouml;hnliche
+Steine!&laquo;</p>
+
+<p>Noch oft hab ich sp&auml;ter hinter dem Leblosen wundervolle
+Offenbarungen vermutet und im Schwei&szlig;e meines
+Angesichts versucht, zu ihnen vorzudringen, aber die Ent<a name="Page_24" id="Page_24"></a>t&auml;uschung
+hat mich kaum je so heftig geschmerzt und bis
+zu so wilder Verzweiflung getrieben, wie damals, wo
+ich, ein f&uuml;nfj&auml;hriges Kind, weinend vor den zerschlagenen
+Kieseln sa&szlig;.</p>
+
+<p>Wenn die andern mich verh&ouml;hnten, wenn der
+Schmerz mich &uuml;bermannte und sie nicht verstanden,
+warum, dann blieb mir ein Zufluchtsort und ein
+Mensch, der immer die rechten Worte des Trostes fand:
+Gro&szlig;mama. Wie oft fl&uuml;chtete ich in ihr stilles Reich,
+wo sie zwischen bl&uuml;henden Blumen und dunkeln Palmen
+lesend, schreibend oder still vor sich hintr&auml;umend in ihrem
+tiefen, gr&uuml;nen Lehnstuhl sa&szlig;. Sie hatte immer Zeit f&uuml;r
+mich, sie lachte mich niemals aus und antwortete nie
+auf meine tausend Fragen mit jenem ein weiches Kindergem&uuml;t
+so verletzenden: &raquo;Das verstehst du nicht.&laquo; Und
+wenn sich mir Park und Garten, Wasser und Wald mit
+tausend Gestalten bev&ouml;lkerten, wenn die allabendlich in
+buntem Reigen um mein Bettchen tanzten, so wu&szlig;te ich:
+Gro&szlig;mama sah sie, wie ich; nur die andern hatten keine
+Augen daf&uuml;r. War ich allein bei ihr, so erschienen mir
+ihre Zimmer wie ein einzig M&auml;rchenreich: Zwischen den
+Palmen l&auml;chelte der sch&ouml;ne wei&szlig;e J&uuml;nglingskopf ihres
+Vaters mir entgegen &mdash; halb ein C&auml;sar, halb ein Antinous &mdash;;
+von den W&auml;nden sahen M&auml;nner und Frauen
+mich an, mir vertraut seit meinem ersten Augenaufschlag,
+wenn auch fremd nach Art und Gewandung, und unter
+einem von ihnen, auf kleinem Postament, stand Winter
+und Sommer ein frischer Blumenstrau&szlig;. Das war der
+Dichter, zu dessen F&uuml;&szlig;en die Gro&szlig;mutter gesessen hatte,
+als sie ein Kind, ein junges M&auml;dchen gewesen war, der
+die Geschichte vom Heider&ouml;slein gedichtet hatte, die erste,
+<a name="Page_25" id="Page_25"></a>die ich wiedererz&auml;hlen konnte, und bei deren Schlu&szlig; mir
+immer die Stimme brach: ... &raquo;Doch es half kein Weh
+und Ach, mu&szlig;t es eben leiden!&laquo;</p>
+
+<p>Auf dem Fu&szlig;b&auml;nkchen neben Gro&szlig;mama, den Kopf
+vergraben in den weichen Falten ihres Sammetkleids,
+die Augen auf die tanzenden und zuckenden Flammen
+des Kaminfeuers gerichtet, w&auml;hrend ihre leise Stimme
+&uuml;ber mir klang, von Schneewittchen und Dornr&ouml;schen
+erz&auml;hlend oder von der kleinen Seejungfrau, die dem
+Prinzen zuliebe unter tausend Schmerzen zum Menschen
+wurde und dann doch wieder hinabsteigen mu&szlig;te in die
+Fluten, &mdash; das waren die sch&ouml;nsten Stunden meiner
+fr&uuml;hen Kinderjahre. Und das alles waren Erlebnisse
+f&uuml;r mich, viel bedeutungsvollere, als die Ereignisse des
+&ouml;ffentlichen Lebens, deren Kunde an mein Ohr schlug.
+So wei&szlig; ich vom deutsch-franz&ouml;sischen Kriege, obwohl ich
+ihn als fast Sechsj&auml;hrige erlebte, nicht allzuviel. Ich
+sehe mich zwar Charpie zupfend am Fenster sitzen oder
+mein Fr&uuml;hst&uuml;cksbr&ouml;tchen mitleidig f&uuml;r die armen Soldaten
+in die Kiste legen, die die Mutter allw&ouml;chentlich zu
+packen pflegte; ich erinnere mich, da&szlig; ich mit Hurra
+schrie bei jeder Siegesnachricht und die Illuminationskerzen
+nach dem Fall von Sedan mit in die sandgef&uuml;llten
+Gl&auml;ser steckte. Ich wei&szlig; auch, da&szlig; mir das bunte Schauspiel
+des Einzugs der Sieger in Berlin, dem ich in einem
+neuen blauseidnen Kleidchen mit meiner Mutter von
+irgend einem Lindenhotel aus beiwohnte, sehr gefiel, und
+da&szlig; mein Lorbeerkranz statt auf die Lanze eines Kriegers
+auf den aufgespannten Schirm irgend einer biedern
+Berliner B&uuml;rgerfrau niederfiel; aber von hochgeschwellter
+patriotischer Begeisterung wei&szlig; ich nichts. Vielleicht,
+<a name="Page_26" id="Page_26"></a>da&szlig; die gedr&uuml;ckte Stimmung zu Haus mich beeinflu&szlig;t
+hatte, denn hier kam eine reine Siegesfreude nicht auf.
+Nicht nur, weil S&ouml;hne und Gatten allen Wechself&auml;llen
+des Krieges ausgesetzt waren, sondern auch, weil nahe,
+liebe Verwandte der Gro&szlig;mutter im franz&ouml;sischen Heere
+dienten. Neffen von ihr kamen als Gefangene nach
+Potsdam; der alte Bruder ihrer Mutter, der sich als
+J&uuml;ngling unter Napoleon I. die Sporen verdient hatte,
+k&auml;mpfte jetzt mit derselben gl&uuml;henden Vaterlandsliebe
+unter seinem Nachfolger. Von dem Franzosenha&szlig;, der
+den deutschen Kindern sp&auml;terer Zeit eingepr&auml;gt wurde,
+wu&szlig;ten wir infolgedessen nichts. Ich glaube, jener
+Hurrapatriotismus, der sich heute breit macht, gedeiht
+nur in Friedenszeiten. Wer dem Kriege Aug in Auge
+sieht, dessen Vaterlandsliebe wird vielleicht nicht weniger
+tief, wohl aber ernster und stiller sein. Erst wenn die
+gro&szlig;en K&auml;mpfe der V&ouml;lker lange vor&uuml;ber sind, werden
+sie zu Mitteln, die Begeisterung auch der Kinder anzufachen.
+So kam es wohl, da&szlig; meine Phantasie von
+dem, was vor sich ging, ebenso unber&uuml;hrt blieb wie mein
+Gem&uuml;t. Nur der Heimkehr meines Vaters sah ich voll
+jubelnder Freude entgegen.</p>
+
+<p>Er brachte uns allen Geschenke aus Frankreich mit,
+die er mit Sorgfalt und in der freudigen Aussicht auf
+die gl&uuml;cklichen Gesichter der Empf&auml;nger ausgew&auml;hlt
+und wof&uuml;r er wohl auch viel Geld ausgegeben hatte.
+&Uuml;ber all das sch&ouml;ne Spielzeug, das ich erhielt, war
+mein Jubel ohne Grenzen, und ein zierliches goldnes
+Kettlein, das mich noch mehr entz&uuml;ckte, schlang ich mir
+grade vor dem Spiegel um den Kopf, so da&szlig; die Perle,
+die wie ein Tautropfen daran hing, just unter dem<a name="Page_27" id="Page_27"></a>
+Scheitel auf die Stirne fiel &mdash; meine schwarzen Locken
+erschienen mir pl&ouml;tzlich gar nicht mehr so h&auml;&szlig;lich &mdash;,
+als das Antlitz meiner Mutter hinter mir auftauchte.
+Angstvoll erstaunt wandte ich mich um; Seiden- und
+Samtstoffe lagen vor ihr ausgebreitet, mit z&auml;rtlich-fragenden
+Augen sah der Vater sie an, und sie &mdash; sie
+freute sich nicht! Worte des Vorwurfs &uuml;ber die &raquo;unn&uuml;tzen
+Ausgaben&laquo; war das erste, was ich sie sagen
+h&ouml;rte, und mit ungewohnt heftiger Geberde nahm sie
+mir die Kette aus den Haaren, die nun &mdash; ich wu&szlig;te
+das nur zu gut &mdash; in der unergr&uuml;ndlichen Tiefe des
+Silberschranks verschwinden w&uuml;rde, wie so manche der
+sch&ouml;nsten Dinge, bis &raquo;Alix gro&szlig; sein wird&laquo;. Dann
+dankte sie dem Vater mit einer k&uuml;hlen Phrase, aus der
+ich das Erzwungene mit dem feinen Gef&uuml;hl des Kinderherzens
+herausempfand. &Uuml;ber unsre Festtagsfreude hatte
+sich ein dunkler Schatten gelegt. Papa ging verstimmt
+hinaus, ich spielte versch&uuml;chtert in einem m&ouml;glichst
+versteckten Winkel. Freude ist eine der sensitivsten
+Pflanzen, die es gibt, das hab ich damals unbewu&szlig;t zum
+erstenmal empfunden: wenn sie in vollster Bl&uuml;te steht, gen&uuml;gt
+ein kalter Lufthauch, sie zu t&ouml;ten. Sie will geh&uuml;tet sein
+und gepflegt, und nur ihr nat&uuml;rliches Welken ist schmerzlos.
+Verschleiert blieb von da an die Stimmung; um Liebe
+werbend, dankbar f&uuml;r jeden w&auml;rmeren Blick, bem&uuml;hte
+sich mein Vater um seine sch&ouml;ne k&uuml;hle Frau. Wie oft
+nahm er mich auf den Scho&szlig;, legte mein B&auml;ckchen an
+seine Wange und herzte und streichelte mich, w&auml;hrend
+seine Augen ihr folgten, die im Zimmer umherging,
+jedem Staubf&auml;serchen nach, das etwa von einem M&ouml;belst&uuml;ck
+nicht entfernt worden war.</p>
+
+<p><a name="Page_28" id="Page_28"></a>Bald hie&szlig; es, die Mutter sei krank und brauche
+l&auml;ngere Zeit der Erholung. Gro&szlig;e Koffer wurden gepackt,
+und wir reisten &mdash; Gro&szlig;mama, Mama und ich,
+meine Mademoiselle und die Jungfer &mdash; nach der
+Schweiz. Wie schnell war da der arme, einsame Papa
+vergessen! Wundervolle Bilder von wei&szlig;leuchtenden
+Gletschern, blauen Seen, brausenden Wasserst&uuml;rzen und
+Schauerlichen Abgr&uuml;nden zogen an mir vor&uuml;ber. Nirgends
+war mir meine Bonne mit ihrem ewigen: <em class="antiqua">Tiens-toi
+droite &mdash; ne court pas si vite &mdash; sois raisonable</em>
+so widerw&auml;rtig vorgekommen wie hier. Ins Moos sich
+werfen mit ausgebreiteten Armen, laufen und springen,
+wie von Fl&uuml;geln getragen, und &uuml;ber Stock und Stein
+aufw&auml;rts klettern, h&ouml;her, immer h&ouml;her, bis zu den
+silbernen H&auml;uptern der Berge mitten in den Himmel
+hinein &mdash; ach, wer das k&ouml;nnte! Eines Tages hielt es
+mich nicht l&auml;nger. Irgendwo am Vierwaldst&auml;dter See
+wars, wo ich davon lief, gedankenlos, ziellos, nur erf&uuml;llt
+von dem Wonnegef&uuml;hl der ungebundenen Kraft.
+Erst als es anfing zu dunkeln, kam ich zum Bewu&szlig;tsein
+meiner Verwegenheit. Da pl&ouml;tzlich geschah etwas so
+Wundersames, da&szlig; ich alles verga&szlig;: die wei&szlig;en Berge
+bekamen rotgl&uuml;hendes Leben. &mdash; M&auml;nnergeschrei und
+&auml;ngstliches Rufen schreckten mich auf aus der Verzauberung;
+vom Hotel aus suchte man die Ausrei&szlig;erin.
+Stumm kehrte ich heim, unempfindlich blieb ich f&uuml;r alle
+Vorw&uuml;rfe, die mich sonst so bitter trafen; das Erlebte
+hatte jede andre Empfindung in mir ausgel&ouml;scht. Nur
+der Gro&szlig;mutter vertraute ich fl&uuml;sternd das gro&szlig;e Geheimnis
+an: wie die Bergriesen vor mir lebendig geworden
+waren.</p>
+
+<p><a name="Page_29" id="Page_29"></a>Im Herbst desselben Jahres kehrte Gro&szlig;mama nach
+Potsdam zur&uuml;ck, Mama und ich aber reisten nach Augsburg
+zu meines Vaters Schwester Klotilde. Sie hatte
+sich mit Baron Artern, dem j&uuml;ngeren Bruder ihrer
+Tante Kleve, bei der sie erzogen worden war, verm&auml;hlt
+gehabt und war nach kurzem strahlendem Gl&uuml;ck
+Witwe geworden. Monatelang schien es, als ob ihr
+sehns&uuml;chtiger Wunsch, dem Toten zu folgen, erf&uuml;llt
+werden w&uuml;rde, und es war mein Vater, der ihr in
+dieser Zeit mit der ganzen hingebungsvollen Liebe und
+zarten R&uuml;cksicht, deren er f&auml;hig war, zur Seite gestanden
+und sie dem Leben zur&uuml;ckgewonnen hatte. Er war es
+wohl auch gewesen, der ihr den Gedanken nahe legte,
+uns zu sich einzuladen. Es gibt kaum eine heilendere
+Kraft f&uuml;r alle Lebenswunden als die weichen H&auml;nde,
+die klaren Augen und das helle Lachen eines Kindes, &mdash; ihr
+war sie versagt geblieben; in mir, so hoffte mein
+Vater, sollte sie sie finden.</p>
+
+<p>An einem tr&uuml;ben Oktoberabend kamen wir in Augsburg
+an. In Trauerlivree empfing uns der Diener am
+Bahnhof, dunkel war die Equipage, dunkel waren die engen
+winkligen Stra&szlig;en, und grau, wie leblos, starrten die
+alten H&auml;user mir entgegen. In einen hallenden Torweg,
+den nur eine unruhig flackernde Lampe sp&auml;rlich erhellte,
+bog der Wagen, und vor einer breiten, teppichbelegten
+Treppe mit kunstvollem schmiedeeisernem Gel&auml;nder
+stiegen wir aus. Eine alte Dienerin mit gro&szlig;em
+Schl&uuml;sselbund &uuml;ber der schwarzseidenen Sch&uuml;rze begr&uuml;&szlig;te
+uns zuerst; oben, wie eine F&uuml;rstin, wartete des Hauses
+Herrin auf uns. Der Kreppschleier verh&uuml;llte sie fast
+ganz, nur das wei&szlig;e Gesicht und die roten Haare
+<a name="Page_30" id="Page_30"></a>leuchteten daraus hervor. Weinend umarmte sie ihre
+G&auml;ste, und ersch&uuml;ttert von dem Eindruck der neuen
+Umgebung weinte ich mit ihr. &raquo;Du gutes Kind,&laquo; sagte
+sie und k&uuml;&szlig;te mich z&auml;rtlich; ich hatte ihr Herz gewonnen.</p>
+
+<p>Ein seltsames Leben begann f&uuml;r mich in dem grauen
+Hause mit seinen langen, d&uuml;stern G&auml;ngen, an deren
+W&auml;nden ein dunkles Bild neben dem andern hing, mit
+seinen m&auml;chtigen schwarzbraunen Schr&auml;nken und den tiefen,
+tiefen Teppichen, &uuml;ber die der Fu&szlig; unh&ouml;rbar hinglitt.
+Die T&uuml;ren waren mit Fries eingefa&szlig;t, um jedes Ger&auml;usch
+zu vermeiden, und die Klingeln hatten einen
+dunkeln Ton. Meine Tante vertrug nicht den geringsten
+L&auml;rm. Man hatte mir das streng eingesch&auml;rft, aber ich
+w&auml;re hier auch ohnedies ganz still gewesen. Nur im
+St&uuml;bchen bei der alten Kathrin, der Wirtschafterin,
+die mich schnell in ihr Herz schlo&szlig;, durfte ich lachen
+und toben, und drau&szlig;en bei allen den vielen Verwandten
+und Freunden f&uuml;hlte ich mich aus dem Traumreich in
+die Welt zur&uuml;ckversetzt. Die erste M&auml;dcheneitelkeit ist
+damals von ihnen in mir gro&szlig;gezogen worden. Sie
+umgaben mich f&ouml;rmlich mit der wohligen weichen Treibhausluft
+der Bewunderung; und wenn meine Mutter
+auch, sobald wir allein waren, Worte wie Hagelschauer
+und Gewitterregen abk&uuml;hlend hernieder brausen lie&szlig;, so
+sah ich darin doch nichts weiter, als da&szlig; sie mir die
+Freude eben wieder einmal nicht g&ouml;nnen wolle. Hatte
+ich mich fr&uuml;her, weil ich anders war, zur&uuml;ckgesetzt gef&uuml;hlt,
+war ich mir im Vergleich zu meinen hell&auml;ugigen
+Gespielen h&auml;&szlig;lich vorgekommen, so wurde ich allm&auml;hlich
+meiner Besonderheit als eines Vorzugs bewu&szlig;t.</p>
+
+<p><a name="Page_31" id="Page_31"></a>In meinem Zimmer, das ich allein bewohnte &mdash; Mademoiselle
+war auf Urlaub bei ihren Eltern in der
+Schweiz geblieben &mdash;, stand ein verschlossener Schrank.
+Ich studierte durch die Glast&uuml;ren die Titel auf den
+R&uuml;cken der B&uuml;cher, soweit das meine ziemlich unzureichende
+Kenntnis der deutschen Buchstaben zulie&szlig;;
+franz&ouml;sisch war mir bisher allein gel&auml;ufig geworden.
+Auf einer Reihe gro&szlig;er Quartb&auml;nde wiederholten sich
+immer dieselben Worte: &raquo;Die Geschichten aus tausend
+und einer Nacht.&laquo; &raquo;Tausend und eine Nacht&laquo;, &mdash; hie&szlig;
+nicht so das Buch mit den bunten Bildern, aus dem
+mir Gro&szlig;mama Aladins seltsame Abenteuer vorgelesen
+hatte? Niemand erz&auml;hlte mir M&auml;rchen in Augsburg,
+die alte Kathrin wu&szlig;te nur immer dieselben Gespenstergeschichten,
+ach, wenn ich doch selber lesen k&ouml;nnte!
+Heimlich versuchte ich, mit allen Schl&uuml;sseln, die mir
+erreichbar waren, den Schrank zu &ouml;ffnen, um zu den
+Sch&auml;tzen zu gelangen, die er barg. Endlich, endlich
+sprang er auf. Wie gut, da&szlig; ich Halsweh hatte und
+Tante und Mama allein spazieren gefahren waren!
+Mit klopfendem Herzen nahm ich einen Band nach dem
+andern heraus &mdash; ich sehe noch ihr gebr&auml;untes Leder
+vor mir und ihr gelbes, stockfleckiges Papier! &mdash; und
+betrachtete die vielen Bilder darin: Geister und Ungeheuer,
+M&auml;nner auf sich b&auml;umenden Rossen mit krummen
+S&auml;beln und hohem Turban und wunder-, wundersch&ouml;ne
+Frauen. Von nun an hatte ich h&auml;ufig &raquo;Halsschmerzen&laquo;
+und lie&szlig; mir mit r&uuml;hrender Geduld Einreibungen und
+Umschl&auml;ge gefallen, trug auch klaglos das rote Flanelll&auml;ppchen,
+das ich sonst nicht rasch genug hatte abrei&szlig;en
+k&ouml;nnen. Sobald ich allein war, vertiefte ich mich in
+<a name="Page_32" id="Page_32"></a>die B&uuml;cher. Es waren unverk&uuml;rzte &Uuml;bersetzungen des
+herrlichen M&auml;rchenschatzes; ich lernte lesen darin; der
+ganze Farbenreichtum, die ganze Glut des Orients umgaben
+mich wie mit einem Zaubermantel. Wie oft, wenn
+ich mit gl&uuml;henden Wangen und hei&szlig;en Augen den Heimkehrenden
+entgegentrat, wurde mir der Fieberthermometer
+besorgt unter den Arm gesteckt. Aber ich hatte
+kein Fieber, &mdash; ich hatte ja auch nur mit den Ausschneidepuppen
+gespielt, die in buntem Durcheinander
+auf meinem Tische lagen!</p>
+
+<p>Warum ich mein Geheimnis verschwieg? Nicht nur,
+weil die Mutter ganz gewi&szlig; die B&uuml;cher verschlossen
+h&auml;tte, sondern weit mehr noch, weil alles, was mich am
+tiefsten ergriff, auch am tiefsten verh&uuml;llt bleiben mu&szlig;te.
+Es erschien mir entweiht, seines Wertes beraubt, wenn
+andre es sahen, besprachen, betasteten. Gro&szlig;mama allein
+h&auml;tte ich davon erz&auml;hlen k&ouml;nnen. Niemand merkte das
+Geheimnis, in dem ich lebte, niemand ahnte, da&szlig; ich
+in den dunkeln G&auml;ngen und tiefen Nischen alle Spukgestalten
+meiner B&uuml;cher leibhaftig vor mir sah, da&szlig;
+sie mir aus den Bildern an den W&auml;nden entgegentraten,
+da&szlig; ich eine seltsam schw&uuml;le, schwere Luft durstig
+einatmete.</p>
+
+<p>Seit meiner ersten Kinderzeit hatte ich die Gewohnheit,
+mir abends im Bett Geschichten zu erz&auml;hlen; das
+waren meine k&ouml;stlichsten Stunden! Da st&ouml;rte mich nie
+die rauhe Hand der Wirklichkeit, da lachte mich keiner
+aus. Von nun an wurden meine Phantasten wilder,
+so da&szlig; ich mich oft vor ihnen f&uuml;rchtete und zitternd
+unter die Bettdecke kroch. H&auml;ufig genug wartete ich
+mit fieberhafter Erregung auf den Schritt der Mutter
+<a name="Page_33" id="Page_33"></a>im Nebenzimmer, aber zu rufen wagte ich nicht, nachdem
+sie mich einmal meiner &raquo;dummen Aufregung&laquo; wegen
+arg gescholten hatte.</p>
+
+<p>Inzwischen war mein Vater nach Karlsruhe versetzt
+worden. Er und die Gro&szlig;mutter besorgten den Umzug,
+suchten die Wohnung und richteten sie ein. Beide erwarteten
+uns, als wir nach einer beinahe halbj&auml;hrigen
+Abwesenheit endlich heimw&auml;rts reisten. Mir war der
+Abschied von Augsburg sehr schwer geworden, denn
+mochte ich mir noch so sehr den Kopf zerbrechen, &mdash; meine
+lieben B&uuml;cher heimlich mitzunehmen, gelang mir
+nicht. Papa und Gro&szlig;mama erschraken, als sie mich
+wiedersahen. &raquo;So bla&szlig; ist mein Alixchen,&laquo; sagte sie.
+&raquo;So dunkle R&auml;nder hat sie um die Augen,&laquo; f&uuml;gte er
+hinzu. Als ich zuerst sein Zimmer betrat, einen langen
+Raum mit einem einzigen breiten Fenster, sah ich
+eine durchsichtige, wei&szlig;e Gestalt mit gesenktem Haupt an
+mir vor&uuml;berschweben. Ich schrie auf und erz&auml;hlte nach
+vielem Zureden, was mir begegnet war; schon wollte
+die Mutter auffahren, und der Vater murmelte etwas
+von &raquo;dem Unsinn, den man dem armen Kinde beigebracht
+hat&laquo;, als die Gro&szlig;mutter mich still beiseite nahm und
+lange und liebreich auf mich einsprach. Was sie sagte,
+wei&szlig; ich nicht mehr, aber es l&ouml;ste mir Herz und Zunge.
+&raquo;Ach, bleib doch bei mir, Gro&szlig;mama!&laquo; rief ich, w&auml;hrend
+die Angst sich in Tr&auml;nen l&ouml;ste. Andre jedoch bedurften
+ihrer noch mehr als ich; ihr j&uuml;ngster Sohn, Max, zog
+sie an sein Krankenlager, und ich war wieder allein.</p>
+
+<p>Es war tiefer Winter damals. Tr&uuml;bselig und neidvoll
+sah ich oft durch die geschlossenen Fenster auf
+den Platz, wo die Kinder tobten, Schneeball warfen
+<a name="Page_34" id="Page_34"></a>und Schneem&auml;nner bauten. Ich durfte nur selten hinaus.
+Von klein an war ich Halsentz&uuml;ndungen ausgesetzt
+gewesen, und meine Mutter lie&szlig; mich, ebenso
+pflichttreu wie gedankenlos, bei kaltem Wetter nur ins
+Freie, wenn es v&ouml;llig windstill war. Aber auch dann
+wurde ich dick verpackt und durfte nicht laufen wie die
+andern. Das lie&szlig; mich noch mehr vereinsamen. Mir
+ist, als h&auml;tte ich die Winter stets verschlafen, so wenig
+wei&szlig; ich von ihnen. Vom Fr&uuml;hling aber und vom
+Sommer wei&szlig; ich um so mehr. Wir hatten einen gro&szlig;en
+Garten hinter dem Hause mit alten B&auml;umen, bl&uuml;henden
+B&uuml;schen und bunten Blumen. Hier war mein Reich.
+Hier durfte ich ungest&ouml;rt umherspringen, mir H&ouml;hlen
+bauen, die zu unterirdischen Sch&auml;tzen f&uuml;hrten, auf der
+Schaukel bis zu den Wolken fliegen, die im Grunde
+gar keine Wolken, sondern Drachen und Zauberv&ouml;gel
+waren. Hier konnte ich mit meinen B&auml;llen, die alle
+M&auml;rchennamen trugen, geheimnisvolle Zwiesprach halten,
+so da&szlig; die Nachbarn oft meinten, ich h&auml;tte Scharen von
+Gespielen im Garten. Puck, unser alter Pinscher, dem
+zwei Feldz&uuml;ge schon die Haare gebleicht hatten, mu&szlig;te
+sich hier zu jugendlichen Spr&uuml;ngen bequemen, war er
+doch das Fl&uuml;gelpferd, das mich ins Zauberland tragen
+sollte.</p>
+
+<p>Ich war den gr&ouml;&szlig;ten Teil des Tages mir selbst &uuml;berlassen.
+Mademoiselle war froh, wenn sie den Mund
+nicht aufzutun brauchte und mit ihrer unendlichen
+H&auml;kelei friedfertig auf dem Sofa sitzen konnte. Papa
+war den ganzen Vormittag auf dem Bureau des
+Generalkommandos t&auml;tig, nachmittags ritt er mit Mama
+spazieren und arbeitete dann allein bis zum Abend.<a name="Page_35" id="Page_35"></a>
+Mama hatte immer schrecklich viele Besuche zu machen
+und zu empfangen; und was beiden an freier Zeit etwa
+noch &uuml;brig blieb, das verschlang die gro&szlig;e, zu jeder
+Jahreszeit &auml;u&szlig;erst lebendige Geselligkeit. Nur vormittags
+zwischen ein und zwei Uhr pflegte meine Mutter
+mich bei sch&ouml;nem Wetter zum Spaziergang mitzunehmen.
+Mit dem Reifen, meinem unzertrennlichen Gef&auml;hrten,
+lief ich voraus durch eine jener menschenleeren, langen,
+graden Stra&szlig;en, die in F&auml;cherform s&auml;mtlich am Schlo&szlig;platz
+m&uuml;nden, und trieb mein Spiel durch die stillen
+Laubeng&auml;nge des Parks, bis es Zeit war, Papa vom
+Bureau abzuholen. P&uuml;nktlich, wenn wir vor dem Hause
+standen, schlo&szlig; der Kommandierende, General von Werder,
+der Sieger von W&ouml;rth, die Vormittagsarbeit und kam mit
+Papa hinaus, um uns heim zu begleiten, denn er mochte
+alle sch&ouml;nen Frauen gern, meine Mutter insbesondere.
+Ich sehe ihn noch, den kleinen Mann, mit den H&auml;nden
+auf dem R&uuml;cken und den blitzenden Augen in dem
+scharf geschnittenen Gesicht, wie er neben uns herging,
+immer zu einem derben Scherz bereit und stets einen
+Leckerbissen f&uuml;r mich in der Tasche.</p>
+
+<p>Mein Reifen ruhte auf dem Heimweg, denn dann
+hatte der Vater mich an der Hand, und des Fragens
+und Erz&auml;hlens war kein Ende. Wenn er f&uuml;r meine
+Phantasien auch nur wenig Verst&auml;ndnis hatte und ich
+mich h&uuml;tete, sie ihm anzuvertrauen, so wu&szlig;te er doch
+wie kein anderer meine Wi&szlig;begierde zu stillen. Er hatte
+eine Art, mir die Dinge klarzumachen und selbst schwierige
+Probleme meinem kindlichen Verst&auml;ndnis nahezubringen,
+mir Naturerscheinungen, chemische oder physikalische
+Vorg&auml;nge zu erkl&auml;ren und mich das Leben der<a name="Page_36" id="Page_36"></a>
+Pflanzen und Tiere beobachten zu lehren, die die kurzen
+Stunden des Zusammenseins mit ihm wertvoller f&uuml;r
+mich machten, als wenn ich den ganzen Vormittag in
+der Schule gesessen h&auml;tte. Kamen wir nach Haus, so
+gingen wir zusammen in den Stall, und ich brachte den
+Pferden meinen Fr&uuml;hst&uuml;ckszucker, den ich mir t&auml;glich
+vom Munde absparte, seitdem Mama mich wegen meiner
+Zuckerverschwendung gescholten hatte. August, unser
+Kutscher und Faktotum, der mir trotz seiner verd&auml;chtig
+roten Nase viel lieber war als alle Mademoiselles zusammen
+genommen, mu&szlig;te den kleinen Braunen herausf&uuml;hren,
+und ich durfte auf Mamas Sattel im Hof umherreiten,
+w&auml;hrend Puckchen steifbeinig nebenher trabte,
+die Augen ernsthaft auf mich gerichtet, als m&uuml;&szlig;te er
+Sitz und Haltung ebenso beobachten und kritisieren wie
+Papa. Der war kein bequemer Lehrmeister, und ich
+f&uuml;rchtete diese halbe Stunde vor Tisch mehr, als da&szlig;
+ich mich daran freute. Ja, reiten, &mdash; das mu&szlig;te herrlich
+sein! Frei, mit verh&auml;ngtem Z&uuml;gel &uuml;ber Felder und
+Wiesen, &mdash; vor Wonne klopfte mein Herz, wenn ich
+daran dachte! Aber im engen Hof, immer im Schritt,
+bestenfalls im kurzen Trab in der Runde, jeden
+Moment gew&auml;rtig, vom Vater heftig angefahren zu
+werden, wenn ich krumm sa&szlig;, die Z&uuml;gel verkehrt hielt,
+die Ecken nicht ausritt oder die Peitsche verlor, &mdash; gr&auml;&szlig;lich
+wars! Laute, harte Worte zu h&ouml;ren, verwundete
+mich aufs tiefste, und die Liebesbeweise, mit denen
+mein Vater mich nach jedem Ausbruch seiner Heftigkeit
+in doppeltem Ma&szlig;e &uuml;bersch&uuml;ttete, vermochten den Eindruck
+nicht auszul&ouml;schen. Ich bem&uuml;hte mich, sie nicht
+hervorzurufen &mdash; man nannte das lobend &raquo;artig sein&laquo; &mdash;,
+<a name="Page_37" id="Page_37"></a>aber mein Herz krampfte sich dabei zusammen, und ich
+zog mich mehr und mehr in das Geh&auml;use meines verborgenen
+Lebens zur&uuml;ck, was meine Mutter als ein
+erfreuliches Resultat ihrer Erziehungsmethode betrachten
+mochte, die nur ein Prinzip kannte: Selbstbeherrschung.
+&raquo;Ein gut erzogenes M&auml;dchen zeigt seine Gef&uuml;hle nicht,&laquo;
+pflegte sie zu sagen, und so vergrub ich mich in die
+Kissen meines Betts, wenn ich weinen mu&szlig;te, und lief
+in den Garten hinaus, um mich hoch in die L&uuml;fte zu
+schaukeln, wenn ich mich freute.</p>
+
+<p>Eigentliche Freunde und Spielkameraden hatte ich
+nicht, wohl aber geselligen Verkehr, der mich Sonntags
+fast immer, sch&ouml;n geputzt, aus dem Hause f&uuml;hrte. Im
+Schlo&szlig; bei Gro&szlig;herzogs war ich ein h&auml;ufiger Gast:
+Prinzessin Viktoria und Prinz Ludwig, zwei bl&uuml;hende
+Kinder damals, waren lustige Gef&auml;hrten, und beim
+Baumpl&uuml;ndern zu Weihnachten, beim Eiersuchen zu
+Ostern hallte das Schlo&szlig; wieder von unserm Lachen und
+L&auml;rmen, an dem das freundliche Elternpaar stets die
+meiste Freude hatte. Nur das Kochen in Vickis gro&szlig;er
+K&uuml;che, die das Ideal aller andern kleinen M&auml;dchen
+war, langweilte mich entsetzlich, &mdash; die Fee, die dem
+Wickelkind die Hausfrauentugenden in die Wiege legt,
+war offenbar zu meinem Tauffest nicht geladen worden!
+Da wars bei Max und Marie doch sch&ouml;ner, den Kindern
+des Prinzen Wilhelm, deren kaiserlicher Gro&szlig;vater ihnen
+aus Ru&szlig;land das kostbarste Spielzeug zu schicken
+pflegte: Eisenbahnen mit richtigen Schienen, Puppen,
+die laufen und reden konnten, &mdash; lauter Dinge, die zu
+jener Zeit f&uuml;r gew&ouml;hnliche Sterbliche unerreichbar
+waren. Am allerbesten aber gefiel es mir in einem<a name="Page_38" id="Page_38"></a>
+Hause, dessen Herrin, eine Tochter Bettinens auch dem
+Geiste nach, es verstand, M&auml;rchen zu Wirklichkeiten zu
+machen. Mit ihren beiden reizenden T&ouml;chtern, die um
+ein paar Jahre &auml;lter waren als ich, fertigte sie aus
+buntem Seidenpapier die k&ouml;stlichsten Gew&auml;nder an, mit
+denen geschm&uuml;ckt wir lebende Bilder stellten, Scharaden
+auff&uuml;hrten und uns als Helden Grimmscher M&auml;rchen
+in unsre Rollen so einlebten, da&szlig; die R&uuml;ckkehr in die
+prosaische Erdenwelt uns hart ankam. Unsre Feste
+wurden bald die gro&szlig;e Attraktion der Gesellschaft; oft
+genug sah auch der Gro&szlig;herzog uns zu, und ich erinnere
+mich noch recht gut, wie ich einmal als kleiner Amor
+im rosa Hemdchen, mit goldenen Sandalen und blitzenden
+Fl&uuml;geln aus einem Strau&szlig; lebendiger Blumen
+meinen Pfeil auf ihn zu richten hatte und auf seinen
+lachenden Zuruf: &raquo;Nun, schie&szlig; los!&laquo; das strenge Schweigegebot
+vergebend, antwortete: &raquo;Aber das tut weh!&laquo;
+Bald lernte ich besser, bei solchen Gelegenheiten
+die Fassung zu bewahren, denn lebende Bilder und
+Kost&uuml;mfeste waren auch bei den &raquo;Gro&szlig;en&laquo; an der Tagesordnung,
+und fast &uuml;berall wirkte ich mit. In Scheffels
+Dichtung vom Rockertweibchen, die unter seiner pers&ouml;nlichen
+Leitung dargestellt wurde, war ich ein kleines
+Schwarzwaldm&auml;dchen, das sich der besonderen Gunst
+des Dichters erfreute. Er hatte immer eine D&uuml;te f&uuml;r
+mich in der Tasche, und das erste Glas Sekt, das mir
+warm und wohlig bis in die Fu&szlig;spitzen niederrieselte,
+verdanke ich ihm. Auch ein Rokokod&auml;mchen war ich,
+mit hoch aufget&uuml;rmtem, gepudertem Haar, und ein
+Elfenkind, und das Veilchen auf der Wiese, &mdash; was
+Wunder, da&szlig; ich immer unlustiger morgens vor meinem
+<a name="Page_39" id="Page_39"></a>alten, pedantischen Lehrer sa&szlig;, der mich Buchstaben
+malen, Gesangbuchverse und Bibelspr&uuml;che hersagen lie&szlig;.
+Im Strudel rauschender Freude untertauchen oder lesen
+und tr&auml;umen f&uuml;r mich ganz allein, &mdash; was dazwischen
+lag: das Alltagsleben mit seinen Pflichten und Leiden,
+war wie eine staubige Stra&szlig;e, die ich am liebsten zu
+gehen vermied. &raquo;Pflichten&laquo; besonders waren mir verha&szlig;t;
+ich definierte sie schon als sechsj&auml;hriges Kind auf
+eine Frage hin als das, &raquo;was immer unangenehm ist&laquo;.
+Alles, was Mama z.&nbsp;B. tat, wenn sie ein recht unzufriedenes
+Gesicht dazu machte, erkl&auml;rte sie f&uuml;r Pflichterf&uuml;llung:
+die schmutzige W&auml;sche selber z&auml;hlen, obwohl
+drei Dienstboten daneben standen, die Zutaten zum
+Kochen herausgeben, obwohl wir eine vortreffliche franz&ouml;sische
+K&ouml;chin hatten, nachmittags mit mir spazieren
+fahren, obwohl wir uns beide schrecklich dabei langweilten, &mdash; ja
+selbst die D&auml;mmerstunden bei Papa, wo
+er zu Frau und Kind gern z&auml;rtlich war, schienen mir,
+nach ihrem Ausdruck zu schlie&szlig;en, in dieses Gebiet zu
+geh&ouml;ren. Ganz gewi&szlig;, ich w&uuml;rde nie meine Pflicht erf&uuml;llen,
+schwor ich mir heimlich und suchte meine Theorie
+nur zu oft in die Praxis umzusetzen, indem ich tat, was
+mir zu tun gefiel, und Befehlen, deren Ursache und Zweck
+ich nicht einsah, hartn&auml;ckigen Widerstand entgegensetzte.
+Der meiner freien Bewegung gezogene Umkreis konnte
+daher f&uuml;r meine Bed&uuml;rfnisse nicht weit genug sein; darum
+war der Sommer so sch&ouml;n, wo ich den Garten fast f&uuml;r
+mich allein hatte, wo ich auf dem Lande bei Verwandten
+und Freunden der weitgehenden Ungebundenheit mich
+erfreute.</p>
+
+<p>Eingebettet zwischen wei&szlig;- und rotbl&uuml;henden Obst<a name="Page_40" id="Page_40"></a>b&auml;umen,
+&uuml;berragt von gr&uuml;nen H&uuml;geln, zu denen schmale,
+nu&szlig;baumbeschattete Wege emporf&uuml;hrten, noch nicht erobert
+von dem Feinde aller vertr&auml;umten Poesie, der
+fauchenden, qualmenden Maschine, lag Weinheim damals
+zu F&uuml;&szlig;en der Bergstra&szlig;e. Dem Grafen W&auml;hring,
+dem Bruder meiner Urgro&szlig;mutter, hatte das Schlo&szlig;
+geh&ouml;rt, das mit seinen G&auml;rten und Weinbergen das
+St&auml;dtchen beherrschte. Jetzt hauste seine Witwe, eine
+achtzigj&auml;hrige Greisin dort oben, der niemand ihr Alter
+ansah, und bei der wir oft wochenlang zu Gaste waren.
+Wie eine Marquise aus dem achtzehnten Jahrhundert
+war sie anzuschauen: klein, zierlich, sprudelnd von Geist
+und Leben, mit winzigen wei&szlig;en, von Juwelen bedeckten
+H&auml;nden, allerhand seltenes Tierzeug &mdash; wei&szlig;e Angorakatzen,
+schlanke Windspiele, lockige Zwergpinscher &mdash; um
+sich herum. Sie pflegte sich stets nur mit Jugend zu
+umgeben, &mdash; es sei genug, da&szlig; der Spiegel sie an ihr
+Alter erinnerte, meinte sie. Je toller es um sie her zuging,
+je mehr Liebesgeschichten sie sich entspinnen sah,
+desto fr&ouml;hlicher war sie. Immer hatte sie Schr&auml;nke voll
+Pariser Toiletten bereit, um ihre weiblichen G&auml;ste &mdash; die
+sch&ouml;nsten am h&auml;ufigsten &mdash; damit zu beschenken, und
+Juwelen, Ringe und Armb&auml;nder aller Art, mit denen
+sie sie schm&uuml;ckte. Wer harmlos irgend etwas, was nicht
+niet- und nagelfest war, bei ihr bewunderte, dem wurde
+es als Geschenk aufgen&ouml;tigt. Und was f&uuml;r merkw&uuml;rdige
+Dinge gab es in ihren Salons mit den Louis XV.
+M&ouml;beln, den hohen Spiegeln und vielen, vielen Bildern
+und Bilderchen: da waren Sessel, Fu&szlig;b&auml;nke, B&uuml;cher,
+aus denen in tollem Durcheinander Mozartsche und
+Offenbachsche Melodien ert&ouml;nten, sobald sie benutzt
+<a name="Page_41" id="Page_41"></a>wurden; Gem&auml;lde, die pl&ouml;tzlich in der Wand verschwanden,
+um einem Schr&auml;nkchen voll s&uuml;&szlig;em Naschwerk
+Platz zu machen; Tischchen, die in den Boden
+sanken, wenn man sie anstie&szlig;, um mit Wein und Kuchen
+besetzt wieder zu erscheinen, kurz &mdash; ein Paradies f&uuml;r
+ein wundergieriges Kinderherz! Und dann der Garten
+mit seiner F&uuml;lle von Beeren und Blumen, mit seinen
+dichten Laubeng&auml;ngen und lustigen Wasserspielen &mdash; und
+die Freiheit vor allem, die ungebundene!</p>
+
+<p>Wenn ich bei Tisch erschien, musterte die alte Tante
+mich zuvor sorgf&auml;ltig, r&uuml;ckte da eine Falte zurecht, steckte
+mir dort eine Schleife an, wickelte meine Locken &uuml;ber
+ihre feinen Fingerchen, zog das Kleid noch tiefer von
+meinen magern Schultern und holte die Puderquaste
+aus ihrer kleinen goldnen Taschenb&uuml;chse, um den Rest
+Vormittags&uuml;bermut von meinen Wangen zu entfernen.
+&raquo;<em class="antiqua">Est-elle gentille, la petite?!</em>&laquo; sagte sie dann, mich vor
+dem Spiegel drehend. Mit Seide und Spitzen, mit
+Kettchen und Armb&auml;ndern, mit Worten und Ratschl&auml;gen,
+die f&uuml;r die Seele einer Siebenj&auml;hrigen nichts andres
+waren als s&uuml;&szlig;es Gift, warb sie um mich und modelte
+an mir. Was sie sagte, wei&szlig; ich heute nicht mehr, aber
+ich wei&szlig;, da&szlig; ich von ihr erfuhr, des Weibes Aufgabe
+sei, zu gefallen und zu herrschen, und all die Spiegel
+und B&uuml;chschen und Fl&auml;schchen des Toilettentischs, all
+die Geheimnisse des Boudoirs seien nichts als Etappen
+auf dem Wege zu ihrer Erf&uuml;llung. Das Bewu&szlig;tsein,
+h&uuml;bsch zu sein, machte mich stolz, und mit der Koketterie
+des kleinen M&auml;dchens suchte ich zum erstenmal ein
+m&auml;nnliches Wesen mir gef&uuml;gig zu machen. Die alte
+Tante hatte einen Heidenspa&szlig; daran, nur war leider
+<a name="Page_42" id="Page_42"></a>der arme Rudi, ihr Enkel und mein Spielgef&auml;hrte, ein
+gar zu ungeeignetes Objekt f&uuml;r meine K&uuml;nste! Er
+stotterte und war infolgedessen scheu und &auml;ngstlich; und
+ich, die ich mit jener unbewu&szlig;ten Grausamkeit der
+Kinder, mein Licht vor ihm leuchten lie&szlig;, versch&uuml;chterte
+ihn nur noch mehr. Armer Rudi! Das Stottern hat
+man ihm sp&auml;ter abgew&ouml;hnt, aber in seinem Gem&uuml;t ist
+doch irgend etwas Angstvoll-Zitterndes zur&uuml;ckgeblieben:
+auf der H&ouml;he des Lebens hat er sich eine Kugel in die
+Schl&auml;fe gejagt, und keiner wu&szlig;te, warum.</p>
+
+<p>Meine Erziehung durch die alte Tante war gewisserma&szlig;en
+nur eine theoretische; am Anschauungsunterricht
+sollte es auch nicht fehlen. Wir verbrachten die Herbstwochen
+h&auml;ufig bei franz&ouml;sischen Verwandten auf ihrem
+Schlosse im Elsa&szlig;, einer sagenumwobenen alten Ritterburg.
+Gefallene Gr&ouml;&szlig;en des napoleonischen Hofes &mdash; m&auml;nnliche
+und weibliche &mdash; gaben sich dort zur Jagd
+und Weinlese ein Rendezvous. Ein St&uuml;ck Pariser Leben
+spielte sich vor meinen erstaunten Augen ab: da war
+der Herr des Hauses, ein schwer reicher Empork&ouml;mmling,
+dessen kurze, dicke H&auml;nde, mit denen er meine Wangen
+streichelte, mir in fatalster Erinnerung sind, &mdash; neben
+ihm seine vornehme zarte Frau, immer in Spitzen geh&uuml;llt,
+an denen ihre durchsichtigen H&auml;nde nerv&ouml;s hin und her
+zerrten. Eine ihrer T&ouml;chter war Onkel Maxens Frau,
+die Mutter meines alten Spielgef&auml;hrten Werner, den ich
+zu meiner hellen Freude hier wiedersah. Sie war die
+sch&ouml;nere von den beiden Schwestern, dabei still und
+phlegmatisch, eine Haremsfrauennatur, w&auml;hrend die andere
+von Geist und Leben sprudelte und der Mittelpunkt
+eines Kreises ausgelassener junger Leute war. Mich
+<a name="Page_43" id="Page_43"></a>beachteten sie wenig, sie taten sich keinerlei Zwang an
+vor mir; &raquo;<em class="antiqua">la petite</em>&laquo; hatte ihrer Meinung nach ebensowenig
+Augen und Ohren wie die Zofen und Lakaien,
+ja sie galt zuweilen als der harmloseste Liebesbote. Aber
+ich war nur allzubald gar nicht mehr harmlos: mit
+zitternder Neugier beobachtete ich ihre T&auml;ndeleien, ihre
+Stelldicheins, ihr Fl&uuml;stern, ihre K&uuml;sse, und Wellen hei&szlig;en
+Lebens, die mir &uuml;ber den R&uuml;cken fluteten, lie&szlig;en mich
+dabei erbeben.</p>
+
+<p>Als wir das letztemal vom Elsa&szlig; nach Karlsruhe
+zur&uuml;ckkehrten &mdash; acht Jahre war ich damals &mdash;, kamen
+mir mein Garten und mein Spielzeug merkw&uuml;rdig
+fremd vor. Ein St&uuml;ck harmloser Kindheit war
+mir inzwischen verloren gegangen. Gierig st&uuml;rzte ich
+mich &uuml;ber alle B&uuml;cher, deren ich habhaft werden konnte,
+und wenn jemand mich zu ertappen drohte, steckte ich
+sie rasch unter Puckchens Kissen, der fast immer auf
+dem alten braunen Sofa neben mir lag. Wenn
+ich mir jetzt des Abends im Bett Geschichten erz&auml;hlte,
+so klopfte mein Herz nicht aus Angst vor den Geistern,
+die ich rief und nicht zu bannen vermochte, sondern in
+hei&szlig;er Erregung &uuml;ber das abenteuerliche Schicksal, als
+dessen Heldin ich mich selber tr&auml;umte. Liebe, wie ich
+sie um mich gesehen hatte, Liebe, deren Wonnen und
+Schmerzen im Mittelpunkt all der Lieder, all der Erz&auml;hlungen
+standen, die ich las, wurde zum Inhalt meiner
+Phantasien, und je k&uuml;hler ich die Luft empfand, die mich
+daheim umwehte, um so durstiger wurde mein kleines
+Herz. Hatte ich doch schon lange den Feuerbrand im
+Innern heimlich gen&auml;hrt und geh&uuml;tet, weil ich niemanden
+besa&szlig;, vor dem ich ihn als Opferflamme h&auml;tte aufsteigen
+<a name="Page_44" id="Page_44"></a>lassen k&ouml;nnen, &mdash; nun mu&szlig;te ich mir selber den Gegenstand
+meiner Leidenschaft schaffen. Eines der ersch&uuml;tternsten
+Erlebnisse meiner Kindheit half mir dazu:
+das Theater. Wagners Lohengrin war das erste, was
+ich sah. Konnte es f&uuml;r mich etwas Herrlicheres geben
+als den Schwanenritter? Er erschien mir als die Verk&ouml;rperung
+idealen Heldentums. Meinen Eindruck vermochte
+ich nicht in Worte zu fassen &mdash; undankbar und
+empfindungslos wurde ich deshalb gescholten &mdash;, aber
+meinem Herzen hatte er sich unausl&ouml;schlich eingepr&auml;gt.
+In demselben Winter sah ich die Jungfrau von Orleans,
+und nun stand es fest f&uuml;r mich: nicht eine Elsa, die dem
+Geliebten die Treue brach, wollte ich sein, sondern eine
+Johanna, die seiner w&uuml;rdige Heldin welterl&ouml;sender
+Taten.</p>
+
+<p>Bald aber gen&uuml;gte mir der Lohengrin als Gegenstand
+meiner Liebe nicht mehr, &mdash; er lebte nicht, und der seine
+Silberr&uuml;stung trug, hatte die Rolle nur gespielt, mich
+aber verlangte nach einem lebendigen Menschen. Wenn
+das Herz auf die Suche geht und die Phantasie die
+F&uuml;hrung &uuml;bernimmt, dann wird gar rasch gefunden! &mdash; Bei
+meinen Eltern gingen viele G&auml;ste aus und ein.
+Ein junger, schlanker Dragonerleutnant mit einem
+schmalen, blassen Gesicht war unter ihnen, der sich oft
+mit mir unterhielt, &mdash; nicht wie die andern nur mit mir
+scherzte und spielte. Und durch nichts konnte man mich
+leichter gewinnen, als indem man mich ernst nahm; &mdash; da&szlig;
+man es immer nur drollig und kindisch findet, erbittert
+jedes geistig reifere Kind. So flog denn mein sehns&uuml;chtiges
+Herz ihm zu, und meine Phantasie umkleidete
+ihn mit aller Romantik des Lohengrinhelden meiner<a name="Page_45" id="Page_45"></a>
+Tr&auml;ume. Er war nicht von Adel, also namenlos wie
+Elsas Ritter: gewi&szlig; w&uuml;rde er sich einmal als eines
+K&ouml;nigs verschollener Sohn entpuppen, und mir fiele die
+Aufgabe zu, ihm Reich und Krone zu erobern! Die
+sch&ouml;nsten Blumen aus meinem Garten legte ich heimlich
+auf seine M&uuml;tze im Flur, ehe er ging, und der ganze
+Tag war mir verkl&auml;rt, wenn er morgens vor&uuml;berritt und
+mich gr&uuml;&szlig;te.</p>
+
+<p>Rohe Menschen m&ouml;gen lachen &uuml;ber solche Kinderliebe
+und moralische sich dar&uuml;ber entr&uuml;sten. Mir ist, als w&auml;re
+sie die reinste meines Lebens gewesen.</p>
+
+<p>Im Fr&uuml;hling 1874 wurde mein Vater nach Berlin
+versetzt. Zum letztenmal versammelten sich des Hauses
+Freunde um unsern Teetisch. Noch wei&szlig; ich, wie mirs
+vor den Augen dunkelte, als ich meinem Helden die
+Hand zum Abschied reichte. Hei&szlig; lag sie in der seinen.
+Dann strich er mir noch einmal &uuml;ber den Kopf. &raquo;Wenn
+wir uns wiedersehn, bist du ein gro&szlig;es M&auml;dchen,&laquo; sagte
+er, &raquo;wer wei&szlig;, wir tanzen vielleicht noch einmal miteinander!&laquo;
+Wortlos lief ich hinaus in mein Zimmer
+und bi&szlig; verzweifelt in mein Kopfkissen, um mein
+Schluchzen zu ersticken.</p>
+
+<p>Kinderschmerz ist so gut echter Schmerz wie der
+der Erwachsenen, &mdash; nur da&szlig; wir ihn so leicht vergessen.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen schrieb ich meine ersten Verse
+in ein altes Schreibheft:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Maigl&ouml;ckchen zart und rein,<br /></span>
+<span class="i0">L&auml;ut'st schon den Fr&uuml;hling ein?<br /></span>
+<span class="i0">Nein, nein, er kommt noch nicht,<br /></span>
+<span class="i0">Du gehst zu fr&uuml;h ans Licht.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0"><a name="Page_46" id="Page_46"></a>Werd ich dich welken sehn,<br /></span>
+<span class="i0">Dann werd auch ich vergehn,<br /></span>
+<span class="i0">Und in das k&uuml;hle Grab<br /></span>
+<span class="i0">Senkt man uns beide hinab.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Bis ich erwachsen war, hat es niemand zu sehen bekommen,
+wie man eine getrocknete Blume &mdash; eine Zeugin
+holder Stunden &mdash; vor der Ber&uuml;hrung bewahrt, die sie
+zerst&ouml;ren w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Mein Garten stand in vollem Fr&uuml;hlingsflor, als wir
+Abschied nahmen. Ich lief durch das Haus, wo die
+Packer hantierten, in den Stall, wo August die Wagen
+in Decken h&uuml;llte. &raquo;Puckchen, mein Puckchen,&laquo; rief ich.
+Noch nie war ich fortgefahren, und w&auml;re es auch nur
+auf ein paar Tage gewesen, ohne ihm ein St&uuml;ckchen
+Zucker zu geben. Aber diesmal kam Puckchen nicht. Ich
+frug den August nach ihm, er sah verlegen zur Seite
+und murmelte etwas Unverst&auml;ndliches. Da fiel mir ein,
+da&szlig; Mama vor kurzem von seinem Alter, der M&ouml;glichkeit
+seines Todes gesprochen hatte. Das Herz stand mir
+still. Noch einmal suchte und rief ich, die Stimmen
+von Mademoiselle und Mama absichtlich &uuml;berh&ouml;rend, die
+mich zur Eile mahnten. &raquo;Geh nur, geh, Alixchen,&laquo; sagte
+August, der mir nachgekommen war, beruhigend, &raquo;Puckchen
+findest du nicht &mdash; &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er ist tot!&laquo; schrie ich au&szlig;er mir und warf mich
+weinend in Augusts Arme. Alles lief zusammen, mich
+zu tr&ouml;sten, aber fassungslos blieb mein Schmerz. &raquo;Sieh,
+mein Kind,&laquo; sagte schlie&szlig;lich Mama, die mich auf
+den Scho&szlig; genommen hatte, &raquo;Puckchen war alt und
+krank, er h&auml;tte sich mit seinen blinden Augen in der
+fremden Stadt nicht mehr zurecht gefunden. Eine Wohltat
+<a name="Page_47" id="Page_47"></a>wars f&uuml;r ihn, da&szlig; ich ihn vergiften lie&szlig; ...&laquo; &mdash; Ich
+zuckte zusammen, wie unter einem Peitschenschlag.
+Meine Tr&auml;nen waren versiegt. Von der Mutter Scho&szlig;
+glitt ich herunter und sah sie gro&szlig; an: &raquo;Du &mdash; du &mdash; hast
+mein Puckchen vergiftet?!&laquo;</p>
+
+<p>Dann lie&szlig; ich mich still zum Wagen f&uuml;hren. Irgend
+etwas war entzwei gegangen in mir. Ganz ruhig und
+empfindungslos sah ich vom Coup&eacute;fenster aus, wie
+die Stadt allm&auml;hlich vor mir verschwand.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_48" id="Page_48"></a></p>
+<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2>
+
+
+<p>Wer sich von Partenkirchen westw&auml;rts wendet,
+wo lockend in geheimnisvoll d&uuml;sterer
+Pracht die Zugspitze in die Wolken
+steigt, und, die staubige Chaussee verschm&auml;hend, auf
+schmalem Pfad durch bunte Wiesen wandert, dem
+zeigt sich pl&ouml;tzlich ein Bild voll stillen Friedens: in
+leisen Wellenlinien erhebt sich das Tal, H&uuml;gel an H&uuml;gel
+von alten Baumriesen gekr&ouml;nt und bl&uuml;henden B&uuml;schen;
+gradaus aber, wohin der Weg sich gl&auml;nzend wie ein
+Silberstreifen durch die Gr&uuml;nde schl&auml;ngelt, schmiegt sich
+vertrauensvoll, wie ein kleines Kind in den Scho&szlig; der
+Ahne, ein wei&szlig;es Kirchlein an die grauen W&auml;nde des
+Waxensteins. So oft ich es sah, &mdash; mir war immer, als
+l&auml;chele es. Und ein lichter Schimmer von Lebensfreude
+lag auch auf den kleinen H&auml;usern ringsum: ein heller
+Goldton &uuml;berzog die W&auml;nde des einen, in einem satten
+Himmelblau strahlte das andere, und selbst die Heiligen
+und die M&auml;rtyrer, die irgendwo unter einem Baldachin
+oder in einer Nische standen, hatten so lustige bunte
+Kleider an, da&szlig; wohl keiner, der vor&uuml;berging, sich bei
+dem Anblick ihres gottseligen Leidenslebens erinnerte.
+Von der Zeit gebr&auml;unt waren First und Dach und
+Altanen, aber so leuchtend war der Nelkenflor, der von<a name="Page_49" id="Page_49"></a>
+Fensterkasten und Gel&auml;ndern niederschaukelte, da&szlig; das
+Dunkel auch hier nur da zu sein schien, um den Glanz
+noch st&auml;rker hervorzuheben. Dazu pl&auml;tscherte der kleine
+Bergbach lustig durchs Dorf, der ganz, ganz oben in
+den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und
+vom Schnee sich n&auml;hrt und vom Eis, um erst unten im
+Tal, berauscht von den Blumen, die &uuml;ber ihm nicken,
+die helle Stimme zu verlieren.</p>
+
+<p>Vor den letzten H&auml;usern beginnt der Wald. Als
+m&uuml;&szlig;te er ein Kleinod sch&uuml;tzen, so schlingt er sich dicht
+um den leuchtenden Smaragd des Badersees, der seine
+gr&uuml;ne Farbe auch unter der sch&ouml;nsten Himmelsbl&auml;ue
+nicht verliert und trotz des b&ouml;sesten Unwetters durchsichtig
+bleibt bis zum Grunde. Aber w&auml;hrend eine
+breite Stra&szlig;e ihm den Strom der Menschen zuf&uuml;hrt
+und den Wald gezwungen hat, Platz zu machen, liegt
+sein kleinerer Zwillingsbruder, der Rosensee, noch immer
+still und versteckt zwischen den B&auml;umen. Selten nur
+verirrt sich einer auf die engen Steige, die in seine
+N&auml;he f&uuml;hren, und das Riesenpaar &uuml;ber ihm &mdash; der
+Waxenstein und die Zugspitze &mdash; scheint sich darum
+besonders wohlgef&auml;llig in seinen stillen Wassern zu
+spiegeln. An seinem Ufer, das an dieser Seite von
+Rosen in allen Farben und Formen umkr&auml;nzt ist, steht
+nur ein einziges kleines Haus; von wildem Wein und
+Efeu ist es so dicht umsponnen, da&szlig; es an dunkeln
+Tagen mit dem Wald, der es umgibt, in eins verschwimmt.</p>
+
+<p>Vor vier Jahrzehnten kaufte Ulysses Artern den
+Rosensee und baute seinem jungen Ehegl&uuml;ck das gr&uuml;ne
+Nest daran. Jedes Jahr, wenn die Maigl&ouml;ckchen
+<a name="Page_50" id="Page_50"></a>bl&uuml;hten und ihr Duft s&uuml;&szlig; und schwer &uuml;ber Wasser und
+Wald sich legte, zog seine Witwe auch nach seinem Tode
+hierher und blieb, bis der Schnee &uuml;ber die Bergspitzen
+hinunter ins Tal sich streckte.</p>
+
+<p>Seitdem wir in Augsburg bei ihr gewesen waren,
+hatte sie uns jedes Jahr zu sich eingeladen. Aber nur
+mein Vater hatte sie besucht; meiner Mutter war die
+Schw&auml;gerin nie sympathisch gewesen, und so hatte sie
+lange gez&ouml;gert, zu ihr zu gehen. Mich freilich zog die
+Sehnsucht in die Berge, seitdem sie mir in der Schweiz
+Augen und Seele entz&uuml;ckt hatten; und wenn der Vater
+von Grainau erz&auml;hlte und vom Rosensee, so w&uuml;nschte ich
+nichts mehr, als dort zu sein. Und nun hatte sich mein
+Wunsch erf&uuml;llt!</p>
+
+<p>Schon in Weilheim, der Endstation der Eisenbahn
+damals, wo das Tor des Loisachtals sich vor mir &ouml;ffnete
+und tief im Hintergrunde die Umrisse der wei&szlig;en
+Bergspitzen in den Wolken verschwanden, waren mir
+die Augen &uuml;bergegangen &mdash; wie stets, wenn ein Eindruck
+mich &uuml;berw&auml;ltigte. Still und stumm lie&szlig; ich ihn
+auf der ganzen langen Wagenfahrt auf mich wirken,
+und als ich dann abends oben im Giebelst&uuml;bchen des
+Rosenhauses stand, den Blick auf die vom dunkelblauen
+Nachthimmel grausilbern sich abhebenden Berge gerichtet,
+w&auml;hrend die reine, k&uuml;hle Luft mir um die Stirne wehte,
+da fiel all mein Kinderleid von mir ab, wie ein schwerer,
+dr&uuml;ckender Mantel. Frei atmen konnte ich wieder.</p>
+
+<p>Mit jedem Morgen, an dem ich erwachte, nach festem,
+traumlosem Schlaf, mit jedem Abend, an dem ich mich
+niederlegte, m&uuml;de von dem Reichtum des Tages, steigerte
+sich diese Empfindung. Ein Vollgef&uuml;hl des Lebens
+<a name="Page_51" id="Page_51"></a>durchstr&ouml;mte mich, und wenn niemand mich sah, dann
+warf ich mich wohl vor lauter Seligkeit mit ausgebreiteten
+Armen in die bl&uuml;hende Wiese und lag so
+still und atmete so leise, da&szlig; die Schmetterlinge sich
+ruhig auf den blauen Glockenblumen, die &uuml;ber mir
+bl&uuml;hten, niederlie&szlig;en, oder ich legte den Kopf ins Waldmoos,
+wo die Maigl&ouml;ckchen am dichtesten standen, und
+sah den tanzenden Sonnenstrahlen zu. Keine Mademoiselle
+legte meiner Freiheit Z&uuml;gel an; meine Tante
+fand mich zwar &raquo;schlecht erzogen&laquo;, weil ich nicht ruhig
+mit meiner Handarbeit neben ihr sa&szlig;, und lie&szlig; es
+meiner Mutter gegen&uuml;ber an Anspielungen darauf nicht
+fehlen, aber da sie mit Kindern gar nichts anzufangen
+verstand, lie&szlig; sie mich laufen und beschr&auml;nkte ihre
+Erziehungsk&uuml;nste auf strenge Toilettenvorschriften, wenn
+ich zu Tisch erschien oder mit ihr spazieren fuhr.
+Dann sa&szlig; ich nach guter karlsruher Gewohnheit steif
+und grade auf dem R&uuml;cksitz der Equipage, wie Johann
+auf dem Bock, der Kutscher, der mit dem &raquo;gn&auml;digen
+Fr&auml;ulein&laquo; nur vertraut war, wenn es morgens in den
+Stall kam und &mdash; ohne v&auml;terliche Aufsicht! &mdash; auf dem
+gro&szlig;en Fuchs, von allen Bauernkindern bewundert, durch
+das Dorf ritt. Ich hatte bald viele Freunde unter den
+Buben und M&auml;deln. Alle Waldwege und Bergsteige
+lernte ich durch sie kennen; die sch&ouml;nsten Erdbeerpl&auml;tze
+zeigten sie mir und lehrten mich klettern, wenn es galt,
+zu den Alpenrosen zu gelangen, die rotleuchtend die
+grauen Felsen belebten.</p>
+
+<p>Die Kinder des Landvolks im Norden Deutschlands
+tragen das Zeichen der Dienstbarkeit noch immer auf
+der Stirn: wie selbstverst&auml;ndlich ordnen sie sich im Spiel
+<a name="Page_52" id="Page_52"></a>mit dem &raquo;Herrschaftskind&laquo; diesem unter und sehen es fast
+als Auszeichnung an, die Rolle der Untergebenen zu
+&uuml;bernehmen. Wo die frische Luft der Berge weht, hat
+selbst die Sklavenmoral der katholischen Kirche Freiheitsgef&uuml;hl
+und Selbstbewu&szlig;tsein nicht zu unterdr&uuml;cken vermocht.
+Der Sepp vom B&auml;renbauern, der am verwegensten
+kletterte und am sch&ouml;nsten jodeln konnte, &mdash; mein
+Hauptspielgef&auml;hrte, &mdash; behandelte mich ganz auf gleich
+und gleich, ja er sah zuweilen mit unverhohlenem Stolz
+auf mich herab, und seiner urw&uuml;chstgen Kraft gegen&uuml;ber
+kam selbst meine sonst so ausgepr&auml;gte Empfindlichkeit
+nicht auf: ich bi&szlig; nur in stillem Ingrimm die Z&auml;hne
+zusammen, wenn er mich verspottete, weil ich ohne seine
+Hilfe den Fels nicht hinaufkam. Es gab viel zerrissene
+Kleider dabei; und w&auml;re die alte Kathrin nicht gewesen,
+die sie heimlich flickte und immer daf&uuml;r sorgte, da&szlig; ich
+in m&ouml;glichst tadelloser Toilette bei den Mahlzeiten erschien, &mdash; ich
+h&auml;tte mich nicht lange meiner Freiheit erfreuen
+d&uuml;rfen.</p>
+
+<p>An einem hei&szlig;en Julinachmittag kam ich einmal,
+einen gro&szlig;en Buschen Alpenrosen im Arm, eilig vom
+Ochsenh&uuml;gel heruntergelaufen, in heller Angst, zur Teestunde
+zu sp&auml;t zu kommen. Ich suchte darum m&ouml;glichst
+schnell an dem Wagen vorbeizuschl&uuml;pfen, der vor unserem
+Gartentor hielt, als eine Hand mir in die wehenden
+Locken griff und eine lachende Stimme rief: &raquo;Das ist
+doch die Alix, das Nichtchen!&laquo; Eine gro&szlig;e blonde Frau,
+von einem kleinen M&auml;dchen und einem halberwachsenen
+Knaben begleitet, stand vor mir, und nun mu&szlig;te ich Rede
+und Antwort stehen, w&auml;hrend meine Augen &auml;ngstlich an
+meinem fleckigen Lodenrock und den schmutzigen Stiefeln
+<a name="Page_53" id="Page_53"></a>hingen. Kurz vor dem Haus ri&szlig; ich mich unter dem
+Vorwand, die Blumen ins Wasser stellen zu wollen,
+los, und erschien, noch gl&uuml;hend vor Erregung, nach zehn
+Minuten im wei&szlig;en Musselinkleid wieder, das mir die
+alte Kathrin mit einem &raquo;Kind, Kind, was wird die
+Tante sagen &mdash; das war ja die Prinzessin Friedrich!&laquo;
+hastig &uuml;bergeworfen hatte. Aber es kam nicht einmal
+zu einem strafenden Blick, denn die Prinzessin nahm mich
+in die Arme und erz&auml;hlte lachend, wie sie eben schon
+meine Bekanntschaft gemacht habe. Ihre Worte &uuml;berst&uuml;rzten
+sich wie ein Wasserfall und wurden von ebenso
+hastigen und burschikosen Geb&auml;rden begleitet. Eine
+komische &raquo;Prinzessin&laquo;, dachte ich mir im stillen und sah
+mit gesteigertem Erstaunen zu ihren Kindern her&uuml;ber,
+die sich grade nach allen Regeln der Kunst zu pr&uuml;geln
+begannen und des wohlgepflegten Rasens nicht achteten,
+auf den sich sonst nicht einmal mein Ball verirren
+durfte.</p>
+
+<p>&raquo;Der Helmut sagt, die Alix w&auml;r eine Zigeunerin,&laquo;
+schrie das kleine M&auml;dchen pl&ouml;tzlich.</p>
+
+<p>&raquo;Zigeunerinnen sind viel h&uuml;bscher als semmelblonde
+Frauenzimmer, wie du eins bist,&laquo; entgegnete der Knabe,
+und es bedurfte des Dazwischentretens der Mutter, um
+mit einer Ohrfeige nach rechts und links dem Streit
+ein Ende zu machen.</p>
+
+<p>Mein Schicksal hatte sich dabei entschieden: selbst der
+Kuchen, in den das Prinze&szlig;chen mit Behagen hineinbi&szlig;,
+hinderte sie nicht, mir feindselige Blicke zuzuwerfen,
+w&auml;hrend ihr Bruder mir die Aufmerksamkeiten eines
+vollendeten Kavaliers erwies. Er mochte sieben Jahre
+&auml;lter sein als ich, war schlank und hochaufgeschossen,
+<a name="Page_54" id="Page_54"></a>mit lustigen grauen Augen und aufgeworfenen roten
+Lippen. Die kleine Friederike glich ihm wenig; sie
+war ein d&uuml;rftiges Pers&ouml;nchen mit jenen neidisch heruntergezogenen
+Mundwinkeln, die die Gesichter solcher
+Kinder zu entstellen pflegen, die sich fr&uuml;h ihrer Reizlosigkeit
+bewu&szlig;t werden. Als Helmut nach dem Tee
+zum Badersee hin&uuml;ber wollte, um dort Kahn zu fahren,
+weigerte sie sich, mitzukommen, wohl in der Hoffnung,
+da&szlig; er dann allein gehen m&uuml;sse und der Spa&szlig; ihm
+verdorben w&auml;re. Ihre Mutter aber meinte: &raquo;Um so
+besser werden sich Helmut und Alix am&uuml;sieren,&laquo; und so
+brachen wir auf, vom Diener begleitet, der uns rudern
+sollte.</p>
+
+<p>Geheimnisvoll und spiegelklar, wie immer, lag der See
+vor uns. Vor dem kleinen Wirtshaus, das damals
+noch bescheiden an seinem Ufer lag, sa&szlig;en nur wenige
+Touristen.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt wollen wir uns erst g&uuml;tlich tun und den schlabbrigen
+Tee heruntersp&uuml;len,&laquo; sagte Helmut und bestellte
+Tiroler Wein, mit dem wir lustig unsre neue Freundschaft
+leben lie&szlig;en. Als der Diener im Hintergrund,
+vertieft in die &raquo;Fliegenden&laquo;, ruhig vor seinem Seidel
+sa&szlig;, schlichen wir davon. Die Abneigung gegen irgendwelche
+Beaufsichtigung, die Helmut dadurch bekundete,
+steigerte meine Sympathie f&uuml;r ihn. Er l&ouml;ste den Kahn
+selbst von der Kette, und wir ruderten, gl&uuml;ckselig &uuml;ber
+unsre gelungene Kriegslist, in den See hinaus. Bald
+kamen wir in lebhafte Unterhaltung; Helmut erz&auml;hlte
+mir von Berlin, wo er wohnte, und wo ich nun bald
+hinkommen sollte, soviel des Sch&ouml;nen und Interessanten,
+da&szlig; meine Abneigung dagegen sich rasch in erwartungs<a name="Page_55" id="Page_55"></a>volle
+Neugierde verwandelte. Die uns zugestandene
+Stunde war l&auml;ngst verstrichen, als heftige Rufe vom
+Ufer her uns zur R&uuml;ckkehr mahnten. Die ganze Familie
+war dort versammelt: unsere M&uuml;tter, die Tante, das
+schadenfroh l&auml;chelnde Prinze&szlig;chen, &mdash; und wir wurden
+mit Vorw&uuml;rfen &uuml;bersch&uuml;ttet, kaum da&szlig; wir das Boot
+verlassen hatten.</p>
+
+<p>&raquo;Mach dir nichts draus,&laquo; fl&uuml;sterte Helmut und
+wandte sich mit eleganter Verbeugung meiner Tante
+zu. &raquo;Alix ist unschuldig, Frau Baronin,&laquo; sagte
+er l&auml;chelnd, &raquo;sie wollte nicht ohne den Diener
+fahren und mahnte dann unausgesetzt zur R&uuml;ckkehr.&laquo;
+Mit einem raschen dankbaren Blick lohnte ich Helmuts
+Ritterlichkeit, und mit einem herzlichen &raquo;Aufwiedersehn&laquo;
+schieden wir.</p>
+
+<p>Auf dem Wege heimw&auml;rts konnte die Tante es nicht
+unterlassen, ihrer Befriedigung &uuml;ber den &raquo;passenden
+Verkehr&laquo;, den ich nun endlich gefunden h&auml;tte, und ihrer
+Hoffnung Ausdruck zu geben, da&szlig; er mich hindern
+w&uuml;rde, weiter &raquo;mit den Dorfbuben herumzuschlampen&laquo;.
+Das emp&ouml;rte mich, und ich nahm mir vor, ihre Hoffnung
+auf das gr&uuml;ndlichste zu t&auml;uschen. Schon am
+n&auml;chsten Tag lief ich in aller Fr&uuml;he mit dem Sepp in
+die W&auml;lder und lie&szlig; mich nur grade zu den Mahlzeiten
+sehen. Aber ganz so wie ehemals wurde es trotzdem
+nicht mehr. Wir fuhren oft nach Partenkirchen hinauf,
+wo die Prinzessin eine Villa besa&szlig;, und sie kam
+h&auml;ufig ins Rosenhaus. Vergebens hatte ich versucht,
+meine alten Freundschaften mit meiner neuen in Einklang
+zu bringen; Helmut kehrte dem Sepp und seinen
+Kameraden gegen&uuml;ber zu sehr den Herren heraus, so
+<a name="Page_56" id="Page_56"></a>da&szlig; sie sich fern hielten, wenn er da war. Auch sonst
+war irgend etwas nicht mehr so recht in Ordnung; wie
+mir die Adern stets hoch auf zu schwellen pflegen,
+wenn ein Gewitter im Anzuge ist, so empfand ich auch
+seelischen Atmosph&auml;rendruck mit peinvoller Sicherheit.</p>
+
+<p>Meine Tante und meine Mutter hatten sich nie gemocht.
+Sie waren beide gew&ouml;hnt, in der Gesellschaft
+eine Rolle zu spielen: die eine um ihrer Sch&ouml;nheit und
+Vornehmheit willen, die andere ihres Reichtums und
+der unangefochtenen Selbst&auml;ndigkeit ihrer Stellung
+wegen. Schmeichelei und Unterw&uuml;rfigkeit begegneten
+der Baronin Artern auf Schritt und Tritt; jeder, der
+von ihr etwas erreichen wollte &mdash; und wer h&auml;tte das
+nicht gewollt! &mdash;, beugte sich ihrem Willen und ihren
+Ansichten. So kam es, da&szlig; sie allm&auml;hlich Widerspruch
+&uuml;berhaupt nicht mehr ertrug ... Um mit ihr auszukommen,
+mu&szlig;te man Ja und Amen zu allem sagen, was
+sie behauptete, &mdash; oder schweigen. Meine Mutter schwieg,
+aber sie schwieg mit allen Zeichen inneren Widerspruchs:
+einem sarkastischen L&auml;cheln, einem hochm&uuml;tigen Achselzucken.
+Das reizte die Tante; was sie jedoch weit
+mehr reizte, war der Schw&auml;gerin unzweifelhafte Vornehmheit,
+die kein Reichtum und keine Toilettenpracht
+ersetzen konnte. Da&szlig; ihre Mutter einer einfachen
+B&uuml;rgerfamilie entstammte, das war f&uuml;r sie ein dunkler
+Punkt ihres Lebens, und in ihr lebte etwas von
+jenem P&ouml;belha&szlig;, der stets das eine Ziel verfolgt:
+Rache zu nehmen an den Vornehmen. Sie tat es
+in grober und feiner Weise: sie lie&szlig; in Gegenwart
+meiner Mutter das Licht ihres &uuml;berlegenen Geistes am
+hellsten strahlen; sie zeigte ihre vollendete Meisterschaft
+<a name="Page_57" id="Page_57"></a>am Klavier und lie&szlig; in ihrer dunkeln Altstimme alle
+Skalen der Leidenschaft vor dem entz&uuml;ckten Zuh&ouml;rer
+t&ouml;nen. Gen&uuml;gte ihr das nicht, um meine Mutter, die
+nichts Gleichwertiges zu bieten hatte, in den Schatten
+zu stellen, so griff sie sie an ihrer schw&auml;chsten Stelle
+an: ihrem preu&szlig;ischen Patriotismus. Wie oft ging
+meine Mutter mit hochrotem Kopf und zusammengepre&szlig;ten
+Lippen hinaus, wenn die Schw&auml;gerin wieder
+einmal preu&szlig;ische Sitten, preu&szlig;ische Ansichten, preu&szlig;ische
+Politik geringsch&auml;tzig kritisiert hatte. Da&szlig; sie es trotzdem
+bei ihr aushielt, war nur ein Ergebnis ihres Pflichtgef&uuml;hls:
+von der reichen, kinderlosen Frau hing die
+Gestaltung meiner Zukunft ab, ihr galt es Opfer zu
+bringen.</p>
+
+<p>Eines Tages kam es zur Explosion. Meine Mutter
+machte irgend eine wegwerfende Bemerkung &uuml;ber die
+zweifelhafte Herkunft einer Dame, die eben, eine Wolke
+von Parf&uuml;m hinterlassend, die Terrasse verlassen hatte;
+die Tante widersprach und redete sich so in den Zorn
+hinein, da&szlig; sie schlie&szlig;lich Mama vorwarf, ihren eignen
+Mann beleidigt zu haben, denn nach der von ihr ausgesprochenen
+Ansicht, w&auml;re auch seine Mutter &raquo;von
+zweifelhafter Herkunft&laquo;. Mama verteidigte sich; ein
+Wort gab das andere, Tante Klotilde spielte ihren
+letzten Trumpf aus, indem sie mit ha&szlig;funkelnden Augen
+hervorstie&szlig;: &raquo;Du am wenigsten hast ein Recht von zweifelhafter
+Herkunft zu sprechen. Wei&szlig; man doch, wer deine
+Gro&szlig;mutter war!&laquo;</p>
+
+<p>Zwei Tage sp&auml;ter verlie&szlig;en wir das Rosenhaus, nicht
+ohne da&szlig; vorher eine konventionelle Vers&ouml;hnung stattgefunden
+h&auml;tte. Unsre Zeit war sowieso beinahe ab<a name="Page_58" id="Page_58"></a>gelaufen,
+und das kalte, tr&uuml;be Wetter, das meinem
+empfindlichen Halse schaden konnte, war Erkl&auml;rung genug
+f&uuml;r unsre beschleunigte Abreise. Die Rosen am
+See waren l&auml;ngst entbl&auml;ttert; bis tief ins Tal hingen
+die Wolken, als das wei&szlig;e Kirchlein mehr und mehr
+meinen Blicken entschwand. An einer Biegung des
+Wegs kam der Sepp gelaufen, einen Strau&szlig; von blauem
+Enzian in der Hand, aus dessen Mitte zwei gro&szlig;e wei&szlig;e
+Sterne leuchteten. &raquo;Von der Zugspitz,&laquo; stotterte er, auf
+die Edelwei&szlig; zeigend, dann brach ich in Tr&auml;nen aus
+und weinte &mdash; weinte noch, als schon Garmisch weit
+hinter uns lag. Das Wetter hellte sich indessen allm&auml;hlich
+auf, und wie ich von Weilheim aus r&uuml;ckw&auml;rts
+sah, lagen die Wolken, wie bezwungene Sklaven, tief
+im Tal, w&auml;hrend die Berge, mit der gl&auml;nzenden Silberkrone
+des Neuschnees auf ihren H&auml;uptern, stolz und
+siegesbewu&szlig;t gen Himmel ragten. Dies Bild nahm
+ich mit, und ich wu&szlig;te: nie wird es mir entschwinden.</p>
+
+<p>Papas Freude, als er uns in Berlin empfing, war
+grenzenlos. In unserm neuen Heim in der Hohenzollernstra&szlig;e
+hatte er mir einen Aufbau von Geschenken
+vorbereitet, grade wie zu Weihnachten. Ich wagte zun&auml;chst
+gar nicht, mich zu freuen in Erwartung von
+Mamas bekannten, vorwurfsvollen: &raquo;Aber Hans!&laquo; Doch
+diesmal blieb es aus; stand doch mein guter Engel daneben:
+die Gro&szlig;mutter. Wie einst in Potsdam, so war
+sie jetzt mit uns in ein Haus gezogen; wir glaubten
+eines langen Aufenthalts in Berlin sicher zu sein.</p>
+
+<p>&raquo;Ist mein Herzenskind aber gro&szlig; geworden!&laquo; rief sie,
+mich ger&uuml;hrt in die Arme schlie&szlig;end. &mdash; Gro&szlig;mama, wie
+alt wurdest du, &mdash; h&auml;tte ich beinahe erwidert, wenn die<a name="Page_59" id="Page_59"></a>
+Regeln der guten Erziehung mich nicht rasch genug
+daran gehindert h&auml;tten. Ihr gl&auml;nzendes dunkles Haar
+war ganz grau, und tiefe Falten zogen sich von Nase
+und Mund herab. Sie schien mich auch ohne Worte
+zu verstehen, denn mit einem wehm&uuml;tigen L&auml;cheln sagte
+sie: &raquo;Ich bin jetzt eine alte Frau, mein Alixchen, &mdash; das
+Leben ist nur selten ein Jungbrunnen!&laquo;</p>
+
+<p>War meine Stimmung jetzt schon ged&auml;mpft, so wurde
+sie noch mehr herabgedr&uuml;ckt, als ich mich umsah bei
+uns: alles kam mir beschr&auml;nkter vor als sonst, fremde
+Leute wohnten mit uns im gleichen Haus, und statt des
+gro&szlig;en Karlsruher Gartens fand sich nur ein Vorg&auml;rtchen
+an der Stra&szlig;e, dessen Rasen man nicht zertrampeln,
+dessen Blumen man nicht abpfl&uuml;cken durfte. Ich frug
+nach August und nach den Pferden. Der Stall lag
+jenseits der Stra&szlig;e, Papa f&uuml;hrte mich hin&uuml;ber; meine
+Entt&auml;uschung &uuml;ber diese Entfernung war gro&szlig;, sie
+steigerte sich, als ich eintrat: unsre Goldf&uuml;chse waren
+fort, nur drei Pferde standen darin, ein fremder Reitknecht
+trat mir entgegen. &raquo;Wei&szlig;t du, in Berlin gibt
+es so sch&ouml;ne Droschken, da braucht man Kutscher und
+Wagen nicht,&laquo; sagte Papa l&auml;chelnd, aber ich sah recht
+gut, da&szlig; seine Schnurrbartenden verr&auml;terisch zuckten und
+seine Harmlosigkeit L&uuml;gen straften. Ich bi&szlig; mir auf
+die Lippen und ging nachdenklich nach Hause, und mehr
+als einmal zuckte ich angstvoll zusammen, wenn Papa &mdash; ein
+Zeichen seiner tiefen inneren Erregung &mdash; ohne
+besondere Ursache heftig wurde.</p>
+
+<p>Bald darauf kam ich in die Schule, ein Privatinstitut
+in der K&ouml;nigin Augustastra&szlig;e, das erst seit kurzem
+bestand und nur wenig Z&ouml;glinge hatte. Meine Gro&szlig;<a name="Page_60" id="Page_60"></a>mutter
+stellte mich der Vorsteherin vor, einer kleinen,
+dicken Dame mit fettgl&auml;nzendem Gesicht und feuchten
+H&auml;nden, mit denen sie mir zu meinem Entsetzen die
+Backen t&auml;tschelte. Der erste Eindruck, den ich von den
+Stunden empfing, war der einer grenzenlosen Langenweile.
+Erst als man mich in eine h&ouml;here Klasse nahm,
+wo die M&auml;dchen alle &auml;lter waren als ich, gewann die
+Sache mit dem Erwachen meines Ehrgeizes an Interesse.
+Der trockne Memorierstoff, auf den der ganze Unterricht
+hinauslief, vermochte mich freilich auch hier nicht zu
+fesseln, aber es den andern zuvortun, die Beste in der
+Klasse sein, &mdash; das spornte mich an. Und ich brauchte
+mich nicht einmal anzustrengen, um mein Ziel zu erreichen,
+denn ich lernte leicht und bekam immer die
+besten Noten. Meine Kameradinnen konnten mich deshalb
+alle nicht leiden, und ich hatte vor ihnen ein unbestimmtes
+Schuldbewu&szlig;ten, da ich &uuml;berdies ihre
+Interessen nicht teilte, &mdash; spielte ich doch trotz meines
+gro&szlig;en Kochherds und meiner vielen Puppen nur selten
+mit dergleichen, und den Austausch bunter Oblaten, ein
+Hauptsport damals, fand ich albern, &mdash; so blieb ich ganz
+isoliert. Neben mir in der Klasse sa&szlig; ein M&auml;dchen,
+das mir zuerst auch nichts andres war, als eine Konkurrentin,
+durch die ich mich nicht &uuml;berfl&uuml;geln lassen
+durfte, und eine gef&auml;hrliche dazu. Bald merkte ich, da&szlig;
+sie noch mehr gemieden wurde als ich, da&szlig; man sie
+mit Neckereien und Bosheiten verfolgte. &raquo;Judenm&auml;del&laquo;
+stand einmal mit roter Tinte auf ihrem Pult, ein andermal
+mit wei&szlig;er Kreide auf ihrem Mantel. Sie weinte
+stets, wenn sie es sah, wagte aber nicht, sich zu verteidigen.</p>
+
+<p><a name="Page_61" id="Page_61"></a>Einmal, nach der Religionsstunde &mdash; wir hatten
+grade die Leidensgeschichte Christi durchgenommen &mdash; sah
+ich sie pl&ouml;tzlich inmitten der andern, die sie dicht
+umdr&auml;ngten und auf ein gegebenes Zeichen gemeinsam
+losbr&uuml;llten: &raquo;Judenbalg hat Christus gekreuzigt &mdash; Judenbalg
+hat Christus gekreuzigt!&laquo; Dann tanzten
+sie im Kreise um sie herum, und auf ein &raquo;Eins, Zwei,
+Drei&laquo; der Anf&uuml;hrerin spieen sie alle vor ihr aus. Ich
+kochte vor Wut und st&uuml;rzte mich besinnungslos zwischen
+sie. &raquo;Gemeine Bande,&laquo; schrie ich, w&auml;hrend sie &uuml;berrascht
+auseinanderprallten, &raquo;sch&auml;mt ihr euch nicht: zehn
+gegen eine?&laquo; &mdash; &raquo;Sie ist aber doch eine J&uuml;din,&laquo; knurrte
+die mir Zun&auml;chststehende. &raquo;Und wenn sie es ist &mdash; wi&szlig;t
+ihr denn nicht, da&szlig; Christus auch ein Jude war?&laquo;
+gab ich zur Antwort. Dann wandte ich mich der noch
+immer Weinenden zu: &raquo;So heule doch nicht, Edith,&laquo;
+fl&uuml;sterte ich, &raquo;sonst lassen sie dich gar nicht in Ruh.&laquo;</p>
+
+<p>Von da ab befreundeten wir uns mehr und mehr.
+Wir waren beides einzige Kinder, die durch ihr stetes
+Zusammensein mit Erwachsenen reifer zu sein pflegen
+als andre; B&uuml;cher waren unsre Leidenschaft, und ein
+eifriger Austausch zwischen uns begann, gab auch stets
+neuen Stoff zur Unterhaltung. Wir wohnten &uuml;berdies
+Haus an Haus, so da&szlig; wir unsern Schulweg zusammen
+machen konnten. Aber das sollte nicht die einzige Wirkung
+meines Eintretens f&uuml;r die Angegriffene sein. Eines
+Tages lie&szlig; mich die Schulvorsteherin zu sich rufen. &raquo;Du
+hast gesagt, Christus sei ein Jude,&laquo; fuhr sie mich mit
+zornigem Stirnrunzeln an, &raquo;wie kommst du dazu?&laquo;
+&raquo;Maria und Joseph,&laquo; stotterte ich in h&ouml;chster Verlegenheit,
+&raquo;waren doch auch Juden, und &mdash; und David doch
+<a name="Page_62" id="Page_62"></a>auch, von dessen Stamm er ist.&laquo; &mdash; &raquo;Christus ist Gottes
+Sohn, merke dir das,&laquo; schrie sie, wobei ihre Stimme
+sich &uuml;berschlug, &raquo;und streue nicht Unfrieden in die gl&auml;ubigen
+Seelen deiner Kolleginnen.&laquo; Ich schluckte krampfhaft
+an den aufsteigenden Tr&auml;nen. &raquo;Ich sehe, du bereust
+deine S&uuml;nde,&laquo; sagte sie w&uuml;rdevoll, &raquo;so sei dir f&uuml;r
+diesmal vergeben,&laquo; und ihre feuchten H&auml;nde fuhren mir
+&uuml;bers Gesicht. Am liebsten w&auml;r ich davongelaufen, aber
+meine Emp&ouml;rung &uuml;ber die gemeine Art, wie die M&auml;dchen
+sich an mir ger&auml;cht hatten, hielt mich fest, und ich erz&auml;hlte
+den ganzen Zusammenhang der Geschichte. Die
+Wirkung war f&uuml;r mich verbl&uuml;ffend. &raquo;Das ist ja nat&uuml;rlich
+sehr, sehr unartig von ihnen gewesen,&laquo; erkl&auml;rte sie mit
+hochgezognen Augenbrauen, &raquo;entschuldigt aber in keiner
+Weise deine weit gr&ouml;&szlig;ere S&uuml;nde.&laquo;</p>
+
+<p>Verwirrt und erregt trat ich den Weg nach Hause
+an. Religi&ouml;se Zweifel hatten mich noch nie gequ&auml;lt.
+Ich glaubte an den lieben Herrn Jesus, von dem Gro&szlig;mama
+mir immer erz&auml;hlte, der die Ungl&uuml;cklichen tr&ouml;stet,
+den Armen Hilfe, den Kranken Heilung bringt und die
+Kinder lieb hat. Da&szlig; Christi Gotteskindschaft von so ungeheurer
+Bedeutung sein sollte, &mdash; das war mir noch nie
+in den Sinn gekommen. Geradenwegs zu Gro&szlig;mama
+ging ich und erz&auml;hlte ihr alles.</p>
+
+<p>&raquo;Das hat Fr&auml;ulein Patze gewi&szlig; nicht so schlimm gemeint,
+wie du das auffa&szlig;t,&laquo; sagte sie, &raquo;wir sind alle
+Gottes Kinder; wer aber, wie Christus, den Willen des
+Vaters in h&ouml;chster Vollkommenheit erf&uuml;llt, der ist sein
+liebster Sohn.&laquo; Ich war zun&auml;chst beruhigt, merkte aber
+in den Religionsstunden mehr auf den Sinn der Worte
+als vorher und f&uuml;hlte bald den Widerspruch zwischen
+<a name="Page_63" id="Page_63"></a>dem, was dort gelehrt wurde, und dem, was Gro&szlig;mama
+sagte, heraus. Mein Herz und mein Verstand entschieden
+f&uuml;r sie, und f&uuml;r die Lehrerinnen blieb nichts als Geringsch&auml;tzung
+&uuml;brig. Ich lernte zwar nach wie vor vortrefflich,
+aber f&uuml;r mein inneres Leben, f&uuml;r meine geistige
+Entwicklung blieb die Schule ebenso bedeutungslos, wie
+jede Art von Unterricht bisher.</p>
+
+<p>Mein Schulerlebnis sollte auch nach andrer Richtung
+nicht ohne Folgen bleiben. Edith und ich waren
+nat&uuml;rlich noch mehr als fr&uuml;her aufeinander angewiesen,
+und oft genug hatte sie mich schon zu sich eingeladen,
+ohne da&szlig; es mir erlaubt worden w&auml;re, der Einladung
+zu folgen. Erst nachdem sich Gro&szlig;mama ins Mittel
+gelegt und ich Papas Herz erweicht hatte, durfte ich zu
+ihr gehen. Es war alles sehr sch&ouml;n bei ihr, und ihre
+Eltern, die die Tochter nicht ohne Absicht in die vornehme
+Schule schicken mochten, wu&szlig;ten sich vor Freundlichkeit
+gar nicht zu lassen. Mein Besuch galt ihnen
+vielleicht als die erste Stufe zu dem Ziel, das ihnen f&uuml;r
+ihr einziges Kind vorschwebte, eine adlige Heirat, &mdash; denn
+er sollte den Verkehr mit aristokratischen Kreisen
+einleiten. Mir war es unbehaglich in der N&auml;he des
+Ehepaars: der Frau mit dem bei jeder Bewegung
+krachenden Korsett und den vielen Ringen auf den
+fleischigen H&auml;nden, des Mannes mit der dicken Uhrkette
+&uuml;ber dem Spitzbauch. Nach einem reichlichen Imbi&szlig;
+spielten wir ein Gesellschaftsspiel. Ich verlor, wie
+immer, &mdash; meine Ungeschicklichkeit in solchen Spielen war
+nicht leicht zu &uuml;bertreffen, da meine Gedanken dabei stets
+spazieren gingen &mdash;, bekam aber trotzdem eine Menge der
+reizendsten Gewinne, unter denen ein kleiner Muschel<a name="Page_64" id="Page_64"></a>wagen
+mit einem silbernen Ziegenbock davor das sch&ouml;nste
+war.</p>
+
+<p>Daheim sch&uuml;ttete ich meine Sch&auml;tze vor den Eltern
+aus, aber sie teilten meine Freude nicht; Papa r&auml;usperte
+sich heftig, und Mama kniff die Lippen zusammen. Und
+dann kams, das viel gef&uuml;rchtete Ungewitter: sie warfen
+einander gegenseitig vor, da&szlig; sie mich zu der &raquo;protzigen
+Judensippschaft&laquo; gelassen hatten, die sich &raquo;erlaubte, dem
+Kinde solche Geschenke zu machen&laquo;. Schluchzend kroch
+ich in mein Bett. Ich durfte nie wieder hin&uuml;ber. In
+der Schule ging ich Edith, die vergebens auf eine Gegeneinladung
+wartete und von den gekr&auml;nkten Eltern nun
+wohl auch ihre bestimmten Instruktionen bekommen hatte,
+scheu aus dem Wege. Im sonnt&auml;glichen Familienkreis
+bei Gro&szlig;mama kam noch einmal die Rede auf die Geschichte.
+Tante Jettchen, ihre Schw&auml;gerin, der gef&uuml;rchtete
+Kleinkinderschreck und Sittenw&auml;chter, geriet heftig aneinander
+mit ihr und erkl&auml;rte schlie&szlig;lich kategorisch:
+&raquo;Juden sind kein Umgang f&uuml;r M&auml;dchen, die eine Position
+in der Gesellschaft haben.&laquo; Manch einer l&auml;chelte verstohlen
+zu diesem Ausspruch, wu&szlig;te man doch, da&szlig; sie
+um so empfindlicher war, was diesen Punkt betraf, als
+sie es nie verwinden konnte, da&szlig; Baron Wolkenstein
+ihr Schwiegersohn geworden war. Sein Ahnherr war
+Hofjude bei Friedrich dem Gro&szlig;en gewesen, und dieser
+hatte ihn mit der Bemerkung geadelt: &raquo;Machen wir den
+Kerl zum Baron, ein Edelmann wird doch nie draus.&laquo;
+Selbst in der vierten Generation hatte das Taufwasser
+die Erinnerung an den Familienstammbaum nicht zu
+verwischen vermocht.</p>
+
+<p>Es war eine Ironie des Schicksals, da&szlig; mir als Ersatz
+<a name="Page_65" id="Page_65"></a>f&uuml;r Edith Onkel Wolkensteins &auml;ltester Sohn Hermann
+als Spielkamerad zudiktiert wurde. Er war etwas &auml;lter
+als ich, in der Schule sehr zur&uuml;ckgeblieben, und ich sollte
+ihm zum Vorbild dienen. Wir kamen einander demnach
+nicht gerade mit liebevollen Gef&uuml;hlen entgegen, vertrugen
+uns aber schlie&szlig;lich doch ganz leidlich. Auf der Erde
+in meinem Zimmer bauten wir D&ouml;rfer und Gutsh&ouml;fe
+auf, die wir aus bunten Bilderbogen selbst ausschnitten.
+Hermanns Vater besa&szlig; ein Gut in Sachsen, so da&szlig; landwirtschaftliche
+Interessen ihm am n&auml;chsten lagen; die Erinnerung
+an Grainau zauberte mir alle Wonnen des
+Landlebens vor Augen und belebte mein Spiel. Wenn
+aber Hermann anfing, sich aufs Kaufen und Verkaufen
+von Vieh, Korn und Heu beschr&auml;nken zu wollen, wobei
+er stets in den h&ouml;chsten Eifer geriet, und ich Ediths
+Muschelwagen als Feenfahrzeug durch die L&uuml;fte fliegen
+lie&szlig;, um den Menschen in meinen D&ouml;rfern alle m&ouml;glichen
+Herrlichkeiten zu bringen, dann wars mit dem
+Frieden vorbei. Hermann liebte nur die &raquo;wirklichen&laquo;
+Geschichten, und ich erkl&auml;rte seinen Handel f&uuml;r &raquo;ekelhaft&laquo;.
+Schlie&szlig;lich verschlo&szlig; ich gekr&auml;nkt den silbernen Ziegenbock
+in meinem Schrank, gerade, wie ich lernte, meine Tr&auml;ume
+f&uuml;r mich zu behalten. Es war nun einmal nicht anders
+mit den Menschen, philosophierte ich, jeder war immer
+nur f&uuml;r eine Seite meines Wesens zu brauchen; es galt
+daher, die andre zu verstecken, bis auch f&uuml;r sie die rechten
+Gef&auml;hrten sich finden w&uuml;rden.</p>
+
+<p>Mit einer Schar kleiner M&auml;dchen und Knaben bekam
+ich in demselben Winter die ersten Tanzstunden, die abwechselnd
+in ihren Familien stattzufinden pflegten. Da
+sa&szlig;en dann all die Mamas und Gro&szlig;mamas und Tanten
+<a name="Page_66" id="Page_66"></a>ernsthaft im Kreise herum und musterten die junge
+Generation und spannen Zukunftspl&auml;ne und wetteiferten
+mit unserm Tanzmeister, der uns besonders interessant
+war, weil er in &raquo;Flick und Flock&laquo; den gro&szlig;en Krebs zu
+tanzen pflegte, in der Aus&uuml;bung ihrer Erziehungsk&uuml;nste.
+Sie konnten stolz sein auf ihr Werk: So gut wir franz&ouml;sisch
+parlierten, so zierlich tanzten wir Quadrille und
+Polka, &mdash; der Walzer war als &raquo;unschicklich&laquo; zu jener
+Zeit in der Hofgesellschaft verboten &mdash;, und so tadellos
+war unser Hofknix. &raquo;Eine Position in der Gesellschaft&laquo;
+war uns gesichert, ja wir besa&szlig;en sie, dank unsrer
+Familienbeziehungen, schon jetzt. Mir war sie etwas so
+Selbstverst&auml;ndliches, da&szlig; jener Hochmut, der nur entstehen
+kann, wenn man sie als etwas Besonderes ansieht,
+der daher am sichersten den Empork&ouml;mmling kennzeichnet,
+bei mir gar nicht aufkam. So war mir die
+Ehrfurcht und die Bewunderung, mit der Edith mich
+&uuml;ber die Kindergesellschaften bei &raquo;Kronprinzens&laquo; auszufragen
+pflegte, immer komisch erschienen. Ich h&auml;tte
+wirklich nicht gewu&szlig;t, was mich im kronprinzlichen
+Palais zum Bewundern und Verehren h&auml;tte bewegen
+k&ouml;nnen: die kleine unansehnliche Kronprinzessin, die mit
+der Miene einer Gouvernante unsre Spiele beaufsichtigte,
+der lustige Kronprinz, dessen derbe Sp&auml;&szlig;e die M&auml;rchenprinzenillusionen
+unsrer Kindertr&auml;ume gar nicht aufkommen
+lie&szlig;en, die einfachen, mit Spielzeug wenig verw&ouml;hnten
+Kinder, der Teetisch, auf dem ich bald aufgegeben
+hatte, etwas zu suchen, was Kindergaumen
+reizt, &mdash; es gab doch immer nur dieselben Albert-Kakes &mdash; das
+alles gab ein Gesamtbild, das der Glanz der
+Kaiserkrone nicht zu treffen schien. Ich ging nicht allzu
+<a name="Page_67" id="Page_67"></a>gerne hin: Prinzessin Charlotte, die mir am besten gefiel,
+war viel &auml;lter als ich; Prinzessin Viktoria, mit der ich
+spielen sollte, hatte nur Spa&szlig; am Kommandieren, was
+ich mir nicht gefallen lie&szlig;, die j&uuml;ngern Geschwister
+waren Babys in den Augen der bald Zehnj&auml;hrigen.
+Kam Prinz Wilhelm dazu mit dem kurzen lahmen
+Arm und dem finstern Gesicht, so wurde mirs vollends
+unheimlich. Es war jedesmal ein Seufzer der Erleichterung,
+mit dem ich mich in die Kissen des
+Wagens lehnte, der mich heimw&auml;rts fuhr. Sch&ouml;n waren
+nur die gro&szlig;en Feste: das Baumpl&uuml;ndern, die Kinderb&auml;lle,
+die Auff&uuml;hrungen. Wenn ich mit offnen Locken,
+im Spitzenkleid und Atlasschuhen die lichterstrahlenden
+S&auml;le betrat und gn&auml;dig die ersten Huldigungen kleiner
+Kavaliere entgegennahm, &mdash; dann ging mir eine Ahnung
+vom &uuml;ppigen Freudenmahl des Lebens auf, die mir alle
+Fibern mit Sehnsucht f&uuml;llte. Bei einem solchen Fest
+war es, als Helmut mir entgegentrat und mir auf dem
+Wege zum Ballsaal den Arm reichte. &raquo;Wie eine Prinzessin
+aus Tausendundeiner Nacht siehst du aus,&laquo;
+fl&uuml;sterte er dicht an meinem Ohr. Tausend und eine
+Nacht! Hei&szlig; &uuml;berflutete es mich! Und als wir uns
+dann im schimmernden Glanz der Kerzen, bei rauschender
+Musik im Tanze wiegten, war mirs, als h&ouml;rte ich verlockend
+die Worte zu seiner Melodie: sch&ouml;n sein &mdash; herrschen &mdash; genie&szlig;en!</p>
+
+<p>Eine Kugel, die ich mir einst im Schlo&szlig; vom
+Weihnachtsbaum herunterholte, und in der sich noch
+heute allj&auml;hrlich die Lichter unsres Tannenbaums spiegeln,
+ist das einzige, was mir zur Erinnerung an jene Feste
+&uuml;brig blieb. Ich hielt sie damals f&uuml;r eitel Silber.<a name="Page_68" id="Page_68"></a>
+Aber sie ist auch nur aus Glas und hat schon lange
+einen Sprung! ...</p>
+
+<p>Im Fr&uuml;hjahr wurde ich krank. Wiederholte Schwindelanf&auml;lle
+waren der Anla&szlig; gewesen, mich schon Wochen
+vorher aus der Schule zu nehmen. Dann bekam ich die
+Masern und lag lange Zeit zu Bett. Als ich wieder
+aufstehen durfte, konnte ich mich durchaus nicht erholen.
+Eine Herzschw&auml;che war zur&uuml;ckgeblieben. Ich sollte viel
+an der Luft sein und war daher vor- und nachmittags
+im Zoologischen Garten, wo ich mit Gro&szlig;mama auf
+einer sonnigen Bank zu sitzen pflegte, die recht schmal
+gewordenen H&auml;nde m&uuml;&szlig;ig im Scho&szlig;, den Kopf, der mir
+immer so schwer war, hinten &uuml;bergelehnt. Sie las mir
+vor und hatte sich zu dem Zweck eine besondre Art von
+Lekt&uuml;re ausgew&auml;hlt: Schilderungen der Jugendzeit bedeutender
+M&auml;nner, die sie ihren Lebensbeschreibungen
+und Selbstbiographien entnahm. Zwei davon machten
+mir einen unausl&ouml;schlichen Eindruck: die Napoleons und
+die Goethes. Wie der gro&szlig;e Kaiser ein armer Junge
+gewesen war und sich dem niederdr&uuml;ckenden Einflu&szlig; von
+Not und Verlassenheit nicht nur nicht unterwarf, sondern
+beide ihm zu Mitteln seiner St&auml;rke wurden, und
+wie der Genius des gro&szlig;en Dichters sich schon an des
+Knaben Puppentheater, vor den staunend aufhorchenden
+Freunden offenbarte, denen er seine M&auml;rchen erz&auml;hlte, &mdash; wundervoll
+war es! &raquo;Das mu&szlig; das Sch&ouml;nste sein
+im Leben, Gro&szlig;mama: zu sein wie ein Stern, der allen
+leuchtet&laquo; &mdash; sagte ich einmal nachdenklich. Und ihre
+Antwort t&ouml;nt mir noch in den Ohren: &raquo;Den alle lieben,
+meinst du wohl, weil er alle w&auml;rmt!&laquo;</p>
+
+<p>Legte sie das Buch weg, so erz&auml;hlte sie von ihrer eignen<a name="Page_69" id="Page_69"></a>
+Jugendzeit, die sie in der Stadt des Dichters, fast st&auml;ndig
+in seiner N&auml;he, verleben durfte. Wie arm kam mir, mit der
+ihren verglichen, meine Kindheit vor! Ich konnte &uuml;berhaupt
+gar nicht mehr recht froh werden. Es lag irgend
+etwas Dumpfes, Schweres in der Luft, das die Mienen
+immer verst&ouml;rter, das Lachen immer seltner werden lie&szlig;.
+Selbst meines Vaters Humor versiegte mehr und mehr,
+und h&auml;ufiger als je fl&uuml;chtete ich vor seiner tobenden
+Heftigkeit zu Gro&szlig;mama hinunter. Aber auch sie war
+zerstreut und sorgenvoll, so sehr sie sich auch vor mir
+zusammen nahm. Jeden Morgen vertiefte sie sich in
+den Kurszettel, und die mir r&auml;tselhafte Bemerkung: &raquo;Die
+Lombarden fallen&laquo; st&ouml;rte unsre sonst so gem&uuml;tliche Fr&uuml;hst&uuml;cksstunde.
+Eines Abends hatte Papa meine Mutter
+aus irgendeinem geringf&uuml;gigen Anla&szlig; heftig angefahren,
+was mich immer ganz besonders entsetzte, und ich lief,
+so rasch ich konnte, davon, um mich ver&auml;ngstigt im tiefen
+Sessel von Gro&szlig;mamas Boudoir zu vergraben. Da
+h&ouml;rte ich nebenan das Ger&auml;usch von Stimmen: Onkel
+Walter war tags vorher aus Ostpreu&szlig;en angekommen
+und betrat mit Gro&szlig;mama in starker Erregung, wie es
+schien, den Salon.</p>
+
+<p>Sie setzten sich zusammen auf das weiche, gr&uuml;ne Sofa,
+das mir so oft zum Schmollwinkel diente, und nun h&ouml;rte
+ich jedes Wort ihrer Unterhaltung: Gro&szlig;mamas weiche,
+von aufsteigenden Tr&auml;nen verschleierte Stimme, Onkel
+Walters hartes, durch die Aufregung immer rauher
+klingendes Organ.</p>
+
+<p>&raquo;Du kennst unsre finanzielle Lage,&laquo; sagte sie. &raquo;Hans
+hat sein kleines Verm&ouml;gen v&ouml;llig verloren, und was
+Ilsens Mitgift betrifft, so f&uuml;rchte ich das Schlimmste.<a name="Page_70" id="Page_70"></a>
+Dazu haben sich meine Eink&uuml;nfte bedeutend verringert,
+und ich mu&szlig; mich jetzt schon sehr einschr&auml;nken, um Ilse
+und Max, die beide Familie haben, nicht im Stich zu
+lassen. Du hast nicht Frau, nicht Kind, hast ein sch&ouml;nes
+Gut, &mdash; du solltest ohne weiteres auskommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Klotilde kann bei Hansens f&uuml;r dich eintreten,&laquo; entgegnete
+er.</p>
+
+<p>&raquo;Klotilde!&laquo; Gro&szlig;mama seufzte. &raquo;Jede Inanspruchnahme
+ihrer Hilfe hei&szlig;t Alixchens ganze Zukunft gef&auml;hrden.&laquo;</p>
+
+<p>Onkel Walter st&ouml;hnte schwer.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du noch etwas, was du mir verschweigst? &mdash; Sprich
+dich doch aus, mein Junge!&laquo; schmeichelte Gro&szlig;mamas
+Stimme.</p>
+
+<p>Und nun kams, wie ein Sturzbach wilder, leidenschaftlicher
+Worte, die schlie&szlig;lich Gro&szlig;mamas leises Weinen
+so wehevoll begleitete, da&szlig; sich mir das Herz schmerzhaft
+zusammenzog.</p>
+
+<p>Ich verstand nicht alles, aber die Hauptsache pr&auml;gte
+sich mir ein: irgendwo in der Schweiz oder in Italien
+bei einer der vielen Spielbanken, die damals wie Pilze
+aus der Erde schossen, hatte Onkel Walter sehr, sehr
+viel Geld verloren, und in Pirgallen standen die
+Dinge schlecht, da die Heuernte wieder einmal durch
+&Uuml;berschwemmungen zerst&ouml;rt worden war &mdash; &raquo;ich schie&szlig;e
+mir eine Kugel durch den Kopf, wenn du nicht hilfst,&laquo;
+schlo&szlig; er au&szlig;er sich. Ich schrie entsetzt auf. Gro&szlig;mama
+erhob sich, ich h&ouml;rte ihre Kleider rauschen, duckte mich
+schnell tief in die Kissen und hielt den Atem an.</p>
+
+<p>&raquo;Also ein Verschwender und ein Feigling dazu!&laquo; sagte
+sie; ihr hatte seine Drohung zu meinem Erstaunen keinen
+Eindruck gemacht. &raquo;Sch&auml;mst du dich nicht? Wie viele
+<a name="Page_71" id="Page_71"></a>fristen ihr und ihrer Familie Leben mit wenigen Groschen
+am Tag, und du wirfst Tausende zum Fenster hinaus,
+noch dazu Tausende, die dir gar nicht geh&ouml;ren! Oder
+ist es etwas andres als Diebstahl, wenn du deine
+Lieferanten, deine Handwerker und ihr Geld dem
+schlimmsten aller Teufel, dem Spielteufel, in den Rachen
+wirfst?! Wenn du noch eine Spur von Ehrgef&uuml;hl hast,
+so wirst du dir selber helfen und nicht verlangen, da&szlig;
+deine Schwester und dein Bruder sich dir opfern. Setz
+dich auf dein Gut und arbeite!&laquo;</p>
+
+<p>Niemals hatte ich Gro&szlig;mama so reden h&ouml;ren, auch
+Onkel Walter mochte erstaunt sein, denn er schwieg
+lange Zeit. Dann brachs von neuem los, nicht heftig,
+wie vorher, sondern jammernd, verzweifelnd. Und nun
+tr&ouml;stete ihn Gro&szlig;mama, wie ein krankes Kind, ohne in
+der Sache nachzugeben. Sie wollte zu ihm ziehen, ihm
+ein neues Leben aufbauen helfen, in der Wirtschaft nach
+dem Rechten sehen, bis er eine gute Frau gefunden haben
+w&uuml;rde ...</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe eine Geliebte,&laquo; stie&szlig; er hervor.</p>
+
+<p>&raquo;Auch das noch!&laquo; murmelte sie. &raquo;Kannst du sie heiraten?&laquo;
+f&uuml;gte sie rasch hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Damit wir beide am Hungertuch nagen?&laquo; h&ouml;hnte er.</p>
+
+<p>Auf Gro&szlig;mamas Bitten berichtete er von seinem Verh&auml;ltnis
+zu dem M&auml;dchen. Ich glaube, sie war anst&auml;ndiger
+armer Leute Kind; Onkel Walter hatte sie
+f&uuml;rs Theater ausbilden lassen und an irgendeiner
+B&uuml;hne untergebracht: &raquo;Talent hat sie keins, aber sie ist
+h&uuml;bsch, damit wird sie sich schon weiter helfen! F&uuml;r
+das Kind aber, dessen Vaterschaft mir einigerma&szlig;en
+sicher ist, mu&szlig; gesorgt werden!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_72" id="Page_72"></a></p>
+<p>&raquo;Und du &mdash; du bist mein Sohn!&laquo; h&ouml;rte ich Gro&szlig;mama
+mit halberstickter Stimme sagen. H&auml;tte ich ihr
+nur zu F&uuml;&szlig;en fallen und ihre H&auml;nde k&uuml;ssen k&ouml;nnen!</p>
+
+<p>Nach langer, peinvoller Stille fing sie wieder zu
+sprechen an: mit ruhiger Gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;igkeit, wie zu
+einem v&ouml;llig Fremden, setzte sie Onkel Walter auseinander,
+welche Schritte zur Regelung seiner Angelegenheiten
+zu tun seien, und zu welchem Zeitpunkt sie ihre
+&Uuml;bersiedlung nach Pirgallen vornehmen w&uuml;rde. &raquo;F&uuml;r
+das unschuldige W&uuml;rmchen und die arme Mutter sorge
+ich,&laquo; schlo&szlig; sie, &raquo;und nun gute Nacht!&laquo;</p>
+
+<p>Ohne ein Wort zu erwidern, verlie&szlig; Onkel Walter
+das Zimmer.</p>
+
+<p>Wieviel Schleier, unter denen bisher das Leben sich
+mir verborgen hatte, waren in dieser kurzen Stunde
+zerrissen! Wild klopfte mir das Herz. Da trat Gro&szlig;mama
+&uuml;ber die Schwelle. &raquo;Alixchen!&laquo; rief sie entsetzt.
+Ich sprang auf, und den hei&szlig;en Kopf in die k&uuml;hlen
+Sammetfalten ihres Kleides pressend, erz&auml;hlte ich ihr,
+da&szlig; ich alles, alles geh&ouml;rt h&auml;tte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich, ich will dir helfen, Gro&szlig;mama,&laquo; rief ich, ohne
+eine Antwort von ihr abzuwarten, w&auml;hrend die abenteuerlichsten
+Pl&auml;ne sich in meinem Hirne kreuzten. &raquo;Ich
+komme mit nach Pirgallen, und dann pflege ich das
+kleine Kind, und du brauchst keine Kinderfrau.&laquo; Bittend
+sah ich auf zu ihr; mit wehm&uuml;tigem L&auml;cheln streichelte
+sie mir die gl&uuml;henden Wangen, und durch ihre Liebkosung
+ermuntert, fuhr ich noch eifriger fort: &raquo;Wei&szlig;t
+du, wenn ich das tue, sind doch auch die Eltern mich
+los und brauchen kein Geld f&uuml;r mich auszugeben&laquo; &mdash; &mdash; Gro&szlig;mama
+war noch immer still &mdash; &mdash; &raquo;vielleicht kann
+<a name="Page_73" id="Page_73"></a>ich sogar selbst Geld verdienen. Du hast einmal gesagt,
+da&szlig; viele arme Kinder f&uuml;r Geld arbeiten m&uuml;ssen. Ich
+tanze doch so gut &mdash; Herr Ebel hat mich doch selbst
+unterrichtet &mdash; der nimmt mich gewi&szlig; zum Theater.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du kleiner Hitzkopf du &mdash; was f&uuml;r t&ouml;richte Gedanken
+du dir machst,&laquo; unterbrach mich Gro&szlig;mama.
+&raquo;Komm, la&szlig; uns ruhig miteinander reden,&laquo; damit lie&szlig;
+sie sich in dem tiefen Stuhl nieder, dessen Bezug noch
+Spuren meiner Tr&auml;nen zeigte, und ich kauerte mich ihr
+zu F&uuml;&szlig;en, wie in jenen gl&uuml;cklichen Stunden, wo ich
+ihren M&auml;rchen lauschte. Lange und liebreich sprach sie
+auf mich ein: da&szlig; ich mir die Dinge nicht so schwarz
+ausmalen solle, da&szlig; wir zwar nicht mehr reich, aber
+auch nicht arm seien, da&szlig; ich viel helfen k&ouml;nne, wenn
+ich meiner Mutter das Leben erleichtere, wenn ich &uuml;berfl&uuml;ssige
+W&uuml;nsche unterdr&uuml;cke und t&uuml;chtig lerne, damit ich
+einmal, falls es n&ouml;tig sein sollte, auf eignen F&uuml;&szlig;en
+zu stehen verm&ouml;chte. Meine heroische Opferwilligkeit
+wurde nicht wenig herabgestimmt. Gar kl&auml;glich kam
+mir vor, was Gro&szlig;mama mir als eine Aufgabe ans
+Herz legte. &raquo;Und &mdash; das kleine Kind?&laquo; wagte ich noch
+einmal sch&uuml;chtern zu bemerken. Die feinen Adern auf
+Gro&szlig;mamas Schl&auml;fen schwollen. &raquo;Versprich mir, da&szlig;
+du niemandem sagst, was du von ihm geh&ouml;rt hast,&laquo;
+sagte sie, mir ernst und fest ins Auge blickend. &raquo;Ich
+verspreche es,&laquo; hauchte ich.</p>
+
+<p>Gro&szlig;mama k&uuml;&szlig;te mir beide Wangen. &raquo;So, nun
+komm! Ich bring dich in dein Bettchen, und morgen
+ist das alles nichts als ein Traum f&uuml;r dich.&laquo; Still
+und in mich gekehrt folgte ich ihr.</p>
+
+<p>Als sie aber die Decke an den Bettpfosten befestigt
+<a name="Page_74" id="Page_74"></a>hatte, &mdash; ich pflegte sie sonst im Traume von mir zu
+werfen &mdash;, und, die H&auml;nde gefaltet, neben mir stand,
+mein Abendgebet erwartend, richtete ich mich noch einmal
+auf: &raquo;Gro&szlig;mama, liebe Gro&szlig;mama,&laquo; kam es mit
+Anstrengung &uuml;ber meine Lippen, &raquo;sag mir doch, ist eine
+Geliebte dasselbe wie eine Frau?&laquo; Und sie gab mir
+eine Antwort, wie ich sie noch auf keine Frage von ihr
+erhalten hatte: &raquo;Kind, das verstehst du nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Abendgebet verga&szlig;en wir danach alle beide.</p>
+
+<p>Trotz des gemeinsamen Geheimnisses, um das meine
+Gedanken sich in der Stille unaufh&ouml;rlich drehten, trat
+seitdem eine leise und noch lange nachwirkende Entfremdung
+zwischen uns ein. Ich aber achtete von nun an genau
+auf meine Umgebung, auf alles, was geschah und was
+gesprochen wurde. Ich merkte, da&szlig; Papa mir seltner
+etwas mitbrachte als fr&uuml;her, wo er fast immer eine
+Schachtel Bonbons oder ein Spielzeug f&uuml;r mich in der
+Tasche gehabt hatte. Und wenn er es jetzt noch tat, so
+war Mamas Emp&ouml;rung &uuml;ber die &raquo;Verschwendung&laquo; so
+gro&szlig;, da&szlig; mir von vornherein jede Freude verging. Ich
+sah, wie im stillen &uuml;berall gespart und geknausert wurde,
+ohne da&szlig; sich nach au&szlig;en viel ver&auml;nderte: unsre alte
+franz&ouml;sische K&ouml;chin machte einer deutschen Platz, die keine
+Kuchen und Pasteten backen konnte, an Stelle der Jungfer
+trat ein Hausm&auml;dchen, unter deren H&auml;nden Mamas
+blonder Kopf nicht mehr zu einem Kunstwerk wurde wie
+fr&uuml;her. Nur der Wilhelm, der Diener, blieb, und seine
+stets gleichm&auml;&szlig;ig unbeweglichen Z&uuml;ge verrieten niemandem,
+wie anders es im Hause der Herrschaft geworden
+war; er schenkte den billigen Mosel bei Tisch
+mit derselben W&uuml;rde ein, wie den teuren Rheinwein fr&uuml;her.</p>
+
+<p><a name="Page_75" id="Page_75"></a>Aber noch mehr, als ich sah, h&ouml;rte ich, und lernte
+rasch ein halbes Wort, ein vielsagendes L&auml;cheln
+verstehen: da mu&szlig;te der eine den Abschied nehmen, weil
+er sein &raquo;Verh&auml;ltnis&laquo; geheiratet hatte, und der andre
+ruinierte sich eines &raquo;Frauenzimmers&laquo; wegen; da wurde
+einer im Duell erschossen, weil seine Frau auf dem
+Zimmer eines Schauspielers gefunden worden war, und
+eine andre wurde in der Gesellschaft &raquo;unm&ouml;glich&laquo;, weil
+sie ihren Mann heimlich verlassen hatte. Bei alledem
+schwebte mir immer Onkel Walters Geliebte vor, die
+Mutter seines Kindes, der meine Phantasie die Gestalt
+der duldenden Madonna gegeben hatte, und ich nahm im
+Innern unentwegt Partei f&uuml;r ihre Leidensgef&auml;hrtinnen.</p>
+
+<p>Im Sommer gingen wir wieder nach Oberbayern.
+Mein schwaches Herz, das sich in Ohnmachtsanf&auml;llen
+allzu h&auml;ufig bemerkbar machte, bedurfte der St&auml;rkung
+durch die Bergluft. Aber meine Freude &uuml;ber das Reiseziel
+sollte eine erhebliche Einbu&szlig;e erfahren: statt im
+Rosenhaus zu wohnen, bei Tante Klotilde, blieben wir
+in Garmisch im Hotel. Als wir das erstemal zu ihr
+kamen, war ich steif und still. Selbst als der Sepp
+mit einem Strau&szlig; von Orchideen, die ich ihrer m&auml;rchenhaften
+Formen wegen immer besonders liebte, vor mir
+stand, lie&szlig; ich mich nicht bewegen, mit ihm zu spielen.
+&raquo;Das Fr&auml;ulein ist wohl ganz preu&szlig;isch geworden,&laquo; sagte
+Tante Klotilde sp&ouml;ttisch. Ich sah sie b&ouml;se an. Sie
+hatte keine Spur von Verst&auml;ndnis f&uuml;r mich; sie wu&szlig;te
+nicht, da&szlig; ich die Kosth&auml;ppchen des Lebens nie leiden
+konnte. Wer nicht das ganze k&ouml;stliche Gericht haben
+kann, f&uuml;r den ist eine Probe davon nur eine grausame
+Mahnung an das, was er entbehrt.</p>
+
+<p><a name="Page_76" id="Page_76"></a>Es blieb bei kurzen Besuchen am Rosensee; nur selten
+holte die Tante uns zum Spazierenfahren ab und unterlie&szlig;
+es dabei nie, ihrem &Auml;rger &uuml;ber die Nichte, die eine
+&raquo;gelbe Hopfenstange&laquo; geworden w&auml;re, Luft zu machen.
+Ich war bisher so gew&ouml;hnt gewesen, bewundert zu
+werden, da&szlig; mich ihre Bemerkung einigerma&szlig;en in Erstaunen
+setzte. Der Spiegel sprach f&uuml;r ihre Richtigkeit.
+Diese Entdeckung steigerte nur meine morose Stimmung.
+Ich hatte niemanden, der mich ihr h&auml;tte entrei&szlig;en k&ouml;nnen;
+Mama hielt mich abwechselnd f&uuml;r unartig oder f&uuml;r launisch;
+sie befand sich &uuml;berdies bald in einer ihr sehr angenehmen
+Gesellschaft und war daher ganz zufrieden, da&szlig;
+ich gar keine Anspr&uuml;che an sie stellte, sondern am liebsten
+allein mit meinem Buch im Hotelgarten sa&szlig;. Die B&auml;ume
+darin standen in Reih und Glied, wie Soldaten, und
+verbargen, trotz ihrer D&uuml;rftigkeit, den Kranz der fernen
+Berge; um aber jedes Gef&uuml;hl f&uuml;r die Gro&szlig;artigkeit der
+Natur vollends zu verwischen, pl&auml;tscherte ein d&uuml;nner,
+kleiner Springbrunnen in der Mitte. Hier konnte ich
+zeitweise vergessen, da&szlig; ich dem alten grauen Freund,
+dem Waxenstein, so nahe und er mir doch so unerreichbar
+fern war.</p>
+
+<p>Ich blieb nicht lange allein. Ein junger Mensch mit
+fuchsig rotem Haar und einem Gesicht voll gelber Sommersprossen,
+der mit seiner Mutter, einer Schriftstellerin, an
+der Table d'hote neben uns sa&szlig;, gesellte sich immer h&auml;ufiger
+zu mir und r&uuml;mpfte immer deutlicher die Nase &uuml;ber
+meine Lekt&uuml;re. Freilich: das ganze Elend der damaligen
+Jugendliteratur konnte nicht deutlicher zum Ausdruck
+kommen als hier. Gegen den gr&auml;&szlig;lichen Nieritz mit
+seiner Zuckerwassermoral hatte ich schon selbst protestiert,
+<a name="Page_77" id="Page_77"></a>daf&uuml;r herrschten jetzt Ottilie Wildermut und Elise Polko,
+die der gesitteten h&ouml;hern Tochter in hundert Variationen
+stets dasselbe predigten: der Mann ist deines Lebens
+Ziel und Zweck. Hans Guntersberg, froh, eine so dankbare
+Zuh&ouml;rerin f&uuml;r seine Primanerweisheit gefunden zu
+haben, erz&auml;hlte mir von seinen Lieblingsb&uuml;chern, und von
+niemandem schw&auml;rmte er mehr als von Paul Heyse.
+Ein Buch nach dem andern brachte er mir, um mir daraus
+die seiner Meinung nach sch&ouml;nsten Stellen mit dem Pathos
+eines Vorstadttrag&ouml;den vorzulesen. Sein ganzer Koffer
+steckte voller B&uuml;cher und sein Kopf voller Liebesgeschichten,
+wobei es kein Wunder war, da&szlig; es in dem einen an
+Platz f&uuml;r frische Kragen, in dem andern an Interesse
+f&uuml;r klassische Sprachen fehlte. Er war n&auml;mlich schon
+zwanzig Jahre alt. Seine k&ouml;rperliche N&auml;he war mir
+widerw&auml;rtig, und meine Sehnsucht nach seinen B&uuml;chern
+stand immer in hartem Kampf mit meiner Antipathie
+gegen seine Pers&ouml;nlichkeit. Er mochte f&uuml;hlen, was ihn
+allein f&uuml;r mich anziehend machte und gab daher seine
+Sch&auml;tze nicht aus der Hand. Pl&ouml;tzlich kam er nicht mehr
+und antwortete mir ausweichend, als ich ihn abends nach
+der Ursache frug. Am n&auml;chsten Tag schlich ich ihm nach
+und fand ihn in der Laube des Nebenhauses mit einem
+M&auml;dchen, das nicht nur erheblich &auml;lter, sondern auch
+viel h&uuml;bscher war als ich. In seiner bekannten Schauspielerpose
+stand er vor ihr und deklamierte, w&auml;hrend der Schwei&szlig;
+ihm in Perlen auf der sommersprossigen Stirn stand. Halb
+belustigt, halb ver&auml;rgert wandte ich mich ab. Ich g&ouml;nnte
+der Rivalin den Kurmacher, aber seine B&uuml;cher g&ouml;nnte
+ich ihr nicht. Vielleicht gab er sie mir jetzt, da seine
+Person anderweitig untergebracht war. Er lachte mich
+<a name="Page_78" id="Page_78"></a>aus, als ich ihn darum bat: &raquo;F&uuml;r dumme G&ouml;hren wie
+dich ist das noch nichts.&laquo; Mir fiel ein Laden in Partenkirchen
+ein, der alle leiblichen und geistigen Bed&uuml;rfnisse
+der Sommerg&auml;ste zu befriedigen pflegte. Heyses Novellen
+hatte er gewi&szlig;. Das Schlimme war nur, da&szlig; ich kein
+Geld besa&szlig;. An meinem Geburtstag hatte ich in Erinnerung
+an Gro&szlig;mamas Ratschl&auml;ge das Goldst&uuml;ck von
+Tante Klotilde unber&uuml;hrt gelassen. Mama sollte mir
+zum Winter ein Kleid davon kaufen, dieser Wunsch &mdash; ein
+erstes Zeichen praktischen Verst&auml;ndnisses &mdash; war durch
+einen der seltnen m&uuml;tterlichen K&uuml;sse belohnt worden. Sie
+f&uuml;r diesen Zweck nun doch um das Geld zu bitten, w&auml;re
+t&ouml;richt gewesen; bestenfalls h&auml;tte sie meinen Lesehunger
+durch einen neuen Band Wildermut gestillt. Und doch
+hatte ich ein Recht darauf &mdash; es war mein Eigentum &mdash;,
+ich konnte tun damit, was ich wollte; Mama hatte es
+sogar selbst in mein Portemonnaie gesteckt, das in der
+Kommode unter den Taschent&uuml;chern lag. Tagelang k&auml;mpfte
+ich mit mir, &mdash; aber das Verlangen wurde um so st&auml;rker,
+als ich Stunden und Stunden nichts mit mir anzufangen
+wu&szlig;te; endlich konnt ich nicht l&auml;nger widerstehen: unter
+dem Vorwand, ein Taschentuch haben zu m&uuml;ssen, verschaffte
+ich mir den Schl&uuml;ssel und nahm mein Portemonnaie
+an mich. In fliegender Hast, als brenne der Boden unter
+mir, lief ich die Treppen hinunter durch die Stra&szlig;e nach
+Partenkirchen. F&uuml;r meine Mutter, sagte ich verwirrt
+und stotternd im Laden, sollte ich Heyses Novellen kaufen.
+Verwundert sah man mich an, als ich ein ganzes Goldst&uuml;ck
+vorwies. Mit mehreren B&auml;nden beladen lief ich
+zur&uuml;ck; die Eile, die Angst vor Entdeckung, das klopfende
+Gewissen lie&szlig;en mein Herz immer st&uuml;rmischer schlagen.<a name="Page_79" id="Page_79"></a>
+Gl&uuml;hende Funken tanzten vor meinen Augen; zuweilen
+wars dann wieder, als h&uuml;llten schwarze Schleier sie ein.
+Ungesehen kam ich ins Hotel zur&uuml;ck und hatte noch gerade
+so viel Kraft, mein Paket in die leere Reisetasche zu
+stecken, als der Schwindel mich packte und ich zusammenbrach.
+Auf meinem Bett, umringt von der Mutter, dem
+Arzt, dem Stubenm&auml;dchen, das mich zuerst gefunden
+hatte, fand ich mich wieder. Die Hotelk&uuml;che sei nichts
+f&uuml;r mich &mdash; es fehle mir an Bewegung &mdash; Garmisch
+sei zu hei&szlig; &mdash; die Baronin Artern m&uuml;sse mich ins Rosenhaus
+nehmen, da w&uuml;rde das dumme Herzchen schon zur
+R&auml;son kommen &mdash; h&ouml;rte ich des alten Doktors freundliche
+Stimme sagen. Er fuhr selbst nach Grainau, um
+mit der Tante zu reden. Schon am n&auml;chsten Tag sollte
+ich hin&uuml;ber. Der Gedanke an die versteckten B&uuml;cher
+lie&szlig; zun&auml;chst meine Freude nicht aufkommen. Ich benutzte
+den Augenblick, wo Mama zum Essen hinunter
+ging, um mich hastig anzuziehen, nahm das verh&auml;ngnisvolle
+Paket und trug es mit wankenden Knien in den
+Garten. Dort, unter einem Fliederbusch, vergrub ich
+ein Buch nach dem andern in der Erde; nur eins &mdash; das
+letzte, ein d&uuml;nnes B&auml;ndchen, versenkte ich in meine
+Kleidertasche. Dann erst kam mir die bedenkliche Moralit&auml;t
+des Ereignisses zum Bewu&szlig;tsein: statt der Strafe
+f&uuml;r meine S&uuml;nden erwartete mich das Rosenhaus, meiner
+st&auml;ndigen stillen Sehnsucht Ziel!</p>
+
+<p>Ich verlebte stille, wundervolle Wochen dort. Da ich
+weder Kraft noch Lust hatte, soviel umherzuklettern wie
+im vorigen Jahr und die alte Kathrin mich &uuml;berdies
+mehr denn je in ihren Schutz nahm, fand die Tante
+nicht allzuviel Ursache zum Schelten. Und der Sepp
+<a name="Page_80" id="Page_80"></a>erwies sich als der treuste, r&uuml;cksichtsvollste Kamerad.
+Er strahlte &uuml;ber das ganze braune Gesicht vor Freude
+&uuml;ber meine Ankunft; er lie&szlig; sich willig mit Plaid und
+Mantel bepacken, wenn ich daf&uuml;r nur wieder mit ihm
+gehen durfte; er hob mich, das lange M&auml;del, das ihn
+an Gr&ouml;&szlig;e betr&auml;chtlich &uuml;berragte, &uuml;ber jeden Bach, jede
+sumpfige Stelle. Und gleich am ersten Tage f&uuml;hrte er
+mich mit geheimnisvoll verlegenem L&auml;cheln durch den
+Wald bis zu dem H&uuml;gel, unter dem der Badersee gr&uuml;n
+aufleuchtete und Waxenstein und Zugspitze her&uuml;bergr&uuml;&szlig;ten,
+als w&auml;re es nur ein Vogelflug bis zu ihnen.
+Dort unter der alten Buche hatte er mir eine Bank
+gezimmert und in ungef&uuml;gen Buchstaben ein &raquo;Alix&laquo; in
+die Lehne geschnitten. Dort nahm ich zum erstenmal
+mein gerettetes Buch aus der Tasche: &raquo;L'Arrabiata&laquo;
+war es. Ich wei&szlig; heute nichts mehr von seinem Inhalt;
+ich wei&szlig; nur, da&szlig; das kleine Werk mich in einen
+Traum von Sch&ouml;nheit verstrickte, da&szlig; ein Gluthauch von
+Leidenschaft mir daraus entgegenstr&ouml;mte, die mich mir
+selbst entrissen. Wenn ich morgens erwachte, solange
+noch alles still im Hause war, zog ich immer h&auml;ufiger
+mein Notizbuch unter dem Kopfkissen hervor und schrieb
+in Versen nieder, was mich bewegte, und was ich niemandem
+h&auml;tte sagen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Im Sp&auml;therbst kehrten wir heim. Es war mir eine
+Erleichterung, Gro&szlig;mama nicht mehr vorzufinden, &mdash; ich
+h&auml;tte ihr nicht in die Augen zu sehen vermocht. Wie
+wenig hatte ich mich ihres Vertrauens w&uuml;rdig gezeigt,
+wie schwach, wie schlecht war ich gewesen! Das sollte
+nun anders, ganz anders werden. Durch t&auml;gliche Opfer
+wollte ich gut machen, was ich verbrochen hatte. Mit
+<a name="Page_81" id="Page_81"></a>wahrer Leidenschaft st&uuml;rzte ich mich in die selbstgew&auml;hlte
+Aufgabe und nahm gleich das schwerste auf mich, was
+es f&uuml;r mich geben konnte: Handarbeiten. Der Eifer,
+mit dem eine b&uuml;&szlig;ende Nonne sich gei&szlig;elt, konnte nicht
+hingebungsvoller sein als der, mit dem ich Str&uuml;mpfe
+stopfte! Rascher, als er erlahmte, machte meines Vaters
+Versetzung nach Posen ihm ein Ende. Ich sah dieses
+Verschlagenwerden nach einer Stadt, von der niemand
+etwas Gutes zu sagen wu&szlig;te, als eine gerechte Strafe
+f&uuml;r meine S&uuml;nden an. Keine Lockungen der Eitelkeit
+und des Vergn&uuml;gens w&uuml;rden mich dort dem Ernst des
+Lebens entrei&szlig;en.</p>
+
+<p>An einem der letzten Abende vor der Abreise sa&szlig;en
+wir zwischen hochaufget&uuml;rmten Kisten um den E&szlig;zimmertisch.
+Schwarz starrten die vorhanglosen Fenster zu
+mir her&uuml;ber, vor denen ich stets ein Grauen empfand,
+wie vor offenen Gr&auml;bern. Mama trug ihren unscheinbarsten
+Morgenrock, ich &mdash; im Vollgef&uuml;hl gr&ouml;&szlig;ter Selbstentsagung &mdash; eine
+Sch&uuml;rze. Nur der Wilhelm wahrte
+auch inmitten der Unordnung des Umzugs die Form:
+tadellos, wie stets, war sein Frack, blank geputzt, wie
+immer, der silberne Teller, auf dem er Mama einen
+Brief pr&auml;sentierte. &raquo;Aus dem Kabinett Ihrer Majest&auml;t
+der Kaiserin,&laquo; sagte er mit der Miene ehrfurchtsvoller
+Devotion. Mamas Gesicht erhellte sich, w&auml;hrend sie las.
+&raquo;Das ist wirklich ein Gl&uuml;cksfall&laquo;, &mdash; damit reichte sie
+den Brief meinem Vater. Ihm stieg das Blut zu Kopf
+bei der Lekt&uuml;re; die Adern schwollen ihm auf der Stirn;
+er r&auml;usperte sich immer heftiger. &raquo;Das hast du ja mal
+wieder fein eingef&auml;delt,&laquo; rief er schlie&szlig;lich mit dr&ouml;hnender
+Stimme, warf den Brief auf den Tisch und sprang
+<a name="Page_82" id="Page_82"></a>vom Stuhl auf. Ich erhob mich gleichfalls, um m&ouml;glichst
+rasch zu verschwinden. &raquo;Du bleibst!&laquo; schrie Papa
+w&uuml;tend, mein Handgelenk umklammernd. &raquo;Alix ist
+schlie&szlig;lich die Hauptperson, &mdash; mag sie entscheiden,&laquo;
+f&uuml;gte er hinzu und reichte mir trotz Mamas entr&uuml;stetem
+&raquo;Aber Hans, wie unp&auml;dagogisch!&laquo; den gewichtigen,
+gro&szlig;en Bogen. Er enthielt die kurze Mitteilung, da&szlig;
+&raquo;Ihre Majest&auml;t gn&auml;digst geruht habe, Fr&auml;ulein Alix
+von Kleve eine Freistelle im Augustastift zu bewilligen,&laquo;
+und die Bemerkung von der Kaiserin eigener
+Hand &raquo;sie freue sich, die Enkelin ihrer lieben Jugendfreundin
+Jenny in die ihrem Herzen so nahe stehende
+Anstalt aufnehmen zu k&ouml;nnen.&laquo; Im Fluge erschienen all
+die Bilder des Stifts vor mir, die ich bei meinen Besuchen
+mit Gro&szlig;mama oft genug gesehen und meinem
+Vater oft genug geschildert hatte: Alles war Uniform
+dort, von der Kleidung bis zur Gesinnung, und von den
+weiten Schlafs&auml;len bis zum Garten atmete alles denselben
+Geist: den der Hygiene, der P&uuml;nktlichkeit, der
+Ordnung. Da gab es kein stilles Pl&auml;tzchen und keine
+Zeit zum Tr&auml;umen. Das, was mir von klein auf das
+tiefste Bed&uuml;rfnis gewesen war: allein sein zu k&ouml;nnen
+mit meinen Gedanken, w&auml;re hier Tag und Nacht unbefriedigt
+geblieben. Aber war es nicht vielleicht die
+Hand Gottes, die mir grade diesen Weg der Bu&szlig;e
+wies? W&uuml;rde ich nicht mit einem Schlage meine Eltern
+von dr&uuml;ckenden Sorgen befreien, wenn ich ihn, ohne
+R&uuml;cksicht auf meine W&uuml;nsche, tapfer betrat? Erwartungsvoll
+fragend sah Papa mich an. Und leise,
+mit gesenkten Augen sagte ich: &raquo;Es wird wohl das beste
+f&uuml;r mich sein!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_83" id="Page_83"></a></p>
+<p>&raquo;Ihr habt ja das M&auml;del gut klein gekriegt,&laquo; h&ouml;hnte
+Papa, &raquo;aber ich geb das nie und nimmer zu! So
+stehts noch nicht mit mir, da&szlig; ich meine Tochter das
+Gnadenbrot essen lie&szlig;e! &mdash; Sie bleibt zu Hause, wo sie
+hingeh&ouml;rt, sie wird nicht zum Hofschranzen erzogen &mdash; und
+damit basta!&laquo;</p>
+
+<p>Mama blieb still. Ich wurde ins Bett geschickt,
+h&ouml;rte aber noch lange des Vaters heftige Stimme: mein
+Schicksal, das f&uuml;hlte ich, wurde dort dr&uuml;ben entschieden.</p>
+
+<p>Am Tage darauf mu&szlig;te ich mich auf des Vaters
+Kniee setzen, und mit einer weichen Z&auml;rtlichkeit, die er
+selten zu zeigen pflegte, sprach er auf mich ein:</p>
+
+<p>&raquo;Du bist mein einziges Kind, Alixchen, und meine
+ganze Lebensfreude. Wenn ich dich von mir gebe, so
+hei&szlig;t das, dich verlieren, denn fremde Einfl&uuml;sse werden
+auf dich wirken, die meinem Denken und F&uuml;hlen entgegengesetzt
+sind. Glaube mir: niemand meint es so
+gut mit dir wie ich, wenn ich auch oft grob und heftig
+bin, &mdash; und niemand kann dich lieber haben.&laquo; Mit
+feuchten Augen sah er mich an: &raquo;Willst du deinen
+armen alten Vater wirklich verlassen, mein Kind?&laquo;</p>
+
+<p>Schluchzend schlang ich die Arme um seinen Hals:
+&raquo;Ich bleibe bei dir, Papa.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_84" id="Page_84"></a></p>
+<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Wir sa&szlig;en um den runden Mahagonitisch
+beim Nachmittagskaffee; von der H&auml;ngelampe
+mit dem gr&uuml;nen Schirm fiel ein
+warmes Licht auf den zierlich gedeckten Tisch mit seinen
+Kristalltellern und Sahnenn&auml;pfchen und seinen alten,
+wei&szlig;en, wappengeschm&uuml;ckten Porzellantassen; die dickbauchige
+silberne Kaffeekanne blitzte, und der gro&szlig;e Napfkuchen
+duftete sonnt&auml;glich. Mit lustigem Prasseln &uuml;bert&ouml;nten
+die brennenden Holzscheite im Kamin die gr&auml;mliche
+Herbststimme des Novemberregens drau&szlig;en.</p>
+
+<p>&raquo;Doktor Hugo Meyer,&laquo; meldete der Diener und &ouml;ffnete
+die T&uuml;r vor dem Erwarteten. Mein Vater stand
+auf. &raquo;Dein Erziehungsapparat,&laquo; fl&uuml;sterte er mir l&auml;chelnd
+zu. Ich war wenig neugierig. Sie waren bisher einander
+alle &auml;hnlich gewesen: grauhaarige M&auml;nner mit
+krummen R&uuml;cken und schmutzigen Fingern&auml;geln, &auml;ltliche,
+bebrillte Fr&auml;uleins mit blutleeren Lippen &mdash; wirklich:
+nur gleichm&auml;&szlig;ig funktionierende &raquo;Erziehungsapparate&laquo;,
+aber keine Erzieher.</p>
+
+<p>Pflichtschuldigst erhob ich mich, als Papa mich dem
+neuen Lehrer vorstellte, den er nach vielem Suchen f&uuml;r
+mich gefunden hatte. &raquo;Hier ist unsere Alix, Herr Doktor!
+Ein gro&szlig;es M&auml;del, nicht wahr? Sie werden sich
+<a name="Page_85" id="Page_85"></a>t&uuml;chtig anstrengen m&uuml;ssen, damit der Geist sich streckt,
+wie der K&ouml;rper.&laquo; Ich reichte ihm die Hand; sein
+warmer, kr&auml;ftiger H&auml;ndedruck lie&szlig; mich erstaunt zu ihm
+aufsehen, &mdash; meine fr&uuml;heren Lehrer hatten mir immer
+nur die Fingerspitzen ber&uuml;hrt, was mich von vornherein
+hatte fr&ouml;steln lassen.</p>
+
+<p>Ein gro&szlig;er, breitschultriger Mann stand vor mir;
+ein paar gute Augen von einem so reinen Blau,
+wie es mir noch bei keinem Menschen begegnet
+war, sahen mich forschend an. Und doch konnte ich
+nur schwer ein L&auml;cheln verbergen: wie schlecht pa&szlig;te
+der Mann, dachte ich, in den langen korrekten schwarzen
+Rock. Eines Arminius Lederwams und Panzer h&auml;tte
+ihm besser gestanden, und unter einem B&uuml;ffelhelm w&uuml;rde
+der breite Germanenkopf mit dem gelockten r&ouml;tlichen
+Haar und dem dichten Bart nie den Gedanken an einen
+preu&szlig;ischen Gymnasiallehrer haben aufkommen lassen. Er
+err&ouml;tete unter meinem Blick und setzte sich mit einer
+ungeschickt verlegenen Bewegung, den Zylinder immer
+noch in der Hand, auf den Rand des ihm angebotenen
+Stuhles. Es bedurfte der ganzen gesellschaftlichen Geschicklichkeit
+meiner Mutter und der jovialen Liebensw&uuml;rdigkeit
+meines Vaters, um eine Unterhaltung in
+Flu&szlig; zu bringen. Erst als das Gespr&auml;ch sich ausschlie&szlig;lich
+auf des Besuchers eigentliches Gebiet konzentrierte,
+wurde er lebendig, und je mehr er den
+schwarzen Rock und das Zeremoniell der Salonkonversation
+verga&szlig;, desto st&auml;rker trat seine Natur hervor:
+die eines Menschen voll Jugendkraft und Enthusiasmus.
+Ich empfand sie, wie ich den sch&auml;umenden Gie&szlig;bach und
+die dunkeln, schattenden B&auml;ume in dem k&uuml;hlen, gr&uuml;nen<a name="Page_86" id="Page_86"></a>
+Grund der Maxklamm empfand, wenn ich von den
+sommerschw&uuml;len Wiesen Grainaus dorthin fl&uuml;chtete.
+Ein tiefes Aufatmen ging durch meine Seele. Ich
+&ouml;ffnete den Mund nicht w&auml;hrend des ganzen Besuchs,
+und er richtete nie das Wort an mich. Da&szlig; ich seinen
+H&auml;ndedruck beim Abschied herzhaft erwiderte, war das
+einzige Zeichen meines Willkommens.</p>
+
+<p>Am Abend desselben Sonntags war es; die Stunde,
+in der mein Vater f&uuml;r W&uuml;nsche am zug&auml;nglichsten, f&uuml;r
+Widerspruch am wenigsten empfindlich war. Dann
+pflegte Mama mit gekreuzten Armen tief in der Sofaecke
+seines Zimmers zu sitzen, der Patience zuschauend,
+die er, als bestes Nervenberuhigungsmittel, wie er
+meinte, allabendlich zu legen pflegte. Ich las w&auml;hrenddessen
+oder tr&auml;umte vor mich hin.</p>
+
+<p>&raquo;Wir h&auml;tten Alix doch in die Schule schicken sollen,&laquo;
+begann Mama.</p>
+
+<p>&raquo;Damit sie mit f&uuml;nfzig Cohns und Goldsteins in einer
+Klasse sitzt! Na, Gottlob, ist das Thema seit heute erledigt,&laquo;
+antwortete er.</p>
+
+<p>&raquo;Und da&szlig; er ihr keine Religionsstunde geben will, ist
+doch auch bedenklich,&laquo; fuhr sie fort.</p>
+
+<p>&raquo;Das ists grade, was mir pa&szlig;t,&laquo; sagte er mit etwas
+erhobener Stimme, &raquo;den Katechismus kann sie am
+Schn&uuml;rchen, die Kirchenlieder auch, alles &uuml;brige l&auml;&szlig;t
+sich nicht lehren und nicht lernen, wenn mans nicht erf&auml;hrt.
+Und zu dieser Religionserziehung sind die Herren
+Eltern da.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich freue mich auf die Stunden,&laquo; unterbrach ich
+das Gespr&auml;ch, in der Angst, es k&ouml;nne sich zu einer
+Szene steigern.</p>
+<p><a name="Page_87" id="Page_87"></a></p>
+<p>&raquo;Jedenfalls mu&szlig; ich immer dabei sein,&laquo; seufzte darauf
+Mama.</p>
+
+<p>Ich erschrak. Vor niemandem vermochte ich so wenig
+aus mir herauszugehen wie vor ihr. L&auml;hmend wirkte
+ihre K&uuml;hle auf mich. Wie eine stumme Geige war ich
+in ihrer N&auml;he: gehorsam geben die Saiten dem Spiel
+der Finger nach, aber mit keinem Ton antworten sie
+ihnen.</p>
+
+<p>&raquo;Warum denn, Mama?&laquo; frug ich mit zuckenden Lippen,
+die Augen bittend auf sie gerichtet, &raquo;ich werde sicher
+gut aufpassen und immer flei&szlig;ig sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du vielleicht, ich tus aus Vergn&uuml;gen?!&laquo;
+Ihre Stimme wurde sch&auml;rfer: &raquo;Es schickt sich einfach
+nicht, euch allein zu lassen!&laquo;</p>
+
+<p>Eine unklare Empfindung, als habe mich etwas
+Unreinliches ber&uuml;hrt, trieb mir die Schamr&ouml;te in die
+Wangen.</p>
+
+<p>Wir verstummten alle. Tiefer senkte ich den Kopf
+auf mein Buch, aber ich sah die Worte nicht; ich h&ouml;rte
+auf den Regen, der eint&ouml;nig gegen die Fensterscheiben
+schlug. Das Kaminfeuer nebenan war erloschen.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Nachmittag begann der Unterricht. Mama
+sa&szlig; richtig mit einer Handarbeit dabei. Ihre Gegenwart
+schien auch der Lehrer peinlich zu empfinden, er kam
+nicht in die Stimmung, die mich an ihm mit so viel
+Hoffnung erf&uuml;llt hatte, und wir waren schlie&szlig;lich sichtlich
+entt&auml;uscht voneinander. Wochenlang blieb alles beim
+alten, und ich sagte mir mit altkluger Bitterkeit, da&szlig; ich
+mich eben wieder einmal umsonst gefreut h&auml;tte. Aber
+mit dem nahenden Winter nahm die Gef&auml;lligkeit zu, und
+schlie&szlig;lich war sie derma&szlig;en ausgedehnt, da&szlig; ich meine<a name="Page_88" id="Page_88"></a>
+Eltern fast nur zu Tisch noch sah. Besuche, Diners,
+B&auml;lle, Wohlt&auml;tigkeitsvorstellungen folgten einander auf
+dem Fu&szlig;. Meine Mutter hatte nur noch Zeit, die pflichtgem&auml;&szlig;e
+Mittagspromenade mit mir zu machen und
+meinen Lehrer zu begr&uuml;&szlig;en, wenn er kam. T&auml;glich
+wiederholte sich dabei dieselbe Szene: mit linkischer Verbeugung
+und verlegenem H&uuml;steln, das sein gewaltiger
+Brustkasten L&uuml;gen strafte, trat er ein. &raquo;Sind Sie zufrieden
+mit Alix?&laquo; frug Mama. &raquo;O sehr,&laquo; antwortete
+er. Ihm freundlich zunickend, mir rasch die Stirne k&uuml;ssend,
+verabschiedete sie sich, und mit einem Gef&uuml;hl der Erleichterung
+nahmen wir einander gegen&uuml;ber Platz. Der
+Diener brachte den Kaffee, der, wie Papa gemeint hatte, eine
+Unterhaltung und damit ein n&auml;heres Bekanntwerden von
+Lehrer und Sch&uuml;lerin herbeif&uuml;hren sollte. Aber es kam
+nie dazu. <em class="antiqua">Dr.</em> Meyer schluckte hastig den gebotnen
+braunen Trank herunter und zerbr&ouml;ckelte schweigsam den
+Kuchen zwischen den Fingern, w&auml;hrend er meine Hefte
+durchsah. Erst durch den Lehrstoff, den er vortrug, taute
+er auf, und je mehr die Zeit vorr&uuml;ckte, desto heller leuchteten
+seine Augen, desto reicher str&ouml;mten ihm alle Mittel
+eindrucksvoller Rede zu. War mein ganzer bisheriger
+Unterricht nichts als eine Anh&auml;ufung von Regeln, Versen
+Namen, Zahlen und Daten gewesen, so leblos und
+reizlos f&uuml;r mich, wie das Spielzeug, mit dem Onkels
+und Tanten meine Schubl&auml;den f&uuml;llten, so str&ouml;mte jetzt
+mit ihm das Leben selbst mir zu, dessen F&uuml;lle ich in
+atemloser Aufmerksamkeit, in herzklopfender Erregung zu
+fassen und zu halten versuchte. Die toten Helden der
+Geschichte wurden lebendig vor mir; alle, die um der
+Freiheit und der Gerechtigkeit willen geblutet hatten, &mdash; von<a name="Page_89" id="Page_89"></a>
+Leonidas und Tiberius Gracchus bis zu den Amerikanern,
+den Griechen, den Polen der Neuzeit &mdash;, zeigten
+mir ihre Narben und Wunden, und meine Begeisterung
+entflammte sich an ihren Taten und Leiden. Die
+Dichter sprachen zu mir, und die Lehrer und die Propheten
+der Menschheit brachten dem kleinen M&auml;dchen
+die unverg&auml;nglichsten ihrer Sch&auml;tze. Wenn sie auch
+ihren Wert noch nicht zu w&uuml;rdigen verstand, so erkannte
+sie doch mit inbr&uuml;nstigem Schauern ihren Reichtum, und
+die Welt, bisher f&uuml;r sie nur erf&uuml;llt mit den Nebelgestalten
+ihrer eignen Sch&ouml;pfung, sah sie nun aus tausend lebendigen
+Augen an.</p>
+
+<p>M&uuml;ndlich und schriftlich hatte ich Gelesenes und Geh&ouml;rtes
+nicht nur automatisch wiederzugeben, sondern
+meine eignen Eindr&uuml;cke und Gedanken daran zu kn&uuml;pfen.
+Stets verteidigte ich leidenschaftlich meine Helden, und
+um ihre Widersacher zu malen, war mir das tiefste
+Schwarz nicht schwarz genug. Suchte der Lehrer meine
+Engel in Menschen zu verwandeln, so b&auml;umte sich meine
+Empfindung feindselig gegen ihn auf; und geschah es,
+da&szlig; mein Verstand ihm recht geben mu&szlig;te, so trauerte
+ich verzweifelt vor dem gest&uuml;rzten Heros, als w&auml;re mir
+ein Freund gestorben.</p>
+
+<p>Ein hoher h&ouml;lzerner Fu&szlig;schemel war meine Rednertrib&uuml;ne.
+Ich konnte nicht zusammenh&auml;ngend sprechen,
+wenn ich am Tische sa&szlig; oder stand; ich bedurfte eines
+merkbaren r&auml;umlichen Abstands zwischen mir und dem
+Zuh&ouml;rer und war daher instinktiv auf diesen Ausweg
+verfallen. Nur in Mamas Gegenwart half auch der
+Fu&szlig;schemel nichts, seitdem sie einmal zugeh&ouml;rt und &uuml;ber
+mein Pathos Tr&auml;nen gelacht hatte. Mein Lehrer ver<a name="Page_90" id="Page_90"></a>stand
+mich; kam sie zuf&auml;llig herein, w&auml;hrend ich sprach,
+so wechselte er stillschweigend den Gegenstand des Unterrichts.
+Aber nicht nur der Stoff und die Form, auch
+der Tenor des Inhalts wurde ein andrer, wenn wir
+nicht allein blieben.</p>
+
+<p>Meine Mutter hatte einmal ausnahmsweise der Geschichtsstunde
+beigewohnt, als <em class="antiqua">Dr.</em> Meyer Friedrichs des
+Gro&szlig;en Polenpolitik einer abf&auml;lligen Kritik unterzog. Er
+war Hannoveraner und hatte sich als solcher trotz aller
+Begeisterung f&uuml;r das Deutsche Reich den Hohenzollern
+gegen&uuml;ber einen scharfen kritischen Blick bewahrt. Seine
+Auseinandersetzung unterbrach meine Mutter pl&ouml;tzlich mit
+einer Leidenschaftlichkeit, die bei der sonst so vornehm
+k&uuml;hlen Frau wie etwas v&ouml;llig neues erschien: &raquo;Herr
+Doktor,&laquo; rief sie, &raquo;vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich
+haben. Wir sind Preu&szlig;en!&laquo; &mdash; &raquo;Verzeihen Sie, gn&auml;dige
+Frau,&laquo; entgegnete er, w&auml;hrend das Blut ihm in Wangen
+und Schl&auml;fen scho&szlig;, &raquo;die objektive Geschichtsforschung ...&laquo; &mdash; &raquo;Was
+geht mich die objektive Geschichtsforschung an,&laquo;
+warf sie heftig dazwischen, &raquo;wir haben unser angestammtes
+F&uuml;rstenhaus zu lieben und unsre Kinder im Respekt vor
+ihm zu erziehen. Lehren Sie Alix einfache Tatsachen,
+keine zersetzende Kritik. Sie ist sowieso schon superklug
+genug.&laquo; Ich erwartete eine energische Antwort. Doch
+der gro&szlig;e, starke Mann schien in sich zusammen zu fallen,
+er senkte die Augen, und sein Gesicht f&auml;rbte sich noch
+dunkler. Als wollte er einen b&ouml;sen Gedanken vertreiben,
+fuhr er sich mit der Hand, deren Wei&szlig;e zu ihrer breiten
+Derbheit einen seltsamen Kontrast bildete, ein paarmal
+&uuml;ber die Stirn, sah mechanisch nach der Uhr, atmete
+tief auf, da die abgelaufene Zeit seinen Aufbruch ge<a name="Page_91" id="Page_91"></a>stattete,
+und verabschiedete sich noch unbeholfener als
+gew&ouml;hnlich. Mir gab es einen Stich ins Herz: es war
+zwar nicht ein Heros, dessen Sturz mich verletzte, es war
+nur ein erster sch&uuml;chterner Trieb beginnenden Vertrauens,
+der mir aus dem Herzen gerissen wurde. Ein Mann,
+der sich so herunterputzen lie&szlig;! Der seine &Uuml;berzeugung
+nicht zu vertreten vermochte! Da&szlig; Mutter und Schwester
+daheim mit jedem Groschen rechnen mu&szlig;ten, den er verdiente, &mdash; das
+freilich wu&szlig;te ich damals nicht.</p>
+
+<p>F&uuml;r mich, f&uuml;r die ein Erlebnis, das andre kaum empfanden,
+so oft zum ersch&uuml;tternden Ereignis wurde, blieb
+diese Stunde bedeutungsvoll. Noch immer sah ich Tag
+f&uuml;r Tag meinem Lehrer voll Erwartung entgegen, aber
+er war doch nur der T&uuml;rh&uuml;ter am Museum der Menschheitsgeschichte,
+nicht der F&uuml;hrer, dessen Leitung sich der Laie
+anvertraut: er &ouml;ffnete mir einen Saal nach dem andern,
+aber ich ging schlie&szlig;lich doch allein. Wenn es auch sein
+h&ouml;chstes Verdienst war, da&szlig; ich allein gehen lernte, &mdash; nicht
+auf den Stelzen fremder Anschauungen, die unbrauchbar
+werden, sobald es gilt, &uuml;ber Felsen zu
+klettern &mdash;, so ist doch die Seele des Kindes zu weich,
+zu schutz- und anlehnungsbed&uuml;rftig, als da&szlig; sie auf einsamer
+Wanderung durch das fremde Leben nicht Wunden
+&uuml;ber Wunden davontragen m&uuml;&szlig;te und ihr beim Sammeln
+von Blumen und Beeren nicht allzuviel giftige in die
+H&auml;nde fielen.</p>
+
+<p>Ich war ein frommes Kind gewesen &mdash; mit jener
+Fr&ouml;mmigkeit, die an den lieben Gott und an die Engel
+und an den Herrn Jesus ebenso innig glaubt, wie an
+die sieben Zwerge, an die Knusperhexe und an die kleine
+Seejungfrau; mit jenem Glauben, der gar kein Glauben
+<a name="Page_92" id="Page_92"></a>ist, weil noch kein Schatten eines Zweifels ihn erprobte.</p>
+
+<p>Bei mir wie bei jedem Kinde wiederholte sich, was
+die Kindheit der V&ouml;lker kennzeichnet: ihre Phantasie ist
+das Mittel, durch das sie sich mit dem ungeheuern Geheimnis
+des Lebens und des Schicksals auseinandersetzen.
+Sie &uuml;berwinden die Furcht vor dem Unbegreiflichen
+durch den Glauben an die waltenden Wesen &uuml;ber ihnen.
+Schon als kleines Kind fl&uuml;chtete ich, wenn irgend ein
+Ereignis mich aus dem Gleichgewicht brachte, in die
+Stille, um inbr&uuml;nstig den Vater im Himmel um Hilfe
+zu bitten. Auf meine religi&ouml;sen Empfindungen blieben
+die Gebete, Spr&uuml;che und Gesangbuchverse, die ich in
+der Schule gelernt hatte, und der Luthersche Katechismus
+vor allem, der, w&auml;re er chinesisch geschrieben, den Kindern
+nicht weniger verst&auml;ndlich sein w&uuml;rde, so einflu&szlig;los
+wie die n&uuml;chterne Ode der protestantischen Kirche. Die
+Heiligenbilder, das geweihte Wasser, die durch rotes
+Glas mystisch schimmernde ewige Lampe unter dem geheimnisvollen
+Bilde der schwarzen Madonna von Ezenstochau,
+die die W&auml;nde in der Kammer unsrer polnischen
+K&ouml;chin schm&uuml;ckten, zogen mich weit mehr an.</p>
+
+<p>Das Licht des grellen Tages fiel nun in diese unber&uuml;hrte
+traumdunkle M&auml;rchenwelt meiner Religion.</p>
+
+<p>In der Geschichtsstunde, zu der in sp&auml;tern Jahren
+ein besondrer religionsgeschichtlicher Unterricht hinzukam,
+lernte ich, wie nicht nur innerhalb des Christentums
+eine Kirche, eine Sekte die andre auf das heftigste bek&auml;mpfte,
+wie jede im Besitz des alleinseligmachenden
+Glaubens zu sein behauptete, und f&uuml;r jede M&auml;rtyrer geblutet
+hatten, ich sah auch, da&szlig; Juden, Muhamedaner
+<a name="Page_93" id="Page_93"></a>und Buddhisten nicht weniger fromm waren als die
+Nachfolger Christi und mit derselben Hingabe wie sie
+f&uuml;r ihren Glauben lebten und starben. Die Fabel von
+den drei Ringen kannte ich noch nicht, aber ich empfand
+schon die Schwere ihrer Fragestellung. Mein
+Lehrer, der dem Mi&szlig;trauen meiner Mutter, als er sich
+weigerte, mir Religionsstunden zu geben, dadurch begegnet
+war, da&szlig; er versprochen hatte, keinerlei Glaubenszweifel
+in mir zu erwecken, beschr&auml;nkte sich im wesentlichen
+auf die Darstellung historischer Ereignisse und wich
+meinen bohrenden Fragen so lange aus, bis ich es
+aufgab, sie zu stellen. In meinem Innern aber wurden
+sie zu Quadersteinen eines babylonischen Turms, von dem
+auch ich &uuml;ber die Wolken zu sehen hoffte. Da ich noch
+zu schwach und ungeschickt war, sie ohne Hilfe fest und
+sicher aufeinander zu schichten, brach mein Bau fr&uuml;hzeitig
+zusammen. Nicht zu neuen Wundern hatte er mich
+emporgef&uuml;hrt, doch meinen Kinderglauben begrub er
+unter seinen Tr&uuml;mmern.</p>
+
+<p>Im mystischen Dunkel der Tempel und Kirchen waltet
+die Phantasie ungest&ouml;rt, die gro&szlig;e Bannertr&auml;gerin allen
+Glaubens, und fl&ouml;&szlig;t den Marmorsteinen der G&ouml;tter und
+den Bildern der Heiligen rotes, warmes Leben ein.
+Dringt aber Licht und L&auml;rm durch zerrissene Vorh&auml;nge
+und zerbrochene Scheiben, so wandeln sie sich wieder zu
+toten Gebilden von Menschenhand. Die Phantasie aber
+baut in stillen Winkeln neue Tempel f&uuml;r die glaubensdurstigen
+Kinderseelen, die Denker und Dichter noch
+nicht sind, oder niemals werden k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Einmal, nach der R&uuml;ckkehr von einer l&auml;ngeren Sommerreise,
+f&uuml;hrte mich mein Vater mit besondrer Feierlichkeit
+<a name="Page_94" id="Page_94"></a>in unsre Wohnung. Hatte ich bisher ein Zimmer neben
+der Schlafstube der Eltern bewohnt, in dem sich tags
+&uuml;ber meist auch die Jungfer aufzuhalten pflegte, so
+&ouml;ffnete er mir jetzt die T&uuml;r zu einem bis dahin unbenutzten
+Raum. &raquo;Das ist dein Reich, mein Kind,&laquo;
+sagte er. Ich konnte das Gl&uuml;ck kaum fassen: ein eignes
+Zimmer! Dieser Traum jedes zu selbst&auml;ndigem Leben
+reifenden Menschenkindes sollte mir so wundersam in
+Erf&uuml;llung gehen! Keine rasselnde N&auml;hmaschine durfte
+mich hier mehr st&ouml;ren, niemand konnte mir den Platz
+am eignen Schreibtisch streitig machen! Nur das alte
+braune Sofa erinnerte trotz seines neuen blau-wei&szlig;en
+Kleides noch an die Kinderstube. Die erste Nacht unter
+dem schneeigen Betthimmel und der roten Ampel fand
+ich keinen Schlaf: mein Zimmer, und doch &mdash; das allereigenste
+fehlte ihm noch, das geheimnisvolle, das niemand
+sehen durfte als ich allein. Ich richtete mich
+auf, z&uuml;ndete die Ampel an und schl&uuml;pfte aus dem Bett.
+Bunte Seidenreste und einen gro&szlig;en gelben Schal holte
+ich aus meinem W&auml;scheschr&auml;nkchen und kauerte damit
+am Fenster nieder, wo zwischen dem Sofa und der
+Wand eine Ecke leer war. Mit Nadeln und Rei&szlig;n&auml;geln
+spannte ich den gelben Schal wie ein Zeltdach
+zwischen der hohen Seitenlehne des Sofas und der
+Fensterwand, f&uuml;tterte die W&auml;nde innen mit rotem Atlas
+und breitete himmelblauen Sammet als Teppich auf
+dem Boden aus. Einen wei&szlig;en, mit Blumen bemalten
+Kasten stellte ich wie einen Altar in die Mitte, bunte
+Kerzen von meinem Geburtstagskuchen befestigte ich
+ringsum, und eine kleine Schale von Malachit, mit
+Rosenbl&auml;ttern gef&uuml;llt, legte ich als Opferstein davor.<a name="Page_95" id="Page_95"></a>
+Nur der Gott fehlte noch, dem der Weihrauch duften
+sollte. Leise, mit angehaltnem Atem, schlich ich zum
+E&szlig;zimmer hin&uuml;ber, holte vom Ofensims die kleine
+Statuette des Apoll vom Belvedere und erhob ihn zum
+Heiligen meines farbengl&uuml;henden Tempels. Tief mu&szlig;t
+ich mich neigen, um hineinzusehen; aber da&szlig; ich fast die
+Erde mit den Lippen ber&uuml;hrte, entsprach nur meiner
+feierlichen Andacht. &raquo;Baldur&laquo; nannte ich den Apollo,
+denn die G&ouml;tterwelt der Germanen war mir vor allem
+vertraut geworden, und mit einer ersten instinktiven
+Auflehnung gegen die Schmerzensgestalt des Gekreuzigten
+betete ich den bl&uuml;henden Gott des steigenden Lichtes an.</p>
+
+<p>Kindisch mags denen erscheinen, die nichts wissen von
+den Tiefen der Kindesseele, ich aber wei&szlig;, da&szlig; keines
+gl&auml;ubigen Christen Fr&ouml;mmigkeit inniger sein konnte als
+die, die mich erf&uuml;llte, wenn ich vor dem selbstgeschaffnen
+Heiligtum in die Knie sank.</p>
+
+<p>Meiner Mutter erz&auml;hlte ich herzklopfend, da&szlig; ich den
+Apollo &raquo;zerbrochen&laquo; h&auml;tte, und bat sie, wie alle Hausbewohner,
+die mit einem dunkeln Tuch sorgf&auml;ltig verh&uuml;llte
+Ecke meines Zimmers nicht zu untersuchen, der
+&raquo;Weihnachts&uuml;berraschungen&laquo; wegen, die ich dort verwahrt
+h&auml;tte. Als aber Weihnachten vor&uuml;ber war,
+machte ich keinerlei Anstalten, meinen geheimnisvollen
+Bau dem Besen und dem Scheuertuch zu opfern. Heimlich
+kaufte ich mir Blumen, um ihn stets frisch zu schm&uuml;cken,
+und eine kleine ewige Lampe, an deren Brennen und
+Erl&ouml;schen sich allm&auml;hlich allerlei abergl&auml;ubische Vorstellungen
+kn&uuml;pften, und R&auml;ucherkerzchen, die allabendlich
+den Gott auf dem Altar in bl&auml;uliche Wolken h&uuml;llten.
+Schon oft hatte Mama mich gemahnt, das &raquo;unn&uuml;tze<a name="Page_96" id="Page_96"></a>
+Zeug&laquo; fort zu r&auml;umen; schlie&szlig;lich, als ich eines Morgens
+von der Klavierstunde kam, trat sie mir mit hochrotem
+Gesicht entgegen. &raquo;Wirst du dir denn nie das
+L&uuml;gen abgew&ouml;hnen?!&laquo; rief sie und zog mich in mein
+Zimmer. Mein Tempel war verschwunden, in wirrem
+Durcheinander lagen Stoffe und Blumen, Lichter und
+R&auml;ucherwerk auf dem Tisch, erloschen stand das L&auml;mpchen
+neben Baldur-Apoll. &raquo;Wei&szlig;t du, wie man das nennt,
+wenn man sich fremdes Eigentum aneignet?!&laquo; Vor
+diesen Worten wich die Erstarrung des ersten Entsetzens
+von mir. Aufschreiend warf ich mich vor meinem Bett
+in die Kniee; meine Glieder flogen, und mein Herz
+klopfte, als wollte es mir die Brust zersprengen. Meine
+Mutter hielt diesen Ausbruch der Verzweiflung offenbar
+f&uuml;r Reue. &raquo;Na, beruhige dich, Alixchen,&laquo; sagte sie, mir
+die Hand auf den Kopf legend, eine Ber&uuml;hrung, die
+mich zwang, ihn nur noch tiefer in die Kissen zu vergraben,
+&raquo;ich will die ganze Geschichte noch einmal als
+blo&szlig;e Kinderei betrachten. Bel&uuml;gst du mich aber noch
+ein einziges Mal, so mu&szlig; ich andre Saiten aufziehen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich baute von nun an keine Tempel mehr. Mein
+&auml;u&szlig;eres Leben war das einer korrekten Sch&uuml;lerin und
+wohlerzogenen Tochter. In der schw&uuml;len Treibhausluft
+meines Innern aber wucherten die Wunderblumen
+meiner Tr&auml;ume, und berauschend umwehte mich ihr Duft,
+wenn ich allein war und zu mir selber kam. Oft hielt
+ich mich krampfhaft wach, bis alle schliefen, um dann
+bei der tr&uuml;be flackernden Kerze noch lange am Schreibtisch
+zu sitzen, wo ich mit gl&uuml;hendem Kopf und frostbebendem
+K&ouml;rper Verse zu Papier brachte, die nach
+Freiheit schrieen und nach Liebe.</p>
+
+<p><a name="Page_97" id="Page_97"></a>Nur der Unterricht meines Lehrers wirkte noch beruhigend
+auf die St&uuml;rme meines Innern und lenkte
+mein Interesse in andere Bahnen. Die Literaturgeschichte
+besonders fesselte mich mehr und mehr. Sie
+bestand nicht nur aus den Namen der Dichter, den
+Titeln ihrer Werke und fix und fertigen Urteilen &uuml;ber
+sie, mit denen ausger&uuml;stet unsere Jugend Bildung zu
+heucheln pflegt, sie vermittelte mir vielmehr, soweit es
+meiner geistigen Entwicklung entsprach, die Kenntnis
+der Werke selbst. In kleinen gelben Heftchen brachte
+sie mir mein Lehrer, der nicht die Mittel hatte, kostbarere
+Ausgaben anzuschaffen. Die nordische und die &auml;ltere
+deutsche Literatur, die griechischen und r&ouml;mischen Klassiker
+lernte ich auf diese Weise kennen; mit der Lekt&uuml;re
+wuchs mein Verlangen nach immer neuen B&uuml;chern, und
+statt des Weihrauchs und der Blumen f&uuml;r meinen
+Tempel kaufte ich mir ein Reklamheft nach dem andern.
+Nachdem ich erst den Katalog in H&auml;nden hatte, lie&szlig; es
+mir keine Ruhe mehr: ich mu&szlig;te lesen, lesen &mdash; alles
+lesen. Was mir der Lehrer empfahl, gen&uuml;gte meinen
+von Neugierde und Wissensdurst aufgepeitschten W&uuml;nschen
+l&auml;ngst nicht mehr, noch weniger, was mir die
+Eltern gaben und erlaubten. In acht Tagen pflegte
+ich meine Weihnachts- und Geburtstagsb&uuml;cher auszulesen,
+und wenn ich mich auch immer aufs neue in
+Grubes &raquo;Charakterbilder&laquo; &mdash; meine Fundgrube, wie
+Papa sagte &mdash; und in Gustav Freytags &raquo;Bilder aus
+der deutschen Vergangenheit&laquo; vertiefte, so f&uuml;llte das
+alles die freie Zeit doch nicht aus.</p>
+
+<p>Andere Kinder meines Alters spielten; meine Puppen
+und mein Kochherd wurden nur dann der Vergessenheit
+<a name="Page_98" id="Page_98"></a>entrissen, wenn ich Besuch hatte, was ich darum zumeist
+nur als unangenehme St&ouml;rung empfand. Was
+hatte ich gemeinsames mit den &raquo;dummen Schulg&ouml;hren&laquo;?
+Ihren Schulklatsch verstand ich nicht, und lie&szlig; ich mich
+hinrei&szlig;en, ihnen meine Interessen zu verraten, so lachten
+sie mich aus. Mama hielt es f&uuml;r ihre Pflicht, mir
+Verkehr mit Altersgenossen zu verschaffen, auch ich empfand
+ihn nur als eine Pflicht, die nach meiner Erfahrung
+stets das Gegenteil des Vergn&uuml;gens war. Mit
+in die H&ouml;he gezogenen Beinen in der Sofaecke kauern,
+vertieft in ein Buch, vor dessen Zauber die ganze Welt
+um mich versank, &mdash; diesem Genu&szlig; glich kein andrer!
+Nur die st&auml;ndige Angst, entdeckt zu werden, beeintr&auml;chtigte
+ihn. Denn, was ich las, &mdash; dessen war ich sicher &mdash;,
+geh&ouml;rte nicht zu der erlaubten &raquo;M&auml;dchenlekt&uuml;re&laquo;, und
+doch f&uuml;hlte ich instinktiv, da&szlig; es tausendmal wertvoller
+war als die zuckers&uuml;&szlig;en Backfischgeschichten von Clementine
+Helm, f&uuml;r die sich meine Freundinnen damals begeisterten.</p>
+
+<p>In dem neuen Bezug meines alten Sofas hatte ich
+eine Naht aufgetrennt; h&ouml;rte ich Schritte drau&szlig;en, so
+verschwand mein gelbes Heft in dies sichere Versteck,
+und ich beugte mich rasch andachtsvoll &uuml;ber Webers
+Weltgeschichte, die auf dem Tische bereit lag. Nach
+und nach wurde das gute verschwiegene M&ouml;bel meine
+Schatzkammer. Da lagen sie alle friedlich beisammen,
+deren Gestalten in meinem Hirn und Herzen in tollen
+T&auml;nzen durcheinanderwirbelten: Die Arnim und Brentano,
+die Hauff und Zschokke, die Scott und Bulwer,
+die Gogol und Turgenjeff. Sie lie&szlig;en mich nachts oft
+nicht zur Ruhe kommen, und wenn ich schlief, verfolgten
+sie mich bis in meine Tr&auml;ume.</p>
+
+<p><a name="Page_99" id="Page_99"></a>Eines Winterabends war mir der Lesestoff ausgegangen.
+Meine Eltern waren nicht zu Haus; ich
+konnte unbemerkt zum n&auml;chsten Buchh&auml;ndler laufen, um
+zu holen, wonach ich Verlangen trug. Von E.&nbsp;T.&nbsp;A.
+Hoffmann hatte ich in der Literaturgeschichte gelesen &mdash; &raquo;das
+ist noch nichts f&uuml;r dich&laquo; war mir geantwortet
+worden, als ich, in der Meinung, es handle sich um
+Kinderm&auml;rchen, den Lehrer darum gebeten hatte. Und
+dies &raquo;das ist nichts f&uuml;r dich&laquo; war mir l&auml;ngst zum
+Empfehlungsbrief der B&uuml;cher geworden. Mit &raquo;Klein-Zaches&laquo;
+und dem &raquo;Goldnen Topf&laquo; in der Tasche kam
+ich zur&uuml;ck. Dann fing ich an zu lesen. Mein Abendbrot,
+das man mir brachte, blieb unber&uuml;hrt, die Mahnung
+der Jungfer, schlafen zu gehen, unbeachtet. &mdash; Sa&szlig;
+ich nicht selbst unter dem Holunderbusch und sah
+die gr&uuml;ne Schlange, und h&ouml;rte die klingenden Gl&ouml;cklein?
+Grinste mir nicht von der T&uuml;r her das Bronzegesicht
+der zauberhaften &Auml;pfelfrau entgegen? &mdash; Da
+&ouml;ffnete sich die T&uuml;r. &raquo;Wie, du bist noch nicht im
+Bett?!&laquo; t&ouml;nte mir die Stimme meines Vaters entgegen.
+&raquo;Ich mu&szlig; wohl eingeschlafen sein,&laquo; stotterte ich und versteckte
+hastig mein Buch. &raquo;So zieh dich rasch aus &mdash; ich
+werde Mama nichts sagen &mdash; gute Nacht.&laquo; Damit
+schlo&szlig; er die T&uuml;re wieder. Ich l&ouml;schte die Lampe und
+kroch mit den Kleidern ins Bett; als Mama leise eintrat,
+glaubte sie mich schlafend. Und dann las ich
+weiter: von Klein-Zaches mit den drei goldnen Haaren,
+von der Nachtigall und der Purpurrose, von der Lotosblume
+und dem Goldk&auml;fer. Es lie&szlig; mich nicht los, bis
+ich zu Ende war, und ich lebte von da an in der Welt
+Hoffmanns, so da&szlig; mir jede Ber&uuml;hrung der Wirklichkeit
+<a name="Page_100" id="Page_100"></a>weh tat, wie ein Nadelstich. Schwerer als je wurde
+mir jetzt der Unterricht, der mir schon immer qualvoll
+gewesen war: die Musikstunde. Ich liebte die Musik;
+durch Hoffmann erschien sie mir wie ein Himmelszauber; &mdash; schon
+als kleines Kind konnte ich stundenlang
+still zuh&ouml;ren, wenn jemand sang oder spielte, &mdash; meine
+eigne Klimperei, bei der ich nie &uuml;ber den Kampf
+mit der Technik hinauskam und vor Noten und Vorsatzzeichen
+von der Musik nichts h&ouml;rte, wurde mir immer
+unertr&auml;glicher. Vergebens bat ich Mama, mich meiner
+offenbaren Talentlosigkeit wegen davon zu befreien &mdash; Klavierspielen
+geh&ouml;rte zur guten Erziehung, also bliebs
+dabei. Ich suchte mir selbst einen Ausweg: statt zur
+Lehrerin, ging ich spazieren, oder ich entschuldigte mich
+mit &raquo;Kopfweh&laquo;. Um niemanden von den Meinen zu
+begegnen, mu&szlig;t ich dann freilich abgelegene Wege suchen.</p>
+
+<p>In einem regenreichen Fr&uuml;hjahr des Jahres 1877
+war der polnische Stadtteil Posens, wo die &Auml;rmsten
+wohnten &mdash; die Walischei &mdash; durch die aus den Ufern
+tretende Warthe vollkommen unter Wasser gesetzt worden.
+Krankheit und Not nahmen &uuml;berhand, so da&szlig;
+auch in den Gesellschaftskreisen meiner Eltern auf dem
+&uuml;blichen Wege der Wohlt&auml;tigkeitsvorstellungen Hilfe geschaffen
+werden sollte. Ich wirkte nicht mit, wie fr&uuml;her
+in Karlsruhe, &mdash; mit dem langen, d&uuml;nnen, blassen
+M&auml;dchen war wohl kein Staat zu machen &mdash;, aber den
+Proben und Auff&uuml;hrungen wohnte ich bei, weil meine
+Mutter zu den Hauptdarstellern geh&ouml;rte. Da erfuhr
+ich denn mancherlei von den Ungl&uuml;cklichen, denen der
+Ertrag dieser Eitelkeitsparaden zugute kommen sollte.
+Armut &mdash; was wu&szlig;te ich von ihr? Sie hatte mich
+<a name="Page_101" id="Page_101"></a>bis zu Tr&auml;nen ersch&uuml;ttert, als sie mir in den hungernden
+Sklaven Roms zur Zeit Neros, in den um Brot
+schreienden Weibern von Paris zu Beginn der gro&szlig;en
+Revolution, in den Jammergestalten der schlesischen
+Weber in den Elendsjahren Preu&szlig;ens entgegengetreten
+war. Aber jetzt, in der Herrlichkeit des Deutschen
+Reichs, unter dem Zepter des guten alten Kaisers &mdash; jetzt
+gab es doch keine Armut mehr! Da&szlig; uns gegen&uuml;ber
+in der polnischen Kneipe Tag f&uuml;r Tag Betrunkene
+vor der T&uuml;re sa&szlig;en, da&szlig; selbst Weiber im Rausch in
+den Rinnstein fielen, erregte nur meinen Ekel, nicht
+mein Mitleid. Ihr Laster wars ja und nicht ihr Elend,
+dem sie verfallen waren. Ich beschlo&szlig;, die Armut, die
+ich nicht kannte, zu suchen; und die Angst, die mich
+angesichts des Abenteuers zittern lie&szlig;, erh&ouml;hte noch die
+Romantik meines Unternehmens. All die phantastischen
+Irrwege der Helden Hoffmannscher Erz&auml;hlungen standen
+mir lockend vor Augen.</p>
+
+<p>Es war ein na&szlig;kalter M&auml;rzmorgen, als ich, mit der
+Musikmappe am Arm, &uuml;ber den Wilhelmsplatz zum
+Markt hinunterging. Ein bekanntes Gesicht trieb mich
+in den dunkeln Dom, wo mir eine schwere Wolke von
+verbrauchter Winterluft, von Menschendunst und Weihrauch
+entgegenschlug. Die Tapsen vieler schmutziger
+F&uuml;&szlig;e hatten den Boden mit einer schwarzen klebrigen
+Schicht &uuml;berzogen. Von ein paar dicken Altarkerzen
+flackerte das Licht bl&auml;ulich in den Raum, und die Z&uuml;ge
+des Priesters, der mit heiserem Kr&auml;chzen in der Stimme
+die Messe zelebrierte, erschienen fahl, wie die eines
+Toten. Von unbestimmten Grauen getrieben, lief ich
+der n&auml;chsten T&uuml;re zu; kurz vorher aber glitt ich aus
+<a name="Page_102" id="Page_102"></a>und fiel auf die Fliesen. Der z&auml;he Schmutz blieb an
+H&auml;nden und Knien kleben, m&uuml;hsam nur, unter aufsteigender
+&Uuml;belkeit, rieb ich ihn ab. Ein b&ouml;ser Anfang!
+dachte ich, als ich durch immer engere und dunklere
+Stra&szlig;en meinem Ziele zustrebte. Schon sah ich hie
+und da, wie das Wasser aus den Kellern gepumpt und
+mit Eimern heraufgetragen wurde; dann wurden die
+H&auml;user immer kleiner, so da&szlig; die D&auml;cher fast mit den
+H&auml;nden zu fassen waren, und &uuml;ber immer breitere
+Wasserrinnen vermittelten primitive Br&uuml;cken den &Uuml;bergang.
+In den tiefer gelegenen Gassen stand das Wasser
+so hoch, da&szlig; Fl&ouml;&szlig;e aus Brettern die Passanten hin und
+her f&uuml;hrten. Auf den schwarzgelben Fluten schwammen
+K&uuml;chenabf&auml;lle, zerbrochene T&ouml;pfe, &uuml;belriechende Kehrichthaufen,
+in denen d&uuml;rftig gekleidete Kinder, oft bis zu
+den Knieen im Wasser watend, mit schmutzigen Fingern
+nach Spielzeug suchten. <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Mie'">Mir</ins> wars, als stiege eine
+K&auml;lte an mir empor, mich umwindend wie eine graue,
+feuchte Schlange. Der gellende Ton eines Gl&ouml;ckchens
+lie&szlig; mich zur Seite sehen: ein Chorknabe schwang es,
+dem der Geistliche folgte. Vor der T&uuml;r des grellgelben
+H&auml;uschens, hinter der sie verschwanden, dr&auml;ngten sich
+Weiber und Kinder, barf&uuml;&szlig;ig, schmutzig, zerlumpt; nur
+ein paar faltige rote R&ouml;cke und bunte Kopft&uuml;cher
+zeugten von einstigen, besseren Zeiten. Ihr Schwatzen
+wurde allm&auml;hlich zum Gekreisch, ihre Geb&auml;rden machten,
+je lebhafter sie wurden, den Eindruck konvulsivischer
+Zuckungen; aus allen H&auml;usern der Stra&szlig;e str&ouml;mten sie
+zusammen, &mdash; wie war es nur m&ouml;glich, da&szlig; ihrer so
+viele darinnen wohnen konnten?! Angstvoll hatte ich
+mich in einen Torweg verkrochen, als sich neben mir
+<a name="Page_103" id="Page_103"></a>eine T&uuml;r knarrend &ouml;ffnete: r&uuml;ckw&auml;rts torkelnd, fluchend
+und schimpfend kam ein Mann heraus, eine Flasche als
+Waffe gegen seine Verfolger schwingend. Da klang
+der gellende Ton des Gl&ouml;ckchens wieder, und jeder
+andere verstummte vor ihm; die schwatzenden Weiber,
+die betrunkenen M&auml;nner und die johlenden Kinder
+sanken in die Kniee, wo irgend ein Stein oder eine
+Stufe aus dem Wasser hervorsah. An ihnen vor&uuml;ber
+schritt der Gebete murmelnde Priester; schwarz und
+schwer breitete sich sein Talar hinter ihm auf den
+Fluten aus.</p>
+
+<p>Ein Mann und ein Weib folgten ihm, hager und
+geb&uuml;ckt alle beide; in wirren Str&auml;hnen hingen strohgelbe
+Haare ihr in das von Weinen aufgedunsene Gesicht;
+ihre grauen knochigen Finger umklammerten den Griff
+des schmalen schwarzen Schreines, den sie gemeinsam
+trugen; ein Myrtenkr&auml;nzlein aus Papier, mit dem Bilde
+der schwarzen Madonna war sein einziger Schmuck.
+Stumm, wie die beiden, folgte ihnen die Menge, &mdash; ein
+langer Zug des Elends, den der Betrunkene, die leere
+Flasche zwischen den gefalteten H&auml;nden, schwankend beschlo&szlig;.
+Kein Laut war mehr h&ouml;rbar, als das Pl&auml;tschern
+des Wassers zwischen den vielen, vielen F&uuml;&szlig;en der langsam
+Schreitenden.</p>
+
+<p>Wie aus b&ouml;sem Traum erwachend, fuhr ich zusammen.
+An der weit offnen T&uuml;r des Hauses, aus dem der Sarg
+getragen worden war, mu&szlig;t ich vor&uuml;ber. Es war ganz
+dunkel darin, und doch sah ich, da&szlig; etwas am Boden
+hockte und mich anstarrte mit gro&szlig;en, leeren Augen, &mdash; die
+Armut. &mdash; So rasch meine zitternden Beine mich
+tragen konnten, entfloh ich. Frostgesch&uuml;ttelt warf ich
+<a name="Page_104" id="Page_104"></a>mich zu Hause auf mein Bett. Am n&auml;chsten Morgen
+erkannte ich niemanden mehr.</p>
+
+<p>Viele Wochen schwebte ich zwischen Tod und Leben.
+Noch Jahre darnach konnte ich mich nicht ohne Entsetzen
+der wilden Fiebertr&auml;ume erinnern, die mich damals
+gepeinigt hatten. Den Dom sah ich, und der Priester
+am Altar war ein Gerippe, und in den unergr&uuml;ndlich
+tiefen schwarzen Schlamm des Bodens zogen mich lauter
+schmutzige Knochenh&auml;nde; &mdash; durch gelbe Fluten lief ich
+atemlos, hinter mir endlose Scharen von M&auml;nnern und
+Weibern, denen Hunger, Betrunkenheit, Mordlust aus
+den rot unterlaufenen Augen gl&uuml;hte. Dazwischen tanzte
+Klein-Zaches auf der Bettdecke und bohrte mir seinen
+winzigen Degen ins Gehirn, und Serpentine mit den gro&szlig;en
+blauen Augen ringelte sich erstickend um meinen Hals.</p>
+
+<p>&raquo;Wie kommt sie nur zu solchen Phantasien?&laquo; h&ouml;rte
+ich dazwischen meine Mutter sagen, die in aufopfernder
+Pflichterf&uuml;llung nicht von meinem Lager wich.</p>
+
+<p>&raquo;Wie ists nur m&ouml;glich, da&szlig; die Malaria sie packen
+konnte?&laquo; sagte wohl auch der Arzt, der dem m&ouml;rderischen
+Sumpffieber nur unten bei den &Uuml;berschwemmten
+begegnet war.</p>
+
+<p>Ich schwieg, viel zu m&uuml;de, viel zu apathisch zum
+Sprechen; denn einer gro&szlig;en Schw&auml;che machte das
+Fieber Platz. Ich glaubte fest an meinen baldigen Tod,
+wunschlos, widerstandslos. Auch durch meiner Mutter
+gleichm&auml;&szlig;ig-freundliches L&auml;cheln, das so beruhigend
+auf einen Kranken wirken konnte, wollte ich mich nicht
+t&auml;uschen lassen. Die Angst, die sich in meines Vaters
+Z&uuml;gen malte, wenn er an mein Bett trat, schien mir
+mehr der Wahrheit zu entsprechen.</p>
+
+<p><a name="Page_105" id="Page_105"></a>Und doch erholte ich mich, und langsam, ganz langsam
+kam mit der wachsenden Kraft die Freude am Leben
+wieder. Als ob er mir Dank schuldig w&auml;re, weil ich
+lebte, so &uuml;bersch&uuml;ttete mich mein Vater nun mit Geschenken:
+erwartungsvoll sah ich schon nach der T&uuml;r,
+wenn ich mittags den Schritt des Heimkehrenden h&ouml;rte;
+B&uuml;cher, Blumen, Obst, Bonbons, &mdash; irgend etwas brachte
+er mir t&auml;glich. Wie gut waren &uuml;berhaupt die Menschen,
+sie k&uuml;mmerten sich alle um mich: jeden Tag hatte
+mein Lehrer den Arzt vor dem Hause erwartet, um
+direkte Nachricht zu haben, und jetzt schickte er mir
+seine sch&ouml;nsten B&uuml;cher; kein Regiment in der Stadt gab
+es, dessen Musikkorps der Genesenden nicht ein St&auml;ndchen
+gebracht h&auml;tte, und der gute alte General Kirchbach
+kam selbst in mein Krankenzimmer, um mir eine &mdash; Puppe
+auf die Kissen zu legen.</p>
+
+<p>&raquo;Mit der Puppe, Mama, soll mal mein T&ouml;chterchen
+spielen!&laquo; sagte ich l&auml;chelnd, als er weg war, &mdash; denn
+mit dem Spielen war es f&uuml;r mich endg&uuml;ltig vorbei.</p>
+
+<p>Nach drei Monaten sollte ich aufstehen; als ich mich
+grade erheben wollte und, von heftigem Schwindel gepackt,
+nach dem Bettpfosten griff, sah ich Blut auf dem
+Laken. Ich erschrak, denn ich wollte gesund sein. Aber
+schon hatte der Arzt mich umfa&szlig;t und sanft in die
+Kissen zur&uuml;ckgedr&uuml;ckt. Er lachte: &raquo;Also so stehts mit
+dem kleinen Fr&auml;ulein! Die Kinderschuhe hat es richtig
+ausgetreten.&laquo; Verst&auml;ndnislos sah ich die Mutter an,
+der das Blut in die Schl&auml;fen gestiegen war. &raquo;Alles
+N&ouml;tige werden Sie Ihrer Tochter erkl&auml;ren,&laquo; damit
+wandte er sich zum Gehen. &raquo;Sie ist erst zw&ouml;lf Jahre,
+Herr Doktor &mdash;&laquo; entgegnete sie z&ouml;gernd. &raquo;Tut nichts &mdash; tut<a name="Page_106" id="Page_106"></a>
+nichts &mdash; so schwere Krankheiten bedeuten immer
+eine gro&szlig;e Umw&auml;lzung&laquo;; er dr&uuml;ckte mir nochmals die
+Hand: &raquo;Nun stehen wir h&uuml;bsch ein paar Tage sp&auml;ter
+auf.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du brauchst dich nicht zu &auml;ngstigen, Alixchen,&laquo; damit
+wandte Mama sich mir wieder zu, als er fort war,
+und erkl&auml;rte mir mit wenig Worten meinen Zustand.
+Ein Gef&uuml;hl des Stolzes erf&uuml;llte mich: nun war ich
+also wirklich kein Kind mehr, &mdash; und meine Tr&auml;ume
+suchten die Zukunft: so kam denn endlich das Leben, das
+lockende, zauberreiche!</p>
+
+<p>W&auml;hrend meiner Krankheit hatte ich mich so sehr
+gestreckt, da&szlig; kein Kleid mir mehr pa&szlig;te. In den
+Wochen, die ich noch zwischen Bett und Sofa verlebte,
+trug ich meiner Mutter schleppende Schlafr&ouml;cke, was
+mir sehr gefiel. Mein Bild im Spiegel, das mir so
+lange gleichg&uuml;ltig gewesen war, suchte ich wieder; und
+so bla&szlig; und so schlank ich auch war, es gefiel mir nicht
+&uuml;bel: die gro&szlig;en dunkeln Augen, die schwarzen Locken
+&uuml;ber der wei&szlig;en Stirn, die schmalen H&auml;nde mit den
+rosigen Fingerspitzen, &mdash; wer wei&szlig;, ob nicht doch noch
+etwas aus mir werden konnte!</p>
+
+<p>Als wir mit unsern Koffern zum Bahnhof fuhren,
+von wo der Zug uns wieder gen S&uuml;den tragen sollte,
+hatte ich kein einziges verbotenes Buch mit durchzuschmuggeln
+versucht; mich verlangte es nicht, zu lesen,
+denn leben &mdash; leben und genie&szlig;en &mdash; wollte ich!</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_107" id="Page_107"></a></p>
+<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Nach monatelangem Aufenthalt in den Bergen
+kehrten wir heim. Der Wind, der um den
+wei&szlig;en Schaum der Gie&szlig;b&auml;che und &uuml;ber das
+blauschimmernde Firneis fegt, bringt soviel frische K&uuml;hle
+zu Tal, da&szlig; krankhafte Fieberhitze ihm nimmer stand
+h&auml;lt; und der friedliche Klang der Herdenglocken und
+das n&auml;chtliche Zirpen der Grillen im Gras zaubert den
+ruhigen Schlaf zur&uuml;ck, auch wenn er noch so lange untreu
+war. Ein &uuml;berraschtes &raquo;Aber, Alixchen!&laquo; von
+einem strahlenden L&auml;cheln begleitet, war alles, was
+mein Vater zu sagen vermochte, als er uns in Posen
+wieder in Empfang nahm. Am n&auml;chsten Tage besuchten
+uns Verwandte, die dorthin versetzt worden waren; meine
+Kusine, die so alt war wie ich, ein kleines unansehnliches
+Gesch&ouml;pfchen im kurzen Kinderkleid, sah staunend
+zu mir empor und sagte: &raquo;Du bist ja ein Fr&auml;ulein!&laquo;
+Bald darauf kam mein Lehrer. Wortlos blieb er einen
+Augenblick an der T&uuml;re stehen. &raquo;Wie &mdash; wie geht es &mdash; Ihnen?&laquo;
+kam es dann z&ouml;gernd &uuml;ber seine Lippen.
+Noch nie hatte er mich bis dahin &raquo;Sie&laquo; genannt! Der
+Sepp von Grainau fiel mir ein, den ich in diesem
+Sommer nur mit M&uuml;he dazu gebracht hatte, bei dem
+gewohnten &raquo;Du&laquo; zu bleiben, und der Hans Gunters<a name="Page_108" id="Page_108"></a>berg,
+der wieder in Garmisch gewesen war, und dessen
+huldigende Gedichte mir nur darum keinen Eindruck
+machten, weil ich die unreine Haut und die Schwei&szlig;h&auml;nde
+ihres Verfassers nicht vergessen konnte.</p>
+
+<p>Ich war wirklich kein Kind mehr! Stillschweigend
+packte ich all mein Spielzeug in einen gro&szlig;en Korb und
+lie&szlig; ihn auf den Boden schaffen.</p>
+
+<p>Die neugewonnene Lebenskraft war wie ein Motor,
+der das ganze R&auml;derwerk der Maschine auf einmal in
+Bewegung setzt: mit Feuereifer st&uuml;rzte ich mich &uuml;ber
+meine Studien; dabei galt mir jeder Tag f&uuml;r verloren,
+an dem ich nicht ein Gedicht gemacht oder an irgend
+einem meiner Dramenentw&uuml;rfe gearbeitet h&auml;tte, zugleich
+aber schm&uuml;ckte ich mich mit Vergn&uuml;gen f&uuml;r die Tanzstunde,
+und geno&szlig; die Erlaubnis, an der Geselligkeit im
+Hause der Eltern teilzunehmen, mit vollen Z&uuml;gen...</p>
+
+<p>Da liegen sie vor mir mit vergilbtem Umschlag und
+verbla&szlig;ter Schrift, die alten Aufsatzhefte jener Tage, in
+denen ich vom Lehrer gestellte oder selbstgew&auml;hlte Themen
+behandelte: kindischer Unsinn und fr&uuml;hreife Weisheit in
+buntem Gemisch. Da&szlig; meine Ansichten denen des Lehrers
+oft widersprachen, beweisen seine kritischen Randbemerkungen;
+trotzdem findet sich meist ein &raquo;Gut&laquo; oder
+&raquo;Recht gut&laquo; darunter, &mdash; als ein Zeugnis f&uuml;r seine Objektivit&auml;t
+mehr als f&uuml;r die Richtigkeit meiner Auffassungen.
+Meine Frondeurnatur, die mich dazu trieb,
+allem, was ich h&ouml;rte, zun&auml;chst einmal meinen Widerspruch
+entgegenzusetzen, zeigt sich fast in jeder dieser
+Arbeiten. W&auml;hrend mein Lehrer z.&nbsp;B. Schiller &uuml;ber
+alles liebte, pries ich Goethe; so hei&szlig;t es in einem
+Aufsatz &uuml;ber die Balladen der beiden Dichter: &raquo;Goethe
+<a name="Page_109" id="Page_109"></a>ist ein Naturdichter, das hei&szlig;t ein Dichter von Gottes
+Gnaden. Da&szlig; das Werk, welches er schafft, ein Kunstwerk
+sein wird, ist ihm die Hauptsache. Schiller dagegen
+ist von andrer Art, denn ihm ist das Werk nur
+ein Mittel zum Moralpredigen,&laquo; &mdash; hier steh ein &raquo;Oh!!&laquo;
+des Lehrers daneben &mdash; &raquo;das sieht man an allen seinen
+Balladen, denen alle m&ouml;glichen Lehren zugrunde liegen:
+Der Gang nach dem Eisenhammer lehrt, da&szlig; Gott die
+Unschuld besch&uuml;tzt; der Kampf mit dem Drachen, da&szlig;
+der Sieg &uuml;ber sich selbst gr&ouml;&szlig;er ist als der &uuml;ber das
+Ungeheuer; die B&uuml;rgschaft und Ritter Toggenburg zeigen
+den Wert der Treue, und die Glocke ist fast ganz ein
+Lehrgedicht. Vergleichen wir damit Goethes Erlk&ouml;nig,
+der nicht einen reflektierenden Gedanken enth&auml;lt, aber
+den Hergang so plastisch malt, da&szlig; wir ihn mit erleben,
+oder seine prachtvollste Ballade, Die Braut von Korinth,
+woraus uns der vernichtende Gegensatz des Heidentums
+gegen&uuml;ber dem Christentum deutlich entgegentritt,&laquo; hier
+steht ein Fragezeichen, &raquo;so sehen wir ein, da&szlig; Goethe
+mehr ein Dichter und Schiller mehr ein Prediger ist.&laquo; &mdash; An
+einer andren Stelle sage ich &uuml;ber den Meistersang,
+den mein Lehrer sehr sch&auml;tzte: &raquo;Er war trocken
+und langweilig und zeigte deutlich den Gegensatz des
+braven, aber engherzigen Handwerkertums gegen&uuml;ber
+der ritterlichen Bildung der Minnes&auml;nger&laquo;; und &uuml;ber
+Luther, f&uuml;r den mein Lehrer mich trotz aller M&uuml;he nicht
+erw&auml;rmen konnte, hei&szlig;t es: &raquo;Er hat das gro&szlig;e Verdienst,
+die Macht des Papsttums gebrochen zu haben, aber seine
+Roheit, sein Unverst&auml;ndnis f&uuml;r die Kunst hat seiner Kirche
+den Charakter des Gew&ouml;hnlichen und N&uuml;chtern-H&auml;&szlig;lichen
+aufgepr&auml;gt&laquo;, &mdash; daneben steht: &raquo;Der K&ouml;lner Dom?<a name="Page_110" id="Page_110"></a>&laquo;
+&raquo;D&uuml;rer?&laquo; &raquo;Bach?&laquo; &mdash; In den zahlreichen historischen
+Aufs&auml;tzen schwelgte ich f&ouml;rmlich im &raquo;Tyrannenha&szlig;&laquo;. In
+einer Arbeit von nicht weniger als vierundsechzig Seiten,
+die die politischen Umw&auml;lzungen in Europa vom Drei&szlig;igj&auml;hrigen
+Krieg bis zur franz&ouml;sischen Revolution zum
+Gegenstand hatte, suchte ich nachzuweisen, &raquo;wohin ungerechte
+Regierung, Volksbedr&uuml;ckung, Verachtung alles
+G&ouml;ttlichen f&uuml;hrt ... Schlechte, nur auf ihr Vergn&uuml;gen
+bedachte F&uuml;rsten, eine verdorbene Aristokratie, ein armes,
+durch &uuml;bertriebene Aufkl&auml;rungsschriften irregeleitetes
+Volk standen sich gegen&uuml;ber. Alles bereitete eine Zeit
+vor, die schrecklich, aber notwendig war.&laquo; Unter den
+F&uuml;rsten der Neuzeit beehrte ich Friedrich Wilhelm III.
+mit meinem ganz besondern Zorn, den &raquo;die Taten seiner
+Untertanen ber&uuml;hmt gemacht haben, und der sich dadurch
+bei ihnen bedankte, da&szlig; er sein Versprechen brach ...&laquo;
+Stein feierte ich als den &raquo;Retter des Vaterlandes, der
+in Frieden erreichen wollte, was der Zweck der franz&ouml;sischen
+Revolution gewesen war.&laquo;</p>
+
+<p>H&auml;ufig pflegte mein Vater meine Aufs&auml;tze einer Kritik
+zu unterwerfen, die fast immer dem Stil, sehr selten
+nur der Gesinnung galt. Nach r&uuml;ckw&auml;rts radikal zu
+sein, wie sein T&ouml;chterchen, sich f&uuml;r vergangene V&ouml;lkerfreiheitsk&auml;mpfe
+zu begeistern, sich &uuml;ber die Schandtaten
+der F&uuml;rsten, die lange schon moderten, zu entr&uuml;sten,
+widersprach im allgemeinen nicht den Ansichten der
+Offizierskreise, in denen wir lebten. Sie befanden sich
+damals, besonders in der Provinz, in einem scharfen
+Gegensatz zu den Ideen und Gewohnheiten, die an
+unsern F&uuml;rstenh&ouml;fen herrschten. Der Luxus galt als
+ver&auml;chtlich, die Ehrbarkeit eines einfachen Familienlebens
+<a name="Page_111" id="Page_111"></a>als gr&ouml;&szlig;tes Gut. Das pers&ouml;nliche Verh&auml;ltnis, in dem
+der unbemittelte Linienoffizier noch oft zum Soldaten
+stand, war die Br&uuml;cke des Verst&auml;ndnisses f&uuml;r viele
+W&uuml;nsche und Bed&uuml;rfnisse des Volks. Mit wieviel Heftigkeit
+h&ouml;rte ich oft dar&uuml;ber reden, da&szlig; es &raquo;oben&laquo; an der
+n&ouml;tigen Sorge f&uuml;r vorhandene Not fehle, da&szlig; das
+&raquo;Hofgeschmei&szlig;&laquo; vor lauter Lustbarkeit die preu&szlig;ische
+Tradition der Pflichterf&uuml;llung immer mehr vergesse.
+Als mein Vater einmal von irgendeiner Meldung aus
+Berlin zur&uuml;ckkam, vermochte kein warnendes &raquo;Aber
+Hans!&laquo; meiner Mutter, keiner ihrer bedeutungsvollen
+Seitenblicke auf mich seine Emp&ouml;rung zu bes&auml;nftigen,
+die sich in drastischen Erz&auml;hlungen &uuml;ber das, was er
+geh&ouml;rt und gesehen hatte, Luft machte. Der zunehmende
+Einflu&szlig; der Finanzkreise, die Demoralisierung der Garde
+durch ihre Intimit&auml;t mit &raquo;Theaterprinzessinnen&laquo; und
+ihre Verschw&auml;gerung mit &raquo;B&ouml;rsenjobbern&laquo;, der unpreu&szlig;ische
+Prunk der Hoffeste, die Vetternwirtschaft, wo
+es sich um Avancements handelte, &mdash; das alles wurde
+immer wieder besprochen, und ein &raquo;Da wird noch was
+Gutes dabei herauskommen&laquo; blieb der Refrain. Aber
+Hand in Hand mit dieser abf&auml;lligen Kritik derer &raquo;oben&laquo;,
+ging eine schroffe Verurteilung jeder Auflehnungsversuche
+derer, die &raquo;unten&laquo; sind. Das patriarchalische Verh&auml;ltnis
+war das Ideal, was dagegen verstie&szlig;, ein Verbrechen.
+So war mein Vater ein grimmiger Feind des gro&szlig;industriellen
+Unternehmertums, &mdash; Worte wie &raquo;Ausbeuter&laquo;
+und &raquo;Blutsauger&laquo; h&ouml;rte ich oft von ihm &mdash;, mit derselben
+Heftigkeit aber verurteilte er die Ausgebeuteten und Ausgesogenen,
+die sich selbst Recht verschaffen wollten. Beide
+standen nach seiner Auffassung auf demselben Standpunkt
+<a name="Page_112" id="Page_112"></a>materiellen Lebensgenusses; nur da&szlig; die einen ihn besa&szlig;en,
+ihn bis zum letzten Tropfen auskosten wollten,
+die andern mit allen Mitteln um seinen Besitz k&auml;mpften.
+Inhalt und Ziel des Lebens war f&uuml;r beide gleich; &mdash; so
+schien es auch mir nach allem, was ich h&ouml;rte und
+las, darum habe ich bei all meiner Begeisterung f&uuml;r die
+Freiheitshelden der Geschichte, die Sozialdemokraten
+nicht mit ihnen zu identifizieren vermocht, und meine
+Abneigung stieg zu fanatischem Abscheu, als Kaiser
+Wilhelm, der f&uuml;r uns alle das geweihte Symbol der
+Einheit und Gr&ouml;&szlig;e Deutschlands war, von H&ouml;del bedroht
+und von Nobiling verwundet wurde.</p>
+
+<p>Oben auf dem Fort Winiary, wo ein gro&szlig;er schattiger
+Kasinogarten die Posener Offizierskreise im Sommer
+zu vereinigen pflegte und ich, die verw&ouml;hnte Tochter des
+allm&auml;chtigen Korpschefs, mit den Erwachsenen Krocket
+und Boccia spielt, sa&szlig;en wir gerade fr&ouml;hlich um den
+Kaffeetisch, als ein blutjunger Leutnant atemlos auf
+uns zugest&uuml;rzt kam. &raquo;Herr Oberst, Herr Oberst &mdash;&laquo;
+mehr brachte er nicht heraus, die dicken Tr&auml;nen liefen
+ihm &uuml;ber die Wangen. &raquo;Zum Donnerwetter, was gibts
+denn?&laquo; herrschte mein Vater ihn an. &raquo;Seine Majest&auml;t
+unser allergn&auml;digster Kaiser &mdash;&laquo; er versuchte stramm zu
+stehen wie zur Meldung, aber die Knien zitterten ihm &mdash; &raquo;ist &mdash; ist
+erschossen.&laquo; Mit einem wilden Aufschluchzen
+brach er ab. Mein Vater wurde aschfahl.
+&raquo;Das ist nicht wahr,&laquo; schrie er. Stumm reichte ihm
+der Ungl&uuml;cksbote ein halb zerkn&uuml;lltes Papier, &mdash; das
+Extrablatt. Aus dem ganzen Garten waren inzwischen
+die Menschen zusammengelaufen, Soldaten und Offiziere,
+M&auml;nner und Frauen, jung und alt. Alle weinten. Mein<a name="Page_113" id="Page_113"></a>
+Vater allein stand wie erstarrt zwischen ihnen, nur das
+stahlblaue Funkeln seiner Augen verriet, wie es in ihm
+aussah. Wortlos, von jener gemeinsamen Empfindung
+getrieben, die uns angesichts ersch&uuml;tternder Ereignisse
+stets beherrscht: da&szlig; etwas geschehen m&uuml;sse &mdash; irgend
+etwas, das die gr&auml;&szlig;liche Spannung l&ouml;st &mdash;, eilten wir alle
+dem Ausgang zu. Als wir uns der Stadt n&auml;herten, &mdash; aus
+den Fenstern der ersten H&auml;user wehten vereinzelt
+schon schwarze T&uuml;cher, vom Turm der Garnisonkirche
+l&auml;uteten die Glocken &mdash;, und wir die weite Sandfl&auml;che
+des in der Sonne gl&uuml;henden Kanonenplatzes betraten,
+kam uns ein Mann mit einem Stelzbein entgegen,
+auf dem abgetragnen Arbeitsrock ein sichtlich in
+aller Eile befestigtes eisernes Kreuz. &raquo;Der Kaiser lebt,
+der Kaiser lebt,&laquo; rief er, eine neue Depesche hochhaltend.
+Wir hatten das Neue, &Uuml;berraschende noch kaum gefa&szlig;t,
+als er seinen sch&auml;bigen Hut zwischen die harten F&auml;uste
+pre&szlig;te: &raquo;Lieber Vater im Himmel&laquo;, &mdash; alle M&uuml;tzen
+flogen von den K&ouml;pfen, alle H&auml;nde falteten sich &mdash;,
+&raquo;sch&uuml;tze unsern guten Kaiser!&laquo;</p>
+
+<p>Mein Vater war in jenen Tagen in unbeschreiblicher
+Aufregung; mitten im Gespr&auml;ch oder bei der Lekt&uuml;re
+konnte er auffahren und z&auml;hneknirschend murmeln:
+&raquo;Aufh&auml;ngen soll man die Kerle &mdash; einen neben den
+andern!&laquo; Ich aber verkroch mich in mein Zimmer und
+versuchte die gro&szlig;e Ersch&uuml;tterung dadurch zu bemeistern,
+da&szlig; ich sie in Worte fa&szlig;te. In Versen und in Prosa
+brachte ich meine Empfindungen zu Papier, und eines
+Morgens legte ich meinem Vater das Niedergeschriebene
+auf den Schreibtisch. Seine Freude war so gro&szlig;, da&szlig;
+er es kopieren lie&szlig; und Bekannten und Freunden zeigte;
+<a name="Page_114" id="Page_114"></a>auch mein Lehrer, der entz&uuml;ckt schien, verbreitete es.
+Wenn auf einen Punkt konzentrierte, fieberhaft gesteigerte
+Empfindungen die Massen beherrschen, so wird
+von ihnen stets begr&uuml;&szlig;t, was diesen Gef&uuml;hlen Ausdruck
+verleiht. So kommts, da&szlig; oft k&uuml;nstlerisch Wertloses in
+aufgeregten Zeiten Bedeutung erlangt; so kam es wohl
+auch, da&szlig; meine Verse mich &uuml;ber den engern Kreis der
+Freunde hinaus bekannt machten. Begegnete man mir
+schon anders als sonst dreizehnj&auml;hrigen M&auml;dchen, weil
+ich erwachsen aussah und h&uuml;bsch und meines Vaters
+Tochter war, so umgab man mich jetzt mit einer Treibhausluft,
+in der Eitelkeit und Hochmut wie Tropenpflanzen
+wuchern konnten. In der Tanzstunde, die ich besuchte, nahm
+ich die Huldigungen der Gymnasiasten entgegen, die nicht
+nur meiner frischen Jugend galten, sondern auch den
+literarischen Leistungen, die, wie ich erfuhr, in Gestalt
+meiner Aufs&auml;tze durch meinen Lehrer in der Klasse
+bekannt wurden. In den h&auml;uslichen Gesellschaften und
+auf dem Fort Winiary suchten die jungen Offiziere die
+Unterhaltung des &raquo;interessanten&laquo; Backfischs, und meine
+einzige Freundin Mathilde &mdash; jenes blasse Kusinchen,
+das mich bei der Heimkehr begr&uuml;&szlig;t hatte, &mdash; war eine
+Bewunderung f&uuml;r mich. Meine Mutter war die einzige,
+die ern&uuml;chternd wirken wollte. Da sie aber meine
+Interessen in Bausch und Bogen als &raquo;dummes Zeug&laquo;
+bezeichnete und die Methode hatte, jede, auch die reinste
+Flamme meiner Begeisterung mit dem kalten Wasser ihrer
+sarkastischen Kritik zu begie&szlig;en, so erreichte sie das Gegenteil
+von dem, was sie bezweckte, und entfremdete mich
+ihr dadurch vollkommen. So allein wurde es m&ouml;glich,
+da&szlig; sie ahnungslos neben mir hergehen konnte, als die
+<a name="Page_115" id="Page_115"></a>schwersten k&ouml;rperlichen und geistigen K&auml;mpfe mich zu
+vernichten drohten.</p>
+
+<p>Seit meiner Krankheit hatte ich allerlei Beschwerden,
+die sich von Jahr zu Jahr steigerten. Blutwallungen,
+die mir den Kopf zu sprengen drohten und den Herzschlag
+bis in die Kehle hinauf trieben, hatten mich schon
+in Grainau gequ&auml;lt. Instinktiv war ich dann auf die
+Berge gelaufen, oder war beim ersten Morgengrauen
+heimlich im eisigen Wasser des Rosensees untergetaucht.
+In Posen aber war ich fast immer zu Haus; die kleinen
+Spazierg&auml;nge, das in R&uuml;cksicht auf meinen stets empfindlichen
+Hals nur bei Sonnenschein und Windstille gestattete
+Schlittschuhlaufen halfen mir nat&uuml;rlich nichts;
+turnen durfte ich nicht, weil das &mdash; wie Mama sagte &mdash; die
+H&auml;nde breit macht; und die Tanzstunde mit der
+guten Bowle, an der es nie fehlte, steigerte nur das
+Qu&auml;lende meines Zustands. Etwas Hei&szlig;es, Dunkles
+beherrschte mich mehr und mehr; abends, wenn ich
+schlafen wollte, flogen Glutwellen &uuml;ber meinen K&ouml;rper.
+Meine tobenden Freiheitsges&auml;nge machten Liebesliedern
+Platz, die ich aus Scham und Furcht zu tiefst in meinem
+Schreibtisch versteckte. Ihr Gegenstand war zuerst ein
+Phantasiegebilde, ein erl&ouml;sender Lohengrin, wie in meiner
+fr&uuml;hen Kindheit, bald aber wurden es Menschen von
+Fleisch und Blut. Nicht aus der Schar meiner Tanzstundenfreunde
+w&auml;hlte ich sie, sondern aus dem Bekanntenkreise
+meiner Eltern. Die Sch&ouml;nheit gab dabei
+allein den Ausschlag, mit allem &uuml;brigen &mdash; dem Glanz
+der Geburt, dem &uuml;berragenden Geist und der G&uuml;te des
+Herzens &mdash; schm&uuml;ckte sie meine Phantasie verschwenderisch.
+Ganze Romane erlebte ich in wachen Tr&auml;umen; alle<a name="Page_116" id="Page_116"></a>
+Stadien der Leidenschaft empfand ich: Abschied und
+Wiedersehen, Eifersucht und Untreue, Besitz und Verlust;
+und mit fieberhei&szlig;en H&auml;nden f&uuml;llte ich B&uuml;cher um B&uuml;cher
+mit meinem ertr&auml;umten Gl&uuml;ck und Leid.</p>
+
+<p>Wie sie mich seltsam anmuten, die alten Poesiealbums
+mit ihren bunten geschmacklosen Einb&auml;nden: Asche, die
+von verpufftem Feuerwerk stammt. Der Schmerz bildet
+&uuml;berall den Grundakkord, die Qual der Verlassenheit
+kommt immer wieder zum Ausdruck, und der Wunsch,
+zu sterben, steigert sich oft zu brennendem Verlangen nach
+dem Tod:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Einstmals bl&uuml;htest du wunderbar,<br /></span>
+<span class="i0">Rose, du pr&auml;chtige, s&uuml;&szlig;e,<br /></span>
+<span class="i0">Sandtest zum Himmel blau und klar<br /></span>
+<span class="i0">Duftend-berauschende Gr&uuml;&szlig;e.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Einstmals f&uuml;llte der Liebe Macht<br /></span>
+<span class="i0">Mich mit Wonnen und Schmerzen,<br /></span>
+<span class="i0">Und es strahlte des Lenzes Pracht<br /></span>
+<span class="i0">Wider in meinem Herzen.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Jetzt ist die Rose verwelkt, verweht,<br /></span>
+<span class="i0">Herbstlich umbraust mich das Wetter;<br /></span>
+<span class="i0">Eines nur blieb, das den Sturm besteht:<br /></span>
+<span class="i0">Dornen und d&uuml;rre Bl&auml;tter.<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Im dunklen Buchengang<br /></span>
+<span class="i0">Zur sch&ouml;nen Fr&uuml;hlingszeit<br /></span>
+<span class="i0">Hast du mich hei&szlig; gek&uuml;&szlig;t<br /></span>
+<span class="i0">Voll Liebesseligkeit.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Im dunklen Buchengang<br /></span>
+<span class="i0">Fielen die Bl&auml;tter ab,<br /></span>
+<span class="i0">Als ich zum Abschied dir<br /></span>
+<span class="i0">Weinend die H&auml;nde gab.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0"><a name="Page_117" id="Page_117"></a>Im dunklen Buchengang<br /></span>
+<span class="i0">Liegt unter Eis und Schnee,<br /></span>
+<span class="i0">Begraben all mein Gl&uuml;ck &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wach blieb mein Weh.<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Ich m&ouml;chte zu Ro&szlig; durch die W&auml;lder jagen,<br /></span>
+<span class="i0">Ich m&ouml;chte, der Meersturm umbrauste mich,<br /></span>
+<span class="i0">Ich m&ouml;chte jauchzen und schluchzend klagen,<br /></span>
+<span class="i0">Zu deinen F&uuml;&szlig;en, ach, st&uuml;rbe ich!<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Ich m&ouml;chte entfliehen und dich vergessen,<br /></span>
+<span class="i0">Den Lippen fluchen, die ich dir bot.<br /></span>
+<span class="i0">Ich m&ouml;chte noch einmal ans Herz dich pressen,<br /></span>
+<span class="i0">Und dann umarmen den Br&auml;ut'gam Tod.<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In artigen Reimen mit wohlerzogenen Gef&uuml;hlen
+stellte ich zu gleicher Zeit meine arme Muse zu allen
+Festtagen in den Dienst der Familie und nahm f&uuml;r
+mein &raquo;h&uuml;bsches Talent&laquo; die allgemeine Anerkennung
+entgegen. Nur eine erfuhr zuweilen von den Geheimnissen
+meines Schreibtisches: Mathilde, das blasse
+Kusinchen, die allsonnt&auml;glich zu mir kam, und zu der
+ich lief, wenn das Herz mir gar zu voll war. Sie
+war, als ich sie kennen lernte, noch ein Kind ihrem
+Alter, ihrer geistigen und k&ouml;rperlichen Entwicklung nach,
+und ich h&auml;tte sie nicht beachtet, wenn sie mir nicht in
+einem Moment begegnet w&auml;re, wo ich einen Menschen
+brauchte, wie der schmelzende Schnee auf den Bergen
+ein Bett, in das er sich ergie&szlig;en kann. Ich hatte kein
+andres Interesse f&uuml;r sie als das, da&szlig; sie mich aufnahm.
+Abends in der D&auml;mmerstunde, oder in den Zeiten, wo ich
+zu Bett lag, halb verh&uuml;llt von den wei&szlig;en Vorh&auml;ngen,
+<a name="Page_118" id="Page_118"></a>w&auml;hrend das rote Licht der Ampel &uuml;ber mir strahlte,
+mu&szlig;te sie bei mir sitzen. Dann erz&auml;hlte ich von meiner
+Liebe, meiner Sehnsucht. Was ich im Traum erlebte,
+gestaltete sich vor ihr wie Wirklichkeit. Sie glaubte
+mir alles, sie weinte und seufzte mit mir; und je mehr
+sie es tat, desto mehr verwischte sich vor mir selbst
+Phantasie und Leben, desto mehr verirrte ich mich in
+den Irrg&auml;ngen meiner Einbildungen.</p>
+
+<p>Um jene Zeit war es, da&szlig; meine Mutter eine
+neue Kammerjungfer engagierte, die, im Gegensatz
+zu der entlassenen, auch mich anzuziehen und zu
+frisieren hatte. Sie war ein h&uuml;bsches, blondes Ding
+mit einem unschuldigen Madonnengesichtchen, Tochter
+einer ehrbaren Beamtenwitwe, die durch Zimmervermieten
+ihre gro&szlig;e Familie erhielt und ihre Kinder
+in strenger Zucht und Fr&ouml;mmigkeit erzog, weshalb sie
+meiner Mutter ganz besonders empfohlen worden war.
+Anna &mdash; so hie&szlig; unsre neue Hausgenossin &mdash; fand besonderes
+Gefallen an mir und wiederholte mir t&auml;glich,
+wie h&uuml;bsch ich sei, wobei sie es nicht unterlie&szlig;, jeden
+einzelnen meiner Vorz&uuml;ge zu preisen und mir alle
+Mittel anzugeben, um sie ins rechte Licht zu setzen. Ich
+war eitel, aber es war mir von selbst nie eingefallen,
+auf gut sitzende Korsetts, enge Schuhe und feine
+Str&uuml;mpfe irgend ein Gewicht zu legen. Jetzt wurde
+ich Annas gelehrige Sch&uuml;lerin, und freudehei&szlig; stieg mir
+das Blut ins Gesicht, wenn sie nicht m&uuml;de wurde, mir
+zu versichern, da&szlig; der und jener mich bewundernd ans&auml;he,
+da&szlig; ich die Herzen einmal im Sturm erobern
+werde. Allm&auml;hlich nahm sie die Gewohnheit an, bei
+mir zu bleiben, wenn ich nicht schlafen konnte und die<a name="Page_119" id="Page_119"></a>
+Eltern nicht zu Hause waren. Flink, wie ihre geschickten
+H&auml;nde die Nadel f&uuml;hrten, um aus einem scheinbaren
+Nichts immer noch ein h&uuml;bsches, kokettes Etwas zu
+machen, war ihre Zunge im Erz&auml;hlen. Aber sie kannte
+nur ein Thema: Liebesgeschichten, die sie gelesen oder
+erfahren hatte. Von der unnahbaren H&ouml;he ihrer Tugend
+herab war ihre Entr&uuml;stung &uuml;ber das, was sie berichtete,
+eine ganz ehrliche, und doch schwelgte sie mit kaum versteckter
+L&uuml;sternheit in ihren Schilderungen. Und so ri&szlig;
+sie nach und nach einen Schleier nach dem andern von
+all den Dingen, die mir trotz meiner heimlichen Lekt&uuml;re
+doch unbekannt geblieben waren. Schon als Kind
+hatte sie durchs Schl&uuml;sselloch die Zimmerherrn ihrer
+Mutter beobachtet, hatte Damen aller Art bei ihnen
+aus und ein gehen sehen. Sie selbst, &mdash; das erz&auml;hlte
+sie voll Stolz &mdash;, war niemals den Verf&uuml;hrungsk&uuml;nsten
+der Herren erlegen, wie die dummen, jungen Dinger,
+die sie mit aufs Zimmer nahmen. Aber all die guten
+Sachen, den Sekt und die Austern, hatte sie servieren
+helfen und neugierig beobachtet, wie die M&auml;dels sich
+an Liebe und Alkohol berauschten. Freilich &mdash; nachher
+mu&szlig;ten sie ihre Dummheit b&uuml;&szlig;en; denn sobald das
+Kind da war, lie&szlig;en die Herren sie laufen. &mdash; Das
+Kind! &mdash; Noch f&uuml;hle ich, wie etwas Schreckhaft-Geheimnisvolles
+mir die Glieder l&auml;hmte, als mir, der
+Dreizehnj&auml;hrigen, dies Wort aus Annas Mund feuerrot
+entgegensprang. &mdash; Das Kind! &mdash; An den Storch
+glaubte ich l&auml;ngst nicht mehr, aber wie die Liebe in
+meinen Augen immer von &uuml;berirdischem Strahlenglanz
+umgeben erschien, so schwebte um das Geheimnis des der
+Liebe entspringenden Lebens ein mystischer Heiligenschein.</p>
+
+<p><a name="Page_120" id="Page_120"></a>Wie Anna mich auslachte, mit einem hellen quiekenden
+Lachen, als ich z&ouml;gernd meine Unkenntnis gestand!
+Und wie das junge Ding mit den naiven blauen Frageaugen
+mich aufkl&auml;rte! &mdash; &mdash; Sie war so vertieft in
+alle Details der Beschreibung, da&szlig; sie gar nicht bemerkte,
+wie das Entsetzen mich sch&uuml;ttelte und meine
+Brust vor verhaltenem Schluchzen flog; das fr&ouml;hliche
+Kichern, mit dem sie ihre Rede begleitete, verriet ihre
+Freude an ihrem Gegenstand, so da&szlig; sie schlie&szlig;lich ratlos
+und kopfsch&uuml;ttelnd vor der Verzweiflung stand, die
+mich gepackt hatte. &raquo;Am Ende&laquo; &mdash; so mochte sie denken &mdash; &raquo;f&uuml;rchtet
+sie jetzt schon den Moment des Geb&auml;rens, dessen
+Analen ich beschrieb?!&laquo; Und mit noch gr&ouml;&szlig;rer Zungenfertigkeit
+erz&auml;hlte sie von den Vorsichtigen und Klugen, die
+sich vor solchen Konsequenzen zu h&uuml;ten verstehen, und von
+den Dirnen, die in die Gefahr gar nicht kommen und von
+den M&auml;nnern darum am meisten begehrt werden.</p>
+
+<p>Ich h&ouml;rte zu weinen auf und horchte hoch auf. O,
+die Kleine war gut orientiert! War sie doch oft genug
+zu Boteng&auml;ngen benutzt worden und zur intimsten
+Kenntnis des Lebens und Treibens der Halbwelt
+gelangt! Feine Damen gab es darunter, die in Samt
+und Seide gingen und sich teuer bezahlen lie&szlig;en. &raquo;Bezahlen?!&laquo; &mdash; ich
+k&auml;mpfte schon wieder mit den Tr&auml;nen.
+&raquo;Liebe bezahlen?!&laquo; Anna kicherte: &raquo;Liebe! &mdash;&laquo; und sie
+verfiel wieder in Detailschilderungen. &raquo;Pfui! &mdash; Pfui!&laquo;
+schrie ich auf und pre&szlig;te die H&auml;nde um den Kopf; mir
+war, als br&auml;chen dr&ouml;hnend die Mauern &uuml;ber mir zusammen.
+Halb von Sinnen richtete ich mich auf im
+Bett und stie&szlig; mit der Faust gegen das M&auml;dchen, so
+da&szlig; es aufheulend vom Stuhle fiel.</p>
+
+<p><a name="Page_121" id="Page_121"></a>Mama erkundigte sich am n&auml;chsten Morgen teilnehmend
+um ihr geschwollenes Gesicht; sie sprach von &raquo;Zahnschmerzen&laquo;,
+ich schwieg. Nicht ein Wort von dem, was
+geschehen war, h&auml;tte ich zu sagen vermocht. Ich ging
+umher, und meine Scham war wie ein gl&uuml;hender Mantel,
+der meinen ganzen K&ouml;rper dicht umschlo&szlig;. Ich wurde
+die Bilder nicht los, w&auml;hrend der Ekel mir die Kehle
+zukrampfte. Das &mdash; das war Liebe &mdash; Liebe, von der
+ich getr&auml;umt hatte, an der alle meine Gedanken sich
+entz&uuml;ndeten, die alle Dichter als das Sch&ouml;nste und
+H&ouml;chste priesen! &mdash; Ich wollte nicht mehr daran denken, &mdash; ich
+wollte nicht. Aber dann stiegen neue Fragen
+auf, und Zweifel, und an leise Hoffnungen klammerten
+sich die alten Ideale. An wen h&auml;tte ich mich wenden
+sollen, als an Anna, vor der die Scham am leichtesten
+&uuml;berwunden war? &raquo;Nur die ganz schlechten, ganz gemeinen
+M&auml;nner, nur die Verbrecher sind &mdash; so?&laquo; Welch
+eine Erl&ouml;sung w&auml;re ein Ja gewesen! Aber Anna
+unterstrich und erl&auml;uterte das &raquo;Nein&laquo; doppelt und
+dreifach. Und nur in ganz hellen, frohen Stunden, &mdash; sie
+waren selten genug &mdash;, triumphierte mein Idealismus,
+und die alte Sch&ouml;pferkraft meiner Phantasie schuf
+sich reine Lichtgestalten.</p>
+
+<p>Wenn aber nachts mein Herz und mein Blut mir
+keine Ruhe lie&szlig;en, so verfolgten mich unabl&auml;ssig die
+gr&auml;&szlig;lichsten Tr&auml;ume. Verzweifelt k&auml;mpfte ich dagegen
+an, &mdash; wie um meiner zu spotten, kamen sie mit doppelter
+Gewalt wieder. Am Tage war ich totm&uuml;de,
+dunkle Ringe umschatteten meine Augen, und die &Uuml;berzeugung
+meiner abgrundtiefen Schlechtigkeit machte mich
+scheuer und verschlossener noch als vorher. Wenn meine<a name="Page_122" id="Page_122"></a>
+Mutter abends an mein Bett trat und, dunkelrot im
+Gesicht, mit drohender Stimme sagte: &raquo;H&uuml;te dich vor
+der geheimen S&uuml;nde!&laquo; so verstand ich sie zwar gar nicht,
+senkte aber doch schuldbewu&szlig;t die Augen.</p>
+
+<p>Mehr als je war ich damals mir selbst &uuml;berlassen,
+aber nur ein Zufall lie&szlig; mich erfahren, warum. Das
+Fl&uuml;stern um mich her, das vielsagende L&auml;cheln, all die
+wei&szlig;en Linnenhaufen, die gen&auml;ht und sorgf&auml;ltig vor
+mir versteckt wurden, hatten mich schon neugierig gemacht.
+Da&szlig; Mama vielfach leidend war, jeder Frage
+danach aber auswich und tief err&ouml;tete, wenn sie dennoch
+antworten mu&szlig;te, erschien mir auch seltsam genug. Ein
+Satz in einem Brief der Gro&szlig;mutter, den man mir
+achtlos zu lesen gegeben hatte, kl&auml;rte mich auf: Mama
+war guter Hoffnung. &raquo;Guter Hoffnung&laquo;, &mdash; beinahe
+komisch kam mir der Ausdruck vor, wenn ich sie beobachtete:
+ihre zusammengezogenen Brauen, ihre aufeinandergepre&szlig;ten
+Lippen, die sich kaum mehr zu einem
+L&auml;cheln &ouml;ffneten, ihr Klagen und Seufzen. Nein, die
+Hoffnung war f&uuml;r sie keine gute. Es schien fast, als
+sch&auml;me sie sich ihrer, da sie sie sorgf&auml;ltig verbarg. Und
+in Gedanken an Annas Erz&auml;hlungen err&ouml;tete auch ich,
+wenn ich in Gegenwart der Eltern daran dachte. Sie
+sprachen niemals von dem, was sich vorbereitete; und
+erst als mein Schwesterchen geboren worden war, wurde
+mir das Ereignis vom Vater angek&uuml;ndigt. Seine r&uuml;hrende
+Freude wirkte ansteckend auf mich, und es gab
+Stunden, wo der Gedanke an das h&uuml;lflose kleine Wesen
+in der Wiege wie eine Erl&ouml;sung &uuml;ber mich kam: hier
+war eine Aufgabe f&uuml;r mich, die mich mir selbst entrei&szlig;en
+konnte. Und hielt ich es in den Armen, das
+<a name="Page_123" id="Page_123"></a>s&uuml;&szlig;e wei&szlig;e K&ouml;rperchen, so gingen mir die Augen &uuml;ber
+vor z&auml;rtlicher Liebe, und heimlich schwor ich mir zu: dich
+will ich beh&uuml;ten vor all der Qual, die ich erlitt. Aber
+die polnische Amme, ein leidenschaftliches Gesch&ouml;pf, das
+mit der angstvollen eifers&uuml;chtigen Liebe wilder Tiere an
+dem S&auml;ugling hing, als w&auml;re er ihr eignes Kind, tat,
+was sie konnte, um mich fernzuhalten; auch meine Mutter
+schien mich in der Kinderstube ungern zu sehen, und so
+ging ich bald wieder meine einsamen &auml;u&szlig;eren und inneren
+Wege.</p>
+
+<p>Eines Tages, als ich versp&auml;tet wie immer an den
+Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch trat, &mdash; ich pflegte erst gegen Morgen tief
+und ruhig zu schlafen &mdash;, belehrte mich ein Blick auf
+die Eltern, da&szlig; sie eine heftige Auseinandersetzung gehabt
+hatten. Das war mir zwar nichts Neues, denn
+Mama sah neuerdings h&auml;ufig verweint aus, und Papa
+wurde beim kleinsten Anla&szlig; heftiger denn je, &mdash; an der
+kurzen Begr&uuml;&szlig;ung merkte ich aber, da&szlig; ich die Ursache
+ihres Streits gewesen sein mu&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Da lies!&laquo; sagte mein Vater und reichte mir ein
+l&auml;ngeres Schreiben mit der Unterschrift unseres Garnisonpfarrers.
+Es lautete:</p>
+
+<p style="text-align: right">
+Posen, den 6. Januar 1879
+</p>
+
+<p>Hochverehrter Herr Oberst!</p>
+
+<p>Sie werden es mir nicht ver&uuml;beln k&ouml;nnen, wenn ich
+als Seelsorger unsrer Gemeinde, dem das ewige Heil
+aller ihrer Glieder am Herzen liegt, im Interesse Ihrer
+Tochter diese Zeilen an Sie richte.</p>
+
+<p>Schon seit l&auml;ngerer Zeit habe ich beobachtet, und aus
+vielen mir zugegangenen Berichten wohlwollender M&auml;nner
+<a name="Page_124" id="Page_124"></a>und Frauen schlie&szlig;en k&ouml;nnen, welch ernster Gefahr Alix
+entgegen geht. Das vielleicht durch eine gr&ouml;&szlig;ere geistige
+Begabung irre geleitete Kind hat viel von jener echten
+jungfr&auml;ulichen Demut und Bescheidenheit, die der Schmuck
+jeder christlichen Familie ist, verloren, und ihre junge
+Seele dem Teufel des Hochmuts zu &uuml;berliefern schon
+begonnen. Ich h&auml;tte mich aber trotzdem in Ihre Entschl&uuml;sse
+und die Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin
+noch nicht einzumischen gewagt, wenn mir nicht k&uuml;rzlich
+eine Mitteilung gemacht worden w&auml;re, deren Richtigkeit
+ich nicht anzweifeln kann. Darnach hat Ihre Tochter
+einem jungen, noch ganz unverdorbenem Mann gegen&uuml;ber
+erkl&auml;rt, da&szlig; der Opfertod unsers Herrn und
+Heilandes ihr nicht anbetungsw&uuml;rdig erscheine; jeder
+Mensch w&uuml;rde freudig zu sterben bereit sein, wenn er
+w&uuml;&szlig;te, da&szlig; er dadurch die Menschheit erl&ouml;sen k&ouml;nne.
+F&uuml;r einen Gottessohn, der seiner ewigen Seligkeit gewi&szlig;
+sei, w&auml;re dies also keine bewundernsw&uuml;rdige Tat.
+Sie f&uuml;gte noch hinzu, da&szlig; Unz&auml;hlige aus weit geringeren
+Ursachen ruhig in den Tod gegangen w&auml;ren.</p>
+
+<p>Es ist mir, Gott sei Lob und Dank, mit des Herrn
+gn&auml;diger Hilfe gelungen, den jungen in seiner christlichen
+&Uuml;berzeugung durch Ihre Tochter ersch&uuml;tterten
+Mann auf den Weg des Glaubens zur&uuml;ckzuf&uuml;hren; nunmehr
+aber habe ich die Pflicht, Sie, hochverehrter Herr
+Oberst, inst&auml;ndig zu bitten, Ihr irregeleitetes Kind dem
+Einflu&szlig; eines Seelsorgers anzuvertrauen, der diese
+Menschenblume in das Licht des Gotteswortes r&uuml;ckt,
+und sie von all dem b&ouml;sen Ungeziefer befreit, das an
+ihr nagt.</p>
+
+<p>Ich w&uuml;rde mich gl&uuml;cklich sch&auml;tzen, wenn ich in per<a name="Page_125" id="Page_125"></a>s&ouml;nlicher
+Unterredung meinen Rat zu einer Tat werden
+lassen k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>Genehmigen Sie, hochverehrter Herr Oberst, den
+Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung,</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 10em;">mit der ich verbleibe</span><br />
+<span style="margin-left: 14.5em;">Ihr ganz ergebener</span><br />
+<span style="margin-left: 21.5em;">Eberhard</span><br />
+<span style="margin-left: 21.5em;">Pfarrer</span><br />
+</p>
+
+<p>&raquo;Nun, was sagst du dazu?&laquo; fragte mein Vater, der
+immer ungeduldiger mit den Fingern auf dem Tisch
+trommelte, so da&szlig; Gl&auml;ser und Tassen klirrten.</p>
+
+<p>&raquo;Gemein!&laquo; war das einzige, was ich zun&auml;chst hervorbringen
+konnte.</p>
+
+<p>&raquo;Genau dasselbe habe ich gesagt!&laquo; polterte Papa.
+&raquo;Ein netter unverdorbener J&uuml;ngling, der mit frommen
+Augenverdrehen hingeht und meine Tochter beim Herrn
+Oberbonzen verpetzt. Ich h&auml;tte Lust, dem Kerl die
+Hosen stramm zu ziehen und dem Eberhard die blauen
+Flecke als einzige Antwort zu zeigen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du solltest aber doch erst h&ouml;ren, lieber Hans, wie
+weit Alix schuldig ist,&laquo; warf Mama erregt ein.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe gesagt, was er schreibt, und bin bereit, es
+ihm ins Gesicht zu sagen!&laquo; rief ich und warf trotzig den
+Kopf zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Mama pre&szlig;te die Lippen zusammen, was ihrem sch&ouml;nen
+Gesicht etwas Grausames gab. &raquo;Da h&ouml;rst du es,&laquo; sagte
+sie; &raquo;das sind die Fr&uuml;chte der religionslosen Erziehung.
+Du hast es nicht anders gewollt, und ich habe um des
+lieben Friedens willen nachgegeben. Jetzt aber hab ich
+genug, &uuml;bergenug davon! Pfarrer Eberhard werde ich
+antworten.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_126" id="Page_126"></a>Damit ging sie hinaus. Mein Vater sprang w&uuml;tend
+auf. Mich packte die Angst: nur keine neue Szene!
+Und all die S&uuml;nden fielen mir ein, deren ich mich tats&auml;chlich
+schuldig f&uuml;hlte. Ich trat Papa in den Weg.
+&raquo;Sei nicht b&ouml;se, bitte, bitte nicht,&laquo; bat ich schmeichelnd,
+&raquo;es ist vielleicht wirklich das Beste, wenn ich Religionsstunden
+bekomme. Ich bin ja doch bald vierzehn Jahre
+alt. Und schaden werden sie mir gewi&szlig; nichts!&laquo; Mein
+Vater, der mit ein wenig Z&auml;rtlichkeit gelenkt werden
+konnte wie ein Kind, zog mich ger&uuml;hrt in die Arme,
+als ich, um meiner Bitte Nachdruck zu geben, meine
+Wange auf seine Hand pre&szlig;te. &raquo;Und der Bengel, das
+schwatzhafte alte Weib?&laquo; brummte er noch. &raquo;Den strafe
+ich mit Verachtung,&laquo; lachte ich.</p>
+
+<p>Meine Mutter trat wieder ein. &raquo;Hier ist meine
+Antwort,&laquo; sagte sie: &raquo;Sehr geehrter Herr Pfarrer!
+Sie sind unsern W&uuml;nschen zuvorgekommen. Die rasche
+Entwicklung unsrer Tochter macht eine fr&uuml;here Einsegnung
+n&ouml;tig, als es sonst &uuml;blich ist. Wir haben sie daher
+auf das n&auml;chste Jahr festgesetzt und bitten Sie, uns
+mitzuteilen, wann der Vorbereitungsunterricht beginnt,
+zu dem wir Ihnen unsre Alix anvertrauen wollen. Auf
+die Klatscherei des jungen Mannes einzugehen, widerspricht
+unsern elterlichen Empfindungen ...</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe damit nicht etwa dich, sondern unseren
+guten Ruf in Schutz genommen,&laquo; f&uuml;gte sie rasch, zu
+mir gewendet hinzu.</p>
+
+<p>Bald darauf begann der Unterricht. Sehr befriedigt,
+von einer neuen frohen Hoffnung erf&uuml;llt, kam ich aus
+der ersten Stunde nach Hause. &raquo;Meine T&uuml;re und mein
+Herz stehen Euch jederzeit offen,&laquo; hatte der Pfarrer ge<a name="Page_127" id="Page_127"></a>sagt,
+&raquo;Ihr k&ouml;nnt mit allem, was Euch bedr&uuml;ckt, mit
+Euren Leiden und Zweifeln zu mir kommen. Ich werde
+mich immer bem&uuml;hen, Euch zu verstehen und Euch zu
+helfen.&laquo; Die harmlosen Kindergesichter meiner Mitsch&uuml;lerinnen &mdash; Offizierst&ouml;chter
+wie ich, die nat&uuml;rlich
+von den &uuml;brigen Gemeindekindern gesondert unterrichtet
+wurden &mdash; legten mir unwillk&uuml;rlich w&auml;hrend unseres
+Zusammenseins bei ihm Schweigen auf. Um so h&auml;ufiger
+wollte ich allein zu ihm gehen. Herzklopfend trat ich
+das erste Mal bei ihm ein. In vagen Andeutungen,
+die gewi&szlig; nur ein guter und g&uuml;tiger Physiologe h&auml;tte
+verstehen k&ouml;nnen, sprach ich ihm von den b&ouml;sen Gedanken
+und h&auml;&szlig;lichen Phantasien, die ich vergebens zu vertreiben
+versuchte. Ein &raquo;hm, hm,&laquo; und &raquo;so, so&laquo; und ein erstauntes
+Kopfsch&uuml;tteln war zun&auml;chst die einzige Antwort.
+In sichtlicher Verlegenheit, die Handfl&auml;chen nerv&ouml;s aneinanderreibend
+ging er im Zimmer auf und ab, blieb
+abwechselnd vor dem Gummibaum am Fenster, dem
+Stahlstich des Gekreuzigten &uuml;ber seinem Schreibpult und
+der Sammlung von Familienphotographien auf dem
+B&uuml;cherbrett stehen, die er eingehend zu betrachten schien,
+um sich endlich, wie unter dem Einflu&szlig; eines raschen
+erleuchtenden Gedankens, mir wieder zuzuwenden. &Uuml;ber
+den Tisch hinweg streckte er mir beide H&auml;nde entgegen,
+fleischige, weiche H&auml;nde, die sich anf&uuml;hlten, als h&auml;tten sie
+weder Knochen noch Muskeln. Eine physische Abneigung
+lie&szlig; mich z&ouml;gern, die meinen hineinzulegen. &raquo;Nun,
+mein Kind,&laquo; sagte er und hob sie auffordernd, &raquo;habe
+Vertrauen zu Deinem Seelsorger! Wie ich jetzt Deine
+H&auml;nde fasse,&laquo; &mdash; seine runden Finger legten sich um die
+meinen, als w&auml;ren es lauter nackte, klebrige Schnecken, &mdash; &raquo;so
+<a name="Page_128" id="Page_128"></a>wird Gott die flehend zu ihm erhobenen H&auml;nde
+deiner Seele ergreifen und dich aufrichten vom Staube!
+Das sind Versuchungen des B&ouml;sen, denen du ausgesetzt
+bist. Je mehr dein Glaube lebendig werden wird, je
+inniger du zu beten lernst, desto sicherer wirst du ihn
+&uuml;berwinden.&laquo; &mdash; Ich zog leise meine H&auml;nde aus den
+seinen und rieb sie unter dem Tisch heimlich an meinem
+Kleide ab. Er fing an, mich zu examinieren, ob, wie
+oft und wann ich bete, ob ich zu unserm Herrn und
+Heiland in kindlich-vertrauendem Verh&auml;ltnis st&uuml;nde, ob
+ich flei&szlig;ig die Bibel l&auml;se. Nach kurzem Kampfe gegen
+ein starkes inneres Widerstreben antwortete ich ihm,
+wie es der Wahrheit entsprach, war ich doch zu ihm
+gekommen, beseelt von dem aufrichtigen Wunsch, erl&ouml;st
+zu werden von meinen Qualen, getrieben von der Sehnsucht,
+mir einen neuen, dauernden Tempel bauen zu
+k&ouml;nnen, wo ich zu einem lebendigen Gott zu beten verm&ouml;chte!
+Er runzelte die Stirn, &raquo;das ist ja sehr, sehr
+traurig und unerh&ouml;rt f&uuml;r eine christliche Familie!&laquo; rief
+er aus. Ich beeilte mich, die Eltern zu verteidigen:
+&raquo;O wir beten immer bei Tisch, Mama liest jeden Morgen
+eine Andacht, und in die Kirche gehen wir auch jeden
+Sonntag!&laquo; &mdash; &raquo;Um so unbegreiflicher, da&szlig; ein so junges
+Kind, wie du, der Verf&uuml;hrung des B&ouml;sen erliegen konnte.&laquo;
+Ein neuer Gedanke schien ihm durch den Kopf zu gehen,
+scharf sah er zu mir hin&uuml;ber; &raquo;Was liest du denn?&laquo;
+frug er. Ich erschrak; sollte ich ihm das Geheimnis
+meiner sch&ouml;nsten Stunden verraten?! Ein tiefes, schmerzliches
+Aufatmen &mdash; es mu&szlig;te sein &mdash; mu&szlig;te sein, um
+meines Heiles willen! Zu jener Zeit hatte ich angefangen,
+mir aus Papas B&uuml;cherschrank Goethes Werke zu
+<a name="Page_129" id="Page_129"></a>holen, &mdash; einen Band nach dem anderen. Wenn ich mich
+darin vertiefte, so war ich am sichersten vor mir selbst:
+wie hatte ich mich f&uuml;r Iphigenie begeistert, um Gretchen
+geweint, und Werthers Leiden hatte ich mir gekauft,
+um sie immer in der Tasche tragen zu k&ouml;nnen. Ich
+pflegte sie heraus zu ziehen, wie der katholische Priester
+sein Brevier, wenn er sich vor Anfechtungen sch&uuml;tzen
+will.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist ja unerh&ouml;rt, unerh&ouml;rt!&laquo; unterbrach der Pfarrer
+meine Beichte, und seine Stimme &uuml;berschlug sich, wie in
+der Kirche, sobald er von der Fleischeslust sprach. &raquo;Da
+es dein ernster Wille zu sein scheint, dich zu bessern,&laquo;
+sagte er dann so laut, als h&auml;tte er die Rekruten der
+ganzen Garnison vor sich, &raquo;so wirst du tun, was ich
+von dir verlangen mu&szlig;: du r&uuml;hrst diese verwerflichen
+B&uuml;cher w&auml;hrend der Zeit des Konfirmandenunterrichts
+nicht mehr an. Du liest nur, was ich dir gebe. Du
+kommst jedesmal eine Viertelstunde fr&uuml;her zur Stunde
+zu mir als die andern Kinder, damit sie in ihrer Unschuld
+nicht gef&auml;hrdet werden. Versprichst du mir das?&laquo;
+Ich senkte stumm den Kopf; noch einmal legten sich
+seine Finger um die meinen, dann war ich entlassen.
+Wie zerschlagen schlich ich nach Hause. Aber ich war
+fest entschlossen, zu tun, was er verlangt hatte.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen gab es zu Haus eine b&ouml;se
+Szene: Pfarrer Eberhard hatte meinen Eltern &uuml;ber
+meinen Besuch Bericht erstattet und sie aufgefordert,
+sein &raquo;schweres Rettungswerk&laquo; zu unterst&uuml;tzen. Ich sah
+wohl, da&szlig; meines Vaters Zorn sich mehr gegen den
+Pfarrer, als gegen mich richtete, aber wie immer, wenn
+Mama mit ihrer ganzen Energie auftrat, &uuml;berlie&szlig; er
+<a name="Page_130" id="Page_130"></a>ihr das Feld, mir nur unter heftigem H&auml;ndedruck ein
+&raquo;verdammte Pfaffen&laquo; zufl&uuml;sternd. Alle meine Schubf&auml;cher
+wurden untersucht, alle B&uuml;cher konfisziert, die in
+die Rubrik: Lehrb&uuml;cher und Backfischliteratur nicht hineinpa&szlig;ten;
+der Schl&uuml;ssel vom B&uuml;cherschrank wurde abgezogen, &mdash; nur
+die verborgenen Sch&auml;tze im Sofa
+blieben unentdeckt. Ich befand mich in einer unbeschreiblichen
+Aufregung: Der erste Mensch, an den ich mich
+hilfesuchend gewandt, vor dem ich mein Inneres enth&uuml;llt
+hatte, wie vor keinem bisher, vertraute mir so wenig,
+da&szlig; er mich &uuml;berwachen lie&szlig; wie einen Verbrecher!
+Auch mit meinem Lehrer hatte Mama an demselben Tage
+eine l&auml;ngere Unterredung, von der er sehr rot und versch&uuml;chtert
+zu mir kam. Er umging von da an noch
+vorsichtiger als sonst jede Ber&uuml;hrung religi&ouml;ser Fragen.
+Er wurde &uuml;berhaupt immer scheuer vor mir und war
+seltsam zerstreut.</p>
+
+<p>Eine un&uuml;berwindbare Bitterkeit lie&szlig; diese erste Erfahrung
+mit dem Pfarrer in mir zur&uuml;ck; das pers&ouml;nliche
+Vertrauen war ein f&uuml;r allemal vernichtet, aber ich hoffte
+trotzdem, da&szlig; das, was er lehrte, mir Befreiung bringen
+w&uuml;rde. Und ich klammerte mich an diese Hoffnung.
+Ich las in den B&uuml;chern, die er mir gab, und in der
+Bibel, ich klagte mich vor mir selber an, wenn ich eine
+rechte Andachtsstimmung nicht festhalten konnte und
+immer wieder an den Widerspr&uuml;chen und Unwahrscheinlichkeiten,
+die mir aufstie&szlig;en, Ansto&szlig; nahm.</p>
+
+<p>War die Bibel von Gott inspiriert, so mu&szlig;te die
+Sch&ouml;pfungsgeschichte wahr sein; und war sie es, warum
+lehrte man uns dann die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse
+der Gelehrten kennen? Bei allen<a name="Page_131" id="Page_131"></a>
+Wundern, an die ich glauben sollte, stie&szlig;en mir dieselben
+Bedenken auf; und ebensowenig kam ich &uuml;ber die Lehre
+hinweg, da&szlig; der Gott der Liebe, der Vater im Himmel
+mit dem grausamen, rachs&uuml;chtigen Jehova des Alten
+Testaments identisch sein sollte. Furchtbarer aber als
+alles bedr&uuml;ckte mich der Zweifel an der Erl&ouml;sung der
+Menschheit durch Christi Leiden und Sterben. Weder
+die S&uuml;nden noch die Sorgen der Menschheit waren seit
+seinem Tode aus der Welt verschwunden, und jeder
+b&uuml;&szlig;te, &mdash; wie schmerzvoll empfand ich es selbst &mdash;, nach
+wie vor seine eigene Schuld. Ich sprach meine Zweifel
+und Bedenken offen aus &mdash; wir waren ja ausdr&uuml;cklich
+dazu aufgefordert worden! &mdash; und erwartete sehns&uuml;chtig,
+widerlegt, in unanfechtbarer Weise eines Besseren belehrt
+zu werden. Pfarrer Eberhard wurde immer
+nerv&ouml;ser, sobald ich den Mund auftat, und die andern
+starrten mich an, und stie&szlig;en sich kichernd mit den Ellbogen,
+wenn ich eine Frage stellte. Schlie&szlig;lich wurde
+mir ein f&uuml;r allemal verboten, in ihrer Gegenwart meine
+Gedanken laut werden zu lassen; ich benutzte zun&auml;chst
+die Viertelstunde des Alleinseins dazu, f&uuml;r die der Pfarrer
+immer seltener Zeit zu haben vorgab, und besuchte ihn
+schlie&szlig;lich au&szlig;erhalb der Stunde, wenn meine Zweifel
+mir gar keine Ruhe mehr lie&szlig;en. Er wurde von
+einem Mal zum anderen ungeduldiger, und warf mir
+meinen &raquo;geistigen Hochmut&laquo;, der mich verf&uuml;hre, mit den
+unzul&auml;nglichen Mitteln menschlichen Verstandes an g&ouml;ttliche
+Geheimnisse zu r&uuml;hren, in immer heftigerer Weise
+vor. Auf all mein Warum? war seine Antwort: dar&uuml;ber
+darf man nicht nachdenken, denn der Glaube allein versetzt
+Berge, der Glaube allein macht selig, und so wir
+<a name="Page_132" id="Page_132"></a>nicht werden wie die Kinder, werden wir das Reich
+Gottes nicht schauen. &mdash; Danach mu&szlig; geistiges Streben,
+Forschungstrieb, Wissenschaft ein Werk des Teufels sein, &mdash; folgerte
+ich. Unsere Unterhaltungen &mdash; das sah ich
+endlich ein &mdash; waren zwecklos. Ich gab sie auf. In
+dem Bed&uuml;rfnis, mich auszusprechen, machte ich meine
+Kusine, die ich schon mit meinen Herzensgeschichten aus
+allem Gleichgewicht gebracht haben mochte, zur Vertrauten
+meiner religi&ouml;sen K&auml;mpfe. Es waren Monologe,
+die ich vor ihr f&uuml;hrte, und ich war so sehr mit mir
+selbst besch&auml;ftigt, da&szlig; ich gar nicht bemerkte, wie das
+arme Ding unter mir litt: wie eine Blume war sie,
+die in der Knospe welkt, wenn sie zu fr&uuml;h dem Schutz
+des Schattens und der K&uuml;hle entrissen wird.</p>
+
+<p>Zuweilen frug mein Vater mich nach meinen Stunden;
+er, der menschlicher, feiner dachte, und der mich so lieb
+hatte wie niemand sonst, h&auml;tte mir vielleicht helfen
+k&ouml;nnen, wenn nicht eine tiefe, innere Entfremdung
+zwischen uns eingetreten w&auml;re. Hatte seine aufbrausende
+Heftigkeit, die zwar weniger im Verkehr mit mir, als
+der Dienerschaft und den Untergebenen gegen&uuml;ber hervortrat,
+ein inniges Verh&auml;ltnis zwischen uns schon nicht
+aufkommen lassen &mdash; jedes laute Wort lie&szlig; mich erzittern &mdash;,
+so machte meine allm&auml;hliche Erkenntnis unserer
+pekuni&auml;ren Lage, als deren Ursache ich ihn allein ansah,
+mich hart und unnahbar. Ich sah, wie oft meine Mutter
+weinte, wenn unerwartete Rechnungen kamen; ich las
+in den Briefen meiner Gro&szlig;mutter an Mama, die mir
+zuweilen gegeben wurden, zwischen den Zeilen, wie die
+Geldsorgen auf der ganzen Familie lasteten. Ich fing
+an zu begreifen, warum Mama sich &uuml;ber Geschenke ihres<a name="Page_133" id="Page_133"></a>
+Mannes nicht freute, was mir fr&uuml;her so herzlos erschienen
+war. Es kam vor, da&szlig; ich ihr darin schon
+nachahmte, und erst ein Blick auf Papas trauriges Gesicht,
+auf seine vor Entt&auml;uschung zuckenden Lippen, l&ouml;ste
+meine nat&uuml;rliche Freude &uuml;ber h&uuml;bsche Dinge aus. Mitleid
+aber ist kein Mittel des Vertrauens, besonders nicht
+bei einem Kinde und einem Weibe; Mitleid erhebt &uuml;ber
+den Bemitleideten; das Kind, wie das Weib, mu&szlig; emporsehen
+k&ouml;nnen zu dem Menschen, dem sein ganzes Vertrauen
+geh&ouml;ren soll. So blieb ich allein, auch in diesem,
+dem schwersten Kampf meiner Kindheit. Niemand half
+mir, selbst Gott nicht, so oft und so verzweifelt ich ihn
+auch anrief.</p>
+
+<p>Um diese Zeit war es, da&szlig; meine englische Lehrerin
+mir von Shelley erz&auml;hlte, der mit sechzehn Jahren schon
+seiner antichristlichen Ansichten wegen von der Schule
+entfernt worden war, sp&auml;ter aus denselben Gr&uuml;nden
+England verlassen mu&szlig;te und, kaum drei&szlig;ig Jahre alt,
+in den Wellen des Adriatischen Meeres seinen Tod fand.
+Sein Schicksal ergriff mich tief. Der &Uuml;berzeugung
+Stellung, Wohlleben, Familie und Heimat opfern, &mdash; das
+erschien mir stets als ruhmw&uuml;rdigste Tat.</p>
+
+<p>Mit der Versicherung, da&szlig; ich sie doch nicht verstehen
+w&uuml;rde, gab mir die lange, blonde Mi&szlig;, die f&uuml;r mich
+bis dahin nur die Verk&ouml;rperung der Grammatik gewesen
+war, auf mein dringendes Bitten Shelleys Werke.</p>
+
+<p><em class="antiqua">&raquo;Queen Mab&laquo;</em> war das erste, was ich aufschlug. In
+einer Nacht las ich es zweimal. Mir war, als w&auml;re
+ich selbst Janthe, der Geist, dem die Feenk&ouml;nigin des
+Weltalls wundervolle Pracht, die Schauer der Vergangenheit,
+das Elend der Gegenwart und das verkl&auml;rte<a name="Page_134" id="Page_134"></a>
+Bild der Erdenzukunft zeigte: Ich sah die Reichen
+schwelgen, die Armen hungern; die Toten sah ich auf
+den Schlachtfeldern, hingemordet um der L&auml;ndergier der
+K&ouml;nige willen, und sah, wie die Menschen einander
+zerfleischten wie wilde Tiere, im Namen ihrer G&ouml;tter!
+Und dann verklangen in weiter Ferne all die Laute
+der Qual, das Weinen der Verlassenen, das St&ouml;hnen
+der Hungernden, Verzweiflungsschreie und Todesr&ouml;cheln.
+&raquo;Die Wirklichkeit des Himmels, die selige Erde&laquo; zeigte
+sich, die Welt der Zukunft, wo niemand vergebens mehr
+nach Brot verlangen, niemand nach Erkenntnis verdursten,
+wo die Menschheit sich selbst erl&ouml;st haben wird
+aus der H&ouml;lle irdischer Verdammnis. <em class="antiqua">&raquo;Spirit, behold
+thy glorious destiny!&laquo;</em>, &mdash; rief Mab, die K&ouml;nigin, es
+mir nicht zu? Galt nicht mir ihre Mahnung: F&uuml;rchte dich
+nicht! F&uuml;hre den Krieg gegen Herrschsucht und Falschheit
+und Not, schlag durch die Wildnis den Pfad hin&uuml;ber
+in die Welt, die da kommen soll!</p>
+
+<p>Ich empfand Shelleys Atheismus nicht, ich f&uuml;hlte
+nur, da&szlig; er den Gott verleugnete, an den auch ich nicht
+zu glauben vermochte, und wie eine Offenbarung wirkte
+auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher Idealismus,
+sein Vertrauen in der Menschen eigene Kraft, sein
+feuriger Appell an die Macht des Willens.</p>
+
+<p>In langen N&auml;chten voll innerer K&auml;mpfe suchte ich
+mir klar zu werden &uuml;ber den Weg, den ich zu gehen
+hatte, und baute mir langsam, Stein um Stein m&uuml;hselig
+zusammentragend, die Kirche meiner Religion auf.
+Ein hei&szlig;es Gl&uuml;cksgef&uuml;hl erf&uuml;llte mich, als ich mein
+Werk vollendet sah und der Entschlu&szlig; in mir fest stand,
+mich zu keinem andern Glaubensbekenntnis als zu
+<a name="Page_135" id="Page_135"></a>meinem eigenen zwingen zu lassen, &mdash; koste es, was es
+wolle.</p>
+
+<p>Um die Weihnachtszeit 1879 besuchte ich Pfarrer
+Eberhard und erkl&auml;rte ihm, da&szlig; ich au&szlig;erstande sei, das
+Apostolikum vor dem Altar zu beschw&ouml;ren, da&szlig; er mich
+daher von der Einsegnung dispensieren m&ouml;ge. Zugleich
+legte ich ihm eine schriftliche Zusammenfassung meiner
+religi&ouml;sen Ansichten vor, &mdash; ein pers&ouml;nliches Glaubensbekenntnis,
+das jeder der Konfirmanden niederzuschreiben
+verpflichtet war. Es lautet:</p>
+
+<div class="blockquot"><p>&raquo;&#8250;Ich glaube an Gott den Vater, allm&auml;chtigen
+Sch&ouml;pfer Himmels und der Erden.&#8249;</p></div>
+
+<p>Ich glaube nicht an diesen Gott. Ich glaube nicht,
+da&szlig; er in sechs Tagen die Welt geschaffen hat, da&szlig; er
+ihm zum Bilde den Menschen schuf. Ich glaube der
+Wissenschaft mehr als den unbekannten Fabelerz&auml;hlern
+des Alten Testaments.</p>
+
+<div class="blockquot"><p>&#8250;Ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingeborenen
+Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist von dem
+Heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria,
+gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben
+und begraben, niedergefahren zur H&ouml;lle, am dritten
+Tage auferstanden ist von den Toten, aufgefahren gen
+Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allm&auml;chtigen
+Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die
+Lebendigen und die Toten.&#8249;</p></div>
+
+<p>Ich glaube nicht an diesen Christus, denn ich halte
+es f&uuml;r heidnisch, an eine Menschwerdung Gottes zu
+glauben. Ich glaube weder an seine wunderbare Geburt,
+noch an seine H&ouml;llen-, noch an seine Himmelfahrt, noch
+an seine Wunder.</p>
+<p><a name="Page_136" id="Page_136"></a></p>
+<div class="blockquot"><p>&#8250;Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige
+christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung
+der S&uuml;nden, Auferstehung des Fleisches und
+ein ewiges Leben.&#8249;</p></div>
+
+<p>Ich glaube nicht an diesen Heiligen Geist, ich glaube
+nicht an eine heilige, christliche Kirche, die mordet, brennt,
+verfolgt, steinigt, die Seelen martert, die Wahrheit
+leugnet. Ich glaube nicht an Vergebung der S&uuml;nden,
+weil S&uuml;nde sich nur durch bessere Taten vergibt. Ich
+glaube nicht an Auferstehung des Fleisches, denn das
+ist wissenschaftlich unm&ouml;glich.</p>
+
+<p>Ich glaube an eine h&ouml;here Gewalt, die wir Gott
+nennen, die der Ursprung des ersten Lebens ist, die
+die Kraft des Werdens in das erste Atom gelegt hat.
+Mein Geist ist ein Teil dieses Gottesgeistes.</p>
+
+<p>Ich glaube an Jesus, als an einen edlen Menschen,
+der zuerst das Gebot der Menschenliebe predigte und
+danach lebte. Ich glaube, da&szlig; er in Niedrigkeit geboren
+wurde, damit wir daran erkennen sollen, da&szlig; die
+Geburt nicht den Menschen macht, sondern eigene Arbeit
+und eigenes Streben. Christi Gebot der Menschenliebe
+wird die nach ihm benannte Kirche richten.</p>
+
+<p>Ich glaube an den Geist Gottes, der sich in allem
+Sch&ouml;nen und Gro&szlig;en offenbart, der nach dem Tode
+des K&ouml;rpers in andern fortlebt, sei es auf oder &uuml;ber
+der Erde. Die Kirche und ihre Dogmen halte ich f&uuml;r
+menschliche Einrichtungen, denen ein freier Geist sich
+nicht zu beugen braucht.</p>
+
+<p>Sollte dennoch die mir gelehrte christliche Religion
+die wahre sein, so hoffe ich das mit der Zeit zu erkennen.
+Wenn es ein Verbrechen ist, da&szlig; ich mich jetzt
+<a name="Page_137" id="Page_137"></a>von ihr lossage, so scheint es mir ein noch gr&ouml;&szlig;eres
+Verbrechen zu sein, mich zu ihr zu bekennen, wo mein
+Herz nichts davon wei&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>Pfarrer Eberhard war zuerst keines Wortes m&auml;chtig.
+Dann aber entlud sich sein Zorn schrankenlos &uuml;ber mir.
+Jede Selbstbeherrschung vergessend, schlug er mit Anklagen,
+Vorw&uuml;rfen, Drohungen auf mich ein, &mdash; es war
+wie eine Bastonnade! Aber ich ergab mich nicht. Durch
+Wochen und Monate setzte der Kampf zwischen uns sich
+fort, von dem niemand wu&szlig;te als wir beide. War
+es R&uuml;cksicht, oder war es die Sorge, seine Niederlage
+einzugestehen, &mdash; er weihte diesmal auch meine Eltern
+nicht ein. Zwischen jeder Zusammenkunft sammelte ich
+mein R&uuml;stzeug aus meinem verborgenen B&uuml;cherschatz,
+der um vieles gewachsen war, und gr&uuml;belte zu gleicher
+Zeit &uuml;ber die Ausf&uuml;hrung abenteuerlicher Pl&auml;ne. Gab
+der Pfarrer nicht nach, so war ich entschlossen, zu fliehen.
+Um mir das n&ouml;tige Geld zu verschaffen, schickte ich Gedichte
+und Aufs&auml;tze an die verschiedensten Zeitschriften &mdash; nat&uuml;rlich
+vergebens! &mdash; und verkaufte in obskuren
+L&auml;den ein Schmuckst&uuml;ck nach dem anderen. Als ich gerade
+im Begriffe stand, das Kostbarste, &mdash; eine alte Brillantbrosche,
+die meine Gro&szlig;mutter mir einmal geschenkt
+hatte, &mdash; fortzutragen, h&ouml;rte ich im Vor&uuml;bergehen einen
+heftigen Wortwechsel zwischen meinen Eltern. Aufhorchend
+blieb ich stehen: es handelte sich wieder einmal
+um eine unbezahlte Rechnung. Mama schluchzte; Papa
+rief aufgeregt: &raquo;Ich brauche mir deine Vorw&uuml;rfe nicht
+gefallen zu lassen. Ich saufe nicht, ich rauche nicht, ich
+r&uuml;hre keine Karte an, ich habe keine Weibergeschichten &mdash; was
+willst du eigentlich von mir?!&laquo; &mdash; &raquo;Du hast
+<a name="Page_138" id="Page_138"></a>immer zwei Pferde zu viel im Stall &mdash;&laquo; antwortete
+Mama heftig, &raquo;und Alix Privaterziehung, die Tausende
+verschlingt, war auch &uuml;berfl&uuml;ssig &mdash;.&laquo; &raquo;La&szlig; mir
+das Kind in Frieden!&laquo; brauste Papa auf &mdash; &raquo;die
+einzige Freude, die ich habe, la&szlig; ich mir nicht verg&auml;llen &mdash; &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>Jedes Wort traf mich ins Herz; mir hatten sie so
+gro&szlig;e Opfer gebracht &mdash; mir, die ich das Schwerste &uuml;ber
+sie heraufbeschwor; &mdash; ich war meines Vaters einzige
+Freude &mdash; ich, die ihm das Herz brechen wollte! &mdash; Ich
+lief davon, verkaufte mein Schmuckst&uuml;ck und kam
+hochrot und atemlos nach Hause zur&uuml;ck, nur von dem
+Gedanken getrieben, den armen Eltern eine Last abzunehmen.
+Sie sa&szlig;en vers&ouml;hnt nebeneinander und sahen
+mich verwundert an, als ich Mama hastig ein paar
+Goldst&uuml;cke in die Hand dr&uuml;ckte. &raquo;Was soll denn das?&laquo;
+frug sie, und &raquo;Woher hast du das Geld?&laquo; mein Vater.
+Ich erschrak; ich hatte in meinem Eifer an die M&ouml;glichkeit
+dieser Frage nicht gedacht. Sollte ich die Wahrheit
+sagen? Das hie&szlig;e auch meine &uuml;brigen Verk&auml;ufe
+verraten und meine Flucht von vornherein unm&ouml;glich
+machen. Mein Blick fiel auf das &raquo;Daheim&laquo; mit dem
+Anfang einer neuen Erz&auml;hlung an der Spitze. &raquo;Es ist &mdash; es
+ist &mdash; das Honorar f&uuml;r &mdash; diese Geschichte,&laquo;
+kam es m&uuml;hsam und stockend von meinen Lippen. Nun
+war ich im Netz meiner eigenen L&uuml;ge gefangen, und die
+Furcht vor den Folgen hinderte mich, es zu zerrei&szlig;en.
+Die Eltern glaubten mir; mein Vater umarmte mich
+voll R&uuml;hrung, und wenn er auch meine flehentliche Bitte,
+das Geheimnis meiner Autorschaft zu wahren, zu erf&uuml;llen
+versprach, so war er doch viel zu stolz auf den Erfolg
+<a name="Page_139" id="Page_139"></a>seiner Tochter, als da&szlig; er nicht wenigstens den n&auml;chsten
+Freunden und Verwandten davon Mitteilung gemacht
+h&auml;tte. Die Aufkl&auml;rung lie&szlig; nicht lange auf sich warten.
+Eine Kusine meines Vaters war mit der Verfasserin
+des Romans, den ich vorgab, geschrieben zu haben, befreundet
+und frug ihn brieflich nicht wenig erstaunt nach
+dem Zusammenhang dieser seltsamen Historie. Es kam
+zu einem furchtbaren Auftritt. Mein Vater kannte sich
+selbst nicht mehr. &raquo;Mein guter Name! Mein guter
+Name!&laquo; st&ouml;hnte er immer wieder und lief wie wahnsinnig
+im Zimmer hin und her. &raquo;Ich mu&szlig; mich erschie&szlig;en!
+Ich &uuml;berlebe die Schande nicht!&laquo; schrie er
+dazwischen, w&auml;hrend Mama still vor sich hin weinte.
+Stumm und regungslos stand ich mitten im Zimmer und
+r&uuml;hrte mich auch dann nicht, als Papa mit funkelnden,
+rot unterlaufenen Augen vor mir stehen blieb und die
+hoch erhobene Faust klatschend auf meine Wange niedersausen
+lie&szlig;.</p>
+
+<p>Stumpfsinnig vor mich hinbr&uuml;tend, lag ich ein paar
+Tage im Bett. Niemand k&uuml;mmerte sich um mich als
+die Anna, die mir auch mitleidig in die Kleider half,
+als Pfarrer Eberhards Besuch mir gemeldet wurde.
+Mit gefalteten H&auml;nden und tief bek&uuml;mmerter Miene
+trat er ein. Da&szlig; sie keinem echten Gef&uuml;hle Ausdruck
+gab, sah ich an den Lichtern leisen Triumphs, die in
+seinen Augen gl&auml;nzten: Endlich war der Sieg sein &mdash; endlich!
+Er hielt mir eine wohlvorbereitete Rede, die
+ich mit keiner Silbe unterbrach. Das furchtbare Ereignis
+habe hoffentlich, so sagte er, meinen Hochmut
+gebrochen und mich belehrt, da&szlig; Gott seiner nicht
+spotten lie&szlig;e. Noch sei es Zeit f&uuml;r mich, umzukehren
+<a name="Page_140" id="Page_140"></a>vom Wege der S&uuml;nde, und dem&uuml;tig dem zu folgen, der
+allein Wahrheit, Licht und Leben w&auml;re. &raquo;Nach all dem
+Kummer, den du deinen Eltern bereitet hast, wirst du
+ihnen die Schande nicht antun, vom Altar des Herrn
+fern bleiben zu wollen.&laquo; Ich schwieg auch jetzt, trotz
+der beziehungsreichen Pause, die er eintreten lie&szlig;. &raquo;Du
+wirst die Zeit bis dahin zur Einkehr, zur Bu&szlig;e, zum
+Gebet verwenden.&laquo; Wieder eine Pause. &raquo;Und wie
+Gott im Himmel seine Hand nicht von dir abziehen,
+und Jesu Christi Blut auch dich rein waschen wird von
+deinen S&uuml;nden, so werden deine lieben Eltern dir verzeihn.
+Ich werde mit Gottes Hilfe die Schwergepr&uuml;ften
+aufrichten und dich ihnen wieder zuf&uuml;hren.&laquo; Ich
+schwieg noch immer. &raquo;Wirst du tun, was ich, der
+Diener deines Herrn und Heilandes, von dir fordere?&laquo;
+Ein mechanisches &raquo;Ja&laquo; war meine Antwort.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der Wochen bis zu meiner Einsegnung lebte
+ich wie ein Automat; ich f&uuml;hlte weder Reue noch Kummer,
+und die Gedanken waren wie ausgel&ouml;scht. Nur als ich
+zum erstenmal das lange wei&szlig;e Konfirmandenkleid anprobierte,
+zuckte mir ein krampfhafter Schmerz durch
+den K&ouml;rper. Den Mund kaum zu einem L&auml;cheln verziehend,
+begr&uuml;&szlig;te ich die vielen Verwandten, die zu dem
+feierlichen Tage nach Posen kamen: Onkel Walter aus
+Pirgallen mit seiner jungen Frau, die eben auf der
+Hochzeitsreise waren, Onkel Kleve aus Bayern, Tante
+Klotilde aus Augsburg, die befriedigt die &raquo;w&uuml;rdige
+Stimmung&laquo; ihrer Nichte anerkannte. Als aber am
+Sonnabend vor Pfingsten, einem herrlichen lachenden
+Maientag, vor dem ich mich versch&uuml;chtert in mein d&auml;mmriges
+Zimmer verkrochen hatte, die T&uuml;re aufging und
+<a name="Page_141" id="Page_141"></a>wie getragen von einem breiten Strom von Licht, meine
+Gro&szlig;mutter in ihrem Rahmen erschien, war mir pl&ouml;tzlich,
+als fiele ein schwerer, eiserner Panzer von mir ab,
+der mich eingezw&auml;ngt und aufrecht erhalten hatte.
+&raquo;Gro&szlig;mama, liebe Gro&szlig;mama,&laquo; rief ich und brach aufschluchzend
+vor ihr zusammen. Ach, warum war ich
+nicht zu ihr gefl&uuml;chtet, warum kam sie erst jetzt, &mdash; jetzt,
+da es zu sp&auml;t war?! Tief ersch&uuml;ttert schlo&szlig; sie mich
+in ihre Arme, und ich weinte mich aus. Aber dann kam
+Mama, und der Abend im Kreise der Familie, und die
+Nacht ...</p>
+
+<p>Widerstandslos lie&szlig; ich mich am n&auml;chsten Morgen
+schm&uuml;cken, nahm den Strau&szlig; wei&szlig;er Rosen in die Hand
+und stieg mit den Eltern in den Wagen. Die ganze
+Stra&szlig;e stand voll Menschen, &mdash; wie bei einem Begr&auml;bnis,
+dachte ich. Auch vor der Kirche sammelten sich
+die Neugierigen in ihren bunten fr&ouml;hlichen Festtagskleidern.
+Durch die Fenster flutete die Sonne, so da&szlig;
+ich geblendet die vom Weinen hei&szlig;en Augen schlo&szlig;, als
+ich zwischen Vater und Mutter auf rotem Teppich durch
+die weite, wei&szlig;e S&auml;ulenhalle schritt. Die Glocken l&auml;uteten,
+brausend setzte die Orgel ein, laut dr&ouml;hnten &uuml;ber
+mir die kr&auml;ftigen Stimmen des Soldatenchors. Jeder
+Ton schnitt mir messerscharf in die Seele. Es blitzte
+und funkelte ringsum von Uniformen und Orden und
+raschelte von seidenen Kleidern. Ich sah nicht auf.
+Da schlug ein ganz leiser, weher Laut, wie &raquo;Alix&laquo; an
+mein Ohr. Ich hob den Kopf. Es war mein Lehrer,
+der mich mit einem Blick ansah, &mdash; einem Blick, der
+mir r&auml;tselhaft schien. Und dann standen wir vor dem
+Altar. Er war ringsum mit einem Wald von Palmen
+<a name="Page_142" id="Page_142"></a>umgeben, ohne eine einzige Blume dazwischen. &raquo;Wie
+beim Begr&auml;bnis,&laquo; dachte ich noch einmal. Ich h&ouml;rte
+nicht, was der Pfarrer sprach; mir war pl&ouml;tzlich, als
+st&uuml;nde ich dicht vor dem Felsentor des H&ouml;llentals, und
+der brausende Bach drohte, mich zu verschlingen. Mein
+Strau&szlig; entfiel mir; der ihn aufhob, war mein Lehrer;
+ich begegnete seinen Augen dabei, &mdash; seltsam, wie er
+mich ansah! Verwirrt blickte ich um mich; meine Mitsch&uuml;lerinnen
+sprachen schon das Apostolikum, und ein
+strenger Blick des Pfarrers mahnte mich an meine
+Pflicht. Einem aufgezogenen Uhrwerk gleich, sagte ich,
+ohne zu stocken, die drei Artikel auf. Und w&auml;hrenddessen
+f&uuml;hlte ich die vielen hundert Augen auf mich gerichtet, &mdash; gespannt,
+h&ouml;hnend, triumphierend. Darnach
+war es einen Atemzug lang totenstill, ehe der Pfarrer von
+jeder einzelnen das pers&ouml;nliche Bekenntnis zu den gesprochenen
+Worten abnahm und den Segen erteilte.
+Ich war die letzte. Er erhob die Stimme bedeutungsvoll,
+als er sich mir zuwandte. Sage nein &mdash; sage
+nein &mdash; klang es in mir. Angstvoll, hilfesuchend sah
+ich um mich: auf das g&uuml;tige, verzeihende L&auml;cheln meines
+Vaters fiel mein Blick, auf den leisen liebevollen Gru&szlig;
+meiner Mutter &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Bekennst du dich von ganzem Herzen zu unserm
+allerheiligsten Glauben, so antworte: Ja.&laquo; &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Irgendwo fiel ein Schirm &mdash; ein S&auml;bel rasselte &mdash; jemand
+schluchzte auf, &mdash; und die vielen, vielen Augen
+durchstachen mich.</p>
+
+<p>&raquo;Ja!&laquo; klang es laut und rauh durch die Kirche. War
+das wirklich meine Stimme gewesen?! Mechanisch kniete
+ich nieder, wie die andern. Ob wohl die Schleppe
+<a name="Page_143" id="Page_143"></a>richtig lag, dachte ich stumpfsinnig, und etwas wie Neugierde
+nach dem Spruch, den der Pfarrer mir geben
+w&uuml;rde, regte sich in mir.</p>
+
+<p>&raquo;Darinnen freuet euch nicht, da&szlig; euch die Geister
+untertan sind, sondern da&szlig; eure Namen geschrieben sind
+im Himmel.&laquo;</p>
+
+<p>Das fuhr wie ein Peitschenhieb auf mich nieder.
+Mein Name &mdash; und im Himmel geschrieben!! Hatte
+ich nicht eben vor Gottes Altar einen Meineid geschworen?! &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Unter Tr&auml;nen und Gl&uuml;ckw&uuml;nschen und Schmeichelworten
+umdr&auml;ngte mich alles. Zu Hause empfing mich
+ein Aufbau von kostbaren Geschenken, von duftenden
+Blumen; Milit&auml;rmusik spielte unter den Fenstern, und
+um die geschm&uuml;ckte Tafel versammelte sich eine gl&auml;nzende
+Gesellschaft. Mir galten die Reden und Toaste, und
+immer aufs neue perlte der Sekt in meinem Glase.
+In halber Bet&auml;ubung kam ich abends in mein Zimmer;
+die rote Ampel brannte &uuml;ber dem Bett; seltsam bedr&uuml;ckend
+war nach all den wirren Ger&auml;uschen des Tages
+die Stille. Mein Blick fiel auf ein kleines Paket, durch
+dessen Schn&uuml;re ein paar gelbe Rosen gezogen waren.
+Verwundert &ouml;ffnete ich das Geschenk, das nicht auf dem
+Tisch der allgemeinen Gaben gelegen hatte. Es enthielt
+ein schmales Buch in blauem Einband &mdash; &raquo;Deutsche
+Liebe&laquo; von Max M&uuml;ller, und einen Brief:</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;diges Fr&auml;ulein!</p>
+
+<p>Da ich gezwungen bin, schon morgen Posen zu verlassen,
+und vor Ihrer Abreise nicht zur&uuml;ck sein kann,
+gestatten Sie mir, Ihnen schriftlich Lebewohl zu sagen
+<a name="Page_144" id="Page_144"></a>und beifolgendes Buch als Andenken zu &uuml;berreichen.
+Seien Sie recht, recht gl&uuml;cklich!</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 6.5em;">In aufrichtiger Freundschaft</span><br />
+<span style="margin-left: 14em;">Ihr</span><br />
+<span style="margin-left: 15em;">Hugo Meyer.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Ich strich mir &uuml;ber die Stirn, &mdash; tr&auml;umte ich denn?
+Aber nein, das Buch, das ich las, best&auml;tigte mir, was
+mich pl&ouml;tzlich seinen Blick in der Kirche hatte verstehen
+lassen. Und ich &mdash; ich war blind neben ihm hergegangen,
+hatte nicht nach seiner Hand gegriffen, die
+mir aus dem Abgrund herausgeholfen h&auml;tte, in den ich
+versank! Schwarz, unergr&uuml;ndlich, un&uuml;berbr&uuml;ckbar sah
+ich ihn vor mir: Ich hatte heute einen Meineid geschworen, &mdash; und
+mein Freund, mein einziger Freund
+hatte mich verlassen!</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_145" id="Page_145"></a></p>
+<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>F&uuml;nftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Wenn der Sommer im Samland Einzug
+h&auml;lt, dann kommt er nicht als ein z&uuml;chtig
+Werbender, der sich die Erde in z&auml;her
+Treue allm&auml;hlich erobert; er kommt vielmehr, ein st&uuml;rmischer
+junger Held, der dem Freiwerber Fr&uuml;hling gar
+nicht Zeit l&auml;&szlig;t, ihm den Weg zu bereiten. Die Sonne,
+die eben noch umsonst mit den Winternebelwolken
+k&auml;mpfte, schie&szlig;t, wenn er naht, pl&ouml;tzlich mit gl&uuml;henden
+Pfeilen vom blauen Himmel herab, und auf einmal erwacht
+Wald und Feld und Wiese und gibt sich
+schrankenlos dem ungest&uuml;men Liebhaber hin. Die Blumen,
+die das Jahr, als ein karger Weiser, sonst &uuml;ber
+viele Monde verteilt, bl&uuml;hen hier zu gleicher Zeit in
+verschwenderischer F&uuml;lle; das Schneegl&ouml;ckchen begr&uuml;&szlig;t
+noch das Veilchen und die gelbe Butterblume; &uuml;ppig
+und grade im prangenden Schmuck ihrer leuchtenden
+Farben stehen Malven und Georginen im Garten,
+w&auml;hrend wei&szlig;e und gelbe und rote Rosen ihnen den
+Preis der Sch&ouml;nheit streitig machen. Mit dem herben
+Duft des Hollunders eint sich der s&uuml;&szlig;e, zarte der Linden,
+der schmeichelnde der blauen Fliederdolden und der berauschende,
+liebeskranke des Jasmins.</p>
+
+<p><a name="Page_146" id="Page_146"></a>Weit, weit hinab, bis zu den graublauen Fluten des
+Kurischen Haffs dehnen sich saftgr&uuml;ne Wiesen und gelbe
+Kornfelder; wenn der Wind dar&uuml;ber streicht, ist es wie
+ein einziges wogendes Meer, aus dem nur hie und da
+die Strohd&auml;cher d&uuml;rftiger H&auml;user hervorlugen. Aber
+auch ihr Elend hat der Sommer, als k&ouml;nnte er nichts
+Trauriges sehen, mit rasch wucherndem Schlingkraut verschleiert,
+so da&szlig; ihre tr&uuml;ben Scheiben wie verschlafene
+Augen verwundert darunter hervorsehen. Es ist so ruhig
+hier wie im Dornr&ouml;schenzauber; nur hie und da unterbricht
+das kl&auml;gliche Weinen eines verlassenen S&auml;uglings
+die tiefe Stille. Was F&uuml;&szlig;e und Arme regen kann, ist
+hinaus mit Harke oder Sense, Spaten oder Beil, Ruder
+oder Fischnetz. Der hei&szlig;e Sommer weckte jung und
+alt aus dem langen, dumpfen Winterschlaf, und von
+fr&uuml;h bis sp&auml;t gilt es schaffen, um seiner Gaben Reichtum
+rasch, wie er sie brachte, zu bergen. Wie sie alle
+lebendig geworden sind, diese schwerbl&uuml;tigen Menschen:
+sie gehen nicht &mdash; sie springen &mdash;, sie lachen nicht &mdash; sie
+kreischen, und der Haffwind, des Samlandsommers
+treuer Knecht, peitscht ihre strohgelben Haare, da&szlig; sie
+rings von den breiten Sch&auml;deln abstehen, wie Bl&auml;tter
+der Sonnenblume um den Kelch, und bl&auml;ht die roten
+R&ouml;cke der Weiber, da&szlig; die nackten Beine bei jeder Bewegung
+darunter hervorleuchten. Sie sind mit der
+Natur noch eins, diese M&auml;nner und Frauen: sie
+schlafen auch den Winterschlaf mit ihr; denn nach
+der langen Tagesarbeit klingts und singts noch durch
+die helle warme Sommernacht; es kichert und raschelt
+zwischen den Garben, es atmet hei&szlig; und schwer in den
+Gei&szlig;blattlauben. Vom Dorfkrug aber l&auml;rmt und tobt
+<a name="Page_147" id="Page_147"></a>es her&uuml;ber: da sitzen sie hinter schw&auml;lender Lampe, vertrinken
+und verspielen ihre Habe, und wenn sie gl&uuml;hend
+vom Branntwein heimkehren, mischt sich wohl auch wilder
+Wehlaut aus Weiberkehlen in all die vielen wirren
+T&ouml;ne der Nacht.</p>
+
+<p>In solch eines Sommers hei&szlig;es Leben kam das blasse
+Stadtkind mit den tr&uuml;ben Augen und dem matten
+L&auml;cheln. Das Turmzimmer von Pirgallen nahm es
+wieder auf, wo es zuerst das von der alten Linde vor
+dem Fenster gr&uuml;n verschleierte Licht des Tages erblickt
+hatte. &raquo;Hier soll mein Alixchen wieder rund und rosig
+werden,&laquo; sagte die Gro&szlig;mama bei der Begr&uuml;&szlig;ung, das
+Enkelkind bek&uuml;mmert musternd. &raquo;Und all die Gelehrsamkeit
+soll sie vergessen,&laquo; f&uuml;gte Onkel Walter lachend
+hinzu. &raquo;Und trinken und tanzen soll sie, bis sie schwindlig
+wird,&laquo; rief Tante Emmy, seine Frau, w&auml;hrend in ihren
+lustigen braunen Augen alle Kobolde des Frohsinns ein
+Feuerwerk entz&uuml;ndeten. Seit sie vor kaum einem halben
+Jahr hier Einzug gehalten hatte, mochte das alte Schlo&szlig;
+sich selbst kaum wieder erkennen: Die G&auml;ste kamen und
+gingen, helle Kleider raschelten durch die sonst so einsamen
+G&auml;nge, die Mauern hallten wider von Lachen
+und Scherzen.</p>
+
+<p>Wenn morgens der Rasenteppich, der hinter dem
+Schlo&szlig; bis zum Wasser herunterf&uuml;hrt, unter Tauperlen
+und Sonnenstrahlen gl&auml;nzte und glitzerte wie ein Riesensmaragd,
+dann gingen die G&auml;ste von der breiten Terrasse
+die hohe Steintreppe hinab und verteilten sich in Park
+und Wald; die einen tr&auml;umten still in der H&auml;ngematte,
+die andern lockte das Haff, dessen wei&szlig;e Schaumk&ouml;pfchen
+vom Horizont her&uuml;bergl&auml;nzten, zum Bad und zur Segel<a name="Page_148" id="Page_148"></a>fahrt;
+die Ruhigen liebten es, am Strande Muscheln
+zu suchen; die Waghalsigen wollten, mit Kutschern und
+Reitknechten um die Wette, junge Pferde hinter Zaum
+und Z&uuml;gel zwingen. Freiheit der Bewegung war Gesetz
+f&uuml;r alle. Nur wenn laut der Gong durch Schlo&szlig; und
+Hof und Garten gellte, fanden sie sich allm&auml;hlich wieder
+zusammen.</p>
+
+<p>Allabendlich f&uuml;llte sich der dunkle Speisesaal, in dem
+so lange nur Mutter und Sohn einander schweigsam
+gegen&uuml;bergesessen hatten, mit lebenslustiger Jugend, und
+die kulinarischen Gen&uuml;sse, die der franz&ouml;sische Koch zu
+bereiten verstand, steigerten mit dem perlenden Sekt, den
+der alte Haushofmeister unerm&uuml;dlich in die Gl&auml;ser
+schenkte, die lebendige Stimmung. Wenn dann hinter
+den Fl&uuml;gelt&uuml;ren die z&auml;rtlich-lockende Weise des Donauwalzers
+klang, gab es ein heftiges St&uuml;hler&uuml;cken, und
+gleich darauf flogen die Paare durch den hohen wei&szlig;en
+Saal. Viele schmale Spiegel, von Goldleisten eingefa&szlig;t
+und von musizierenden Amoretten bekr&ouml;nt, warfen das
+Bild immer wilder tobender T&auml;nzer zur&uuml;ck, w&auml;hrend so
+manche durch das Alter blind gewordene Scheiben heimlich
+die Erinnerung an grazi&ouml;s und feierlich im Menuett
+sich schl&auml;ngelnde und wiegende Rokokopaare zu bewahren
+schienen. Mit leisem Klirren schlugen die Kristallprismen
+des Kronleuchters aneinander, und die Lichter
+flackerten im Takt, als h&auml;tte die Tanzweise auch ihnen
+Leben verliehen; sie bewegten sich noch lange hin und
+her, wenn die duftende Schw&uuml;le der Sommernacht die
+Tanzenden durch weit offene T&uuml;ren in den d&auml;mmernden
+Park gelockt hatte. Da gab es verschnittene Laubeng&auml;nge
+und wei&szlig;e B&auml;nke im Jasmingestr&auml;uch, und auf
+<a name="Page_149" id="Page_149"></a>stillen Weihern kleine K&auml;hne. Sp&auml;t erst, wenn feuchte
+Nebel vom Haff her&uuml;ber die nackten Schultern der
+Frauen unter den Spitzengeweben zittern lie&szlig;en, gingen
+Pirgallens Bewohner zur Ruhe.</p>
+
+<p>Unaufhaltsam ri&szlig; mich das Leben in seinen Strudel.
+Geistig m&uuml;de und stumpf, getrieben von dem Wunsch,
+nur nicht zu mir selbst kommen zu k&ouml;nnen, war es mir
+zuerst der Rausch, der Vergessen bringt. Aber dann
+siegte Jugend und Lebenslust, und der Genu&szlig; wurde
+zum Selbstzweck. Niemand dachte angesichts des gro&szlig;en
+reifen M&auml;dchens an ihre vierzehn Jahre; ich galt allen
+als erwachsene junge Dame, als Tochter des Hauses
+&uuml;berdies, und was an m&auml;nnlicher Jugend ins Schlo&szlig;
+kam, das teilte seine Huldigungen zwischen der lustigen
+Hausfrau und ihrer Nichte. Zuweilen, das merkte ich
+wohl, war ich der Tante, die gewohnt war, der Mittelpunkt
+der Gesellschaft zu sein, ein Dorn im Auge. Dann
+begann jener stille Frauenkampf um den ersten Platz,
+der, mit allen Waffen der Koketterie gef&uuml;hrt, nicht minder
+aufregend ist als der der M&auml;nner im Fechtsaal oder
+beim Hasard. Triumphierte meine Jugend &uuml;ber ihre
+Grazie und ihren Witz, so behandelte sie mich pl&ouml;tzlich
+als das Kind, das zur Strafe nicht mitgenommen wird,
+wenn die Gro&szlig;en sich am&uuml;sieren; doch &raquo;das Kind&laquo; durchkreuzte
+nur zu rasch ihre p&auml;dagogischen Einf&auml;lle. So
+wurde ich einmal von einer Segelpartie ausgeschlossen &mdash; aus
+Mangel an Platz, sagte sie &mdash;; im Augenblick
+aber, als die Jacht den Hafen verlie&szlig;, erschien ich hoch
+zu Ro&szlig; in Begleitung des feschesten K&uuml;rassierleutnants,
+den meine Tante &mdash; ich wu&szlig;te es genau! &mdash; von allen
+G&auml;sten am meisten entbehrte. Und ein andermal, als
+<a name="Page_150" id="Page_150"></a>ihre neuste Pariser Toilette mich ausstechen sollte, zog
+ich durch einen rasch zusammengestellten phantastischen
+Schmuck von Vogelbeeren auf meinem wei&szlig;en Kleid und
+in meinen schwarzen Haaren alle Blicke zuerst auf mich.
+Es war gerade von der gro&szlig;en Dampferfahrt die Rede,
+die der konservative Verein des Kreises mit seinen
+Damen durch den Friedrichskanal zum Moorbruch unternehmen
+wollte. Wir freuten uns alle darauf, ein St&uuml;ck
+altlitauer Landes und Lebens kennen zu lernen.</p>
+
+<p>&raquo;Schade, da&szlig; Alix zu Hause bleiben mu&szlig;,&laquo; h&ouml;rte ich
+pl&ouml;tzlich die hohe scharfe Stimme der Tante sagen; &raquo;nur
+pers&ouml;nlich Geladene haben Zutritt.&laquo; Mir stiegen Tr&auml;nen
+der Entt&auml;uschung und des Zorns in die Augen. Onkel
+Walter, der den Zusammenhang nicht begriff, sah mich
+an und rief &uuml;ber den Tisch hin&uuml;ber: &raquo;Beruhige dich,
+Alix, das ist eine blo&szlig;e Formalit&auml;t, die ich rasch erledigen
+werde.&laquo;</p>
+
+<p>Tante Emmys gereizte Stimmung verriet mir am
+n&auml;chsten Morgen, da&szlig; es zwischen dem Ehepaar noch eine
+Szene gegeben hatte und der Sieg nicht auf ihrer Seite
+gewesen war. Die offizielle Einladung wurde mir mit
+einer gewissen Absichtlichkeit &uuml;berreicht, und ich konnte
+das leise L&auml;cheln nicht unterdr&uuml;cken, mit dem ich die
+Tante dabei ansah.</p>
+
+<p>Am fr&uuml;hen Morgen des gro&szlig;en Tages fuhren wir in
+zwei Viersp&auml;nnern gen Labiau, die Kreisstadt. Als die
+Wagen &uuml;ber das holprige Pflaster rollten, flogen links
+und rechts die Fenster auf, und neugierige Gesichter
+starrten den ber&uuml;hmten Gespannen Pirgallens nach. Auf
+der Stra&szlig;e blieben die Leute stehen, zogen die M&uuml;tzen
+oder knixten respektvoll; und am Anlegeplatz, wo der<a name="Page_151" id="Page_151"></a>
+Dampfer schon fauchte und prustete, wartete die Menge
+der Geladenen auf den vornehmsten Mann, den gr&ouml;&szlig;ten
+Besitzer und den eben zum Reichstagskandidaten des
+Kreises aufgestellten Freiherrn. Er und seine Frau
+wurden umringt, ich stand abseits und musterte mit
+heimlichem Naser&uuml;mpfen die Gesellschaft: Die Frauen,
+fast alle gro&szlig; und hager, in seidene Staatskleider gezw&auml;ngt,
+&uuml;ber den kantigen Gesichtern und den glatten
+Scheiteln kleine Kapotth&uuml;tchen, mit allen Zeichen jener
+nicht zu &uuml;berwindenden Verlegenheit, die ungewohnte,
+mit Wetter und Tagesstunde unvereinbare Kleidung
+hervorruft; die M&auml;dchen, hochrot vor Erregung, in
+steifgest&auml;rkten Kattunf&auml;hnchen, Zwirnhandschuhe &uuml;ber
+den H&auml;nden, klirrende Armb&auml;nder &uuml;ber den breiten Gelenken,
+in einem dichten Haufen &auml;ngstlich zusammengeschart,
+als gelte es, sich gegenseitig vor den Angriffen
+der M&auml;nner zu sch&uuml;tzen. Die hatten sich schwarz und
+dicht gegen&uuml;ber postiert, nur hier und da von einer
+Reserveleutnantsuniform irgend eines hundertsten Infanterieregiments
+unterbrochen. Sonst lauter Bratenr&ouml;cke
+und Zylinder. Mich grauste es; ganz anders hatte
+ich mir die Sache gedacht, und beinahe w&auml;re ich rasch
+wieder in unseren Wagen gesprungen, als Onkel Walter
+sich nach mir umdrehte: &raquo;Erlaube, da&szlig; ich dir einige
+der Herren vorstelle: Herr v. Trebbin, v. Wanselow,
+v. Warren-Laukischken.&laquo; So alte Namen und solche
+Bauern! dachte ich, w&auml;hrend mein Blick auf ihren roten
+H&auml;nden sekundenlang haften blieb.</p>
+
+<p>&raquo;Ah, da sind Sie ja auch, mein lieber Rapp,&laquo; h&ouml;rte ich
+meinen Onkel lachend sagen, &raquo;trauen Sie sich wirklich einmal
+in Damengesellschaft?!&laquo; Ich wandte mich rasch nach
+<a name="Page_152" id="Page_152"></a>dem Angeredeten um: das also war der Frauenfeind, von
+dem Tante Emmy im Wagen gesagt hatte, er sei der einzige,
+der sie interessiere. Sie hatte zweifellos vor, den wunderlichen
+Einsiedler zu bekehren und freund-nachbarliche
+Beziehungen anzukn&uuml;pfen. Ich dachte nicht mehr daran,
+davon zu fahren, sondern folgte dem Menschenstrom,
+der &uuml;ber den Schiffssteg zum Dampfer flutete. Die
+Labiauer Stadtkapelle konzertierte, als h&auml;tten alle verstimmten
+Fl&ouml;ten und Trompeten sich hier ein Stelldichein
+gegeben, und zwischen den Eichenlaubgewinden knisterten
+die grellbunten Papierblumen. Das kleine Schiff schien
+die Geladenen kaum fassen zu k&ouml;nnen. Nur die Honoratioren,
+darunter auch meine Verwandten, wurden an
+einen gedeckten Tisch gen&ouml;tigt, auf dem ein kreisrunder
+Strau&szlig; in wei&szlig;er Papiermanschette prangte. Alle
+anderen suchten sich eilig einen Platz; wie aufgescheuchte
+V&ouml;gel liefen die M&auml;dchen umher, bis sie gl&uuml;cklich wieder
+eng gedr&auml;ngt in einer Ecke beieinander sa&szlig;en. Ich blieb
+ruhig stehen; Laufen und Hasten war mir immer antipathisch,
+und aufs Geradewohl mich irgendwo einklemmen,
+vollends. Das Schiff setzte sich schon in Bewegung, als
+ich Herrn von Rapp in meiner N&auml;he sah, sichtlich unschl&uuml;ssig,
+in welchen Winkel er sich mit seiner Menschenfeindschaft
+fl&uuml;chten sollte. &raquo;Wir sind Leidensgef&auml;hrten,&laquo;
+sprach ich ihn an, &raquo;ich glaube, in der Kaj&uuml;te sind Sessel,
+wollen Sie so gut sein, mir einen bringen?&laquo; Mit zweien
+kam er zur&uuml;ck, &mdash; ich wu&szlig;te, als h&ouml;flicher Mann konnte
+er mich nicht allein lassen. Wir unterhielten uns, zuerst
+gequ&auml;lt und konventionell, dann immer lebhafter. Der
+kleine Mann mit dem fr&uuml;hzeitig kahlen Sch&auml;del hatte
+seine Landeinsamkeit ausgenutzt: er war belesen, und &mdash; was
+<a name="Page_153" id="Page_153"></a>in dieser Umgebung noch erstaunlicher schien &mdash; er
+hatte selbst&auml;ndig &uuml;ber Welt und Menschen nachgedacht.
+Was ich geplant hatte, um die Tante zu &auml;rgern
+und mir die Zeit zu vertreiben, war rasch vergessen, &mdash; so
+sehr fesselte mich unser Gespr&auml;ch. Inzwischen fuhren
+wir im leuchtenden Sonnenschein den Friedrichskanal
+entlang, durch das dunkelgr&uuml;ne Moosbruch, an niedrigen
+H&auml;uschen vorbei, um die verkr&uuml;ppelte Obstb&auml;umchen
+bl&uuml;hten, vor&uuml;ber an Agilla und Juwendt, uralten litauer
+Ansiedlungen, wo die Strohd&auml;cher fast zur Erde reichten
+und die kleinen struppigen Pferdchen, denen des Litauers
+z&auml;rtlichste Sorgfalt gilt, lustig zwischen den Scharen
+schmutziger Blondk&ouml;pfchen umhersprangen. Mein Nachbar
+kannte Land und Leute gut; er wu&szlig;te von den hartn&auml;ckigen
+K&auml;mpfen gegen die Ordensritter zu erz&auml;hlen,
+die mit einer &mdash; was die Religion betrifft, freilich nur
+scheinbaren &mdash; Unterwerfung der Litauer erst dann
+endeten, als die Zahl ihrer M&auml;nner auf das &auml;u&szlig;erste
+dezimiert war, und kannte all ihre seltsamen Gebr&auml;uche,
+die sich noch aus der Zeit des Heidentums erhalten
+hatten.</p>
+
+<p>Ein heftiger Sto&szlig;, der unseren Dampfer erzittern
+lie&szlig;, unterbrach seine Schilderungen: wir sa&szlig;en fest,
+vergebens arbeitete die Maschine, der Kapit&auml;n, der gestand,
+hier noch nie gefahren zu sein, war ratlos, und
+alles Geschrei vermochte niemanden ans Ufer zu locken
+als die Kinder.</p>
+
+<p>&raquo;Setzen Sie ein Boot aus und fahren Sie hin&uuml;ber,&laquo;
+damit wandte sich mein Onkel an den Kapit&auml;n. Unter
+dem Vorwand, sich mit den Litauern nicht verst&auml;ndigen
+zu k&ouml;nnen, lehnte er es ab. &raquo;Begleiten wir ihn!&laquo; sagte
+<a name="Page_154" id="Page_154"></a>ich, entz&uuml;ckt von der Aussicht auf ein Abenteuer, leise
+zu Rapp, der mir eben klangvolle Strophen litauischer
+Dainos zitiert hatte. Rasch entschlossen verst&auml;ndigte
+er sich mit dem Kapit&auml;n, und ebenso rasch folgte ich den
+M&auml;nnern in den Kahn, begleitet von dem erstaunt-unwilligen
+Gemurmel der Zur&uuml;ckbleibenden. Am Ufer
+angelangt, traten wir in eines der ersten H&auml;user und
+stie&szlig;en die T&uuml;re auf, als uns auf unser Klopfen niemand
+antwortete.</p>
+
+<p>Der Raum war fast dunkel, und bei&szlig;ender Rauch
+hinderte uns &uuml;berdies, die Augen zu &ouml;ffnen; ein paar
+H&uuml;hner flogen vor uns auf, Schweinegrunzen t&ouml;nte uns
+aus dem &auml;u&szlig;ersten Winkel entgegen, auf dem Herd,
+dessen Glutaugen uns ansahen, wurde hastig ein Topf
+beiseite ger&uuml;ckt, dann n&auml;herten sich uns schlurfende
+Schritte. Ein Weib, dem wei&szlig;e lange Haare wirr und
+tief &uuml;ber die Schultern fielen, trat uns entgegen, kreuzte
+die Arme &uuml;ber das grobe Hemd, das mit einem dicken
+gelben Wollrock ihre einzige Bekleidung bildete, und
+k&uuml;&szlig;te mit einer Geb&auml;rde dem&uuml;tiger Unterw&uuml;rfigkeit den
+Saum meines Kleides. Rapp erkl&auml;rte ihr rasch die
+Situation. War sie es, oder war es der Klang der
+eigenen Sprache, der ihr ein L&auml;cheln in das Antlitz
+trieb? Ablehnend zuckte sie die Schultern und wies auf
+die Bank in der Ecke, auf der ein Mann, in eine
+Pferdedecke geh&uuml;llt, schnarchend lag.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn der Litauer nicht trinkt, dann stiehlt er, und
+wenn er nicht stiehlt, dann schl&auml;ft er,&laquo; sagt das Sprichwort.
+Rapp wurde ungeduldig und sprach lauter. Inzwischen
+hatten sich die Kinder aus der T&uuml;re hereingeschlichen
+und umringten die Mutter; in all den vielen<a name="Page_155" id="Page_155"></a>
+Augen &mdash; graublau wie das Haff &mdash; spielten feindselige
+Lichter; und je heftiger Rapp wurde, desto straffer richtete
+sich das Weib aus ihrer gebeugten Stellung auf, bis
+ihre Stirn den niedrigen Balken der H&uuml;tte fast streifte.
+&raquo;Wie eine verwunschene Schicksalsg&ouml;ttin,&laquo; dachte ich und
+wich scheu vor ihr zur&uuml;ck. Rapp aber war an ihr vorbei
+an den Herd getreten und hatte den Kessel aus Licht ger&uuml;ckt.
+&raquo;Rehbraten!&laquo; rief er. &raquo;Dacht' ichs mir doch! Also
+ein Wilddieb.&laquo; Schon lag die Frau ihm jammernd zu
+F&uuml;&szlig;en, und, sich die Augen reibend, war der Mann bei dem
+L&auml;rm vom Lager gesprungen. Es bedurfte nur noch einer
+kurzen Unterhandlung, um sie gef&uuml;gig zu machen. Kaum
+zum Dampfer zur&uuml;ckgekehrt, entwickelte sich ein merkw&uuml;rdiges
+Schauspiel vor unsern Augen: lange schmale K&auml;hne
+umringten ihn von allen Seiten, in jedem stand aufrecht,
+mit dem Ruder kr&auml;ftig sto&szlig;end, ein Weib. Eine sah
+aus wie die andere: gro&szlig;, schlank, hell&auml;ugig, mit buntem
+Rock, einem Hemd, das oft reiche Stickerei aufwies,
+ein grelles Tuch um die wei&szlig;blonden Haare geschlungen.
+Sie wu&szlig;ten so genau Bescheid in ihren heimatlichen
+Gew&auml;ssern wie der beste Lotse, und bald waren wir
+wieder flott und fuhren in gutem Fahrwasser den voranrudernden
+Frauen nach. Allm&auml;hlich wurde ihre Zahl
+immer kleiner, und nur die grauhaarige Schicksalsg&ouml;ttin
+blieb &uuml;brig, um uns den Weg zu der Mittagsstation,
+wo das ersehnte Diner unsrer wartete, zu zeigen. Schlie&szlig;lich
+verschwand auch sie, nachdem der Weg, wie sie sagte,
+nicht mehr zu fehlen sei; irgendwo aus der Ferne h&ouml;rten
+wir noch das Rufen und Lachen, mit dem die Heimkehrende
+von den Gef&auml;hrtinnen empfangen wurde. Aber
+zu unserm Mittagessen gelangten wir nicht &mdash; f&uuml;r die
+<a name="Page_156" id="Page_156"></a>entdeckte Wilddieberei hatte die Alte sich ger&auml;cht! Unser
+Schiff enthielt Proviant; aber man hatte mehr an den
+Durst als an den Hunger der Passagiere gedacht; und
+da bei stundenlanger Fahrt auch so ergiebige Gespr&auml;chsstoffe
+wie Getreidepreise, Leutemangel, Erntesorgen und
+Viehzucht schlie&szlig;lich ersch&ouml;pft waren, so blieb den biederen
+Vereinsgenossen nichts &uuml;brig, als zu trinken und Skat
+zu spielen. Um dem Sehbereich ihrer teuren Eheh&auml;lften
+zu entgehen, zogen sie sich, soweit es der Raum erlaubte,
+in die Kaj&uuml;ten zur&uuml;ck. Zigarrendampf, knallende Pfropfen,
+ein immer br&uuml;llenderes Gel&auml;chter, hier und da aus der
+Tiefe auftauchende blaurote K&ouml;pfe k&uuml;ndigten an, wie
+es dort unten aussah. Die Frauen, bei denen die drei
+ber&uuml;hmten Gespr&auml;chsthemen &mdash; Klatsch, K&uuml;che und Kleider &mdash; zwar
+etwas l&auml;nger vorhielten, waren bald &uuml;bel
+daran. Vorsorgliche Hausfrauen zogen resigniert eine
+H&auml;kelarbeit aus der Tasche, die jungen M&auml;dchen, zu
+denen ein paar unternehmende J&uuml;nglinge sich gesellt
+hatten, spielten kindliche Spiele, wobei ihr Kichern den
+Grad ihres Am&uuml;sements bezeichnen sollte; viele schliefen
+mit M&auml;ntelpolstern unter den K&ouml;pfen.</p>
+
+<p>Indessen glitt unser Dampfer mit leisem Pl&auml;tschern
+durch die traumhafte Stille endloser gleichm&auml;&szlig;ig gr&uuml;ner
+Einsamkeit.</p>
+
+<p>Seltsam, wie wenig Menschen schweigend genie&szlig;en
+k&ouml;nnen, wie der Begriff der Unterhaltung sich bei den
+meisten mit Schwatzen deckt und ein Unbesch&auml;ftigtsein
+der Zunge oder der H&auml;nde ihnen gleichbedeutend ist mit
+Langerweile. Ich sa&szlig; stundenlang still und sah in die
+Ferne, wo das Gr&uuml;n der Wiesen mit dem Blau des
+Himmels zusammenstie&szlig; und sich in schimmerndem Silber<a name="Page_157" id="Page_157"></a>glanz
+aufzul&ouml;sen schien. Ich tr&auml;umte von andern
+Menschen als diesen hier: von Menschen, die die Kultur
+ihrer Zeit verk&ouml;rpern, Menschen, denen Natur, Kunst
+und Wissenschaft unendlicher Gegenstand ihres Genie&szlig;ens,
+ihres Nachdenkens, ihrer Unterhaltung ist. Herrn von
+Rapps Stimme rief mich in die Wirklichkeit zur&uuml;ck.
+Ich l&auml;chelte: der kleine Mann mit dem glatten Sch&auml;del
+war gewi&szlig; unter diesen der beste, aber er sah aus wie
+ein Bauer, und zu meinem Begriff der Menschenkultur
+geh&ouml;rte das Aussehen eines M&auml;rchenprinzen.</p>
+
+<p>Es fing an zu d&auml;mmern als der Nemonien uns
+aufnahm, ein breiter Strom, dessen Wellen so weich
+und melodisch flie&szlig;en wie sein Name. Wir erreichten
+das Haff, von einem Lotsen gef&uuml;hrt. Gro&szlig; und rot
+versank der Sonnenball langsam hinter dem schmalen
+gelben Streifen der Nehrung, eine lange goldene
+Stra&szlig;e auf dem Wasser malend. &raquo;Der Weg zum Himmel!&laquo;
+sagte Herr von Rapp, von dem wundervollen Anblick
+ergriffen wie ich. &raquo;Zwei Fischerkinder von Nemonien
+sind einmal des Abends auf dieser Stra&szlig;e davongerudert.
+Sie bekamen daheim nur Schl&auml;ge und b&ouml;se Worte und
+wollten zum lieben Gott. Sie kamen niemals wieder &mdash; ob
+sie ihn wohl gefunden haben?!&laquo; Wie er mich
+ins Herz traf mit dieser Zweifelfrage, wie er die alten
+Wunden aufri&szlig;! &mdash; &raquo;Ich glaube es nicht,&laquo; antwortete
+ich mit zuckenden Lippen. Dann schwiegen wir wieder.
+Die Nacht brach an, die Sterne gl&auml;nzten vom hellen
+Himmel und die Mondsichel warf lauter Perlen auf
+das Haff. Mich fror. Auf eine so lange Fahrt waren
+wir nicht vorbereitet gewesen. Herr von Rapp h&uuml;llte
+mich sorglich in seinen Mantel und brachte mir Tee
+<a name="Page_158" id="Page_158"></a>und Wein. Eigentlich ist es doch seltsam, dachte ich,
+da&szlig; die Menschen uns so r&uuml;cksichtsvoll allein lassen.
+Ich hatte mich ja freilich auch nicht um sie gek&uuml;mmert.</p>
+
+<p>Um Mitternacht waren wir wieder im Hafen von
+Labiau. Ich war sehr m&uuml;de und f&uuml;hlte nur noch den
+Druck einer Hand, den ich herzhaft erwiderte. Schweigsam
+fuhren wir nach Hause.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen neckte mich Onkel Walter
+mit meiner &raquo;Eroberung&laquo;, w&auml;hrend Tante Emmy behauptete,
+ich h&auml;tte mich kompromittiert. Nachmittags
+fuhr ein Wagen durchs Tor, dem Herr von Rapp, mit
+einem Rosenstrau&szlig; bewaffnet, entstieg. Er war noch
+verlegener als ich, und sah in diesem Kreise, wie ich
+fand, recht plebejisch aus. W&auml;hrend der ganzen folgenden
+Woche kam er t&auml;glich. Ich lief oft davon, aber auch
+auf einsamen Wegen, zu Pferd und zu Fu&szlig;, wu&szlig;te er
+mich einzuholen, und schlie&szlig;lich lie&szlig; ich mir seine N&auml;he
+mit einer gewissen Herablassung gefallen. Als ich eines
+Morgens auf die Terrasse zum Fr&uuml;hst&uuml;ck kam, fand ich
+Onkel und Tante in ausgelassenster Heiterkeit: Herr
+von Rapp hatte um mich angehalten. Soll ich leugnen,
+da&szlig; meine erste Empfindung die geschmeichelter Eitelkeit
+gewesen ist?! Der erste Antrag &mdash; und kaum f&uuml;nfzehn
+Jahre alt! Dann aber dachte ich an den schwerbl&uuml;tigen
+Mann, der sich aus seiner menschenscheuen Einsamkeit
+herausgerissen hatte, um eine so bittere Erfahrung zu
+machen. Die Vorw&uuml;rfe meiner Mutter versch&auml;rften meinen
+Kummer: meine Koketterie, sagte sie, sei schuld an der
+ganzen Sache. Ich war sehr ungl&uuml;cklich und malte mir
+des armen Abgewiesenen Zustand in so d&uuml;steren Farben
+aus, da&szlig; ich mich verpflichtet f&uuml;hlte, ihn zu &raquo;retten&laquo;, &mdash; ich
+<a name="Page_159" id="Page_159"></a>wollte ihn um Verzeihung bitten, mich ihm heimlich
+verloben, ihm ewige Treue schw&ouml;ren.</p>
+
+<p>In aller Herrgottsfr&uuml;he lie&szlig; ich mir die &raquo;wei&szlig;e Dame&laquo;
+satteln und ritt durch einen feuchtkalten Septembermorgen
+zu ihm hin&uuml;ber. Vor der Stallt&uuml;r sprang ich vom Pferde und
+warf dem ersten erstaunt herbeieilenden Knecht die Z&uuml;gel
+zu. Mit wild klopfendem Herzen zog ich die Glocke an
+dem einst&ouml;ckigen, einfachen Herrenhaus. Wie heldenhaft
+kam ich mir vor, wie ungeheuer das Opfer, das ich
+brachte! Eine dicke Wirtschafterin trat mir entgegen.
+Stotternd frug ich nach dem Herrn. Mit offnem Munde
+starrte sie mich an, um dann spornstreichs im Hintergrunde
+zu verschwinden. Gleich darauf stand Rapp vor
+mir. In &auml;u&szlig;erster Verlegenheit vermochte ich nur das
+eine Wort &raquo;Verzeihung&laquo; zu murmeln. &raquo;O gn&auml;diges
+Fr&auml;ulein hatten einen Ohnmachtsanfall!&laquo; rief er so laut,
+da&szlig; die Mamsell, die den Kopf neugierig durch die n&auml;chste
+T&uuml;re steckte, es h&ouml;ren konnte, &raquo;ich werde sofort f&uuml;r eine
+Erfrischung sorgen.&laquo; Er holte ein Glas Wein und
+fl&uuml;sterte mir, w&auml;hrend ich trank, mit scharfer Stimme
+zu: &raquo;Ich kann Ihnen nur raten, schleunigst in die Kinderstube
+zur&uuml;ckzukehren. Spielen Sie vorl&auml;ufig mit Puppen,
+statt mit Menschen!&laquo; Langsam und m&uuml;de ritt ich nach
+Pirgallen zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Mein heimlicher Spazierritt und sein Ziel blieben
+nicht unbekannt, sogar Papa erfuhr davon, als er
+auf Urlaub nach Pirgallen kam. &raquo;Hast du denn gar
+keine Scham im Leibe?&laquo; schrie er mich w&uuml;tend an.
+Gro&szlig;mama suchte mich zu sch&uuml;tzen, aber ihre dauernde
+stille Sorge um mich empfand ich so sehr als einen
+Vorwurf, f&uuml;rchtete so sehr, da&szlig; sie, die fromme Christin,
+<a name="Page_160" id="Page_160"></a>mich nach meinem Seelenzustand fragen und Schmerzen
+und Erinnerungen heraufbeschw&ouml;ren k&ouml;nnte, die ich so
+tief als m&ouml;glich vergrub, da&szlig; ich jetzt auch jedem Alleinsein
+mit ihr aus dem Wege ging. Der traurige Blick,
+mit dem sie mir folgte, tat mir schon weh genug.</p>
+
+<p>Ich atmete auf, als wir Pirgallen verlie&szlig;en und der
+alte Turm, um den die gelben Bl&auml;tter im Herbstwind
+tanzten, meinen Blicken entschwand. Und ohne ein
+anderes Gef&uuml;hl als das der Erleichterung schied ich kurze
+Zeit darauf auch von meinen Eltern. Papas Schwester
+in Augsburg erwartete mich; sie hatte schon l&auml;ngst mit
+den Eltern abgemacht, da&szlig; ich ihr zum letzten &raquo;Erziehungsschliff&laquo;
+anvertraut werden sollte. Mir war es
+ganz gleichg&uuml;ltig, wohin ich ging.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_161" id="Page_161"></a></p>
+<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ein Oktoberabend war es wieder, wie vor neun
+Jahren, als ich in Augsburg ankam. Aber
+diesmal empfing mich die Tante selbst am Bahnhof.
+Silbergraue Seide schmiegte sich eng um ihre hohe,
+volle Gestalt; unter dem gro&szlig;en gleichfarbigen Federhut
+quollen die roten Locken &uuml;ppig hervor, stahlblau gl&auml;nzten
+ihre Augen in dem wei&szlig;en Gesicht. Noch nie war ich
+mir der Sch&ouml;nheit dieser reifen Frau so bewu&szlig;t geworden.
+Als unser Wagen den K&ouml;nigsplatz erreichte, den ich einst
+als &ouml;de Sandw&uuml;ste gesehen hatte, spielten die letzten
+Goldstrahlen der Herbstsonne mit dem bunten Laub seiner
+B&auml;ume und den fallenden Tropfen seiner Springbrunnen.
+Und nicht in die enge Gasse, zu dem alten d&uuml;steren
+Hause ging es, &mdash; vor einem Park, dessen Blumenpracht
+dem Herbst zu spotten schien, &ouml;ffneten sich vielmehr die
+breiten Fl&uuml;gel des Torwegs, und zwischen den alten
+Linden lugten die hellen Mauern eines Geb&auml;udes hervor,
+das in seiner lichten Vornehmheit an altitalienische
+Villen erinnerte. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber
+genug davon geh&ouml;rt, denn mein Vater war gar nicht
+damit einverstanden gewesen, da&szlig; seine Schwester das
+alte Stadthaus verkauft und diesen Landsitz, der wie
+viele seiner Art vor den Stadttoren ein Sommer<a name="Page_162" id="Page_162"></a>aufenthalt
+augsburger Patrizier gewesen war, mit gro&szlig;en
+Kosten ausgebaut hatte. Mich umfing die Atmosph&auml;re
+von Sch&ouml;nheit und Reichtum gleich beim ersten Eintritt
+wie ein weicher, wohliger Mantel. Das strahlend erleuchtete
+Treppenhaus glich mit seiner F&uuml;lle von exotischen
+Pflanzen einem Palmengarten, und der s&uuml;&szlig;e Duft, der
+die vielen R&auml;ume durchzog, legte sich mir wie ein berauschender
+Traum auf die Stirne. Ich wurde in den
+zweiten Stock in meine Zimmer gef&uuml;hrt: auch hier
+Blumen und viel Licht und fr&ouml;hliche Farben. Viel
+weiter noch als von der Warthe bis zum Lech f&uuml;hlte
+ich mich fern von all den Sorgen des Elternhauses und
+all den Herzens- und Gewissensschmerzen, die mich
+niedergedr&uuml;ckt hatten. Zufrieden und dankbar, in der
+Erwartung lauter sch&ouml;ner Dinge, schmiegte ich mich
+abends in die weichen Kissen meines Betts.</p>
+
+<p>Es d&auml;mmerte, als ich geweckt wurde. &raquo;Frau Baronin
+w&uuml;nschen, da&szlig; das gn&auml;dige Fr&auml;ulein fr&uuml;h aufsteht,&laquo;
+sagte die Jungfer. Nicht wenig erstaunt, erhob ich
+mich und fing an auszupacken. Der knurrende Magen
+trieb mich schlie&szlig;lich herunter; ich holte mir ein Br&ouml;tchen
+aus der K&uuml;che, da ich noch eine Stunde bis zum Fr&uuml;hst&uuml;ck
+zu warten hatte. Endlich kam der Diener mit dem
+Teewasser, und das Klappern hoher Abs&auml;tze und Rauschen
+seidener R&ouml;cke k&uuml;ndigte die Tante an. Statt eines
+Morgengru&szlig;es lachte sie mir hell ins Gesicht: &raquo;Ja wie
+schaust du denn aus?! So ein Fratz, und fagotiert sich
+wie eine junge Frau auf der Hochzeitsreise.&laquo; Tief gekr&auml;nkt
+bi&szlig; ich mir auf die Lippen; ich war so stolz auf
+den weichen schleppenden Morgenrock, den mir mein
+Vater geschenkt hatte! &raquo;Da&szlig; du mir diese Theater<a name="Page_163" id="Page_163"></a>toilette
+nicht mehr anziehst!&laquo; sagte die Tante stirnrunzelnd,
+w&auml;hrend sie sich setzte und die Spitzenflut ihres Kleides
+sich um ihren Stuhl ausbreitete.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du deine Zimmer gemacht?&laquo; mit dieser verbl&uuml;ffenden
+Frage begann sie aufs neue ein Gespr&auml;ch,
+in das ich noch mit keinem Wort eingegriffen
+hatte. &raquo;Meine Zimmer?!&laquo; Ich glaubte mich verh&ouml;rt
+zu haben. In diesem eleganten Haushalt, angesichts
+einer zahlreichen Dienerschaft m&auml;nnlichen und weiblichen
+Geschlechts sollte ich die Zimmer machen?!
+&raquo;Es ist doch selbstverst&auml;ndlich, da&szlig; ich f&uuml;r dich keine
+Kammerjungfer halten werde. Au&szlig;er der groben Arbeit
+hast du selbst Ordnung zu halten. Und zwar mu&szlig; vor
+dem Fr&uuml;hst&uuml;ck alles fix und fertig sein.&laquo; Die Bissen
+blieben mir im Halse stecken, &mdash; so etwas h&auml;tte ich mir
+niemals tr&auml;umen lassen! Aber es kam noch besser: aus
+Schr&auml;nken und Schubladen wurden meine Sachen herausgezogen;
+kaum ein Hut oder ein Kleid fand Gnade
+vor den Augen der Tante; und meine Art, die Dinge
+einzur&auml;umen, erkl&auml;rte sie f&uuml;r skandal&ouml;s. Dann forderte
+sie den Schl&uuml;ssel zum Schreibtisch &mdash; &raquo;ein Kind hat nichts
+zu verschlie&szlig;en&laquo; &mdash; und geriet in helle Emp&ouml;rung &uuml;ber
+meine poetischen Manuskripte, die sie durchst&ouml;berte, und
+meine Lieblingsb&uuml;cher, von denen ich mich nicht hatte
+trennen wollen.</p>
+
+<p>&raquo;Eine nette Erziehung!&laquo; rief sie, &raquo;und ich kann
+meine Zeit und meine Kr&auml;fte opfern, um so ein von
+Grund aus verdorbenes Gesch&ouml;pf wie dich zu einem
+anst&auml;ndigen Menschen zu machen!&laquo; Ich zitterte vor
+Aufregung, aber kein Wort kam &uuml;ber meine Lippen, &mdash; das
+einzige, was ich durch die Erziehung meiner<a name="Page_164" id="Page_164"></a>
+Mutter bis zur Vollendung gelernt hatte, war die Selbstbeherrschung.
+Erst abends im Bett, nach einem Tag,
+an dem ich nicht einen Augenblick mir selbst geh&ouml;rt hatte,
+kam die Verzweiflung &uuml;ber mich und fassungslos
+schluchzte ich in die Kissen. Aber auch die M&ouml;glichkeit,
+mich auszuweinen, sollte mir genommen werden. Sah
+ich morgens verweint aus, oder zeigten sich dunkle
+R&auml;nder um meine Augen, so erregte das den heftigsten
+Zorn der Tante, &mdash; &raquo;ein junges Ding hat frisch und
+rosig auszusehen&laquo;, erkl&auml;rte sie; und da der blo&szlig;e Befehl
+nichts helfen wollte, kam sie abends, wenn ich zu Bett
+war, wiederholt in mein Zimmer, um zu kontrollieren,
+ob ich schlief. So gew&ouml;hnte ich mich rasch an die gro&szlig;e
+Kunst, nach innen zu weinen. Grund genug hatte ich
+dazu. Es verging kein Tag, ohne da&szlig; ich gescholten
+worden w&auml;re: wenn an ihrem behandschuhten Finger,
+mit dem sie &uuml;ber jede Leiste in meinem Zimmer fuhr,
+Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht
+richtig gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgf&auml;ltig
+ausgereckt in der Schublade lagen, wenn ihre scharfen
+Augen einen Fleck auf dem Kleide entdeckten, oder wenn
+ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich Str&uuml;mpfe
+stopfen sollte! Briefe, die nicht die Handschrift der
+Eltern aufwiesen, wurden von ihr zuerst ge&ouml;ffnet und
+gelesen. Dadurch erfuhr sie, da&szlig; ich meiner Kusine
+Mathilde mein Leid geklagt hatte. &raquo;Es ist sehr traurig,
+da&szlig; Deine geistigen Bed&uuml;rfnisse so wenig ber&uuml;cksichtigt
+werden und Deine Begabung keine Anerkennung findet,&laquo;
+hatte sie mir daraufhin geschrieben; h&ouml;hnend las die
+Tante mir die Stelle vor und erkl&auml;rte dann: &raquo;Ich
+verbiete dir jede Korrespondenz, au&szlig;er der mit deinen<a name="Page_165" id="Page_165"></a>
+Angeh&ouml;rigen. Das fehlte mir noch, da&szlig; dein dummer
+Hochmut heimlich unterst&uuml;tzt wird, statt da&szlig; du endlich
+einsiehst, wie viel dir noch fehlt, um nur den guten
+Durchschnitt zu erreichen.&laquo; Sie unterlie&szlig; nichts, um
+mir zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, und beleuchtete
+m&ouml;glichst grell alle schwachen Seiten meiner Ausbildung:
+die musikalische, die fremdsprachliche, die praktische.
+Stundenlang qu&auml;lte ich mich t&auml;glich am Klavier; englische
+und franz&ouml;sische Konversationsstunden wechselten
+daneben mit Koch- und N&auml;hunterricht ab. Ein paar
+Musterexemplare vollendeter junger Damen wurden mir
+des guten Beispiels wegen zum Verkehr zugewiesen.
+Sie konnten alles in der Perfektion, was ich nicht
+konnte, sie sangen und spielten, stickten und schneiderten,
+und immer war ihre Toilette tadellos. Nat&uuml;rlich fand
+ich sie gr&auml;&szlig;lich und tr&auml;umte mich immer mehr in die
+tragische Rolle einer verwunschenen Prinzessin.</p>
+
+<p>Ich war klug genug, um bald einzusehen, welches die
+Triebkraft der Handlungsweise meiner Tante mir gegen&uuml;ber
+war: eine grenzenlose, von allen Menschen, die
+sich ihr n&auml;herten, sorgf&auml;ltig gen&auml;hrte Eitelkeit. Wie
+ihr Haus und ihr Park die sch&ouml;nsten, ihre Equipage
+und ihre Toiletten die elegantesten Augsburgs waren,
+so sollte ihre Nichte &mdash; am Ma&szlig;stab Augsburgs gemessen &mdash; die
+vollendetste junge Dame sein. Es geh&ouml;rte
+eine intensive geistige und k&ouml;rperliche Umwandlung
+hierzu, um dieses Ziel zu erreichen.</p>
+
+<p>Wurde die gute Gesellschaft in Norddeutschland durch
+den alten ritterb&uuml;rtigen Adel repr&auml;sentiert mit seiner
+Auffassung von Ebenb&uuml;rtigkeit, mit seinen kirchlich-orthodoxen
+und politisch-konservativen Gesinnungen, seiner
+<a name="Page_166" id="Page_166"></a>damals noch ausgesprochenen Geringsch&auml;tzung jeden Berufs,
+der au&szlig;erhalb der Laufbahn des Gutsbesitzers, des
+Offiziers oder des h&ouml;heren Staats- und Hofbeamten
+lag, so setzte sie sich hier, getreu den Traditionen, aus
+dem alten und dem neuen Patriziertum zusammen, das
+mit wenigen Ausnahmen nach wie vor b&uuml;rgerlichen Berufssph&auml;ren
+angeh&ouml;rte. Zur Zeit, da die Ahnherren
+der preu&szlig;ischen Junker wider Heiden und T&uuml;rken
+k&auml;mpften, handelte der Stammvater der Fugger mit
+Leinwand, segelten die Kauffahrteischiffe der Welfer nach
+Westindien, sa&szlig;en die ersten Stettens in der Goldschmiedzunft.
+Ihre Nachkommen betrachteten die Fr&ouml;hlich
+und Forster und Sch&auml;tzler &mdash; Industriebarone des neunzehnten
+Jahrhunderts &mdash; als zu sich geh&ouml;rig, w&auml;hrend
+der Offizier als solcher ebensowenig eine gesellschaftliche
+Stellung besa&szlig; wie der Landsknecht des Mittelalters.</p>
+
+<p>So gro&szlig; wie der Gegensatz der Herkunft war der der
+wirtschaftlichen Interessen, die in meinem bisherigen
+Lebenskreise wesentlich agrarische gewesen waren und hier
+ausschlie&szlig;lich gro&szlig;industrielle. Die verschiedenartige politische
+Stellung folgte daraus: die gute Gesellschaft Augsburgs
+war nationalliberal, und lehnte mit der politischen
+auch die kirchliche Orthodoxie ab. Ein lebhafteres Interesse
+f&uuml;r Kunst und Wissenschaft ging damit Hand in Hand,
+und wurde von der Allgemeinen Zeitung und den M&auml;nnern,
+die durch sie nach Augsburg kamen, stets rege erhalten.
+Unterhielt man sich in den Schl&ouml;ssern Ostpreu&szlig;ens von
+Literatur und Theater, so geschah es nur unter dem
+Gesichtswinkel des gr&ouml;&szlig;eren oder geringeren Am&uuml;sements;
+in Augsburg geh&ouml;rte es zum guten Ton, Neues zu
+<a name="Page_167" id="Page_167"></a>kennen und vom k&uuml;nstlerischen Standpunkt aus dar&uuml;ber
+zu urteilen.</p>
+
+<p>Die breite Mittelstra&szlig;e, auf der sich von rechts und
+links immer die Leute zusammenfinden, die den Mut
+nicht aufbringen, vom Wege ihrer alten Anschauung die
+entgegengesetzte Grenze zu &uuml;berschreiten, und die zu ihrer
+eigenen Beruhigung jene Stra&szlig;e die &raquo;goldene&laquo; tauften,
+war das Symbol des ganzen geistigen Lebens. In
+Preu&szlig;en vermied man es, &uuml;ber ernstere Fragen zu
+sprechen, weil dabei die Ansichten aufeinanderplatzen
+k&ouml;nnten und das nicht zum guten Ton geh&ouml;rt, hier war
+man soweit, alles zum Gegenstand blo&szlig;er Konversation
+zu machen.</p>
+
+<p>Wurde es mir sehr schwer, b&uuml;rgerliche Hausfrauentugenden
+zu lernen, und noch schwerer, jenen tief gewurzelten
+Hochmut nieder zu dr&uuml;cken, der sich durchaus
+nicht dazu verstehen wollte, einen Fabrikanten oder einen
+Bankier als gleichgestellt anzusehen, so war die politische
+und religi&ouml;se Richtung der Umgebung im Einklang
+mit meiner Entwicklung. Und von dieser Seite aus
+eroberte mich Augsburg und machte mich schlie&szlig;lich
+zum gef&uuml;gigen Z&ouml;gling meiner Tante.</p>
+
+<p>Kaum hatte sie mich &auml;u&szlig;erlich ausreichend umgemodelt &mdash; eine
+kunstvolle Frisur und ein Pariser Korsett waren
+ebenso das Attribut s&uuml;ddeutscher Vornehmheit, wie der
+glatte Scheitel und das deutsche Mieder das der norddeutschen
+waren &mdash;, als ich in den Kreis ihrer Verwandten
+und Freunde eingef&uuml;hrt wurde. Was mich zun&auml;chst in
+Erstaunen setzte, war, bei anerkanntem Reichtum, die
+gro&szlig;e Einfachheit des &auml;u&szlig;eren Lebens. In dem alten
+hochgiebeligen Stettenhaus am Obstmarkt gab es noch
+<a name="Page_168" id="Page_168"></a>gescheuerte Dielen und servierende Dienstm&auml;dchen. In
+der Zeit der Renaissancem&ouml;bel und verdunkelnden
+Gobelinvorh&auml;nge behauptete hier die wei&szlig;e Mullgardine
+neben dem leichten Biedermeierstuhl ihren Platz. Im
+Hause der Sch&auml;tzler, dessen herrlicher Rokokosaal jedem
+K&ouml;nigsschlo&szlig; zur Ehre gereichen w&uuml;rde, buk die Hausfrau
+selbst den Weihnachtskuchen und machte das Obst
+ein. Ich verlernte allm&auml;hlich, &uuml;ber dergleichen die Nase
+zu r&uuml;mpfen; die Vereinigung von Flei&szlig;, Einfachheit und
+Reichtum hatte etwas imponierendes, und die Erkenntnis,
+da&szlig; es au&szlig;erhalb der Welt meiner bisherigen Umgebung
+noch Menschen gab, mit denen &raquo;man&laquo; verkehren konnte,
+war epochemachend f&uuml;r mich. Aber noch &uuml;berraschender
+war der Eindruck, den das geistige Leben auf mich
+machte. Zu den Intimsten im Hause meiner Tante geh&ouml;rte
+der Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung, <em class="antiqua">Dr.</em>
+Otto Braun, der Oberb&uuml;rgermeister von Augsburg,
+Ludwig Fischer, und der Pfarrer von St. Anna, Julius
+Haberland. Mit einem kleinen Kreis anderer G&auml;ste &mdash; aus
+dem die m&auml;nnliche Jugend streng ausgeschlossen war &mdash; kamen
+sie regelm&auml;&szlig;ig einmal in der Woche bei uns zusammen.
+Der Musiksaal, der mit seinen Goldornamenten
+und rotseidenen M&ouml;beln dem brutalen Prachtgeschmack
+des bayrischen K&ouml;nigs zu huldigen schien, war dem
+Wagner-Kultus geweiht. Im gr&uuml;nen Rokokoboudoir
+trafen sich die Plaudernden; in der ernsten dunkeln
+Bibliothek unter der zimmerhohen F&auml;cherpalme pflegte
+Otto Braun vorzulesen.</p>
+
+<p>Er war ein au&szlig;erordentlich lebhafter untersetzter, kleiner
+Mann, dessen Interessen wesentlich literarische waren,
+und dessen jugendliche Begeisterung f&uuml;r seine Lieblings<a name="Page_169" id="Page_169"></a>dichter
+ansteckend wirken mu&szlig;te. Trotz des Gegengewichts
+der Tante, die meine Lekt&uuml;re auf das notwendigste
+und kindlichste beschr&auml;nken wollte, verstand er es, meine
+zerfahrenen Neigungen in feste Bahnen zu lenken, und
+erschlo&szlig; mir Gebiete der Literatur, die mir, und damals
+wohl auch der Mehrzahl des lesenden Publikums, noch
+vollkommen fremd geblieben waren. Hatte ich bisher
+die B&uuml;cher der Modedichter, eines Heyse, Dahn oder
+Ebers, and&auml;chtig verschlungen, so wurden mir jetzt
+die von Gottfried Keller, von Conrad Ferdinand Meyer
+und Marie von Ebner-Eschenbach zu k&uuml;nstlerischen Offenbarungen.
+Da&szlig; Braun den Allerj&uuml;ngsten verst&auml;ndnislos
+gegen&uuml;berstand, sich gegen radikale Ausl&auml;nder, wie Zola,
+Ibsen und manche der gro&szlig;en Russen ablehnend verhielt,
+vermochte auf mich um so weniger nachteilig zu wirken,
+als der Eintritt in seine Interessensph&auml;re schon einen
+gro&szlig;en Schritt vorw&auml;rts bedeutete.</p>
+
+<p>F&uuml;r das Gebiet der Politik und der Religion galt dasselbe
+wie f&uuml;r das der Literatur. Wenn Ludwig Fischer, der als
+einflu&szlig;reiches Mitglied der nationalliberalen Partei auf der
+H&ouml;he seines parlamentarischen Ruhmes stand, seine Ansichten
+entwickelte, so erschienen sie mir, der die konservative
+Politik stets als die eines anst&auml;ndigen Menschen
+allein w&uuml;rdige dargestellt worden war, beinahe als revolution&auml;r.
+Die Erinnerung an den revolution&auml;ren
+Liberalismus von 1848, der mich in der Geschichtsstunde
+einmal begeistert hatte, verst&auml;rkte diesen Eindruck; von
+Freihandel und Schutzzoll verstand ich nichts, hatte also
+von dem Umfall der Mehrzahl der Liberalen in jener
+Schutzzollperiode Bismarcks keinen Begriff, sondern
+empfand, was ich h&ouml;rte, wie eine innere Befreiung: es
+<a name="Page_170" id="Page_170"></a>gab Menschen, es gab eine gro&szlig;e Partei, die die Ideale
+der Freiheit und der Menschenrechte hochhielten, ich
+konnte mich zu ihnen bekennen, ohne, wie sonst immer,
+bei den Meinigen auf heftigen Widerstand zu sto&szlig;en.
+&raquo;Konservativ kann ich nicht sein,&laquo; schrieb ich im Fr&uuml;hjahr
+1881 an meine Kusine, mit der ich, seitdem die
+Tante befriedigt die guten Resultate ihrer Erziehung
+konstatierte, wieder korrespondieren durfte, &raquo;das w&auml;re
+dasselbe, als wenn ich f&uuml;r die Pr&uuml;gelstrafe und die
+Unterdr&uuml;ckung jedes wissenschaftlichen Fortschritts eintreten
+wollte. Der Nationalliberalismus, der nicht eine
+Kaste und ihre veralteten Privilegien, sondern die Interessen
+des ganzen Volkes vertritt, der die wissenschaftliche
+Erkenntnis stets zu f&ouml;rdern bereit ist, und daher auch
+der religi&ouml;sen Orthodoxie energisch gegen&uuml;ber steht, entspricht
+meinen Ansichten.&laquo;</p>
+
+<p>Der kirchliche Liberalismus, den kennen zu lernen
+mir noch interessanter war, und der in Augsburg allgemein
+vorherrschte, wurde im Kreise meiner Tante durch
+den Pfarrer ihrer Gemeinde auf das eindrucksvollste
+vertreten. Der sonnt&auml;gliche Kirchgang &mdash; hier ebenso
+eine selbstverst&auml;ndliche Pflicht wie zu Hause &mdash; hatte
+darum nichts abschreckendes mehr f&uuml;r mich. Wenn
+Julius Haberlands sch&ouml;ne Apostelgestalt auf der Kanzel erschien
+und seine sonore Stimme die Kirche mit Wohlklang
+erf&uuml;llte, war ich vom ersten Augenblick an gefesselt:
+hier fehlte jede dogmatische Schroffheit; Verst&auml;ndnis und
+Milde fand ich hier f&uuml;r menschliche Fehler und Irrt&uuml;mer,
+wo mir in Posen nichts als Verurteilung und H&auml;rte
+begegnet war.</p>
+
+<p>Alle Wunden &ouml;ffneten sich wieder, die die religi&ouml;sen<a name="Page_171" id="Page_171"></a>
+K&auml;mpfe mir geschlagen hatten; sie waren nur m&uuml;hselig
+&uuml;berklebt, aber nicht geheilt worden, und ich sehnte mich
+mehr denn je nach der Heilung. Auf meinen dringenden
+Wunsch bat meine Tante den Pfarrer, mir privaten
+Religionsunterricht zu erteilen; er war bereit dazu, und
+so ging ich denn allw&ouml;chentlich ein paarmal in das stille
+Haus an der Fuggerstra&szlig;e. In seiner sonnigen Studierstube
+sa&szlig; ich dem gleichm&auml;&szlig;ig g&uuml;tigen Mann mit den seinen,
+von blondem Vollbart umrahmten Z&uuml;gen und den wei&szlig;en,
+schmalen, gepflegten H&auml;nden viele Stunden gegen&uuml;ber,
+und ganz, ganz langsam gelang es ihm, aus meinem
+&auml;ngstlich verschlossenen Inneren all meine Zweifel und
+Verzweiflungen herauszulocken. Sein Christentum, das
+den religi&ouml;sen Glauben weit mehr im Sinne des Vertrauens,
+statt in dem des F&uuml;r-wahr-haltens, auffa&szlig;te,
+wirkte zun&auml;chst auf mich, wie der Eintritt in die freie
+Natur auf einen Menschen wirkt, der zwischen den
+Mauern enger Gassen lange zu leben gewohnt war.</p>
+
+<p>Mein Glaubensbekenntnis konnte zu Recht bestehen, und
+ich war doch ein Christ. Ich brauchte nicht an die g&ouml;ttliche
+Inspiration der Bibel, an die Wunder des Alten Testaments,
+an die Jungfr&auml;ulichkeit der Mutter des Heilands
+zu glauben und war doch keine aus der Kirche Ausgesto&szlig;ene.
+Als heiliges Symbol konnte aufgefa&szlig;t werden,
+was ich w&ouml;rtlich f&uuml;r wahr zu halten verpflichtet worden
+war, &mdash; demnach hatte ich vor dem Altar keinen Meineid
+geschworen! Mein Verstand beruhigte sich dabei. Ich
+hatte auch hier die &raquo;goldene&laquo; Mittelstra&szlig;e erreicht, auf
+der so viele, selbst alte Leute gehen, die keine Heuchler
+zu sein brauchen, die aber, beherrscht von jener gef&auml;hrlichsten
+Eigenschaft unserer Denkkraft &mdash; der Bequem<a name="Page_172" id="Page_172"></a>lichkeit &mdash; da
+einen Punkt machen, wo die eigentliche
+Arbeit erst anfangen sollte.</p>
+
+<p>Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die
+Dauer &uuml;ber den Hunger des Gem&uuml;ts nicht hinwegt&auml;uschen.
+Es blieb leer in mir, viel leerer als zu der
+Zeit, wo der alte strenge Gott der orthodoxen Kirche
+sich noch nicht in einen so milden, hinter fernen Nebeln
+fast verschwindenden v&auml;terlichen Greis verwandelt hatte.
+In kalte Schauer des Entsetzens h&uuml;llte mich diese trostlose
+&Ouml;de, je l&auml;nger ich in dem gl&auml;nzenden Blumenhaus
+am K&ouml;nigsplatz wohnte, je mehr ich mich
+unter den rastlos formenden H&auml;nden der Tante der
+Idealgestalt, die ihr vorschwebte, n&auml;herte. Nie lie&szlig; sie
+mir Zeit f&uuml;r mich selbst; mein Tag war, was das Arbeitpensum
+und die Art der Erholung betrifft, so genau
+eingeteilt, da&szlig; f&uuml;r meine pers&ouml;nlichen Neigungen kein
+Platz &uuml;brig blieb. Wenn mich aber einmal in den
+langen Stunden, die ich bei irgend einer Handarbeit
+sa&szlig;, die Gestalten meiner Tr&auml;ume &uuml;berw&auml;ltigten und ich
+mich ihrer nicht anders zu erwehren vermochte, als da&szlig;
+ich heimlich nachts darauf zu Feder und Tinte griff, um
+mit klopfenden Pulsen in Worte und Reime zu fassen,
+was mich erf&uuml;llte, so konnte ich sicher sein, da&szlig; die Tante
+oder die Jungfer mein streng verbotenes Tun entdeckten.
+&raquo;Unn&uuml;tze Phantasien&laquo; hatte ich zu beherrschen; mu&szlig;te
+durchaus gedichtet werden, so boten Familienfeste Gelegenheit
+genug dazu.</p>
+
+<p>Einmal, im Fr&uuml;hjahr wars, als die Tante zu einer
+&auml;rztlichen Konsultation nach M&uuml;nchen hatte fahren
+m&uuml;ssen. Da benutzte ich die Erlaubnis eines Besuchs
+bei einer Freundin, um allein nach Herzenslust in der<a name="Page_173" id="Page_173"></a>
+Stadt umherzustreifen. Einem tiefen inneren Bed&uuml;rfnis
+folgend, das sich aus k&uuml;nstlerischen und religi&ouml;sen Motiven
+merkw&uuml;rdig zusammensetzte, war es mir schon zur Gewohnheit
+geworden, bei jedem Ausgang in irgend eine
+der alten Kirchen einzutreten, wo ich im weihrauchduftenden
+D&auml;mmer wenigstens zu Augenblicken stiller
+Sammlung kam. Heute durfte ich mir ein paar Stunden
+g&ouml;nnen, nachdem ich den Besuch m&ouml;glichst abgek&uuml;rzt hatte.
+Das Portal des Doms stand offen, als ich n&auml;her
+trat, und Scharen kleiner Kinder trugen lange Girlanden
+bunter Fr&uuml;hlingsblumen hinein, um die vielhundertj&auml;hrigen
+S&auml;ulen und Alt&auml;re zu den Maiandachten
+der heiligen Jungfrau zu schm&uuml;cken. K&ouml;niglich
+und liebreich zugleich schien sie vom Pfeiler des gro&szlig;en
+Tores auf all die jungen Gl&auml;ubigen herabzul&auml;cheln.
+Innen, in den weiten Hallen, die so wunderbar deutlich,
+und eindringlicher als irgend ein gelehrtes Buch,
+von der Entwicklung deutscher Kunst erz&auml;hlen, verklangen
+die vielen trippelnden F&uuml;&szlig;chen, und es war
+ganz still. Die helle Nachmittagssonne gl&auml;nzte durch
+die alten gemalten Fenster, so da&szlig; Daniel und
+Jonas, Moses und David von neuem Leben durchgl&uuml;ht
+erschienen. Im Gegensatz zu diesem Licht waren
+die schwarzen Schatten des dunkeln Querschiffs um so
+tiefer, und wie hinter grauen Florschleiern schimmerten die
+Grabsteine in den Seitenschiffen. Dumpfkalte Winterluft
+schwebte noch um die Mauern. Dem hellen Chorgang
+schritt ich daher zu, aus dem die Kinder mir
+gerade entgegenstr&ouml;mten; sie hatten ihm schon sein
+frisches Festkleid angetan, und es trieb mich, zu sehen,
+wie sie der Mutter Gottes als heidnischer Fr&uuml;hlings<a name="Page_174" id="Page_174"></a>g&ouml;ttin
+die Erstlinge des Lenzes geopfert hatten. Da
+stockte mein Fu&szlig; vor einem steinernen Grabmal: ein
+Totensch&auml;del mit breitem Mund und leeren Augen grinste
+mich an, lang gestreckt dehnte sich der ausged&ouml;rrte Leib
+auf dem Sarkophag, von Kr&ouml;ten und Schlangen ringsum
+gr&auml;&szlig;lich benagt. Entsetzt floh ich hinaus; aber in der
+Erinnerung verst&auml;rkte sich nur noch der Eindruck: die
+steinerne Maria am Portal, die blumentragenden
+Kinder aus Fleisch und Blut, und der tote Peter von
+Schaumburg, der lebenslustige Kardinal, der sich selbst,
+da er noch im Golde w&uuml;hlte und Augsburgs sch&ouml;nsten
+T&ouml;chtern die Beichte abnahm, dieses furchtbare Denkmal
+gesetzt hatte, gingen neben mir her, traten mir in den
+Weg, oder folgten mit leisen Sohlen meinen Schritten.
+Oben in meinem Zimmer angekommen, warf ich hastig
+Hut und Mantel von mir, setzte mich an den Schreibtisch
+und schrieb &mdash; schrieb &mdash; schrieb, ohne die wiederholte
+Mahnung zum Abendessen zu ber&uuml;cksichtigen, eine
+phantastische Geschichte, in der der Kirchenf&uuml;rst zu der
+holdseligsten Jungfrau der Stadt in s&uuml;ndiger Liebe
+entbrannte und die sittsame Maid auf ihr Gebet zum
+Steinbild auf dem Pfeiler verwandelt wurde, w&auml;hrend
+er in ihrer N&auml;he sich bu&szlig;fertig dieses dauernde
+<em class="antiqua">memento mori</em> schuf. Ich achtete nicht der Stunde, ich
+h&ouml;rte nicht die Schritte der Tante hinter mir, erst als
+sie sich &uuml;ber mich beugte und ihr warmer Atem meine
+Stirne streifte, fuhr ich erschrocken aus meinem wachen
+Traum.</p>
+
+<p>&raquo;Also nur den R&uuml;cken zu kehren brauche ich, und die
+alte Geschichte f&auml;ngt von neuem an,&laquo; rief sie emp&ouml;rt
+und nahm die beschriebenen Bl&auml;tter vom Schreibtisch.<a name="Page_175" id="Page_175"></a>
+&raquo;Statt deinen englischen Aufsatz zu machen, treibst du
+Narrenspossen.&laquo; Damit zerri&szlig; sie meine Kardinalsnovelle
+in tausend St&uuml;cke. Ich f&uuml;hlte, wie alles Blut mir aus
+den Wangen wich; mit der Selbstbeherrschung war es
+vorbei. &raquo;Du willst mich umbringen &mdash; langsam zu
+Tode martern&laquo; &mdash; stie&szlig; ich hervor; &raquo;tue ich nicht alles,
+was du willst, lasse mich sogar einsperren und kontrollieren,
+wie einen Verbrecher? G&ouml;nne mir doch mein bischen
+eigenes Leben &mdash; schenk mir ein paar Stunden am
+Tag &mdash;. Gef&auml;llt Dir nicht, was ich schreibe, so la&szlig; es mir
+wenigstens. Ich werde ja niemanden damit qu&auml;len. &mdash;&laquo;
+&raquo;Das w&auml;re auch noch sch&ouml;ner, wenn du mich mit dem
+eiteln Herumzeigen solchen Geschreibsels blamieren
+wolltest!&laquo; entgegnete sie. &raquo;Ich kann tintenklexende
+Frauenzimmer bei mir nicht dulden. Und du willst, ich
+soll dir noch extra Freistunden daf&uuml;r ansetzen! Eine
+Frau hat &uuml;berhaupt nicht f&uuml;r sich zu leben, sondern f&uuml;r
+andere.&laquo; Gequ&auml;lt lachte ich auf &mdash; ich dachte daran,
+wie die Tante &raquo;f&uuml;r andere&laquo; lebte! &raquo;Ich halte es aber
+nicht aus, ich mu&szlig; los werden, was mich gepackt hat.
+Andere denken auch nicht wie du. Gro&szlig;mama ist immer
+daf&uuml;r gewesen, da&szlig; ich dem inneren Zwang gehorche.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Deine Gro&szlig;mama!&laquo; &mdash; h&ouml;hnisch sch&uuml;rzte die Tante die
+vollen Lippen; &raquo;ich will ja gewi&szlig; der alten Dame nicht
+zu nahe treten, aber du solltest doch besseres tun, als
+sie zum Kronzeugen anzurufen!&laquo;</p>
+
+<p>Emp&ouml;rt fuhr ich auf: &raquo;Gro&szlig;mama ist die beste Frau,
+die ich kenne, der einzige Mensch, der mich lieb hat und
+mich versteht!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mag sein, da&szlig; sie dich versteht!&laquo; rief die Tante.
+&raquo;Sie ist gerade so &uuml;berspannt wie du. Kein Wunder &mdash; bei
+<a name="Page_176" id="Page_176"></a>der problematischen Herkunft!&laquo; Ich ballte unwillk&uuml;rlich
+die F&auml;uste, da&szlig; mir die N&auml;gel ins Fleisch
+drangen und warf hochm&uuml;tig den Kopf zur&uuml;ck: &raquo;Mit
+deinen Augsburgern Kr&auml;mern kann sie sich freilich nicht
+messen!&laquo; Kochender Zorn verzerrte die Z&uuml;ge der Tante.
+&raquo;Wirst du sofort wegen dieser unerh&ouml;rten Frechheit um
+Verzeihung bitten?!&laquo; schrie sie mich an. Mit einem
+kurzen &raquo;Nein&laquo; wandte ich mich ab und ging in mein
+Schlafzimmer.</p>
+
+<p>Ich warf mich aufs Bett und bi&szlig; die Z&auml;hne zusammen,
+um nicht laut auf zu schreien: krampfhafte
+Schmerzen in der Seite lie&szlig;en mich die seelischen
+Leiden momentan vergessen. Andeutungen davon hatte
+ich schon in Pirgallen beim Reiten gesp&uuml;rt; jetzt, in
+Augsburg waren sie immer st&auml;rker geworden, und
+steigerten sich nach jeder gro&szlig;en Erregung zu einem
+heftigen Anfall. Schlie&szlig;lich hatte ich mich entschlossen
+gehabt, der Tante davon zu sprechen; sie hatte es zum
+Anla&szlig; genommen, mir zu erkl&auml;ren, da&szlig; ein gut erzogenes
+junges M&auml;dchen nicht krank zu sein h&auml;tte, und ihr Hausarzt
+hatte mir dann, nach einem kurzen Blick auf mein
+blasses Gesicht &raquo;Beefsteak und Rotwein&laquo; empfohlen.
+Daraufhin sagte ich nichts mehr, auch wenn ich mich
+vor Schmerzen kr&uuml;mmte. So wie diese Nacht war es
+freilich noch nie gewesen. Ich tat kein Auge zu.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen wurde mir mitgeteilt, da&szlig;
+ich oben zu bleiben h&auml;tte. Auch vor den Dienstboten
+sollte ich gedem&uuml;tigt und so zur Abbitte gezwungen
+werden. Als auch der zweite Tag verstrich, ohne da&szlig; ich
+dazu Miene machte, kam Pfarrer Haberland zu mir. Er
+sprach mir viel von Tantens Liebe zu mir, ihrer Sorge
+<a name="Page_177" id="Page_177"></a>um mich, den Opfern an pers&ouml;nlichem Behagen, die sie
+mir st&auml;ndig br&auml;chte, ihrem Alter und meiner zur Unterordnung
+verpflichteten Jugend. &raquo;Zeigen Sie, da&szlig; Sie
+jetzt wirklich eine Christin sind!&laquo; sagte er. &raquo;Dem&uuml;tigen
+Sie sich, auch wenn Ihnen wirklich Unrecht geschehen w&auml;re!
+Bringen Sie freudig das Opfer Ihrer selbst &mdash; Sie
+werden reichen Lohn davon haben!&laquo; &raquo;Vielleicht hat er
+wirklich recht&laquo;, dachte ich; und in dem stolzen Bewu&szlig;tsein,
+einen Sieg &uuml;ber mein b&ouml;ses Ich errungen zu haben,
+ging ich mit ihm herunter, und es gab eine r&uuml;hrende
+Vers&ouml;hnungsszene mit viel Tr&auml;nen, K&uuml;ssen und Segensw&uuml;nschen.
+Ich hatte mich wieder einmal unterworfen.
+Als eine Art Selbstkasteiung sah ich es an, wenn ich
+nunmehr mit Feuereifer alle mir unangenehmen Arbeiten
+&uuml;bernahm: ich stickte &raquo;altdeutsche&laquo; Deckchen, als ob ich
+es bezahlt bek&auml;me, k&auml;mpfte stundenlang am Klavier mit
+meiner Talentlosigkeit, strickte unentwegt Str&uuml;mpfe f&uuml;r
+die Negerkinder, w&auml;hrend die Tante nach dem Abendbrot
+spielte und sang. Aber die Leere im Innern blieb,
+und wenn abends die Nachtigallen vor meinen Fenstern
+fl&ouml;teten und der Duft der wei&szlig;en Akaziendolden hereinstr&ouml;mte,
+dann erfa&szlig;te mich eine Sehnsucht, eine tiefe,
+hei&szlig;e &mdash; wonach, ach wonach?!</p>
+
+<p>Im Sommer fuhren wir nach Grainau. Ich freute
+mich kindisch darauf, aber durch die strenge Abgeschlossenheit
+des Lebens wurde mir der Aufenthalt sehr verbittert.
+Ich durfte nicht einmal mit dem Sepp auf die Hochalm,
+und als Hellmut Besuch machte, der inzwischen ein
+flotter Gardeleutnant geworden war, und seinen Urlaub
+in Partenkirchen bei der Mutter verlebte, nahm ihn die
+Tante allein an; sie mu&szlig;te ihm wohl bedeutet haben,
+<a name="Page_178" id="Page_178"></a>da&szlig; sie den Verkehr mit &raquo;dem Kinde&laquo; nicht w&uuml;nsche, denn
+er kam nicht wieder.</p>
+
+<p>Wir fuhren t&auml;glich spazieren, &mdash; wie ich von meinem
+Wagen aus die Touristen beneidete, die mit dem Rucksack
+auf dem Buckel frisch und fr&ouml;hlich in die Welt
+hineinmarschierten!</p>
+
+<p>Nach Augsburg zur&uuml;ckgekehrt &mdash; ich war inzwischen
+sechzehn Jahre alt geworden &mdash; er&ouml;ffnete mir die Tante,
+da&szlig; ich mich nunmehr, nachdem sie einen R&uuml;ckfall nicht
+wieder beobachtet habe, freier bewegen d&uuml;rfe. Da ich
+aber weder einen Schreibtisch-, noch einen Stubenschl&uuml;ssel
+bekam, beschr&auml;nkte sich die &raquo;Freiheit&laquo; nur auf ein geringeres
+Ma&szlig; von Kontrolle, auf den Besuch von Gesellschaften,
+die nicht ausschlie&szlig;lich aus Damen und alten
+Herren bestanden, und auf den des Theaters, wo zwei
+Logenpl&auml;tze uns jeden Abend zur Verf&uuml;gung standen.
+Die Konferenz und Energie meiner Tante, ihre unabl&auml;ssigen,
+in den verschiedensten Formen sich wiederholenden,
+und neuerdings durchaus freundschaftlich gehaltenen
+Auseinandersetzungen &uuml;ber die Pflichten eines jungen
+M&auml;dchens von vornehmer Geburt, hatten &uuml;berdies allm&auml;hlich
+auf mich gewirkt wie ein Opiat, das die Seele
+stumpf macht. Wachte irgend etwas wieder auf in mir,
+so hielt ich es selbst schon f&uuml;r ein Unrecht, und beeilte
+mich, es wieder einzuschl&auml;fern. An meine Kusine schrieb
+ich damals: &raquo;Du fragst, ob ich irgend etwas schreibe?
+Es lebt vieles in meinem Kopf und Herzen, aber ich
+finde keine Zeit dazu, es zu gestalten. Das ist ein
+wunder Punkt in meinem Leben. In mir kocht und
+gl&uuml;ht es, und ich glaube wohl, da&szlig; ich Talent habe, und
+da&szlig; es hinausst&uuml;rmen will. Da mu&szlig; ich denn doppelt
+<a name="Page_179" id="Page_179"></a>hohe Barrieren bauen. Ich mu&szlig; soviel Prosaisches tun, &mdash; und
+wenn ich erst zu Hause bin, wo ich Mama viel
+abnehmen mu&szlig;, wird meine Zeit vollends ganz ausgef&uuml;llt
+sein. Es mag Menschen geben, die f&uuml;r die Prosa
+des Lebens geboren sind; ihnen werden die gew&ouml;hnlichen
+Pflichten nicht schwer; mir werden sie schrecklich schwer ... Mein
+armer Pegasus hat zuerst daran glauben
+und am Altar der Pflicht verbluten m&uuml;ssen! ... Es ist
+am Ende das Beste so. Was soll ein armes M&auml;del
+mit ihm anfangen? Die Phantasie war das Ungl&uuml;ck
+meines Lebens; sie aus mir herauszuschneiden war eine
+gr&auml;&szlig;lich schmerzhafte Operation. Nun, da sie gelungen
+ist, will ich das, was blieb, nur benutzen, um Haus
+und Leben damit zu schm&uuml;cken, meinen Eltern und einmal
+meinem Mann zu dienen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich war <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'wirlich'">wirklich</ins> eine &raquo;junge Dame&laquo; geworden; ich
+f&uuml;hlte nicht einmal mehr, da&szlig; die hoffnungsvollen
+Triebe meines Lebensbodens niedergetrampelt waren.
+&raquo;Man beurteilt ein junges M&auml;dchen nach seinem Aussehen,
+weniger nach seinem Wissen&laquo;, schrieb ich, mir die
+Ansichten der Tante zu eigen machend, &raquo;sie wird mit
+Recht f&uuml;r arrogant gehalten, wenn sie schon eine eigne
+Meinung haben will&laquo;. Mein Tagebuch, das ich seit
+dem Augsburger Aufenthalt nicht ber&uuml;hrt hatte, weil ich
+es nicht durfte, blieb auch jetzt unausgef&uuml;llt, obwohl
+mich niemand mehr daran hinderte. Gro&szlig;mama frug
+einmal brieflich danach, und ich antwortete mit schnippischem
+Selbstbewu&szlig;tsein: &raquo;Ich schreibe keins, weil ich
+finde, da&szlig; man sich in meinem Alter darin Dinge vorl&uuml;gt,
+die man nicht denkt, und aus Ereignissen wichtige
+macht, die man besser vergi&szlig;t. Mein Leben brauche ich
+<a name="Page_180" id="Page_180"></a>nicht aufzuschreiben, denn die Nachwelt wird es nicht
+k&uuml;mmern. Auch Verse mache ich nicht mehr, denn mein
+Streben ist darauf gerichtet, mein eignes Ich und die
+Welt um mich so poetisch wie m&ouml;glich zu gestalten&laquo; &mdash; durch
+bemalte Teller und Schachteln, bestickte Deckchen
+und ein mi&szlig;handeltes Klavier! &mdash; &raquo;damit ich einmal
+meinem Mann eine h&uuml;bsche H&auml;uslichkeit schaffen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann! &mdash; Die Tante sorgte daf&uuml;r, da&szlig; meine
+Tr&auml;ume sich mehr und mehr um ihn drehten und meine
+Phantasie, die wir so tief eingesargt w&auml;hnten, nach dieser
+Richtung &uuml;ppigste Bl&uuml;ten trieb. War nicht das Ziel
+all ihrer Erziehungsk&uuml;nste der Mann? War es nicht
+wie ein glattes Rechenexempel, wenn sie mir auseinandersetzte,
+warum und wann und wen ich heiraten sollte?
+&raquo;Da ich kinderlos bin, wird f&uuml;r dich reichlich gesorgt
+sein,&laquo; sagte sie, als wir einmal im Siebentischwald
+spazieren gingen und ihr Arm schwer und schmerzhaft
+wie stets auf dem meinen ruhte, &raquo;aber nat&uuml;rlich erst
+nach meinem Tode. Jetzt bist du arm und bei der
+schlechten Wirtschaft deiner Eltern kannst du kaum auf
+eine Zulage rechnen. Mach also keine Dummheiten.
+Sorgen treiben gew&ouml;hnlich die Liebe zum Hause hinaus.
+Und wenn ich versucht habe, dich aus deinem Wolkenkuckucksheim
+in die n&uuml;chterne Allt&auml;glichkeit zur&uuml;ckzuf&uuml;hren,
+so doch nur, damit du dich nicht mit irgend einer konfusen
+Leidenschaft verplemperst. Du kannst jetzt die
+gr&ouml;&szlig;ten Anspr&uuml;che machen &mdash; verscherze dir das nicht!&laquo;
+Ich h&ouml;rte ruhig zu, ich war so gut erzogen, da&szlig; mir
+das alles selbstverst&auml;ndlich klang.</p>
+
+<p>Nur einmal wars, als zerrisse ein dunkler Vorhang
+vor meinen Augen, und ich sah pl&ouml;tzlich, wie eine Vision,
+<a name="Page_181" id="Page_181"></a>die tiefe, dunkle, kalte Leere meines Herzens. Ich suchte
+sp&auml;t Abends im Park nach einem Tuch, das ich irgend
+wo liegen gelassen hatte, als ich vor mir, eng aneinandergeschmiegt,
+zwei Menschen gehen sah: unsre Lina,
+das Stubenm&auml;dchen, und Johann, den Kutscher. Von
+Zeit zu Zeit blieben sie stehen und k&uuml;&szlig;ten sich &mdash; endlos
+verzehrend. &raquo;Maria und Josef&laquo;, schrie die Lina
+als sie mich sah, &raquo;das gn&auml; Fr&auml;uln!&laquo; Mit Wangen,
+die gl&uuml;hten und Augen, die gl&auml;nzten, mehr vor Gl&uuml;ck
+als vor Scham, streckte sie die H&auml;nde nach mir aus:
+&raquo;Gn&auml; Fr&auml;uln werdens nit der Frau Baronin sagen, gel
+ja?&laquo; bat sie schmeichelnd, &raquo;de Liab is ja koan Unrecht
+n&ouml;t. Wers freili so noblich haben kann wie das gn&auml;
+Fr&auml;uln, der ka ruhig aufn Prinzen warten, der glei
+mitn Trauring kimmt und gradaus in die Kirch eini
+f&uuml;hrt. Aber mir &mdash;&laquo; sie l&auml;chelte den verlegen daneben
+stehenden Johann z&auml;rtlich an, &raquo;mir haben nix als das
+bissel Liab &mdash; und d&ouml;s &mdash; d&ouml;s m&uuml;ssen wir haben ... So
+red doch auch was, Hannsl!&laquo; Sie stie&szlig; ihn aufmunternd
+in die Seite. &raquo;Recht hast!&laquo; stotterte er, &raquo;a Freud mu&szlig;
+der Mensch haben, so a rechte herzklopfete Freud!&laquo; Es
+dunkelte mir vor den Augen, laut aufgeschluchzt h&auml;tte
+ich am liebsten. Wie arm, wie schrecklich arm war ich!
+Aber ich war ja so gut erzogen! So versicherte ich
+denn das Paar meiner Verschwiegenheit und kehrte in
+meine &raquo;nobliche&laquo; Gefangenschaft zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der folgenden Monate in Augsburg wurde
+meiner Erziehung durch die Einf&uuml;hrung in die Wohlt&auml;tigkeitsbestrebungen
+der guten Gesellschaft der letzte
+Schliff gegeben. Meine Tante war Vorstandsmitglied
+der verschiedensten Vereine und galt allgemein f&uuml;r &auml;u&szlig;erst
+<a name="Page_182" id="Page_182"></a>hilfsbereit. Mir waren dar&uuml;ber schon oft Zweifel aufgesto&szlig;en,
+wenn arme Leute, deren Ungl&uuml;ck sichtlich rasche
+Hilfe verlangte, von der Schwelle des gl&auml;nzenden Hauses
+abgefertigt und ihre Angelegenheit dem Bureaukratismus
+irgend eines Vereins &uuml;berwiesen wurde. Aber meine
+Tante wu&szlig;te so viel von der Gro&szlig;artigkeit der augsburger
+Armenf&uuml;rsorge &mdash; sowohl der kommunalen, als
+der privaten &mdash; zu erz&auml;hlen, da&szlig; ich meine Bedenken
+zur&uuml;ckhielt und mir von dem, was geleistet wurde, die
+gl&auml;nzendsten Vorstellungen machte. Schon meine erste
+Teilnahme an der Sitzung eines Krippenvereins lie&szlig; mir
+die Dinge in anderem Licht erscheinen. Da sa&szlig;en lauter
+reiche Frauen in seidenrauschenden Kleidern um den
+Tisch; keine einzige unter ihnen hatte keine Loge im
+Theater, keine Equipage vor der T&uuml;re, &mdash; und doch berieten
+sie stundenlang, auf welche Weise die zur Erweiterung
+der Anstalt notwendigen paar hundert Mark
+aufgebracht werden k&ouml;nnten. Ein Bazar wurde beschlossen.
+Schon auf der Heimfahrt jammerte meine
+Tante &uuml;ber all die damit verbundenen M&uuml;hen und
+Scherereien, &uuml;ber ein neues Kleid, das ich &mdash; als Verk&auml;uferin &mdash; notwendig
+daf&uuml;r haben m&uuml;&szlig;te, &uuml;ber einen
+neuen Hut, den sie nur in M&uuml;nchen bekommen k&ouml;nnte, &mdash; kurz,
+ich konnte die Frage nicht unterdr&uuml;cken, ob
+nicht die Kosten erheblich geringer sein w&uuml;rden, wenn
+jede der Damen durch Zahlung von f&uuml;nfzig Mark die
+ganze Sache rasch und glatt erledigt h&auml;tte. Aber da
+kam ich sch&ouml;n an. &raquo;Du hast doch gar keinen Begriff
+von Geld und Geldeswert&laquo; sagte sie, &raquo;wenn du meinst,
+wir k&ouml;nnten alle Augenblicke solche Summen einfach hergeben.
+Was wir f&uuml;r uns tun und unsere Toilette, ist
+<a name="Page_183" id="Page_183"></a>unsere Sache, f&uuml;r die Bed&uuml;rftigen aber mu&szlig; die ganze
+Bev&ouml;lkerung herangezogen werden.&laquo;</p>
+
+<p>Auch zu Recherchen wurde ich mitgenommen oder durfte
+sie hie und da selbst machen. So kam ich einmal zu
+einer armen Witwe in die Wertach-Vorstadt, die sich
+und ihre vier Kinder mit W&auml;schen&auml;hen zu ern&auml;hren bem&uuml;hte
+und um Unterst&uuml;tzung nachgesucht hatte. Durch
+einen engen, dunkeln Hof mu&szlig;te ich gehen, in dessen
+dumpfer Kellerluft eine Schar blasser, kleiner Buben
+und M&auml;deln sich herumtrieb. Sie scharten sich alle
+mit offnen M&auml;ulchen um mich, als ich nach Frau Hard
+frug. &raquo;&Uuml;ber drei Stiegen links wohnt Mutta,&laquo; sagte
+ein blasser Junge mit einem ernsthaften Altm&auml;nnergesicht,
+und die Schwester, deren Z&uuml;ge auch vom Lachen
+so wenig zu wissen schienen wie dieser Hof vom Sonnenschein,
+f&uuml;hrte mich hinauf.</p>
+
+<p>Mit jenem angstvoll nerv&ouml;sen Ausdruck gehetzter Tiere,
+der sich den Gesichtern all der Menschen einpr&auml;gt, die den
+Kampf ums t&auml;gliche Brot jeden Morgen in gleicher Sch&auml;rfe
+aufs neue beginnen m&uuml;ssen, sah die arme Frau mir entgegen.
+W&auml;hrend sie Heftf&auml;den aus all den vielen wei&szlig;en
+W&auml;schest&uuml;cken zog, die fast das ganze winzige Zimmer
+f&uuml;llten, und dazwischen hie und da aufsprang, um nach dem
+brodelnden Topf in der dunkeln K&uuml;che nebenan zu sehen,
+von dem ein widerlicher Geruch nach schlechtem Fett sich
+allm&auml;hlich &uuml;berallhin ausbreitete, erz&auml;hlte sie mir ihre
+Leidensgeschichte. Der Mann, ein Maler, war vor drei
+Jahren an der Schwindsucht gestorben, &mdash; &raquo;ka Wunder
+n&ouml;t bei dera Fabrik am Stadtbach drau&szlig;en&laquo; &mdash;, die
+Direktion hatte ihr eine einmalige Unterst&uuml;tzung von
+hundert Mark zugewiesen. &raquo;Gott vergelts ihna viel
+<a name="Page_184" id="Page_184"></a>tausendmal&laquo; f&uuml;gte sie tief ger&uuml;hrt hinzu, als sie davon
+sprach; trotz allem Flei&szlig; konnte sie aber doch nicht
+das N&ouml;tigste schaffen. Inzwischen kamen die Kinder
+herein und dr&auml;ngten sich halb neugierig halb eingesch&uuml;chtert
+in einer Zimmerecke zusammen. &raquo;Mit die Kinder
+is halt a Kreuz,&laquo; sagte die Mutter seufzend, &raquo;eins &mdash; das
+ginge noch an, aber vier, da wei&szlig; man nicht
+aus noch ein vor Sorg und Kummer.&laquo; Der Kleinste
+stolperte in diesem Augenblick &uuml;ber seine eignen d&uuml;nnen
+rachitischen Beinchen und fiel auf einen der Leinwandhaufen.
+Die Mutter patschte ihm erregt auf die H&auml;ndchen,
+zankte gleich alle Vieren, da&szlig; sie &raquo;so arg im Wege&laquo;
+st&uuml;nden und stie&szlig; sie unsanft in die K&uuml;che, mit der Mahnung,
+dort ganz still zu sitzen. Mir krampfte sich das
+Herz zusammen vor Mitleid mit diesen armen Gesch&ouml;pfen,
+die der eignen Mutter nur eine Last waren und es mit
+brutaler Deutlichkeit von ihr selbst erfahren mu&szlig;ten.
+Fast war ich schon fertig mit meinem Urteil &uuml;ber die
+Hartherzigkeit der armen N&auml;herin, als sie mir weinend
+erz&auml;hlte, wie sie des besseren Verdienstes wegen ein Jahr
+lang in die Fabrik gegangen w&auml;re, da sei aber ihr
+J&uuml;ngstes aus dem Fenster gest&uuml;rzt, w&auml;hrend sie abwesend
+war, und seitdem k&ouml;nne sie die Kinder nicht allein lassen.
+Aus lauter Angst um sie n&auml;hme sie alle Vier sogar mit,
+wenn sie liefern ginge. &raquo;Glei spr&auml;ng i nach, wenn noch
+eins da nunter fiele!&laquo;</p>
+
+<p>Ich verlor alle Selbstbeherrschung, &mdash; nie hatte
+ich auch nur im entferntesten von solch einem
+Elend gewu&szlig;t &mdash;, die Tr&auml;nen str&ouml;mten mir aus den
+Augen. Ein schwaches L&auml;cheln huschte &uuml;ber die verh&auml;rmten
+Z&uuml;ge der Frau; sie lie&szlig; die Arbeit sinken und
+<a name="Page_185" id="Page_185"></a>streichelte mir tr&ouml;stend die H&auml;nde: &raquo;So a guts Herzerl
+sans &mdash; das hat mir gwi&szlig; der liebe Herrgott geschickt!&laquo; &mdash; mich
+durchstach das Wort mit Messersch&auml;rfe: Ja, war
+es denn m&ouml;glich, da&szlig; Gott solchen Jammer mit ansehen
+konnte?! Was hatte die Mutter, was hatten die kleinen
+Kinder getan, da&szlig; sie so leiden mu&szlig;ten? Warum lebten
+sie denn eigentlich, da doch ihr Leben gar keins war?
+Und wie kam ich dazu, nicht zu sein wie sie? Dunkel
+err&ouml;tend sah ich an meinem eleganten Kleide hinab und
+blickte scheu zu den vielfach geflickten d&uuml;rftigen R&ouml;ckchen
+der Kinder hin&uuml;ber, die sich wieder der T&uuml;re gen&auml;hert
+hatten, um mich anzustaunen. Und ich f&uuml;hlte pl&ouml;tzlich
+die Spitzen meines Hemdes auf meinem K&ouml;rper brennen, &mdash; hatten
+nicht am Ende ebenso arme durchstochene
+Finger sie gen&auml;ht, wie die der Witwe vor mir? O, wie
+ich mich sch&auml;mte! W&auml;ren die Kinder auf mich zugest&uuml;rzt
+und h&auml;tten mir das weiche Tuch meines Kleides vom
+Leibe gerissen, h&auml;tte die Mutter sich mit meinem Mantel
+bekleidet, &mdash; ich h&auml;tte es in diesem Augenblick ganz
+nat&uuml;rlich gefunden. Statt dessen ruhten die Augen der
+Kleinen mit keinem andern Ausdruck als dem der Bewunderung
+auf mir, und die Mutter pries &uuml;berschwenglich
+mein &raquo;gutes Herz&laquo;.</p>
+
+<p>Ich zog den gedruckten Bogen aus der Tasche, um
+das Notwendigste einzutragen. Mechanisch stellte ich
+meine Fragen. &raquo;Wie alt sind Sie?&laquo; &mdash; &raquo;Sechsundzwanzig.&laquo; &mdash; Erschrocken
+sah ich auf: dies gelbe, faltige
+Gesicht, der krumme R&uuml;cken, die d&uuml;nnen Haare, der erloschene
+Blick, &mdash; und sechsundzwanzig Jahre! Ich sah
+pl&ouml;tzlich meine Tante vor mir, die vierzigj&auml;hrige &mdash; und
+ein dumpfer Zorn bem&auml;chtigte sich meiner. &raquo;Wie lange
+<a name="Page_186" id="Page_186"></a>arbeiten Sie am Tage?&laquo; &mdash; &raquo;I steh halt um f&uuml;nfe auf
+und leg mich um zw&ouml;lfen nieder!&laquo; &mdash; Und das alles nur
+um das elende Leben am n&auml;chsten Tag weiter zu fristen!</p>
+
+<p>&raquo;Was verdienen Sie in der Woche?&laquo; &mdash; &raquo;Sechs Mark,
+und wanns arg gut geht, achte. In der stillen Zeit
+gibts oft keine drei und vier. Und f&uuml;nf &mdash; sechs Wochen
+im Jahr is die Arbeit rar.&laquo; &mdash; Also hatte sie f&uuml;r sich
+und die ihren weniger, als mein Taschengeld betrug, &mdash; und
+ich gebrauchte f&uuml;r blo&szlig;en Toilettentand mehr als
+sie mit den Kindern zum Leben hatte!</p>
+
+<p>Ich ertrug es nicht l&auml;nger. Das Weltbild verschob
+sich mir, und seine Farben flossen zusammen, so da&szlig;
+nichts als ein schmutziges Grau &uuml;brig blieb. Ich griff
+in die Tasche, und in der Empfindung etwas zu tun,
+was f&uuml;r mich weit besch&auml;mender war, als f&uuml;r die arme
+Frau, sch&uuml;ttete ich ihr den Inhalt meiner B&ouml;rse in den
+Scho&szlig; und lief, so rasch ich konnte, davon. Als ich,
+trotz aller M&uuml;he, mich zu beherrschen, atemlos und erregt
+von dem Erlebten berichtete, erkl&auml;rte die Tante mich
+f&uuml;r &raquo;&uuml;berspannt&laquo;. &raquo;Wie kannst du die Dinge nur von
+unsern Empfindungen aus bewerten. Die Leute sind
+das nicht anders gew&ouml;hnt, und wenn f&uuml;r das Notwendigste
+gesorgt wird, sind sie zufrieden. Sie &uuml;berm&auml;&szlig;ig
+zu bedauern hei&szlig;t, sie zu Sozialdemokraten
+machen.&laquo;</p>
+
+<p>Ein andermal kam ich zu einem alten Manne, dessen
+Tochter Fabrikarbeiterin war. Die Armenunterst&uuml;tzung,
+die er erhielt, reichte zu seiner Erhaltung nicht aus, und
+sie hatte erkl&auml;rt, von ihrem Lohn nur wenig er&uuml;brigen
+zu k&ouml;nnen. Der Alte sa&szlig; am Fenster eines reinlichen
+Zimmerchens, als ich eintrat; er hustete beinahe ununter<a name="Page_187" id="Page_187"></a>brochen,
+rauchte aber trotzdem die Pfeife, und fast undurchdringliche
+Wolken umgaben ihn. Meinem Wunsch, ein
+Fenster zu &ouml;ffnen, widerstand er heftig. &raquo;I hobs auf
+der Brust und vertrag ka Zugluft n&ouml;t,&laquo; sagte er. Unter
+R&auml;uspern und Husten begann ich mein Verh&ouml;r. Er beklagte
+sich lebhaft &uuml;ber die Tochter, die &raquo;a sch&ouml;n's St&uuml;ck
+Geld&laquo; verdiene, aber &raquo;alleweil mehr an Putz denkt als
+an den alten Vater,&laquo; und lieber auf &raquo;die Tanzb&ouml;den
+umanand hupft&laquo; als bei ihm zu sein, der &raquo;d&ouml;s ausgeschamte
+Ding doch nu amal in die Welt gesetzt hat.&laquo;
+Grade ging die T&uuml;re und &raquo;d' Resi&laquo; kam nach Haus,
+ein schmalbr&uuml;stiges junges M&auml;dchen mit hektischem Rot auf
+den Wangen und fiebrig gl&auml;nzenden Augen. Sie hustete.
+&raquo;Kannst nit a bissel s' Fenster auftun,&laquo; bat sie nach
+einer verlegnen Begr&uuml;&szlig;ung, &raquo;wenn man eh' den ganzen
+Tag gar nix wie Staub schluckt.&laquo; Aber der Alte gab
+nicht nach, sondern eiferte blo&szlig; &uuml;ber die ungeratenen
+Kinder &mdash; &raquo;zu meiner Zeit gab's koanen eignen Willen
+n&ouml;t bei die Madl. Heut zu T&auml;g is aus mit'n schuldigen
+Respekt.&laquo; Die Resi bat mich, ihr mit meinem Fragebogen
+in die K&uuml;che zu folgen. Dort ri&szlig; sie das Fenster
+auf, und ein Hustenanfall ersch&uuml;tterte ihre Brust, so da&szlig;
+ihr vor Anstrengung die Schwei&szlig;tropfen auf der Stirne
+standen. Seit vier Jahren arbeitete sie, die eben erst
+achtzehn geworden war, in der gro&szlig;en Spinnerei, zu deren
+Aktion&auml;ren auch meine Tante geh&ouml;rte, wie ich aus ihrem
+eifrigen Studium der betreffenden Kurszettel erfahren
+hatte. Sie verdiente sieben Mark in der Woche, wovon
+sie dem Vater die H&auml;lfte abgab. &raquo;F&uuml;r mehr langt's
+gewi&szlig; nit, Fr&auml;ulein,&laquo; f&uuml;gte sie mit tr&auml;nenden Augen
+hinzu, &raquo;i brauch a bissel was f&uuml;r's Gewand, und dann, &mdash; schauen's,
+<a name="Page_188" id="Page_188"></a>wie's mi grad gepackt hat &mdash; d&ouml;s kommt alle
+Tag' a paar Mal &mdash; der Herr Doktor hat gesagt, i soll
+viel Milli trinken, da hol' i mi heimli an halben Liter
+am Tag&laquo; &mdash; aus dem Winkel des Schr&auml;nkchens suchte
+sie ein T&ouml;pfchen hervor, dabei &auml;ngstlich nach der T&uuml;re
+schielend, ob auch der Vater nichts merken k&ouml;nne. &raquo;Recht
+a gute Luft, meint der Herr Doktor, w&auml;r' halt auch
+n&ouml;tig&laquo; &mdash; ein bittres L&auml;cheln huschte um ihre Lippen &mdash; &raquo;Sie
+merkend ja selber, wie's hier damit steht, und
+schlafen mu&szlig; i a no bei ihm drinnen! Wie's aber in
+der Fabrik is, das wissen's gewi&szlig; nit, &mdash; da schluckt
+einer weiter nix wie Baumwolle.&laquo;</p>
+
+<p>Zu Hause meinte ich, es w&auml;re am besten, der Alte
+k&auml;me ins Spital. Die Tante war emp&ouml;rt &uuml;ber meine
+Herzlosigkeit. &raquo;Ein Kind geh&ouml;rt zu seinen Eltern,&laquo;
+sagte sie, &raquo;und dann am sichersten, wenn sie alt und
+krank sind.&laquo; Nach einer neuen, &raquo;fachverst&auml;ndigeren&laquo;
+Untersuchung wurde festgestellt, da&szlig; die Resi am Sonnabend
+stets auf dem Tanzboden zu finden sei und f&uuml;r
+bunte B&auml;nder immer Geld &uuml;brig zu haben scheine.
+Diese Entdeckung wurde mir mit allen Zeichen einer
+Entr&uuml;stung mitgeteilt, die ich beim besten Willen nicht
+zu teilen vermochte. &raquo;Wir gehen doch auch in Gesellschaften &mdash; noch
+dazu ohne die ganze Woche gearbeitet
+zu haben,&laquo; sagte ich naiv, &raquo;und die Resi ist jung wie
+wir, dazu arm und krank &mdash; la&szlig;t ihr doch das bi&szlig;chen
+Lebensfreude.&laquo;</p>
+
+<p>Von da an wurden mir die Armenbesuche verboten.
+Nur zu Weihnachten durfte ich an der allgemeinen
+Bescherung des Krippenvereins teilnehmen. In einem
+langen niedrigen Saal standen h&ouml;lzerne Tafeln mit ge<a name="Page_189" id="Page_189"></a>schmacklosen
+bunten Wollsachen, Schuhen, derben W&auml;schest&uuml;cken,
+ein paar Pfefferkuchen und verschrumpelten &Auml;pfeln
+bedeckt; ein d&uuml;rftig geschm&uuml;ckter Baum streckte seine gro&szlig;en
+Zweige wie lauter wehklagend erhobene Arme nach der
+Zimmerdecke. Lieblos und n&uuml;chtern &mdash; gar nicht nach
+Weihnachten &mdash; sah es aus, und ich mu&szlig;te der Gro&szlig;mutter
+denken, die selbst den &Auml;rmsten immer irgend eine &raquo;&Uuml;berraschung&laquo;
+bereitete, denn &raquo;<em class="antiqua">les choses superflus sont des
+choses tr&egrave;s n&eacute;cessaires</em>&laquo; Pflegte sie mit ihrem g&uuml;tigsten
+L&auml;cheln zu sagen. Auf der einen Seite dr&auml;ngten sich
+die Frauen und Kinder eng zusammen, auf der anderen
+sa&szlig;en die Damen des Vorstands, und unter dem Baum
+stand Pfarrer Haberland, der die Festpredigt hielt. Er
+war mir v&ouml;llig fremd diesen Abend, als er so viel vom
+&raquo;Vater im Himmel&laquo; sprach, &raquo;der die Armen nicht verl&auml;&szlig;t,&laquo;
+von &raquo;den wahrhaft christlichen Seelen der g&uuml;tigen
+Geberinnen,&laquo; von der gebotenen &raquo;Dankbarkeit und Zufriedenheit
+der Empfangenden.&laquo; Dann wurde gesungen
+und dann beschert, wobei die M&uuml;tter ihre Kinder immer
+wieder ermahnten &raquo;vergelts Gott&laquo; zu sagen, obwohl die
+kleine Gesellschaft offenbar nicht recht wu&szlig;te, warum. &mdash; &Uuml;ber
+eine Gummipuppe und ein Holzpferdchen h&auml;tten
+sie sich tausendmal mehr gefreut, als &uuml;ber all die prosaischen
+N&uuml;tzlichkeiten.</p>
+
+<p>Trotzdem von der Riesentanne in unserm Musiksaal
+wenige Stunden sp&auml;ter hunderte von Kerzen ein warmes
+strahlendes Licht verbreiteten und alle Geschenke meiner
+Eitelkeit zu schmeicheln schienen, verlebte ich noch nie ein
+so trauriges Weihnachtsfest. Ich sei &raquo;schlechter Laune&laquo;,
+meinte die Tante &auml;rgerlich, der mein Dank nicht st&uuml;rmisch
+genug war. Nachts darauf hatte ich wieder
+<a name="Page_190" id="Page_190"></a>einen heftigen Anfall von Seitenschmerzen und wu&szlig;te
+bald nicht mehr, ob meine Tr&auml;nen um das k&ouml;rperliche
+Leid oder um die Zerrissenheit meines Innern flossen.</p>
+
+<p>Ich mochte die Sitzungen der Vereine nicht mehr
+besuchen, trotzdem mir dringend empfohlen wurde, mir
+die gute Gelegenheit, so viel zu lernen, nicht entgehen
+zu lassen. Nur nichts h&ouml;ren und sehen von dieser H&ouml;lle,
+in die die Armen mir rettungslos verdammt erschienen!</p>
+
+<p>Ich ging aufs Eis, und in Gesellschaften und ins
+Theater, und je mehr die nat&uuml;rliche Lebenslust befriedigt
+und die Eitelkeit gen&auml;hrt wurde, desto leichter wurde
+mir ums Herz. Fuhren wir spazieren, die Tante und
+ich, und unser blauer Wagen rollte in der Vorstadt
+mitten durch den Zug der heimkehrenden Arbeiter, so
+schlo&szlig; ich am liebsten die Augen, nachdem meine Bitte,
+diese Gegend zu meiden, als &raquo;sentimental&laquo; unerf&uuml;llt
+geblieben war. Aber grade wenn ich nicht hinsah und
+nur die m&uuml;den Schritte h&ouml;rte und das freudlose Gemurmel
+vieler Stimmen, war es mir, als ginge ich
+mitten unter ihnen und s&auml;he meinen Doppelg&auml;nger bequem
+in die seidenen Kissen gelehnt an mir vor&uuml;ber
+rollen. Und dann packte mich eine Wut &mdash; eine Wut,
+da&szlig; ich am liebsten den n&auml;chsten Stein genommen und
+ihn den vornehmen Faullenzern ins Gesicht geschleudert
+h&auml;tte!</p>
+
+<p>Sah ich dann, wie aus w&uuml;stem Traum erwachend,
+um mich, so fiel mein Blick nur auf gleichg&uuml;ltige oder
+bewundernde Mienen &mdash; es gab sogar M&auml;nner, die die
+M&uuml;tze zogen vor uns. Ich wandte jedesmal den Kopf ab.</p>
+
+<p>Im Mai kam mein Vater, um mich heimzuholen. Er
+war von &uuml;berstr&ouml;mender Freude und Z&auml;rtlichkeit, die ich
+<a name="Page_191" id="Page_191"></a>ger&uuml;hrt und dankbar empfand. Seine Schwester r&uuml;hmte
+mich als das Produkt ihrer Erziehung, wobei sie ihrer
+M&uuml;hen und Opfer ausgiebig gedachte und es an Seitenhieben
+auf die Eltern nicht fehlen lie&szlig;, die mich in so
+&raquo;verwahrlostem&laquo; Zustand ihr &uuml;bergeben hatten. Seltsam,
+wie mein sonst so heftiger Vater sich das alles gefallen
+lie&szlig;; zwar schwollen ihm oft die Adern auf der Stirn,
+aber er schwieg. Ich freute mich auf Zuhause, auf die
+Liebe, die mich umgeben, die Freiheit, die ich genie&szlig;en
+sollte, auf die Pflichten, von deren Erf&uuml;llung ich mir
+Befriedigung versprach. Alles B&ouml;se wollte ich den Eltern
+vergessen machen, was sie durch mich erfahren hatten!
+Meine Gedanken und meine Empfindungen waren schon
+lange, lange vor mir daheim.</p>
+
+<p>Als ich zum stillen Abschied am letzten Abend im
+d&auml;mmernden Park auf und nieder ging, kam es &uuml;ber
+mich, wie eine Vision. Ein gro&szlig;es, dunkles Tor sah ich
+und eine endlose schwarze Schlange langsam gleichender
+Menschen, die daraus hervorkroch: M&auml;dchen, wie die
+Rest, und Frauen, wie die arme Witwe, und viele,
+viele Kinder mit sonnenlosen Gesichtern. &mdash; Ich warf
+mich ins Gras und weinte bitterlich. Als ich dann
+ins helle Licht der Lampen trat, schlang die Tante,
+beim Anblick meiner tr&auml;nenfeuchten Augen, ger&uuml;hrt &uuml;ber
+so tiefen Abschiedsschmerz, die Arme um mich.</p>
+
+<p>&raquo;Bleibe mein gutes Kind,&laquo; sagte sie beim Abschied
+mit Betonung.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_192" id="Page_192"></a></p>
+<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war eine mondhelle Mainacht, als wir in
+Brandenburg ankamen, mein Vater und ich.
+&Uuml;ber das holprige Pflaster rasselte die gro&szlig;e
+alte Mietkutsche durch die schlafende Stadt. Der steinerne
+Roland am Rathaus warf einen langen schwarzen
+Schatten auf die einsame Stra&szlig;e, und in dem gr&uuml;nen
+Dachlaubkr&ouml;nchen auf seinem Haupte spielte leise der
+Wind. Unter der weiten Wasserfl&auml;che am M&uuml;hlendamm,
+der zur Dominsel hin&uuml;ber f&uuml;hrt, breitete der Nebel leichte
+duftige Schleier aus, die ein zitternder Streifen silbernen
+Mondlichts mitten durch gerissen hatte, so da&szlig; sie
+flatterten, wie gr&uuml;&szlig;end von unsichtbaren H&auml;nden bewegt.</p>
+
+<p>Durch einen schmalen Torweg polterte der Wagen
+auf den Domhof. Dunkel und wuchtig wie eine Burg
+ragte das uralte Gotteshaus zum Himmel empor, das
+den engen Platz und die einst&ouml;ckigen H&auml;uschen ringsum,
+aus deren tiefen roten D&auml;chern erstaunte Fensteraugen
+verschlafen blickten, mit seinem Schatten zu erdr&uuml;cken
+schien. Nur das gr&ouml;&szlig;te der Geb&auml;ude, das breit und
+massig an der andren Seite den Hof abschlo&szlig;, war
+wach: helles Licht str&ouml;mte daraus hervor und verscheuchte
+den Schatten; um das weit offene Tor &uuml;ber der grauen
+Steintreppe schlang sich ein Kranz bunter Fr&uuml;hlings<a name="Page_193" id="Page_193"></a>blumen,
+und auf der obersten Stufe erschien, als habe
+die gr&ouml;&szlig;te davon sich losgel&ouml;st, und sei vom Mondzauber
+getroffen zu n&auml;chtlichem Elfenleben erwacht, ein
+kleines, schneewei&szlig;es Gesch&ouml;pfchen, Stirn und Wangen
+von goldenen Locken umwallt. Erst als ihre &Auml;rmchen
+warm meinen Nacken umschlangen, f&uuml;hlte ich, da&szlig; es
+ein Menschlein war, das mich willkommen hie&szlig;: mein
+Schwesterchen. Mit ungewohnter Z&auml;rtlichkeit begr&uuml;&szlig;te
+mich die Mutter, mit einem: &raquo;Nun bist du endlich daheim,&laquo;
+aus dem die ganze vergangene Sehnsucht klang,
+k&uuml;&szlig;te mir der Vater die Stirn, und die Freude hielt
+mich noch wach, als die Kissen meines Bettes mich schon
+lange weich und wohlig umfingen.</p>
+
+<p>Mit dem d&auml;mmernden jungen Tage trieb die Erregung
+mich zum Tore hinaus. Still und vertr&auml;umt
+lag der Hof im Morgenglanze, und die stummen
+Steine der Mauern erz&auml;hlten von der Vergangenheit.
+An unseres Hauses Platz mochte Pribislavs, des
+letzten Wendenherzogs, F&uuml;rstensitz sich erhoben haben,
+als er Albrecht, dem askanischen B&auml;ren, Krone und
+Land &uuml;berlie&szlig; und Triglaff, den dreik&ouml;pfigen G&ouml;tzen,
+dem Christengott zu Ehren verbrannte. Sieben Jahrhunderte
+hatten zusammengewirkt, um des Gekreuzigten
+Haus zu errichten, und viele wilde K&auml;mpfe um Glauben
+und Macht, die seiner Friedensbotschaft und Liebespredigt
+spotteten, hatten auf dem Raum zu seinen F&uuml;&szlig;en
+getobt. Jetzt nisteten die Schwalben an Giebel und
+Dachfirst, und auf dem Hof, der vor Zeiten von klirrenden
+Kettenpanzern und Sporen widerhallte, pickten wei&szlig;e
+Tauben die K&ouml;rnlein auf, die sich in dem wuchernden
+Unkraut zwischen den Pflastersteinen verloren hatten.</p>
+
+<p><a name="Page_194" id="Page_194"></a>In tausend und abertausend Lichtern tanzte die Morgensonne
+auf den blauen Wassern der Havel rings um die
+Dominsel und malte alle Farben des Regenbogens auf
+die Tautropfen der Wiesengr&auml;ser. Der Garten hinter
+unserem Hause, wo die Obstb&auml;ume wei&szlig; und rosenrot
+bl&uuml;hten, reichte bis hinab an das Ufer. Ein Kahn lag
+im Schilf vor dem wei&szlig;em Pf&ouml;rtchen, das die alte verwitterte
+Mauer hier unterbrach, und eine Bank lehnte
+sich au&szlig;en an die epheuumsponnene Wand. Von den
+wuchernden Ranken fest umschlossen, lag ein kleiner,
+pausb&auml;ckiger Liebesgott aus grauem Sandstein daneben;
+wie lange schon mochte er vom Sockel gest&uuml;rzt sein und
+die schelmischen Blicke grad auf das Himmelsgew&ouml;lbe
+richten! Mitleidig stellte ich ihn auf die runden Beinchen
+und steckte ihm statt des verlorenen Pfeils einen Hollunderzweig
+in die winzige Faust. Mir wars, als lachte er &mdash; ein
+helles, zwitscherndes Lachen &mdash;, vielleicht warens auch
+nur die lustigen Vogelstimmen im Gezweig. Ein feuchter
+Wind, der den Duft frischer, lebenschwangerer Erde mit
+sich trug, strich mir lind um die Stirne. Es war der
+Mai, der mich gr&uuml;&szlig;te, der Mai, dem mein Herz st&uuml;rmisch
+entgegenschlug!</p>
+
+<p>Zu sieben feierlichen Schl&auml;gen holte die Uhr im Domturm
+langsam aus. Und mit einemmal ward es lebendig:
+die sp&auml;ten Nachfolger der M&ouml;nche im Stiftshaus gegen&uuml;ber,
+das sich im Lauf der Jahrhunderte in eine Ritterakademie
+verwandelt hatte, st&uuml;rmten &uuml;ber den Hof, &mdash; lauter
+kecke brandenburgische Junker, deren harte Sch&auml;del
+der Weisheit der Magister trotzten, wie die ihrer Vorfahren
+von je den friedsamen B&uuml;rgern Trotz geboten
+hatten. Sie stutzten, als sie mich sahen, &mdash; die neue<a name="Page_195" id="Page_195"></a>
+Nachbarin, &mdash; und musterten mich halb neugierig, halb
+bewundernd; einer, ein langer, blonder, streckte mir die
+Hand entgegen und warf mir mit der anderen lachend
+einen ganzen Strau&szlig; von Vergi&szlig;meinnicht zu, so da&szlig;
+die blauen Sternchen mir in Haar und Kleid h&auml;ngen
+blieben. Noch ehe ich eine Antwort fand, flog mir
+mein Schwesterchen in die Arme, und im Torweg tauchten
+blitzende Helme auf: das Musikkorps von meines Vaters
+Regiment. Mich zu empfangen, kamen sie, und all die
+Lieder von Gl&uuml;ck und Liebe, die sie spielten, schmeichelten
+sich in mein Herz, und die Walzermelodien waren wie
+ein starker Duft von Jasmin, der mich in einen Rausch
+seliger Tr&auml;ume h&uuml;llte. Es war der Mai, der Mai, der
+mich gr&uuml;&szlig;te!</p>
+
+<p>Hat sich die Natur seitdem so ver&auml;ndert, ist das
+Sonnenlicht tr&uuml;ber, sind die Farben der Blumen matter
+geworden, oder waren es meine siebzehn Jahre, die
+ihren Glanz der Sonne und den Blumen liehen?</p>
+
+<p>Morgens spielte ich mit dem Schwesterchen in Hof
+und Garten. Wie sie erstaunt und gl&auml;ubig die blauen
+Augen aufri&szlig;, wenn ich ihr die schattigen Winkel zeigte,
+wo die Zwerglein hausen, und sie in jedem Bl&uuml;tenkelch
+nach den Elfen suchen lie&szlig;! Beladen mit allem, was
+strahlte und duftete im Garten und auf der Wiese,
+stiegen wir dann die wei&szlig;e Treppe zur Diele hinauf,
+um dort alle Vasen und Gl&auml;ser zu f&uuml;llen, die die Zimmer
+schm&uuml;cken sollten. Gegen&uuml;ber, an den Fenstern der
+Ritterakademie, pflegten zu gleicher Zeit viele Knabenk&ouml;pfe
+aufzutauchen, und es gab ein lustiges Lachen und
+Nicken hin und her. Bald kannte ich die, die zur Freistunde
+den Platz am Fenster dem Spiel im Schulgarten
+<a name="Page_196" id="Page_196"></a>vorzogen. Unsere Sonntagsg&auml;ste waren die meisten von
+ihnen, und der lange blonde, der Fritz, der mir die Vergi&szlig;meinnicht
+zugeworfen hatte, war mein Vetter. Die
+Tertia lie&szlig; ihn noch immer nicht los, trotz seiner achtzehn
+Jahre; sein schmaler Sch&auml;del war offenbar nicht der
+Sitz seiner besten Kraft. Aber rudern und reiten, tanzen
+und Schlittschuh laufen konnt' er daf&uuml;r, wie kein anderer;
+und zum Fenster hinaus und hinein konnt' er klettern,
+wenn es galt, zu verbotener Abendstunde unseren Garten
+zu erreichen, oder mir vor Tau und Tage Blumen von
+den Wiesen zu holen. Seit ich da war, lebte er mit
+den Wissenschaften auf noch feindseligerem Fu&szlig; als vorher.
+Die Junker von dr&uuml;ben waren alle meine Ritter,
+aber er allein war es mit der ganzen Hingabe seines
+treuen Herzens. All meinen &Uuml;bermut lie&szlig; er &uuml;ber sich
+ergehen, um so dankbarer, je mehr ich von ihm forderte.
+Geduldig h&uuml;tete er mein Schwesterchen, wenn ich zum
+Lesen Ruhe haben wollte; waghalsig kletterte er &uuml;ber
+die Mauer, um Rosen aus dem Nachbargarten zu holen,
+die mir duftiger schienen als die unseren; weit lief er
+in die Felder, um Kornblumen zu pfl&uuml;cken, die er, von
+seidenem Band umwunden, fr&uuml;hmorgens, ehe ich erwachte,
+in mein offenes Fenster warf; mit den Havelschw&auml;nen
+bestand er so manchen Kampf, weil ich mir
+die gelben Mummeln so gern in die Haare steckte. Den
+k&ouml;stlichen Genu&szlig; heimlich gerauchter Zigaretten gab er
+auf, um mir statt dessen f&uuml;r sein Taschengeld allerlei
+Zuckerwerk zu kaufen, das ich liebte.</p>
+
+<p>Am Sonntag morgen pflegte mein Vater ihm eins
+seiner Pferde zur Verf&uuml;gung zu stellen. Ehe ich noch
+die Treppe hinab kam, die lange Schleppe meines Reit<a name="Page_197" id="Page_197"></a>kleides
+stolz hinter mir schleifend, stand er schon rot vor
+Erregung wartend im Hof, und seine H&auml;nde, die er mir
+unter den Fu&szlig; schob, um mir hilfreich in den Sattel
+zu helfen, zitterten jedesmal. Unterwegs strahlte er vor
+Freude, wenn er sich zum Blitzableiter irgend einer
+Heftigkeit meines Vaters machen konnte. Vermied ich
+sonst angstvoll jede Ungeschicklichkeit, weil sie unweigerlich
+einen Sturm heraufbeschwor, so lie&szlig; ich, wenn der
+Fritz dabei war, die Peitsche oft absichtlich fallen, um
+zu sehen, wie seine schlanke J&uuml;nglingsgestalt sich <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'gegeschmeidig'">geschmeidig</ins>
+aus dem Sattel schwang, um mir das verlorene
+wiederzubringen. Vergr&ouml;&szlig;erte sich unsere Kavalkade,
+so kam es wohl vor, da&szlig; seine Mundwinkel zuckten, wie
+die eines kleinen Kindes, das weinen will, und er wortlos
+kehrt machte, um in gestrecktem Galopp nach Hause
+zu reiten.</p>
+
+<p>Das alte St&auml;dtchen war erf&uuml;llt von Jugend. Es
+gab gar keine alten Leute, glaube ich; vielleicht da&szlig; sie
+sich wie die Maulw&uuml;rfe vor dem lachenden Tag gr&auml;mlich
+verkrochen. Auch nur wenig junge M&auml;dchen gab es in
+unserem Kreise, daf&uuml;r um so mehr junge M&auml;nner. In
+meines Vaters Regiment war ich die einzige meiner Art,
+und da&szlig; alle Leutnants dem Regimentst&ouml;chterlein huldigten,
+war eigentlich selbstverst&auml;ndlich. Sie waren zumeist
+berliner Kaufmannss&ouml;hne, die bei den 35ern
+eintraten, weil ihnen trotz reichlicher Zulage die Garde
+verschlossen blieb und sie sich doch nicht zu weit von
+der Vaterstadt entfernen wollten. Manch einer unter
+ihnen hielt sich eigene Pferde und suchte durch seinen
+Aufwand wie durch seinen Hochmut die feudalen Kameraden
+von der Kavallerie zu &uuml;bertrumpfen. Das Offizier<a name="Page_198" id="Page_198"></a>korps
+der wei&szlig;-blauen K&uuml;rassiere dagegen setzte sich aus
+dem alten Adel Brandenburgs und Pommerns zusammen,
+und zwischen ihnen und den F&uuml;silieren bestanden vor
+unserer Zeit so gut wie keine gesellschaftlichen Beziehungen.
+Die einen verkehrten auf den Ritterg&uuml;tern der Umgegend,
+mit deren Besitzern Familienbeziehungen sie verbanden,
+die andern zogen den gewohnten Gesellschaftskreis der
+Kaufleute und Fabrikanten vor. Das &auml;nderte sich bald,
+als meine Eltern nach Brandenburg kamen. War meines
+Vaters Adelsstolz durch das b&uuml;rgerliche Regiment verletzt
+worden, so half ihm seine altpreu&szlig;ische Auffassung
+von der Vornehmheit des Offiziers als solchen dar&uuml;ber
+hinweg, und er setzte alles daran, diese Idee auch in den
+&auml;u&szlig;eren Fragen des Verkehrs zur Geltung zu bringen.
+Leicht war es nicht, denn B&uuml;rgerstolz ist oft so hartn&auml;ckig
+wie Adelsstolz, und manch einer der Besten mu&szlig;te
+es als Kr&auml;nkung empfinden, wenn gesellige Beziehungen
+als eines Offiziers unw&uuml;rdig bezeichnet wurden, die
+doch seiner eigenen Herkunft entsprachen. Aber der
+daraus entstehende Widerstand gegen meines Vaters
+W&uuml;nsche wurde reichlich aufgewogen durch jene unausrottbare
+neidvolle Bewunderung des B&uuml;rgerlichen f&uuml;r
+den Aristokraten, die oft die Maske des Hochmuts tr&auml;gt,
+meist aber kein andres Ziel kennt, als selbst unter
+dem&uuml;tigender Selbstverleugnung im Kreise der Bewunderten
+Aufnahme zu finden. Unsere eigenen vielfachen
+freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen
+mit dem Landadel und seinen S&ouml;hnen im
+K&uuml;rassierregiment unterst&uuml;tzten &uuml;berdies die Durchsetzung
+der Erziehungsprinzipien meines Vaters.</p>
+
+<p>Das Unerh&ouml;rte geschah: zu Pferd und zu Wagen,
+<a name="Page_199" id="Page_199"></a>wenn es aufs Land hinaus ging zu den Rochows und
+Bredows und Itzenplitz, oder zu lustigem Picknick im
+Walde, tauchte der rote Kragen des Infanteristen immer
+h&auml;ufiger neben dem hellen blauen des Kavalleristen auf,
+und nur der aufmerksame Beobachter bemerkte, da&szlig; sich
+hinter der tadellosen gesellschaftlichen Form eine tiefe
+innere Feindseligkeit verbarg. Grade die vollendete
+H&ouml;flichkeit, mit der der K&uuml;rassier den kleinen Leutnant
+von den F&uuml;silieren behandelte, richtete die Schranke auf,
+die den Eintritt in das intime Leben unbedingt verwehrte, &mdash; dieselbe
+H&ouml;flichkeit, die so aufreizend wirken
+kann, weil ihre k&uuml;hle Gl&auml;tte keinerlei Angriffsfl&auml;che
+gew&auml;hrt.</p>
+
+<p>Mein Vater hatte mir zur Pflicht gemacht, seinen
+Offizieren ebenso freundlich entgegen zukommen, wie den
+andern: &raquo;Da&szlig; sie M&uuml;ller und Schultze hei&szlig;en, mu&szlig; dich
+nicht st&ouml;ren; sie tragen alle denselben Rock, und heiraten
+brauchst du sie ja nicht!&laquo; Nein, gewi&szlig; nicht! Der
+blo&szlig;e Gedanke kam mir komisch vor! Heiraten &mdash;!
+Der Vornehmste und Sch&ouml;nste war mir daf&uuml;r in meinen
+Zukunftstr&auml;umen nur grade gut genug! Warum auch
+ans Heiraten denken, wo lachend und lockend ein ganzes
+freies Jugendleben vor mir lag! Gl&uuml;cklich und harmlos
+lie&szlig; ich mich von den schmeichelnden Wogen der Bewunderung
+tragen; bei manchem gl&uuml;henden Blick und
+hei&szlig;en H&auml;ndedruck bebte mir wohlig das Herz. Ich sah
+den einen lieber als den andern, ich dachte nicht daran,
+meine Empfindungen zu verstecken, denn ich liebte dankbar
+strahlende Augen und zeichnete freudig den aus, der
+mir am meisten huldigte.</p>
+
+<p>Entz&uuml;ckend war's, wenn die halbw&uuml;chsigen Knaben der<a name="Page_200" id="Page_200"></a>
+Ritterakademie sich im Garten um den Platz neben mir
+rauften; hoch auf klopfte mein Herz, wenn der blonde
+Vetter mich beim Greifspiel st&uuml;rmisch an sich ri&szlig;; weiche
+s&uuml;&szlig;e Gef&uuml;hle beschlichen mich, sa&szlig;en wir, lauter lebenspr&uuml;hende
+Jugend, im Kahn eng beieinander, und streifte
+meine Hand im Wasser die des schwarz&auml;ugigen Leutnants,
+meines getreuesten Kavaliers. Triumphierende Siegesfreude
+trieb mir das Blut wild durch die Adern, wenn
+meine braune Stute mich fr&uuml;h im Morgennebel &uuml;ber
+den Exerzierplatz trug, wo rote Sonnenstrahlen auf den
+Stahlhelmen der K&uuml;rassiere blitzten und Blicke mir
+folgten und Degen sich vor mir senkten, deren Gru&szlig;
+mehr bedeutete als blo&szlig;e H&ouml;flichkeit.</p>
+
+<p>Und einmal kam ein Tag, hei&szlig; und gewitterschw&uuml;l,
+der uns alle, eine gro&szlig;e lustige Gesellschaft, in blumengeschm&uuml;ckten
+und buntbewimpelten Wagen hinausf&uuml;hrte
+in den Wald, wohin unsere jungen Offiziere uns geladen
+hatten. Unter gr&uuml;nen B&auml;umen in hellen Zelten
+waren Tische gedeckt, Schie&szlig;- und W&uuml;rfelbuden mit
+allerlei beziehungsvollen Gewinnen standen im Hintergrund,
+auf kurzgeschorenem Rasenplan war durch bunte
+Fahnenmasten der Tanzplatz abgesteckt. Mit einem Tusch
+empfing uns die Musik, und Fredy, mein treuster Kavalier
+und meines Vaters j&uuml;ngster Leutnant, begr&uuml;&szlig;te
+mich mit einem Strau&szlig; dunkler, duftender Rosen. Er
+wich nicht mehr von meiner Seite. Ich suchte mich zu
+befreien, aber &mdash; war's Absicht oder Zufall &mdash; man lie&szlig;
+uns immer wieder allein; niemand, so schien's, wollte
+dem jungen Mann den Platz neben mir streitig machen.
+Es wurde d&auml;mmernder Abend. M&uuml;de von Scherz und
+Spiel lagerten wir unter den B&auml;umen und sch&ouml;pften
+<a name="Page_201" id="Page_201"></a>aus gro&szlig;en Kupferkesseln k&uuml;hle, duftende Erdbeerbowle,
+die den Durst nicht l&ouml;schte und das Blut nicht k&uuml;hlte,
+es vielmehr unruhig pochend gegen die Schl&auml;fen trieb.
+Eine halbwelke gelbe Rose l&ouml;ste sich mir vom G&uuml;rtel, &mdash; der
+Mann zu meinen F&uuml;&szlig;en griff danach, und ich
+sah seine H&auml;nde zittern, als er sie an die Lippen dr&uuml;ckte.</p>
+
+<p>Es wurde Nacht. Bunte Lichterketten zogen sich von
+Baum zu Baum, Raketen und Leuchtkugeln flogen zum
+Himmel empor, wie lebendig gewordene, zuckend hei&szlig;e
+Empfindungen unserer Herzen. Immer weicher und sehns&uuml;chtiger
+klang die Musik. Wir tanzten, eng aneinander
+geschmiegt; selig erschauernd f&uuml;hlte ich das pochende Herz
+an dem meinen schlagen, den hei&szlig;en Atem meine Stirne
+streifen. Tiefer in den Wald lie&szlig; ich mich in halbem
+Traume f&uuml;hren. Erst als es still, ganz still um mich
+wurde, sah ich auf &mdash; in zwei Augen, die sich verzehrend
+auf mich richteten. Stumm lehnte ich mich in den Arm,
+der sich um mich schlang, und mir war, als vers&auml;nke
+ich in ein Meer von rotem Feuer, als zwei Lippen sich
+gl&uuml;hend auf die meinen pre&szlig;ten. Die Bet&auml;ubung schwand
+nur halb, als Geschw&auml;tz und Gel&auml;chter, Pferdestampfen
+und Peitschenknallen mir ans Ohr t&ouml;nten und die
+Wagen durch die Nacht heimw&auml;rts fuhren. Es wetterleuchtete
+am Horizont.</p>
+
+<p>Gewitterregen klatschte gegen die Fensterscheiben und
+weckte mich am anderen Morgen. Tr&uuml;bselige Alltagsstimmung
+lagerte &uuml;ber Haus und Garten, und mich
+fr&ouml;stelte, wie immer, wenn mir ein Traum verloren ging.
+Mittags kam der Vater aus dem Bureau herauf; sein
+erregtes R&auml;uspern, sein schwerer Tritt k&uuml;ndigten nichts
+Gutes an.</p>
+<p><a name="Page_202" id="Page_202"></a></p>
+<p>&raquo;Du bist ja eine nette Pflanze!&laquo; rief er, kaum
+da&szlig; er eingetreten war &raquo;hinter dem R&uuml;cken deiner
+Eltern b&auml;ndelst du mit meinen Leutnants an und setzt
+ihnen Flausen in den Kopf. Hast du denn gar keine
+Ehre im Leibe?!&laquo; Verst&auml;ndnislos starrte ich ihn an.
+&raquo;Tu doch nicht so naiv,&laquo; schrie er w&uuml;tend. &raquo;Du
+wei&szlig;t ganz gut, was los ist, und meinst wohl, ich w&uuml;rde
+meine Tochter jedem hergelaufenen Ladenschwengel in
+die Arme werfen!&laquo; Ich erschrak &mdash; war das m&ouml;glich:
+der Fredy hatte um mich angehalten! &raquo;Aber ich will
+ja gar nicht!&laquo; stotterte ich. Ein halbes L&auml;cheln huschte
+&uuml;ber das rote Gesicht meines Vaters: &raquo;Ja, zum Donnerwetter,
+was bildet sich denn dann der Kerl ein &mdash;, er
+versichert hoch und teuer, deiner Zustimmung gewi&szlig; zu
+sein!&laquo;</p>
+
+<p>Es half nichts &mdash; nun mu&szlig;t' ich beichten. Und als
+ich so im grauen Tageslicht den s&uuml;&szlig;en, hei&szlig;en Traum
+der Nacht mit kalten Worten wie mit Messern zerschneiden
+mu&szlig;te, fa&szlig;te mich ein tiefer Groll gegen den
+Mann, dessen rasches Vorgehen mich dazu zwang. Ein
+Ku&szlig; in der Julinacht, &mdash; und fr&uuml;h tritt er an mit Helm
+und Sch&auml;rpe und begehrt mich zum Weibe f&uuml;r ein
+ganzes langes Leben!</p>
+
+<p>&raquo;Man k&uuml;&szlig;t doch nicht, wenn man nicht heiraten will!&laquo;
+sagte meine Mutter kopfsch&uuml;ttelnd, als der Sturm des
+v&auml;terlichen Zorns sich etwas gelegt hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Heiraten &mdash; so einen fremden Mann!&laquo; kam es
+darauf z&ouml;gernd &uuml;ber meine Lippen. Die Wirkung
+meiner Worte war verbl&uuml;ffend: mein Vater lachte &mdash; lachte,
+bis ihm die dicken Tr&auml;nen &uuml;ber die Backen
+liefen. Und abends schenkte er mir einen goldgelben<a name="Page_203" id="Page_203"></a>
+Sonnenschirm, den ich mir schon lange gew&uuml;nscht
+hatte.</p>
+
+<p>Um jede Klatscherei im Keime zu ersticken, verlangte
+Papa von dem abgewiesenen Freier, da&szlig; er sich benehmen
+m&uuml;sse, als sei nichts geschehen. Fredy folgte,
+aber er folgte in einer Weise, die das Gegenteil von
+dem erreichte, was beabsichtigt war: sein finster-verkniffenes
+Gesicht, das er zu Schau trug, sobald er
+sich neben uns zeigte, die offenbare Verachtung, mit der
+er mich strafte, fielen weit mehr auf, als seine Abwesenheit
+aufgefallen w&auml;re. &raquo;Du hast dem Fredy einen
+Korb gegeben!&laquo; rief mir Vetter Fritz eines Tages strahlend
+vor Freude zu, und bald pfiffen es die Spatzen
+von den D&auml;chern. Mit jenem Solidarit&auml;tsgef&uuml;hl, das
+den preu&szlig;ischen Offizier charakterisiert und sich selbst
+st&auml;rker erweist als die Subordination gegen&uuml;ber dem
+Vorgesetzten, wurden Fredys Kameraden nun zu seiner
+Partei: sie sprachen nur das Notwendigste mit der Tochter
+ihres Kommandeurs; und tanzten sie mit ihr, so waren
+es nur Pflichtt&auml;nze. Selbst wenn ich gewollt h&auml;tte, &mdash; diese
+geschlossene Phalanx w&uuml;rde allen Eroberungsversuchen
+getrotzt haben. Aber ich wollte gar nicht; z&auml;hneknirschende
+Emp&ouml;rung erf&uuml;llte mich, nicht, weil die Kurmacher
+mir verloren gegangen waren, sondern weil ich
+zum erstenmal die Ungerechtigkeit empfand, mit der mein
+Geschlecht im Vergleich zum m&auml;nnlichen behandelt wurde.</p>
+
+<p>Als ich einmal wieder &raquo;pflichtschuldigst&laquo; von einem
+der Offiziere des v&auml;terlichen Regiments bei einem Diner
+zu Tisch gef&uuml;hrt worden war und mich t&ouml;dlich gelangweilt
+hatte, trat ein alter Major, der mir sein besonderes
+Wohlwollen zugewendet hatte, l&auml;chelnd auf mich zu.</p>
+<p><a name="Page_204" id="Page_204"></a></p>
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen sich darein finden, Kleine,&laquo; sagte er &raquo;das
+Kokettieren ist nun mal eine b&ouml;se Sache und straft sich
+immer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kokettieren?! Ich habe gar nicht kokettiert!&laquo; rief
+ich in dem Bed&uuml;rfnis, einmal auszusprechen, wie ich
+empfand, &raquo;ich hab' ihn gern gehabt, sehr gern sogar,
+aber doch lange, lange nicht so, um seine Frau zu
+werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein junges M&auml;dchen darf es nicht so weit kommen
+lassen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn sie nicht heiraten will!&laquo; unterbrach ich den
+braven Mann lachend, dessen spitze Schnurrbartenden zu
+zittern begannen. &raquo;O ich kenne die Weise, und wei&szlig;
+daher, da&szlig; die ganze Musik falsch ist, grundfalsch!
+Warum soll denn ein M&auml;dchen sich gleich mit Leib und
+Seele verschreiben, wenn sie Einen freundlicher anl&auml;chelt
+als den andern? Warum soll der ein Recht haben auf
+ihre Hand, dem sie an einem sch&ouml;nen Julitag einmal
+von Herzen gut war? Verlangen Sie etwa dasselbe
+von Ihren Leutnants, die manch armes Ding durch ganz
+andere Liebesbeweise an die Echtheit ihrer Gef&uuml;hle glauben
+lassen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber &mdash; mein gn&auml;digstes Fr&auml;ulein &mdash;&laquo; unterbrach der
+Major mit einer verzweifelnden Geb&auml;rde meinen Redeflu&szlig;
+und richtete sich steif und gerade auf, so da&szlig; sein
+Kahlkopf mir bis an die Nasenspitze reichte. Seine
+kleinen wasserhellen Augen dr&uuml;ckten dabei ein so komisches
+Entsetzen aus, da&szlig; meine Emp&ouml;rung verflog und ich
+das Lachen nicht unterdr&uuml;cken konnte. &raquo;Beruhigen Sie
+sich nur, Papa Schrott&laquo; &mdash; damit streckte ich ihm beg&uuml;tigend
+die Hand entgegen &mdash; &raquo;wenn ich mal so alt
+<a name="Page_205" id="Page_205"></a>bin, wie Sie, werd' ich gewi&szlig; gerad' so moralisch sein!&laquo;
+Aber er nahm meine Hand nicht &mdash;</p>
+
+<p>Was gings mich an?! Mochten sie alle die Gekr&auml;nkten
+spielen! Mein Vater irrte sich offenbar: der gleiche Rock
+macht nicht zu Gleichen! Die K&uuml;rassiere tanzten und
+ritten nicht nur viel besser, sie waren auch fr&ouml;hlichere
+Partner bei jenem Spiel mit dem Feuer, &mdash; dem einzigen,
+das ich mit steigender Leidenschaft spielte, je mehr Gefahr
+es in sich schlo&szlig;, und je h&ouml;her der Einsatz war. Wie
+ein Raubvogel mit weit gestreckten schwarzen Schwingen
+schwebte die Phantasie &uuml;ber den gr&uuml;nen lachenden Blumenmatten
+meines Lebens. Stark genug w&auml;re sie gewesen,
+mich empor zu tragen in ihr H&ouml;henreich, wo ich zu
+ihrem Herrn geworden w&auml;re; aber zur Furcht vor dieser
+Fahrt mit ihr hatte man mich dressiert, nun lauerte sie
+hungrig und rachgierig auf t&auml;gliche Beute, und ich mu&szlig;te
+mich ihr unterwerfen.</p>
+
+<p>Das gleichm&auml;&szlig;ige Tiktak des Alltags vertrug ich
+nicht, beschleunigt mu&szlig;te es werden bis zum Fiebertempo,
+oder &uuml;bert&ouml;nt von Fanfaren der Freude. Wenn ich den
+Pflichten des Hauses nachkam, so umwand ich ihre langweilige
+D&uuml;rre mit Blumen, wenn ich mit meinem
+Schwesterchen spielte, so spielte ich nicht mit ihr, mich
+ihrer Kindlichkeit unterwerfend, sondern f&uuml;hrte vor ihr
+meine bunten Tr&auml;ume auf. Mir gen&uuml;gte nicht ein
+kurzes, harmlos improvisiertes T&auml;nzchen, es mu&szlig;te ein
+wogender, leidenschaftlicher Tanz bis zur Ersch&ouml;pfung
+daraus werden. Und eine Stunde zu Pferde in der
+Morgenk&uuml;hle stachelte nur mein Verlangen nach wilden
+Ritten &uuml;ber Stock und Stein.</p>
+
+<p>Ich glaube, mein Vater war auf nichts so stolz als
+<a name="Page_206" id="Page_206"></a>auf meine Reitkunst, die das Ergebnis seiner eigensten
+Erziehung war, und nie so geneigt, mir nachzugeben,
+als wenn meine W&uuml;nsche dieses Gebiet ber&uuml;hrten. Schon
+fr&uuml;h am Morgen begleitete ich ihn, aber am Nachmittag
+durfte ich mir die Stute wieder satteln lassen, oder den
+gro&szlig;en Braunen mit der sternzackigen wei&szlig;en Bl&auml;sse auf
+der Stirn, dessen spielende Ohren sich auf jeden leisen
+Zuruf verst&auml;ndnisvoll spitzten, der schon dem sanftesten
+Druck nachgab und wie ein vom Bogen geschnellter
+Pfeil &uuml;ber Hecken und Gr&auml;ben flog. Fast immer hatte
+ich Schmerzen, wenn ich ritt, jene alten Schmerzen in
+der rechten Seite, die sich in Augsburg so gesteigert
+hatten, aber der Genu&szlig; lie&szlig; mich die Z&auml;hne zusammenbei&szlig;en.
+Im Sattel f&uuml;hlte ich mich frei; und wie meine
+F&uuml;&szlig;e nicht den Staub der Stra&szlig;e ber&uuml;hrten, so war
+meine Seele fern von allem, was grau und schmutzig
+unten liegt. Ich habe mich nie in der Mark heimisch
+zu f&uuml;hlen vermocht, aber wenn ihr weicher Sand den
+Hufen meines Pferdes nachgab, so da&szlig; das Reiten war
+wie ein sanftes Wiegen und ihre Wiesen und W&auml;lder
+sich schier endlos vor mir dehnten, eine wundervolle
+Bahn f&uuml;r einen langen Galopp, &mdash; dann liebte ich
+sie, dann ergriff ich Besitz von ihr und tr&auml;umte mich
+als Herrin des Bodens, den mein Brauner trat.</p>
+
+<p>Freiheits- und Herrschaftsgef&uuml;hl, &mdash; das ists, was nur
+der Reiter kennt, darum war Reiten von je her Herrenrecht.
+Im Schwei&szlig;e seines Angesichts, wie ein Sklave, schwer
+mit den Muskeln arbeitend, wie er, treibt der Radler sein
+Stahlro&szlig; vorw&auml;rts; nur auf gebahnten breiten Wegen
+vermag der Kraftwagen ratternd und pustend durch die
+Welt zu rasen, indes der Reiter sich leise durch tiefe<a name="Page_207" id="Page_207"></a>
+Waldeinsamkeit tragen l&auml;&szlig;t und das edle Tier unter ihm
+den reinen ruhigen Genu&szlig; der Natur nicht st&ouml;rt. Lockt
+ihn die Ferne, begehrt er, seine Kr&auml;fte zu erproben,
+um seinem Mute vor sich selbst ein Zeugnis abzulegen,
+so gen&uuml;gt ein Druck der Sporen, und er spottet aller
+Hindernisse. Er ist der K&uuml;nstler, der freie, starke, &mdash; arme
+Arbeiter aber sind jene anderen, abh&auml;ngig von
+ihrer Maschine, ihr untergeben. Wir ritten oft weit:
+bis nach Rathenow hin&uuml;ber, wo der tolle Rosenberg
+seine Husaren zu lauter Meistern der Reitkunst erzog
+und trotz Sekt und Morphium von keinem der Sch&uuml;ler
+je &uuml;bertroffen wurde, oder westw&auml;rts zu den blauen Potsdamer
+Havelseen, wo die Berliner Touristen uns freilich
+oft genug die Laune verdarben. Ein Mensch, der sich auf
+Schusters Rappen vorw&auml;rts bewegt, ist der geborene Feind
+dessen, der vier Pferdebeine unter sich hat, und der
+strengste Vater steht ohne ein Scheltwort mit heimlicher
+Befriedigung seinem Spr&ouml;&szlig;ling zu, wenn er mit Steinchen
+nach den Reitern wirft oder durch lautes Indianergeheul
+die Pferde zum Scheuen bringt. Die einstige
+Identit&auml;t von Reiter und Ritter ist unvergessen, und
+unter der Schwelle des Bewu&szlig;tseins schlummert vielleicht
+irgend eine altm&auml;rkische Erinnerung an die Krachts und
+Quitzows, die den Ha&szlig; steigern hilft.</p>
+
+<p>Im Sp&auml;therbst wars, an einem jener lichtfunkelnden
+Oktobertage, wo die Buchen im Schmuck ihres roten Goldlaubs
+gl&auml;nzen und die dunkeln Silhouetten der Kiefern
+sich vom hellen Himmel phantastisch abheben. Ein paar
+Rathenower Husaren begleiteten uns, und die Eitelkeit
+reizte mich, vor ihnen zu zeigen, was ich konnte. Die
+Stoppelfelder boten freie Bahn, und kein Hindernis im<a name="Page_208" id="Page_208"></a>
+Gel&auml;nde war mir fremd. Bis zur alten Eiche im Plauer
+Wald, schlug ich vor, sollten wir reiten.</p>
+
+<p>&raquo;Der Schleier an Ihrem Hut sei der Preis!&laquo; rief lachend
+einer der Herren. &raquo;Sie vergessen, da&szlig; ich siegen werde!&laquo; antwortete
+ich, den Kopf in den Nacken werfend, und klopfte
+meinem Braunen aufmunternd auf den schlanken Hals.
+&raquo;F&uuml;r den Fall w&uuml;nschen Sie sich ruhig die Krone vom
+Kaiser von China!&laquo; spottete ein anderer, und fort gings
+in gestrecktem Galopp. Dicht nebeneinander nahmen wir
+den ersten Graben, &mdash; aber schon flog ich voraus, eine
+halbe Pferdel&auml;nge hinter mir der Fuchs meines Vaters,
+der unter Vetter Fritzens leichtem Gewicht gewaltig ausgriff.
+&Uuml;ber die Mauer setzte ich und wieder &uuml;ber eine,
+die das Geh&ouml;ft eines armen K&auml;thners umschlo&szlig;. Ich
+war allein. Jauchzen wollte ich im Vollgef&uuml;hl nahen
+Sieges &mdash; aber der Ton blieb mir in der Kehle stecken &mdash;,
+ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen K&ouml;rper. Unwillk&uuml;rlich
+fuhren die Sporen meinem Gaul in die
+Flanke. &Uuml;berrascht von der unverdient schlechten Behandlung,
+stieg er mit den Vorderbeinen hoch in die
+Luft, um im n&auml;chsten Moment in wahnsinniger Pace
+vorw&auml;rts zu jagen. Jeder Sprung steigerte meine
+Schmerzen, es dunkelte mir vor den Augen, &mdash; ich hing
+nur noch im Sattel. Mit d&auml;mmerndem Bewu&szlig;tsein sah
+ich eine gro&szlig;e blaue Wasserfl&auml;che dicht vor mir: den
+Plauer See. Wie eine Bitte stieg es auf in mir: trag'
+mich hinein, mein treues Ro&szlig;, trag' mich hinein &mdash; da&szlig;
+die brennenden Schmerzen sich k&uuml;hlen! Und mir war,
+als schl&uuml;gen die Wellen &uuml;ber mir zusammen.</p>
+
+<p>Im gr&uuml;nen Rasen lang ausgestreckt, kam ich zu mir
+und sah in das guten Vetters ver&auml;ngstigtes Gesicht, das
+<a name="Page_209" id="Page_209"></a>sich dicht &uuml;ber mich beugte. Tr&auml;nen standen in seinen
+Augen, und unterdr&uuml;cktes Schluchzen ersch&uuml;tterte seine
+Stimme, als er rief: &raquo;Du lebst! Gott Lob &mdash; du lebst!&laquo;
+Als mein Vater kam, stand ich schon auf den F&uuml;&szlig;en
+und machte krampfhafte Anstrengungen, ihm m&ouml;glichst
+sorglos entgegenzul&auml;cheln.</p>
+
+<p>Ein Wagen vom Planer Schlo&szlig; brachte mich nach
+Hause, und der rasch geholte Arzt machte mit der
+Morphiumspritze meinen Qualen ein Ende.</p>
+
+<p>Zwischen Bett und Liegestuhl spielte sich von nun an
+mein Leben ab. Mein Lieblingsplatz war drau&szlig;en vor
+der Mauer, wo der Hollunderbusch gebl&uuml;ht hatte, als ich
+im Mai gekommen war. Der kleine Liebesgott stand immer
+noch grade auf den dicken Beinchen, aber die V&ouml;glein zwitscherten
+nicht mehr im Weinlaub. Dunkelrot hatte der
+Herbst es gef&auml;rbt. Darunter lag ich und sah in den Himmel
+und h&ouml;rte die Bl&auml;tter fallen. Vetter Fritz war fast
+immer neben mir, meiner W&uuml;nsche gew&auml;rtig, &mdash; er hatte
+das Lernen nun wohl ganz aufgegeben.</p>
+
+<p>Mit dem berauschenden Gift, nach dem ich immer
+heftigeres Verlangen trug, kam der Arzt zweimal des
+Tages, und s&uuml;&szlig;e, traumhafte Stunden waren es, wenn
+der K&ouml;rper schwer und schwerer und der Geist immer
+leichter wurde. Zu &uuml;berirdischer Gr&ouml;&szlig;e f&uuml;hlte ich ihn
+wachsen, und Kr&auml;fte durchstr&ouml;mten mich, stark genug, mit
+einer ganzen Welt den Kampf zu bestehen. Panzerumg&uuml;rtet
+sah ich mich wieder, wie einst, wenn ich zur
+Jungfrau von Orleans mich tr&auml;umte, und ich sch&auml;mte
+mich des tatenlosen, bunten Spiels, das ich getrieben
+hatte. Aber auch andere Tr&auml;ume kamen, die mich streichelten
+oder mir hei&szlig; das Blut in die Wangen trieben; dann
+<a name="Page_210" id="Page_210"></a>lie&szlig; ichs geschehen, da&szlig; der Knabe neben mir meine
+H&auml;nde k&uuml;&szlig;te und von der Glut seiner Liebe unsinnige
+Dinge sprach.</p>
+
+<p>&raquo;Erlaube nur, da&szlig; ich dich liebe und da&szlig; ichs dir
+sagen kann &mdash;&laquo; flehte er &mdash; &raquo;bald werde ich dich nicht
+mehr sehen d&uuml;rfen wie jetzt, ferner und ferner wirst du
+mir sein, &mdash; eine Balldame, und ich &mdash; ein Schuljunge!&laquo;
+St&ouml;hnend vergrub er den Kopf in meine Kleiderfalten,
+um gleich darauf mit hei&szlig;en Augen wieder zu mir aufzusehn:
+&raquo;Aber lieben &mdash; lieben werd' ich dich immer!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Immer?!&laquo; &mdash; Wird nicht ein einziger Herbststurm
+den kleinen Liebesgott wieder vom Sockel werfen? &mdash; Ich
+l&auml;chelte wehm&uuml;tig. K&uuml;hl wehte der Abendwind vom
+Wasser, das die Nebel schon zu verh&uuml;llen begannen,
+und fr&ouml;stelnd wickelte ich mich dichter in mein Tuch.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_211" id="Page_211"></a></p>
+<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Nun wird sie schlafen &mdash; &mdash;&laquo; h&ouml;rte ich in halbem
+Traum den Arzt zu meiner Mutter sagen,
+w&auml;hrend sich leise die T&uuml;re hinter ihnen schlo&szlig;.
+Seit vier Tagen hatte ich mich in Schmerzen gewunden,
+die selbst der Morphiumspritze stand hielten. Heute war
+ich chloroformiert worden. Durstig hatte ich unter der
+Gazemaske den s&uuml;&szlig;en Duft wachsender Bet&auml;ubung eingesogen.
+Jetzt lag ich schwer, wie in Ketten gebunden,
+auf dem Bett, &mdash; schmerzlos, schlaflos. Ein mattes, rosig
+flackerndes Licht ging von dem Nachtl&auml;mpchen neben mir
+aus. Die gelben Bl&auml;tter auf der Tapete zuckten hin und
+her &mdash; zuerst langsam, dann immer schneller, schneller &mdash;,
+mir wurde schwindlig dabei. Ich schlo&szlig; die Augen.
+Gott, war ich m&uuml;de! &mdash; Pl&ouml;tzlich sprang die T&uuml;re auf,
+und es schwebte herein, gro&szlig;, wei&szlig; und kalt; Augen
+sahen mich an, ohne Farbe, wie Mondlichter, &mdash; und
+andere tauchten wie aus Nebelschleiern auf, blutunterlaufene, &mdash; in
+schmerzverzerrten Gesichtern, &mdash; hungrige,
+die gierig nach Beute suchten, &mdash; l&uuml;sterne,
+in denen kleine, rote Flammen tanzten. Dabei rauschte
+es wie von vielen Gew&auml;ndern, und tappte und
+klapperte, wie von zahllosen Tritten ... Die W&auml;nde
+r&uuml;ckten auseinander vor der schiebenden dr&auml;ngenden Masse
+<a name="Page_212" id="Page_212"></a>gr&auml;&szlig;licher Gespenster ... Nun stand sie vor mir, ganz,
+ganz dicht, die Wei&szlig;e mit den Mondaugen, und eine Hand,
+wie von Eis und zentnerschwer, legte sich auf mein Herz.
+&raquo;Queen Mab&laquo; schrie ich auf &mdash; jetzt sa&szlig; sie schon auf
+meinem Bett, und ihre Finger bohrten sich in meine
+Seite ... Ich aber lag in Ketten gebunden und konnte
+sie nicht von mir sto&szlig;en.</p>
+
+<p>Wir k&auml;mpften miteinander &mdash; Tage &mdash; Wochen. Meine
+Jugend besiegte sie. Es kamen ganz stille Zeiten, wo
+die Schneeflocken leise vor meinen Fenstern niederfielen
+und nur hie und da von weitem ein lauter Ton an mein
+Ohr schlug: das Stampfen der Pferde im Stall, der
+Schlag der Domuhr, das lustige Lachen Klein-Ilschens.</p>
+
+<p>Nun wu&szlig;ten die Arzte endlich, woran ich litt: die
+Nierenentz&uuml;ndung, die mich so &uuml;berw&auml;ltigt hatte, lie&szlig;
+keinen Zweifel mehr daran. Ich mu&szlig;te bewegungslos,
+grade gestreckt im Bette liegen, auch dann noch, als die
+Wei&szlig;e mit den Mondaugen mich l&auml;ngst verlassen hatte.
+Statt ihrer spitzen Eisfinger in meinem K&ouml;rper bohrten
+sich viele kalte Gedanken in mein Hirn.</p>
+
+<p>Wo war ich? Hatte nicht der Morphiumrausch des Leichtsinns
+alles Gute, Starke in mir eingeschl&auml;fert? War ich nicht
+meinen gro&szlig;en Kinderhoffnungen untreu geworden? Oder:
+sie mir?! Tanzen, reiten, lachen, mit Herzen spielen, wie
+mit Federb&auml;llen &mdash; das Schwesterchen ein bi&szlig;chen h&auml;tscheln,
+das Haus ein bi&szlig;chen schm&uuml;cken &mdash;, sollte das des Lebens
+einziger Inhalt sein? War ich mit sechs Jahren nicht
+reicher gewesen, wo ich mich als Jungfrau von Orleans
+tr&auml;umte, als heute, nach einem Jahrzehnt? Und viel
+reicher damals, da ich mir den Baldurtempel baute?
+Ich grub &mdash; grub rastlos im versch&uuml;tteten Schacht
+<a name="Page_213" id="Page_213"></a>meines Innern. Halb verhungert im dunkelsten Winkel,
+sa&szlig; sie in sich versunken und grau, meine arme Seele.
+Wie arm, wie elend war ich! Wo war ein Ziel f&uuml;r
+mich, des Ringens wert? Wo eine gro&szlig;e Flamme, um
+des Lebens dunkle Asche wieder anzufachen?!</p>
+
+<p>Ein schmales, blasses Antlitz, von schwarzen Spitzen
+umschlossen, beugte sich &uuml;ber mich. &raquo;Gro&szlig;mama,&laquo; fl&uuml;sterte
+ich, und es war, als ob die Hoffnung eine T&uuml;re &ouml;ffnete,
+die ins Helle f&uuml;hrte. &raquo;Nur still, mein Liebling, ganz
+still &mdash;&laquo; sagte sie l&auml;chelnd, und eine Tr&auml;ne fiel mir auf
+die Stirn, eine Freudentr&auml;ne.</p>
+
+<p>Mit einer Pflichttreue, die keine Schw&auml;che aufkommen
+lie&szlig;, hatte meine Mutter mich Tag und Nacht gepflegt.
+Gro&szlig;mama war gekommen, sie abzul&ouml;sen. Sie war es
+auch, die, wie immer, wenn es zum Wohle ihrer Kinder
+und Enkel notwendig war, die Mittel hergab, durch die
+ich gesund werden sollte. Als der Arzt mir eine karlsbader
+Kur verordnete, wu&szlig;te ich wohl, warum Mama
+die Lippen zusammenpre&szlig;te und Papa sich unruhig r&auml;usperte:
+was sie hatten, verschlang des Lebens notwendiger
+Aufwand.</p>
+
+<p>So fuhr ich denn mit Gro&szlig;mama, sobald ich transportf&auml;hig
+war, nach Karlsbad, wo sie selbst so oft schon
+Heilung gefunden hatte. Ihr alter Arzt, zu dem sie
+mich brachte, sch&uuml;ttelte den Kopf &uuml;ber mich, einen dicken
+kahlen M&ouml;nchskopf, der auf einem d&uuml;nnbeinigen Zwergenk&ouml;rper
+sa&szlig;. &raquo;Nur Seelenaufruhr, wo es nicht das Alter
+ist, f&uuml;hrt zu solchen K&ouml;rperkatastrophen&laquo; &mdash; ein fragender
+Blick aus kleinen blitzenden &Auml;uglein richtete sich auf mich.
+&raquo;Wie alt ist denn das Fr&auml;ulein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Siebzehn Jahr!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_214" id="Page_214"></a></p>
+<p>&raquo;Siebzehn Jahr!&laquo; Er sprang auf vom Stuhl und
+durchma&szlig; das Zimmer mit kleinen hastigen Schritten,
+wobei der runde Kopf sich immer von einer Schulter
+zur andern neigte.</p>
+
+<p>&raquo;Liebesschmerzen?!&laquo; &mdash; Dabei bohrte sich sein Blick
+in den meinen. Ich lachte verneinend und schwieg.
+H&auml;tte er andere Schmerzen verstanden, auch wenn ich
+sie ihm erkl&auml;rt haben w&uuml;rde?</p>
+
+<p>Mit jener taktvollen Zur&uuml;ckhaltung, die jeden Zwang auf
+das Vertrauen eines Menschen, &mdash; auch des N&auml;chsten, &mdash; sorgf&auml;ltig
+vermeidet, forschte auch Gro&szlig;mama nicht weiter,
+und ich, so gar nicht gew&ouml;hnt, mich auszusprechen, f&uuml;rchtete
+mich fast davor. Aber wenn wir im Morgensonnenschein
+unsre Spazierg&auml;nge machten, auf bequemen Wegen
+durch duftenden Tannenwald, der grade seine gr&uuml;nen
+Fr&uuml;hlingskerzchen aufgesteckt hatte, und die Gipfel der sanft
+geschwungenen H&ouml;henz&uuml;ge erreichten, die dem Kranken
+Kraftleistungen so freundlich vort&auml;uschen, dann durchstr&ouml;mte
+mich linde, l&ouml;sende Lenzluft, und sch&uuml;chtern tastend
+wagten sich Fragen hervor und Gest&auml;ndnisse.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht glauben, Gro&szlig;mama,&laquo; sagte ich einmal,
+als sie von dem inneren Frieden durch den Glauben
+gesprochen hatte. Wir sa&szlig;en grade vor der gro&szlig;en,
+alten Fichte, mit dem verwitterten Muttergottesbild
+daran, die auf dem Wege zum Freundschaftstempel den
+ganzen Wald zu beherrschen scheint.</p>
+
+<p>&raquo;So la&szlig; alle Fragen des Glaubens dahingestellt, und
+handle nur im Geiste Christi, erf&uuml;lle deine Pflichten,
+diene den Menschen, unterdr&uuml;cke die b&ouml;sen Triebe in dir
+und pflege die guten, dann wird der Glaube von selbst
+kommen, und es wird stille werden in dir.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_215" id="Page_215"></a>Ich schwieg, mechanisch zeichnete mein Schirm Kreise
+in den Sand. War der Baum vor mir nicht auf Kosten
+derer, die er besiegte, denen er die Sonne nahm, so gewaltig
+emporgewachsen? Ein lebendiger Protest erschien
+er gegen das Madonnenbild mit den Schwertern im
+Herzen, das sich in seine Rinde grub. Etwas in mir
+emp&ouml;rte sich gegen die g&uuml;tige alte Frau neben mir.
+Meine Kraft t&auml;glich in kleinen Opfern verbluten lassen,
+hie&szlig; das nicht schlie&szlig;lich mich selber morden? Und ich
+begehrte ja gar nicht des Ziels, ich wollte nicht stille
+werden, ich wollte den Kampf und das laute, spr&uuml;hende
+Leben. Aber der Mut fehlte mir, zu sagen, was ich
+dachte. Darum frug ich nur leise: &raquo;Und das Gl&uuml;ck,
+Gro&szlig;mama?&laquo;</p>
+
+<p>Sie l&auml;chelte, und eine ganz kleine, wehe Falte erschien
+zwischen ihren Brauen.</p>
+
+<p>&raquo;Das Gl&uuml;ck! &mdash; Wir sitzen, wenn wir jung sind,
+immer wie vor einem Vorhang und starren gebannt
+darauf hin und erwarten ein Zauberm&auml;rchen von dem
+Augenblick, wo er aufgeht. Indessen vers&auml;umen wir all
+die echten Gaben des Gl&uuml;cks, die es um uns ausstreut:
+die Liebe der Unseren, die Gaben des Geistes, die Fr&uuml;hlingsblumen
+und den Sommerhimmel. Mache nur die
+Augen auf und strecke die H&auml;nde aus, dann hast du sie.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist das alles?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, mein Kind,&laquo; entgegnete die Gro&szlig;mutter, und
+ein feierlicher Ernst legte sich &uuml;ber ihre Z&uuml;ge. &raquo;Du
+wirst Weib werden und Mutter, und Liebe empfangen
+und tausendf&auml;ltige Sorgen. Und dann wirst du wissen,
+da&szlig; sie auf sich nehmen und Liebe geben, mehr als dir
+gegeben wurde, das Gl&uuml;ck ist.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_216" id="Page_216"></a>Wir gingen weiter; ich k&auml;mpfte mit den Tr&auml;nen.
+Meine Mutter fiel mir ein: sie erf&uuml;llte bis zur Ersch&ouml;pfung
+ihre Pflicht, aber ihre Lippen pre&szlig;ten sich
+immer enger aufeinander, als m&uuml;&szlig;ten sie krampfhaft die
+Qual zur&uuml;ckdr&auml;ngen, die nach Ausdruck verlangte. Und
+an Onkel Walter dachte ich und an jenen unvergessenen
+Auftritt mit seiner Mutter in Berlin; und an all die leisen
+Zur&uuml;cksetzungen und Kr&auml;nkungen, die sie, die immer Gute,
+von ihren Kindern zu ertragen hatte. Ich wu&szlig;te: auch
+sie hatte gelebt und geliebt und nach schwindelnden
+H&ouml;hen gestrebt, und dies war das Ende, das von ihr
+gepriesene, von all dem Sehnen, all den hei&szlig;en Hoffnungen,
+die einzige Frucht, die aus dem bl&uuml;henden Leben
+so vieler Talente, so vieler Kr&auml;fte hervorging? Mich
+&uuml;berliefs, wenn ich mein Leben an diesem ma&szlig;. Ich
+f&uuml;hlte schmerzhaft die gro&szlig;e Kluft zwischen ihrem abgekl&auml;rten
+Alter und meiner g&auml;hrenden Jugend. Liebe
+und Verehrung kann bestehen zwischen beiden, auch wohlwollendes
+Verst&auml;ndnis, und starke Wirkungen k&ouml;nnen
+ausgehen von einem zum anderen, aber jene magnetischen
+Str&ouml;me fehlen, durch die das Feinste und Tiefste lebendig
+vom Menschen zum Menschen flutet. Auf dem Wege zu
+schwindelnden Bergesh&ouml;hen kann der Greis nicht mehr
+Schritt halten mit dem J&uuml;ngling, und grausam ist es,
+wenn er ihn an sich fesselt, aber noch viel grausamer
+gegen sich selbst, wenn Jugend, ihre Triebe hemmend,
+sich freiwillig dem Alter unterwirft. Trennung &mdash; auch
+wenn sie Wunden rei&szlig;t &mdash; ist eine Bedingung des
+Lebens.</p>
+
+<p>Sich beherrschen, sich unterwerfen war die Quintessenz
+meiner &mdash; und aller &mdash; Erziehung gewesen. Darum
+<a name="Page_217" id="Page_217"></a>sch&auml;mte ich mich meines inneren Widerstandes, sprach nicht
+von ihm und versuchte, ihn unter der reifen Weisheit,
+die mir zuflo&szlig;, zu ersticken. Gro&szlig;mama verlangte es
+freilich nicht von mir: sie gab nur, wie sie stets nichts
+als das eine Bed&uuml;rfnis hatte, mit dem Besten, was sie
+besa&szlig;, andere zu &uuml;bersch&uuml;tten. Aber ein junges Pfl&auml;nzlein
+ertrinkt nur zu leicht unter der warmen F&uuml;lle des
+Fr&uuml;hlingsregens, die dem starken Baum zur Quelle
+&uuml;ppigen Lebens wird.</p>
+
+<p>Mit meiner fortschreitenden Genesung flohen wir die
+N&auml;he der Menschen allm&auml;hlich immer weniger, und ein
+gro&szlig;er Kreis von Bekannten und Verwandten fand sich
+allm&auml;hlich zusammen, aber nur wenige wurden zu unserm
+st&auml;ndigen Verkehr und zu Begleitern unsrer langen
+Spazierg&auml;nge. Einen von ihnen hatte ich in Augsburg
+kennen gelernt: es war Baron Franz Stauffenberg, der
+gerade damals wegen seiner scharfen oppositionellen
+Stellung gegen die Wirtschaftspolitik Bismarcks eine in
+unsern Kreisen ber&uuml;chtigte und gemiedene Pers&ouml;nlichkeit
+war. Da&szlig; er, der Gro&szlig;grundbesitzer, Freih&auml;ndler war und
+blieb, da&szlig; er, der Aristokrat, sich der Fortschrittspartei
+n&auml;herte, machte ihn &raquo;unm&ouml;glich&laquo;.</p>
+
+<p>Gro&szlig;mama stand jenseits solcher Vorurteile. Geist und
+Bildung zog sie an, gleichg&uuml;ltig, wer ihr Tr&auml;ger auch
+sein mochte, und Stauffenberg geh&ouml;rte zu jenen immer
+seltener werdenden Menschen, die sie an ihre Jugend in
+Weimar gemahnen konnten, wo der Beruf den Einzelnen
+noch nicht mit Haut und Haaren auffra&szlig; und die Vielseitigkeit
+lebendiger Interessen einen geselligen Verkehr
+h&ouml;herer Art m&ouml;glich machte. Stauffenberg vermied es
+sogar, &uuml;ber Politik zu sprechen, w&auml;hrend er auf jedem
+<a name="Page_218" id="Page_218"></a>anderen Gebiet, das ber&uuml;hrt wurde, zu Hause zu sein schien.
+Noch nie war ich mir so klein und unwissend vorgekommen
+wie im Verkehr mit ihm. In seiner Vorliebe
+f&uuml;r englische Literatur traf er sich mit Gro&szlig;mama; dabei
+schlugen Namen an mein Ohr, und von geistigen Str&ouml;mungen
+war die Rede, von denen ich noch nie geh&ouml;rt
+hatte: Robert Browning &mdash; Ruskin &mdash; William Morris.</p>
+
+<p>Die bildende Kunst pflegte man in den achtziger Jahren
+au&szlig;erhalb der Museen nicht zu suchen; die Beziehung
+zu ihr war f&uuml;r die meisten dieselbe, wie die zur
+Religion: sie h&ouml;rte auf, sobald die T&uuml;ren der Galerien
+und der Kirchen sich hinter ihnen schlossen. Da&szlig; Leben
+und Kunst eins sein k&ouml;nnen, fiel in unseren Kreisen
+niemandem ein. Eine gewisse Leichtigkeit der Existenz,
+ein durch Generationen sich fortpflanzender Wohlstand
+erm&ouml;glichen erst ihr Ineinanderflie&szlig;en; Preu&szlig;en hatte
+keine k&uuml;nstlerische Kultur. Was ich von Ruskin, und
+besonders von Morris, erfuhr, zauberte phantastische Bilder
+in mir hervor: ein perikleisches Zeitalter, ein Florenz
+der Mediceer. Die Wirklichkeit voll Not, voll Ungerechtigkeit
+und H&auml;&szlig;lichkeit, die Gro&szlig;mama demgegen&uuml;ber
+heraufbeschwor, weckte mich unsanft aus meinen
+Tr&auml;umen. Es sei so viel, so schrecklich viel zu tun, um
+f&uuml;r die Masse der Menschen nur das nackte Leben m&ouml;glich
+zu machen, sagte sie, da&szlig; es ihr vermessen erschiene,
+Bed&uuml;rfnisse nach Sch&ouml;nheit zu wecken, wo die vorhandenen
+Bed&uuml;rfnisse nach Nahrung und Obdach nicht
+im entferntesten gestillt w&auml;ren. Und meine Phantasie
+zerflatterte vor den Empfindungen meines Herzens, die
+Gro&szlig;mama ohne weiteres recht gaben. Ich blieb auch
+dann auf ihrer Seite, wenn sie von diesem Standpunkt
+<a name="Page_219" id="Page_219"></a>aus Bismarcks Sozialpolitik verteidigte, und ihre innere
+Erregung, Stauffenbergs Einwendungen gegen&uuml;ber, sich
+in der leichten R&ouml;te kund gab, die das feine Elfenbeinwei&szlig;
+ihrer Wangen f&auml;rbte. Warum, wie Stauffenberg
+sagte, die Schutzpolitik die m&ouml;glichen Vorteile der Versicherungsgesetzgebung
+illusorisch machen w&uuml;rde, dar&uuml;ber
+gr&uuml;belte ich um so vergeblicher nach, als national-&ouml;konomische
+Terminologie f&uuml;r mich Hieroglyphen bedeutete.
+Zu fragen hatte ich nicht den Mut; es geh&ouml;rt echte Bildung
+dazu, Unwissenheit einzugestehen. Mein Bed&uuml;rfnis nach
+Heldenverehrung war &uuml;berdies zu gro&szlig;, als da&szlig; ich
+Verlangen nach Mitteln getragen h&auml;tte, die Bismarck
+h&auml;tten entg&ouml;ttern k&ouml;nnen. Von Politik wurde von jener
+Unterhaltung ab kaum mehr gesprochen.</p>
+
+<p>Irgend eine naturwissenschaftliche Brosch&uuml;re, wie sie
+damals, wenige Monate nach Darwins Tod zahlreich
+erschienen, brachte die Rede auf den gro&szlig;en Forscher.
+Nichts h&auml;tte mich mehr verbl&uuml;ffen k&ouml;nnen, als da&szlig; ein
+ernster Mann wie Stauffenberg, dessen Wissen ich bewunderte,
+ihn nicht nur verteidigte, sondern die Ergebnisse
+seiner Untersuchungen ernst nahm. Bei Erw&auml;hnung
+seines Namens hatte man doch sonst immer nur sp&ouml;ttisch
+gelacht, und da&szlig; wir, nach ihm, vom Affen abstammen
+sollten, hatte zu nichts als zu zahllosen Witzen und Karikaturen
+den Anla&szlig; gegeben. F&uuml;r mich pers&ouml;nlich kam
+hinzu, da&szlig; meine naturwissenschaftliche Bildung gleich
+Null war, mir also zu selbst&auml;ndigem Nachdenken alles
+geistige R&uuml;stzeug fehlte. Gro&szlig;mama ging es nicht viel
+besser: zu ihrer wie zu meiner Zeit war die Bildung
+der Frauen eine rein sch&ouml;ngeistige gewesen. Stauffenberg
+hielt uns daher f&ouml;rmliche kleine Vortr&auml;ge zur Ein<a name="Page_220" id="Page_220"></a>f&uuml;hrung
+in die Ideenwelt Darwins, &mdash; im Ton des
+geistvollen Plauderers, wie immer, und doch so klar und
+durchdacht in der Gedankenfolge, da&szlig; kein Buch aufkl&auml;render
+h&auml;tte wirken k&ouml;nnen. Gro&szlig;mama war auffallend
+still und nachdenklich nach solchen Gespr&auml;chen
+und warf nur immer wieder die Frage auf, mit welchen
+Gr&uuml;nden die Gegner Darwins seinen Anschauungen entgegenzutreten
+pflegten. Erst allm&auml;hlich hellten sich ihre
+Z&uuml;ge wieder auf, und einmal sagte sie mit dem ihr
+eignen, das ganze Antlitz durchleuchtenden L&auml;cheln:</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben mich alte Frau auf dem gewohnten Wege
+f&ouml;rmlich taumeln lassen, lieber Baron. Aber nun gehe
+ich daf&uuml;r um so sichrer. Ich empfand in allem, was
+Sie sagten, das heraus, was Sie nicht sagten, und
+wohl auch gar nicht sagen wollten, was aber, meiner
+Ansicht nach, der Grundzug der Lehre Darwins ist: ihre
+Gegnerschaft zum Christentum. Da&szlig; Gott den Menschen
+schuf nach seinem Bilde, da&szlig; die S&uuml;nde die Ursache
+alles menschlichen Elends ist und es keine Erl&ouml;sung
+daraus gibt, als durch die g&ouml;ttliche Gnade, &mdash; da&szlig; es
+unsre h&ouml;chste Aufgabe ist, zu leben wie Jesus, den
+Schwachen zu helfen, den Niedrigen und Verachteten
+beizustehen, und da&szlig; der rohe Kampf ums Dasein &uuml;berwunden
+werden wird durch die Liebe, &mdash; widerspricht
+das nicht bis ins Kleinste den Lehren Darwins? Der
+Glaube an das christliche Evangelium aber, die Befolgung
+dessen, was es verlangt, hat mich nach den K&auml;mpfen
+meiner Jugend zu innerem Frieden gef&uuml;hrt, und die
+&Uuml;berzeugung lebt unersch&uuml;ttert in mir, da&szlig; die tragischsten
+Probleme der Welt, Armut und Ungl&uuml;ck, gel&ouml;st w&auml;ren,
+wenn nur alle Menschen echte Christen w&auml;ren. Soll
+<a name="Page_221" id="Page_221"></a>ich mir am Ende meines Lebens diesen Glauben nehmen
+lassen? Eine Anerkennung Darwinscher Theorien bedeutet
+doch f&uuml;r uns, die wir Laien sind, auch nichts
+anderes als Glauben an ihn. Und Sie sagen selbst,
+da&szlig; Koryph&auml;en der Wissenschaft ihn mit wissenschaftlichen
+Gr&uuml;nden bek&auml;mpfen. W&auml;re es nicht heller Wahnsinn,
+wenn ich, wie ein unge&uuml;bter Schwimmer, mich vom
+sicheren Port erprobten Glaubens in die brandenden
+Wogen fremder Ideen st&uuml;rzen wollte, nur weil vielleicht &mdash; vielleicht! &mdash; irgendwo
+in weiter Ferne ein
+neues festes Land zu finden ist?! Ich bin zu alt
+dazu &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Statt aller Antwort k&uuml;&szlig;te Stauffenberg Gro&szlig;mama
+stumm die Hand. Meine Erregung war aber so stark,
+da&szlig; sie nach Ausdruck verlangte.</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn ich das neue feste Land nie erreichen
+sollte, &mdash; ich w&uuml;rde lieber im Meere untergehen, als
+immer nur sehns&uuml;chtig vom sicheren Port aus zusehen,
+wie es tobt und sch&auml;umt&laquo;, sagte ich, und meine Stimme
+zitterte dabei.</p>
+
+<p>Ein Schatten flog &uuml;ber Gro&szlig;mamas Z&uuml;ge. Sie legte
+ihre schmale k&uuml;hle Hand auf meine hei&szlig;en Finger.
+&raquo;Das Leben wird schon daf&uuml;r sorgen, da&szlig; es beim blo&szlig;en
+W&uuml;nschen nicht bleibt, mein Kind&laquo;, dann sich wieder zu
+Stauffenberg wendend, f&uuml;gte sie hinzu: &raquo;Sie sehen, wie
+wenig unsere Lebenserfahrungen unseren Enkeln n&uuml;tzen.
+Jeder f&auml;ngt von vorn an, und wir k&ouml;nnen schlie&szlig;lich nur
+Tr&auml;nen trocknen und Wunden verbinden.&laquo;</p>
+
+<p>Bald darauf reiste Stauffenberg ab, und ein andrer
+trat mehr und mehr an seine Stelle. Es war Karl
+von Gersdorff, ein Neffe meiner Gro&szlig;mutter, der auch
+<a name="Page_222" id="Page_222"></a>zu jenen aus der Art geschlagenen Sonderlingen geh&ouml;rte,
+die aristokratische Familien sich gern von den Rocksch&ouml;&szlig;en
+absch&uuml;tteln. Wie oft hatte ich in Pirgallen &uuml;ber ihn
+spotten h&ouml;ren, der &raquo;wie ein Schulmeister&laquo; aussah, ein
+&raquo;Fr&auml;ulein so und so&laquo; geheiratet hatte, und mit &raquo;Kreti
+und Pleti&laquo; befreundet war, wie geringsch&auml;tzig zuckten sie
+die Achseln, wenn Gro&szlig;mama ihn verteidigte. Er war
+ein begeisterter Freund Friedrich Nietzsches, hatte ihm sogar
+einmal, zum Entsetzen der Verwandtschaft, sein Gut
+zum Asyl angeboten. Durch Nietzsches Abkehr von
+Richard Wagner war eine leise Entfremdung zwischen
+beiden eingetreten, denn Gersdorff wurde ein um so
+leidenschaftlicherer Wagnerianer, je mehr sich der Meister
+zu den Ideen seines Parsifal entwickelte. Als wir in
+Karlsbad zusammentrafen, war Wagner kaum ein Jahr
+tot, und sein Wesen, seine Werke, seine Weltanschauung
+bildeten den Inhalt fast aller Gespr&auml;che. Hatte seine
+Musik mich in jenen Zustand h&ouml;chster Ekstase versetzt,
+der das ganze Ich in Andacht und Entz&uuml;cken aufl&ouml;st,
+so erschienen mir seine Gedanken &uuml;berraschend und doch
+vertraut. Sein Groll gegen die bestehende Zivilisation
+mit ihrem Inhalt an materieller und geistiger Not, sein
+Glaube an die M&ouml;glichkeit einer k&uuml;nftigen Regeneration,
+seine Kritik des gegenw&auml;rtigen Christentums, mit dem
+wahren Geiste des Evangeliums verglichen, und seine
+Erhebung der Kunst zur H&ouml;he lebendig dargestellter
+Religion, &mdash; hatte nicht irgendwo, tief verborgen, all das
+auch in mir geschlummert? Ich begr&uuml;&szlig;te es jetzt mit
+der freudigen &Uuml;berraschung, wie wir l&auml;ngst vergessene
+alte Freunde, die pl&ouml;tzlich aus dem Gew&uuml;hl der Gleichg&uuml;ltigen
+vor uns auftauchen, zu begr&uuml;&szlig;en pflegen. Im
+<a name="Page_223" id="Page_223"></a>stillen verurteilte ich Nietzsche, &mdash; dessen Namen ich
+&uuml;brigens zum elften Male h&ouml;rte, &mdash; der dem gro&szlig;en
+Freunde hatte untreu werden k&ouml;nnen, und begriff nicht
+Gersdorffs Anh&auml;nglichkeit an ihn.</p>
+
+<p>Eines sch&ouml;nen Maienmorgens sa&szlig;en wir in gro&szlig;er
+Gesellschaft eben eingetroffner Verwandter auf der &raquo;alten
+Wiese&laquo; vor dem &raquo;Elefanten&laquo;; Gro&szlig;mama war mit
+ihnen in die Besprechung alter und neuer Familiengeschichten
+vertieft, die mich immer sehr langweilten;
+Gersdorff las in einem der vielen B&uuml;cher, ohne die er
+das Haus nicht zu verlassen pflegte. Ich machte mich
+im stillen &uuml;ber die badem&auml;&szlig;ig herausgeputzte, mit rosa
+Brott&uuml;ten bewaffnete, r&uuml;hrig, wie zum ernstesten Gesch&auml;ft,
+ihrem Ziel, dem lockenden Fr&uuml;hst&uuml;ck, zustrebende
+Menge lustig, die an uns vor&uuml;berflutete. Mir war sehr
+wohl, sehr behaglich zumute, wie nur einem jungen
+Gesundgewordnen sein kann, der die gekr&auml;ftigten Glieder
+in der warmen Fr&uuml;hlingssonne dehnt. Da fiel mein
+Blick auf die &raquo;Fr&ouml;hliche Wissenschaft&laquo;, Nietzsches j&uuml;ngstes
+Werk, das neben Gersdorffs Tasse lag. Er hatte
+Gro&szlig;mama zuweilen einzelne Abschnitte daraus vorgelesen,
+von denen mir die Empfindung des unheimlich
+Fremden zur&uuml;ckgeblieben war. Mechanisch fing ich an,
+darin zu bl&auml;ttern, bis ein Satz mir ins Auge sprang:
+&raquo;Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; &mdash; sondern dir!
+sondern dir! Leidenschaft ist besser als Stoizismus und
+Heuchelei, Ehrlichsein, selbst im B&ouml;sen, besser, als sich an
+die Sittlichkeit des Herkommens verlieren ...&laquo;</p>
+
+<p>Wenn ein eisiger Luftstrom durch pl&ouml;tzlich weit aufgeri&szlig;ne
+Fenster den im warmen Zimmer Sitzenden trifft, so
+schauert er zuerst frierend und angstvoll zusammen, um im
+<a name="Page_224" id="Page_224"></a>n&auml;chsten Augenblick mit tiefen durstigen Z&uuml;gen den reinen
+Quell einzusaugen, der ihm die dunstig-schwere Schw&uuml;le
+ringsum erst zum Bewu&szlig;tsein bringt. Wie solch einem
+war mir zumute. K&auml;mpfte ich nicht st&auml;ndig, um mich
+dem Leben und dem Herkommen unterzuordnen? Versuchte
+ich nicht, mir einzureden, jeder Sieg &uuml;ber meine
+innersten Triebe sei ein Zeichen wachsender Tugend?
+Und hatte doch stets ein schlechtes Gewissen dabei!</p>
+
+<p>Lustige Stimmen schlugen an mein Ohr:</p>
+
+<p>&raquo;Auf Wiedersehen beim Konzert nachmittag ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gehst du zur Reunion heut abend? ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir gehen ins Theater ...&laquo;</p>
+
+<p>Halb abwesend starrte ich von einem zum andern.</p>
+
+<p>&raquo;Alix hat Tagestr&auml;ume,&laquo; h&ouml;rte ich Gro&szlig;mama sagen;
+verwirrt schlug ich das Buch zu. Abends vor dem
+Schlafengehen trug ich den Satz aus dem Ged&auml;chtnis in
+mein Notizbuch ein &mdash; zwischen lauter Adressen, Gedichten
+und Rezepten. Mit Gro&szlig;mama wechselte ich
+kein Wort dar&uuml;ber; ich f&uuml;rchtete mich; wie ein Dieb
+kam ich mir vor, der &auml;ngstlich den gestohlenen Brillanten
+h&uuml;tet, und instinktiv f&uuml;hlte ich, da&szlig; es keinen gr&ouml;&szlig;eren
+Gegensatz geben k&ouml;nne, als den zwischen diesen Worten
+und der Lehre von der Nachfolge Christi, zu der Gro&szlig;mama
+sich bekannte. Ein Schleier war zwischen uns
+niedergefallen, der nicht trennt, aber die Klarheit der
+Z&uuml;ge verwischt.</p>
+
+<p>Ende Mai machten wir unserem Arzt die Abschiedsvisite.</p>
+
+<p>&raquo;Na also!&laquo; sagte er zufrieden, &raquo;da w&auml;ren die roten
+Backen wieder! Aber nun gilts brav sein und gehorchen
+und das Herzchen festhalten! ...&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_225" id="Page_225"></a>Nachdem er eine Reihe von Verordnungen gegeben
+hatte, hielt er z&ouml;gernd inne. &raquo;Und nun das Schlimmste
+f&uuml;r so ein junges, h&uuml;bsches Fr&auml;ulein: f&uuml;r die n&auml;chsten
+sechs &mdash; acht Monate ist jede Art starker Bewegung verboten.
+Also kein Reiten &mdash; kein Tanzen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er erwartete offenbar meinen heftigsten Widerspruch
+und sah mich auf mein freim&uuml;tiges &raquo;Gewi&szlig;, Herr Doktor&laquo;
+mit unverhohlenem Erstaunen an.</p>
+
+<p>&raquo;Du bist ein tapfres Kind!&laquo; sagte Gro&szlig;mama, als
+wir die Treppe hinuntergingen.</p>
+
+<p>&raquo;Gar nicht, Gro&szlig;mama!&laquo; erwiderte ich. &raquo;Denn nur
+eins w&uuml;nsch ich mir, Ruhe zum Lernen, zum Lesen und
+Arbeiten.&laquo;</p>
+
+<p>Ein Besuch in Weimar, den wir vorhatten, und der
+dem langen Aufenthalt in Pirgallen vorausgehen sollte,
+erschien mir zun&auml;chst nur wie eine St&ouml;rung. Aber je
+mehr wir uns der Stadt Goethes n&auml;herten, desto mehr
+freute ich mich darauf. W&auml;hrend Gro&szlig;mama versuchte,
+das Enkelkind mit dem, was ihrer an Menschen und
+Dingen dort wartete, vertraut zu machen, verlor sie sich
+in den Erinnerungen ihrer Jugend. Und ich sah sie
+vor mir, die M&auml;nner mit den feinen glatten Gesichtern
+&uuml;ber den hohen Vaterm&ouml;rdern, die Frauen mit den
+kunstvoll frisierten K&ouml;pfchen und den schlichten Mullf&auml;hnchen,
+wie sie auf den Wiesen von Tiefurt Blindekuh
+spielten und zierlich-gravit&auml;tisch im Schlo&szlig;saal die
+Gavotte tanzten; ich h&ouml;rte, wie sie mit Lamartine und mit
+Byron weinten und schw&auml;rmten, ich f&uuml;hlte, wie ihre
+Gem&uuml;ter sich tiefer Freundschaft erschlossen, wie ihre
+Herzen schlugen in Liebesgl&uuml;ck und Leid. Zu Goethes
+F&uuml;&szlig;en sah ich die Gro&szlig;mutter sitzen, stumm, ehrfurchts<a name="Page_226" id="Page_226"></a>voll &mdash; ein
+Lauschen, ein Empfangen. Zur &auml;rmsten
+Zeit Deutschlands, &mdash; wie reich war sie gewesen! Und
+eine Heimat hatte sie gehabt, aus der die Wurzeln ihrer
+Seele noch heute Lebenskr&auml;fte sogen.</p>
+
+<p>Ich sa&szlig; am Kupeefenster im Abendd&auml;mmerlicht; Gro&szlig;mama
+schlummerte mir gegen&uuml;ber, noch ein L&auml;cheln der
+Erinnerung auf den Z&uuml;gen. W&auml;lder und Felder, H&auml;user
+und G&auml;rten flogen an mir vorbei. So ist mein Leben,
+dachte ich. Alles entschwindet mir, kaum da&szlig; ichs betrachten
+konnte; nirgends wurzle ich. Dabei fielen mir
+Verse ein, die ich hastig in mein Notizbuch kritzelte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Ein Vagabund bin ich genannt,<br /></span>
+<span class="i0">Will niemand von mir wissen;<br /></span>
+<span class="i0">Die Sohlen hab ich durchgerannt,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Wams ist l&auml;ngst zerschlissen.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Zur Arbeit ruft man mich umsunst,<br /></span>
+<span class="i0">Trag nicht danach Verlangen,<br /></span>
+<span class="i0">Steh bei der Lerche hoch in Gunst,<br /></span>
+<span class="i0">Die l&auml;&szlig;t sich auch nicht fangen;<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Die singt ihr Lied auf freiem Feld<br /></span>
+<span class="i0">Mit freier, lustger Kehle,<br /></span>
+<span class="i0">Die schmettert hoch in alle Welt,<br /></span>
+<span class="i0">Und h&ouml;rts auch seine Seele.<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Doch eines ist, das wurmt mich schwer:<br /></span>
+<span class="i0">Sie hat ein Nest, ein kleines; &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ich zog die Lande hin und her &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wo aber, sagt, ist meines?!<br /></span>
+</div></div>
+
+<p><a name="Page_227" id="Page_227"></a>In Weimar wohnten wir bei Gro&szlig;mamas Bruder
+an der Ackerwand, dicht neben dem Hause der
+Frau von Stein, wo die Lorbeerb&auml;ume in ihren
+gro&szlig;en K&uuml;beln noch ebenso auf dem Vorplatz standen,
+wie zu der klassischen Zeit, da die &raquo;liebe Lotte&laquo; unter
+ihnen zum Nachmittagtee ihre Freunde empfing. Aus
+unseren Fenstern sah man weit hinein in den Park.</p>
+
+<p>Am ersten Morgen, als die Sonnenstrahlen nur gerade
+die Wipfel der alten B&auml;ume trafen, schl&uuml;pfte ich hinaus.
+Zauberhaft still und einsam war es; nur ein heimliches
+Vogelzwitschern, ein fernes Fl&uuml;stern der Ilm verriet das
+Leben. Auf dem gr&uuml;nen Wiesenplan vor dem Hochmeisterhaus
+funkelten die Tautropfen an den Zittergr&auml;sern;
+die roten und wei&szlig;en, die gelben und blauen
+Bl&uuml;ten an den B&uuml;schen strahlten im Glanze eben entfalteter
+Pracht. Weiter unten, wo im Felsen die steile
+Treppe abw&auml;rts f&uuml;hrt zum Ilmtal, stieg feuchter w&uuml;rziger
+Erdgeruch zu mir empor. Die geschlossenen Fensteraugen
+der Einsiedelei sahen aus wie die eines Schlafenden,
+minutenlang stand ich davor, traumbefangen, und wartete
+auf den geheimnisvollen Bewohner, der sie &ouml;ffnen sollte.
+Aber die Ilm pl&auml;tscherte, als lachte sie mich aus.</p>
+
+<p>&Uuml;ber der Br&uuml;cke, hinter den dunkeln B&uuml;schen und
+B&auml;umen, lag die Erde noch eingeh&uuml;llt in ein durchsichtig-wei&szlig;es
+Nebeltuch, das kecke Sonnenstrahlen zu zerrei&szlig;en
+sich bem&uuml;hten. Und ein helles H&auml;uschen schimmerte
+lockend vom jenseitigen H&uuml;gel, das mir vertraut entgegensah,
+als w&auml;re ich dr&uuml;ben daheim. War es nicht
+aus dem Rahmen getreten, der in Pirgallen in Gro&szlig;mamas
+Zimmer hing? Dort hatte ich es gesehen von
+<a name="Page_228" id="Page_228"></a>klein auf, und wenn ich vom Zuckerh&auml;uschen im Walde
+hatte erz&auml;hlen h&ouml;ren, konnte ich mirs nie anders vorstellen.
+Ob ich mich wohl hin&uuml;ber wagen k&ouml;nnte durch
+den Nebel? Erlk&ouml;nigs T&ouml;chter tanzten hier, wie einst,
+da sie den hellsehenden Augen des Dichters erschienen.</p>
+
+<p>Und nun war ich dr&uuml;ben. Aber die wei&szlig;e T&uuml;r zwischen
+den gr&uuml;nen Hecken verschlo&szlig; das stille Reich hinter ihr.
+Scheu sah ich mich um; niemand weit und breit! Der
+niedrige Holzzaun hinter der zweiten breiteren Pforte
+war kein un&uuml;berwindliches Hindernis &mdash; ein paar Risse
+im Rock, eine Schramme am Arm &mdash;, und in Goethes
+Garten stand ich. Der Ton knarrender Wagenr&auml;der
+trieb mich den langen, Unkraut bewachsenen Weg hinunter
+bis hinter das Haus. Gr&uuml;nes D&auml;mmerlicht nahm
+mich auf, kein Bl&auml;ttchen r&uuml;hrte sich &uuml;ber mir; auf der
+Lehne der morschen Bank sa&szlig; regungslos mit hochgestellten
+Fl&uuml;geln ein gro&szlig;er blauschwarzer Schmetterling.
+Die Stille herrschte &mdash; eine Stille, als w&auml;re die Erde
+versunken &mdash;, und nur dieser Raum mit dem toten Hause
+davor schwebte in der ungeheueren Weite des Weltraums.
+Ich pre&szlig;te meine H&auml;nde auf das wildklopfende
+Herz, und gro&szlig;e Tr&auml;nen tropften unaufhaltsam aus
+meinen Augen. Aber dann sch&auml;mte ich mich: wie konnte
+ich &mdash; ich! mit meinem unnennbaren Weh diesen heiligen
+Ort entweihen! Leise auf den Zehenspitzen, das Kleid
+gerafft, damit sein Rascheln nicht st&ouml;re, schlich ich davon.</p>
+
+<p>Auf den m&auml;chtigen W&uuml;rfel aus Granit mit der
+Kugel darauf lehnte ich mich und vergrub, bitterlich
+weinend, das Gesicht in den H&auml;nden. Da stimmte ein
+V&ouml;glein &uuml;ber mir sein Morgenlied an, und aus dem
+n&auml;chsten Baum antwortete ihm ein anderes, bis es
+<a name="Page_229" id="Page_229"></a>zwitschernd, tirlierend und fl&ouml;tend von allen Zweigen
+klang, &mdash; ein jubelnder Gru&szlig; an die siegende Sonne.
+Tief aufatmend streckte ich die Arme und dehnte die
+Brust, und pl&ouml;tzlich freute ich mich, da&szlig; ich gar nichts
+war als ein junges Menschenkind mit dem ganzen
+reichen gro&szlig;en Leben vor mir. In schw&auml;rmerischer Verz&uuml;ckung
+sank ich vor dem Altar des guten Gl&uuml;cks in
+die Kniee und betete den Unsterblichen an, dessen Atem
+ich zu f&uuml;hlen meinte.</p>
+
+<p>Noch am selben Tage ging ich mit Gro&szlig;mama nach
+dem Frauenplan, um in Goethes Stadthaus den letzten
+seines Namens zu besuchen, der ihr Jugendfreund war.
+Still und zur&uuml;ckgezogen, sich &auml;ngstlich vor der Ber&uuml;hrung
+mit der Welt h&uuml;tend, lebte Walter Goethe oben in den
+Giebelzimmern seiner verstorbenen Mutter. Ein gro&szlig;es
+Bild des Dichters hing im Empfangsraum; es erdr&uuml;ckte
+die kleine Stube und noch mehr den kleinen, armen
+Nachk&ouml;mmling darin. Ich konnt es nicht fassen, da&szlig;
+dies ein Goethe war! Erst als die beiden Freunde
+miteinander sprachen, f&uuml;hlte ich die andere Welt, aus
+der sie stammten. Wie warm und echt waren die Empfindungen,
+denen sie Worte liehen, wie lebendig die
+Interessen, an denen sie Anteil nahmen, &mdash; so sprach man
+heute nicht mehr miteinander, wo Gef&uuml;hl ein Spott
+und Blasiertheit Trumpf war.</p>
+
+<p>Je l&auml;nger wir in Weimar blieben, desto mehr empfand
+ich seinen Geist. Freilich, die Menschen, mit denen
+Gro&szlig;mama verkehrte, waren alle alt, alles ihre Zeitgenossen,
+und doch, weil sie treu ihrer Jugend waren,
+seelenjung. Da war der Onkel, bei dem wir wohnten,
+ein Mann von jener schlichten Vornehmheit, die allein
+<a name="Page_230" id="Page_230"></a>das Zeichen echter Kultur ist; da war der Gro&szlig;herzog
+mit seiner leidenschaftlichen Liebe f&uuml;r Weimars Tradition,
+der er bescheiden sich selbst unterordnete, &uuml;berall nach
+geistigen Werten Umschau haltend und sich der Funde
+freuend, wie ein Sammler an seinen Sch&auml;tzen; da
+waren Frauen, die begeistert und begeisternd nicht Namen
+und Titel und bunte Uniformen zu Gaste luden, sondern
+f&uuml;hrende Geister, werdende und gewordene. Ich taute
+allm&auml;hlich auf in dieser Umgebung und lernte, ohne
+Scheu vor dem Ausgelachtwerden oder dem erstaunten
+Verstummen der andern, von dem reden, was mich interessierte,
+und fragen nach dem, was ich zu wissen begehrte.
+Der Vorsatz befestigte sich in mir: ich wollte
+nicht mehr zur&uuml;ck in die Welt der Konvention und der
+k&uuml;hlen Phrase, wo feste Schl&ouml;sser vor Herz und Mund
+Bedingung guter Erziehung sind.</p>
+
+<p>Gro&szlig;mama sprach von einem k&uuml;nftigen Hofdamenposten
+f&uuml;r mich. So ganz nach meinem Geschmack war das
+allerdings nicht; von all den Tanten und Kusinen, die
+ihn inne hatten, wu&szlig;te ich, wie viel dr&uuml;ckende Dienstbarkeit
+er mit sich brachte. Aber viel besser erschien es
+mir immerhin, in Weimar abh&auml;ngig zu sein, als von
+einer Garnison zur andern stets in derselben Leutnantsatmosph&auml;re
+leben. Meine heimlich gehegten Dichtertr&auml;ume
+w&uuml;rden hier vielleicht reifen k&ouml;nnen, und ganz
+im Verborgenen tauchte dazu eine romantische Hoffnung
+auf: ihn hier zu finden, den m&auml;rchenhaften Schwanenritter,
+dem mein Herz geh&ouml;ren sollte!</p>
+
+<p>Gegen Ende unseres Aufenthalts ging ich noch einmal
+mit Gro&szlig;mama zu Walter Goethe. Er war ungew&ouml;hnlich
+freundlich zu mir und erf&uuml;llte ohne weiteres meinen<a name="Page_231" id="Page_231"></a>
+Wunsch, allein in Goethes Zimmer gehen zu d&uuml;rfen.
+Ich schlo&szlig; sie mir auf und &ouml;ffnete die kleinen L&auml;den und
+stand dann still und stumm mit gefalteten H&auml;nden vor
+dem Stuhl, in dem er gestorben war, an seinem Bett.
+Wie einem, der auszieht zum Kampf und Abschied
+nimmt, unsicher, ob er jemals wiederkehrt, war mir zumute.
+Goethes Gebet kam mir unwillk&uuml;rlich auf die
+Lippen: Gib mir gro&szlig;e Gedanken und ein reines Herz.</p>
+
+<p>Ich mochte bla&szlig; und verweint genug aussehen, als
+wir abreisten; sorgenvoll sah mich Gro&szlig;mama an: &raquo;Bist
+du nicht wohl, mein Kind?&laquo;</p>
+
+<p>Da kam mir zum Bewu&szlig;tsein, was ich ihr alles
+verdankte: Zu dem hei&szlig;en Wunderquell hatte sie mich
+gef&uuml;hrt, der meinen K&ouml;rper heilte, und erschlossen
+hatte sie die Quellen, die meine Seele n&auml;hrten. Mit
+beiden H&auml;nden griff ich nach ihrer Hand und pre&szlig;te
+die Lippen darauf: &raquo;Ich bin ganz, ganz gesund, Gro&szlig;mama!&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_232" id="Page_232"></a></p>
+<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Auf dem Wege nach Pirgallen machten wir bei
+einer Reihe von Verwandten Station. Ich
+kam mir vor, als w&auml;re ich von luftiger Bergesh&ouml;he
+in schw&uuml;le Niederung geschleudert worden. &raquo;Wir
+haben eine Vetternreise hinter uns: in Sachsen, in der
+Mark, in Pommern &mdash; &uuml;berall derselbe Schlag Krautjunker,
+je nach der Gr&ouml;&szlig;e der Geldbeutel echt oder unecht
+&uuml;berfirni&szlig;t, bei allen dieselbe souver&auml;ne Verachtung
+geistiger Werte &mdash;&laquo; schrieb ich an meine Kusine Mathilde.
+&raquo;Meine Vettern in Ingershausen &mdash; &uuml;brigens ein
+pomp&ouml;ses Schlo&szlig;, das August dem Starken, seinem Erbauer,
+alle Ehre macht &mdash;, die fr&uuml;her an be&auml;ngstigender
+Wasserscheu litten, sind Gigerl <em class="antiqua">par excellence</em> geworden,
+gardereif. Ihre Schwester, eine Venus von Milo, hat
+schon mit siebzehn Jahren geheiratet, kriegt ein Kind
+nach dem andern und den fatalen Zug um den Mund,
+den ich noch bei jeder jungen Frau entdeckt habe: ich
+glaube, es ist der der Entt&auml;uschung. Ein paar Kindheitsfreundinnen,
+die ich wiedersah, und die mir vor
+Jahr und Tag mit allen Zeichen des Triumphes &mdash; sie
+hatten mich ja im Rennen um den Mann um ein paar
+Pferdel&auml;ngen geschlagen! &mdash; ihre Verlobung mitgeteilt
+hatten, traten mir jetzt als hochschwangere Frauen ent<a name="Page_233" id="Page_233"></a>gegen:
+bla&szlig;, mi&szlig;mutig. Ich h&auml;tte nun gern meinerseits
+triumphiert, aber das Mitleid mit den armen W&uuml;rmern,
+die sie mit solcher Giftlaune unter dem Herzen tragen,
+&uuml;berwog. Ein Weib, das ein Kind erwartet, sollte sein
+wie eine Siegerin!&laquo;</p>
+
+<p>Ich atmete auf, als wir endlich in Pirgallen waren,
+wo ich hoffte, mich meinen Studien und Arbeiten ganz
+&uuml;berlassen zu k&ouml;nnen. Dort hatte sich inzwischen
+mancherlei ver&auml;ndert. Mein Onkel hatte sich in den
+Reichstag w&auml;hlen lassen, &mdash; auf vieles Zureden seiner
+Parteigenossen, denn in ihm selbst regte sich zu stark
+das alte Herrengef&uuml;hl des ostdeutschen Junkers, als da&szlig;
+es ihm nicht widerstrebt h&auml;tte, die durch das allgemeine
+Wahlrecht nun einmal festgesetzte Gleichheit zwischen
+Herr und Knecht auch nur &auml;u&szlig;erlich anzuerkennen. Da&szlig;
+er, dessen Verkehr mit den Untergebenen nur im Befehlen,
+Tadeln und Strafen bestand, von ihrer Gunst abh&auml;ngig
+war, ja sogar um sie werben mu&szlig;te, erschien ihm als
+eine Entw&uuml;rdigung. Er war dabei ein so ehrlich &uuml;berzeugter
+Konservativer, so durchdrungen davon, da&szlig; jede
+Erweiterung der Freiheit und der Rechte der unteren
+Volksklassen zu ihrem eigenen Verderben ausschlagen
+w&uuml;rde, da&szlig; er sich vollkommen berechtigt glaubte, auch
+durch ungesetzliche Mittel den Einflu&szlig; liberaler oder gar
+sozialdemokratischer Str&ouml;mungen zu bek&auml;mpfen. Seinen
+ehemaligen Viehhirten, einen notorischen S&auml;ufer, der
+sozialdemokratisch gestimmt hatte, weil &raquo;der Herr Baron
+dem Krugwirt verboten hatte, ihm mehr als zwei Glas
+Schnaps zu geben,&laquo; pflegte er seiner Mutter gegen&uuml;ber
+immer wieder zu zitieren, wenn sie das &raquo;Recht auf die
+pers&ouml;nliche &Uuml;berzeugung&laquo; verteidigte. &raquo;Gar nichts wu&szlig;te
+<a name="Page_234" id="Page_234"></a>der Kerl sonst von der Sozialdemokratie,&laquo; sagte er, &raquo;er
+konnte weder lesen noch schreiben. Jeder, der ihm Fusel
+gibt, dessen &#8250;&Uuml;berzeugung&#8249; hat er. Stellt Euch vor, alle
+Viehhirten und Konsorten stimmten wie er und k&auml;men
+zur Macht, &mdash; eine nette Wirtschaft w&uuml;rde das.&laquo; Und
+als Gro&szlig;mama einwarf: &raquo;So gebt dem Volk eine bessere
+Bildung,&laquo; antwortete er: &raquo;Damit jeder Instmannsjunge
+Professor werden und keiner mehr arbeiten will! Dann
+sollen wir wohl unsere Frauen vor den Melkeimer setzen
+und uns hinter den Pflug stellen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht entspr&auml;che solch ein Wechsel der g&ouml;ttlichen
+Gerechtigkeit,&laquo; meinte Gro&szlig;mama l&auml;chelnd, &raquo;seit Jahrhunderten
+gingen sie hinter dem Pfluge &mdash; am Ende ist
+jetzt die Reihe an Euch!&laquo; Mit hochgeschwollener Stirnader
+sprang der Onkel vom Stuhl und warf die T&uuml;re hinter
+sich zu. Er war reizbarer als sonst. Zu deutlich pochte
+die neue Zeit an das schwere Burgtor von Pirgallen,
+und er selbst hatte die Zugbr&uuml;cke, die unliebsamen G&auml;sten
+den Eingang wehrte, in eine feste, steinerne verwandelt.
+Er selbst hatte bei der Regierung all seinen Einflu&szlig;
+daran gesetzt, damit die Eisenbahn bei ihm vorbei gelegt,
+der Hafen am Kurischen Haff an seine Gutsgrenze gebaut
+werde. Nun konnten seine Steine zu fernen
+Bauten &uuml;ber die Ostsee entf&uuml;hrt werden, und die Ertr&auml;gnisse
+seines Gutes fanden in Berlin zahlungskr&auml;ftige
+K&auml;ufer, &mdash; aber neue Gedanken waren mit den fremden
+Ingenieuren und Arbeitern eingef&uuml;hrt worden. Er selbst
+strebte danach, sein Besitztum, das seine V&auml;ter schlecht
+und recht ern&auml;hrt hatte, in eine kapitalistische Unternehmung
+zu verwandeln, von der er Millionen erwartete.
+Aber mit den Maschinen, mit den Kan&auml;len, den Wiesen<a name="Page_235" id="Page_235"></a>meliorationen,
+den neuen Bebauungsweisen, der ganzen
+intensiven Art der Bewirtschaftung kamen Scharen neuer
+Arbeitskr&auml;fte ins Land, von denen die Alteingesessenen
+Ansichten und Bed&uuml;rfnisse rasch, Handfertigkeit und Verst&auml;ndnis
+aber um so langsamer lernten. Die Unzufriedenheit
+wucherte wie Unkraut, und am &uuml;ppigsten in
+den kleinen strohgedeckten Katen, deren Bewohner seit
+Generationen im Dienste der Golzows standen.</p>
+
+<p>In einer der &auml;ltesten hauste die alte Maruschka mit
+Kindern und Enkeln, ein verhutzeltes, zitteriges Weiblein.
+Wie braune Fichtenrinden waren ihre Wangen und ihre
+Stirn, die Augen eingesunken, wei&szlig; und gelb wie versteckte
+Harzl&ouml;cher. Nur wenn sie Gro&szlig;mama sah, verzog
+sie die d&uuml;nnen Lippen zu einem Grinsen. Vor Jahren
+hatte ich sie, die seit ihrer fr&uuml;hsten M&auml;dchenzeit in der
+Burg diente, noch in einem der dunkelsten R&auml;ume, dicht
+&uuml;ber dem Wassergraben, von morgens bis abends vor
+dem alten m&auml;chtigen Webstuhl sitzen sehen. Alle M&auml;gde
+trugen die Stoffe, die sie wob: feste harte, aus groben
+blauen und roten F&auml;den. Die &raquo;junge Frau Baronin&laquo;
+hatte sie aufs Altenteil gesetzt, &mdash; sie brauchte das Zimmer,
+und die h&uuml;bschen Dienstm&auml;dchen trugen das altmodische
+Zeug nicht mehr. Nun ha&szlig;te die Alte die neue Zeit und
+alles, was sie mit sich f&uuml;hrte. An ihrem schw&auml;lenden
+Herdfeuer in der engen Stube mit dem grauen schmierigen
+Lehmboden, wo H&uuml;hner, G&auml;nse, Ferkel und Kinder
+durcheinander gackerten, quiekten und schrieen, war die
+Freistatt aller Murrenden. Sie hetzte die Sch&uuml;chternen
+auf, die noch in blinder Unterw&uuml;rfigkeit an der Herrschaft
+hingen, sie lobte die Unbotm&auml;&szlig;igen und hatte trotz
+all ihrer Armseligkeit stets den Schnaps bereit f&uuml;r die,
+<a name="Page_236" id="Page_236"></a>die im Krug mit den &raquo;Neuen&laquo;, den &raquo;St&auml;dtischen&laquo; nicht
+zusammen sitzen mochten.</p>
+
+<p>Ihr J&uuml;ngster, der Franz, war Stallknecht, dem
+mein Onkel seiner Gewandtheit wegen h&auml;ufig die
+wertvollsten Pferde &uuml;berlie&szlig;. Eines abends sah er,
+da&szlig; die &raquo;Delilah&laquo;, die der Franz hatte bewegen
+sollen, schwei&szlig;triefend und ohne Decke in ihrer Box
+stand, w&auml;hrend er auf seinem Bett daneben seinen
+Rausch ausschlief. Ehe ich, die ich dabei stand, es verhindern
+konnte, sauste meines Onkels Reitpeitsche ihm
+quer &uuml;bers Gesicht. Taumelnd erhob er sich, sah meinen
+Onkel mit bl&ouml;den Augen an und fiel ihm heulend zu
+F&uuml;&szlig;en. Ich wollte mich schon emp&ouml;rt abwenden, &mdash; emp&ouml;rter
+noch &uuml;ber den Feigling, der vor mir winselte,
+als &uuml;ber den Onkel &mdash;, als mich aus dem Augenwinkel
+des auf dem Boden Kauernden ein Blick traf, wie der
+eines wilden Tieres. Am n&auml;chsten Morgen lag eine der
+Zuchtstuten verendet im Paddock. Keiner von uns
+zweifelte, da&szlig; Franz der T&auml;ter war, ich, die ich hartn&auml;ckig
+schwieg, am wenigsten. All seine Arbeitskollegen
+jedoch standen auf seiner Seite und lenkten den Verdacht
+auf die Kanalarbeiter. Zu beweisen aber war
+nichts. Onkel Walter entlie&szlig; den Knecht und verbot
+ihm mit allem Nachdruck, den Boden Pirgallens wieder
+zu betreten. Wir sa&szlig;en gerade in der Halle beim Fr&uuml;hst&uuml;ck,
+als die alte Maruschken unangemeldet auf der
+Freitreppe erschien, die verschrumpelten braunen H&auml;nde
+&uuml;ber ihrem Kr&uuml;ckstock gefaltet, im selbstgewebten Sonntagsstaat,
+den eisgrauen Kopf von einem schwarzen Tuch
+umwunden, die kleinen Bernsteinaugen funkelnd auf
+uns gerichtet, wie die Waldhexe aus dem M&auml;rchen.</p>
+<p><a name="Page_237" id="Page_237"></a></p>
+<p>&raquo;Verzeihen die gn&auml;dige Herrschaft&laquo;, hob sie mit
+stockender Stimme an &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Was willst du, Maruschken?&laquo; frug Gro&szlig;mama, ihr
+g&uuml;tig die Hand entgegenstreckend, w&auml;hrend Onkel sich
+ungeduldig r&auml;usperte.</p>
+
+<p>&raquo;O mai allerkutestes gn&auml;diges Frauchen&laquo;, &mdash; schluchzend
+st&uuml;rzte die Alte vor ihrer einstigen Herrin nieder und
+zog dem&uuml;tig ihren Rock an die Lippen, &raquo;mai Jung hat
+das Perdchen, das liebe kute Perdchen, nich erstochen!
+Schickens ihn nich in die Fremde! Mai Vater, mai
+Gro&szlig;vater, mai Ahne &mdash; alle, alle haben der gn&auml;digen
+Herrschaft gedient mit Leib und Leben &mdash; schickens uns
+nich fort!&laquo; Ihre Stimme wurde kr&auml;chzend wie Rabenstimmen,
+wenn sie im Herbst auf den Stoppelfeldern
+sitzen.</p>
+
+<p>&raquo;Mein Sohn schickt euch ja nicht fort, Maruschken,&laquo;
+antwortete Gro&szlig;mama. &raquo;Nur den einen von deinen
+Kindern, und &mdash; wenn er sich drau&szlig;en gut f&uuml;hrt &mdash;&laquo;
+bittend sah Gro&szlig;mama zu Onkel Walter her&uuml;ber &mdash; &raquo;darf
+er gewi&szlig; wieder nach Hause kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Die Alte richtete sich auf. Stumm sah sie von einem
+zum anderen.</p>
+
+<p>&raquo;Nimmt der gn&auml;dige Herr Baron den Befehl zur&uuml;ck?&laquo;
+kam es leise und zischend &uuml;ber ihre halbge&ouml;ffneten Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Nein!&laquo; Ein Faustschlag auf den Tisch bekr&auml;ftigte
+Onkel Walters heftige Antwort. &raquo;Und nun geht,
+Maruschken. Mein letztes Wort habt Ihr!&laquo;</p>
+
+<p>Fest auf den Stock gest&uuml;tzt, reckte die Alte den krummen
+R&uuml;cken und hob den Kopf, da&szlig; die Sehnen an ihrem
+Halse wie braunrote Stricke hervortraten.</p>
+
+<p>&raquo;Die alte Maruschken geht, mai kutestes Herrchen, &mdash; geht
+<a name="Page_238" id="Page_238"></a>weit &mdash; weit weg und nimmt mehr mit, viel mehr,
+als blo&szlig; ein Perdchen! &mdash; &mdash; Auf diesen alten Armchen
+trug ich den jungen Herrn &mdash; gab ihm die Brust, statt dem
+eignen Jungchen. Und gearbeitet hab ich an die vierzig
+Jahr auf Pirgallen &mdash; und S&ouml;hne und T&ouml;chter hab ich
+geboren und aufgezogen in Gehorsam vor der Herrschaft
+und Gottesfurcht, und sie arbeiten auch auf Pirgallen,
+f&uuml;r die gn&auml;dige Herrschaft&laquo; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Ungeduldig unterbrach der Onkel ihren Redeflu&szlig;. &raquo;Ich
+bin der letzte, der deine treue Arbeit nicht anerkannt
+und redlich belohnt hat. Aber einen widerhaarigen
+Trunkenbold &mdash; und wenn er zehnmal dein Sohn ist &mdash; kann
+ich nicht brauchen. Meine Geduld ist ersch&ouml;pft &mdash; h&uuml;te
+dich, Alte, mich noch zu reizen. Ich wei&szlig; recht
+gut, wo die St&auml;nker und Hetzer zu Hause sind!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gar nichts wei&szlig; der Herr Baron, gar nichts&laquo; eiferte
+sie. &raquo;Im Krug, wo die Kanalarbeiter sitzen, beim neuen
+Inspektor, wo die fainen Herren aus der Stadt morgens
+und abends Wein trinken, in der Gesindestube, wo die
+vornehmen Diener mit die Stadtm&auml;chens sch&auml;kern, da sind
+die St&auml;nker; &mdash; bei der alten Maruschken nich! Wir
+halten noch auf alte Art und Zucht, wir lieben das liebe
+Landchen, die Burg, und die Kirche und die Kate. Aber
+die anderen, das sind Ausl&auml;ndsche, die blos aufs Geld
+sind und keinen Glauben nich haben. Warum holt sie
+der Herr Baron und unsere Jungchens schickt er weg,
+da&szlig; sie auch so werden wie die Fremden? &mdash; &mdash; Zu
+Haus wollen wir bleiben &mdash;&laquo; ihre Stimme kreischte &mdash; &raquo;mit
+die Kindersch. Aber wo die rechte Liebe weg
+is, geht auch die Ehrfurcht und der Gehorsam ...
+Die Peitsche ins Gesicht, &mdash; das haben der alten<a name="Page_239" id="Page_239"></a>
+Maruschken ihre Jungchen nich verdient um die Herrschaft &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>W&uuml;tend erhob sich der Onkel: &raquo;Nun hab ich die
+Kom&ouml;die satt, scher dich zum Teufel.&laquo;</p>
+
+<p>Mit aufgerissenen Augen starrte die Alte ihn an und
+beachtete Gro&szlig;mama gar nicht, die beg&uuml;tigend ihre Hand
+auf ihre Schulter legte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich scher mich, ich scher mich, aber zum Teufel
+nich!&laquo; schrie sie, &raquo;der Teufel is zu Haus jetzt auf Pirgallen, &mdash; alle
+b&ouml;sen Geister gehen um, &mdash; im Turm
+krachts, wo die gn&auml;dige Herrschaft die faulen Insten in
+Ketten legte, und aus dem Haff steigen die toten Fischer
+auf &mdash; die alte Maruschken geht &mdash; das liebe Herrgottche
+suchen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wie unter einem Zwang waren wir alle verstummt.
+Die Steintreppe humpelte sie hinab &mdash; sie wandte den
+Kopf nicht mehr &mdash; sie war jetzt ganz klein und zusammengesunken.
+Am folgenden Tage stand ihre Kate
+leer, &mdash; bei Nacht und Nebel war sie mit ihren Kindern
+und Enkeln davongegangen, ihren armseligen Hausrat
+auf zwei Karren mit sich schleppend. Die Leute fl&uuml;sterten
+noch lange mit leisem Grauen davon, wie sie drohend
+den Kr&uuml;ckstock erhoben habe, als sie an der Burg vorbeikam,
+und unaufh&ouml;rlich vor sich hinmurmelnd dem Zuge
+der ihren voran geschritten sei, vor jeder H&uuml;tte am Wege
+inne haltend, um den aus dem Schlaf geschreckten Bewohnern
+zu erz&auml;hlen, da&szlig; der Herr von Pirgallen sie
+von Haus und Hof vertrieb.</p>
+
+<p>Auch f&uuml;r mich war der Eindruck ein unverwischbarer.
+Ich ging oft ins Dorf hinab und in die Ortschaften
+am Strande, und lernte die harten, einsilbigen Menschen
+<a name="Page_240" id="Page_240"></a>kennen, die f&uuml;r unaufh&ouml;rliche Arbeit ein sp&auml;rliches freudloses
+Leben gewannen. Die meisten nahmen es noch
+hin wie etwas Selbstverst&auml;ndliches, aber schon zuckte in
+ihren Augen hie und da dieselbe Flamme auf, die in
+dem Blick der alten Maruschken gebrannt hatte. Die
+Zeit, da sie sich vor dem Herren f&uuml;hlten wie stumme
+Sklaven oder wie willenlose Kinder, war vor&uuml;ber. Es
+gingen wirklich b&ouml;se Geister um, auch in der alten
+Ordensburg.</p>
+
+<p>Mein Onkel war, so viel er sich auch zu bilden strebte,
+den Anforderungen moderner Landwirtschaft geistig nicht
+gewachsen. &raquo;Man m&uuml;&szlig;te Chemiker, Ingenieur, Naturforscher
+sein, um nicht von jedem Hans Narren &uuml;bersehen
+und betrogen zu werden; statt dessen hat unsereins
+nur Leutnant gelernt,&laquo; sagte er einmal bitter. Er
+entschlo&szlig; sich sogar zum Verkehr mit einem alten Gegner
+aus der Nachbarschaft, einem Freisinnigen, der der beste
+Landwirt im Lande war. Ich begleitete die Herren zu
+Pferde bei ihren Inspektionsritten und h&ouml;rte oft, wie
+der alte Mann das Neue, das der junge schuf und
+plante, r&uuml;ckhaltlos gut hie&szlig;. &raquo;Nur eins kann ich Ihnen
+nicht verhehlen, Herr Baron, mit der Angst w&uuml;rde ichs
+kriegen, wenn ich Sie nicht f&uuml;r einen bedachtsamen
+Mann hielte, der wei&szlig;, da&szlig; er Hunderttausende hier
+hineinstecken mu&szlig;, ehe die Millionen herausspringen.&laquo;
+Ich sah, wie Onkel Walter um einen Schein blasser
+wurde, und erschrak mit ihm.</p>
+
+<p>Er war sehr ernst geworden in den letzten Jahren.
+Sein fr&ouml;hlicher Leichtsinn brach nur dann immer wieder
+hervor, wenn seine Frau ihn umschmeichelte &mdash; wegen
+neuer Toiletten, neuem Schmuck oder neuen Hunden &mdash; und
+<a name="Page_241" id="Page_241"></a>sein S&ouml;hnchen, das sie ihm vor drei Jahren geschenkt
+hatte, auf seinen Knieen ritt. Dieser Stammhalter
+war der Mittelpunkt des Lebens. Er besa&szlig; schon
+seinen eigenen kleinen Hofstaat, und zwei Miniaturpferdchen &mdash; Shetland-Ponies,
+die der Vater direkt hatte
+kommen lassen &mdash; sp&uuml;rten bereits, wenn er in seinem
+winzigen Wagen durch den Park fuhr, die Peitsche des
+kleinen Junkers. Alle tyrannisierte er; f&uuml;r mein
+Schwesterchen, das selbst gew&ouml;hnt war, da&szlig; die anderen
+sich ihr unterordneten, war er der gef&uuml;rchtetste Qu&auml;lgeist,
+und vor ihm fl&uuml;chtend, klammerte sie sich leidenschaftlich
+an mich an. Mein liebebed&uuml;rftiges Herz empfand das
+sehr wohlt&auml;tig, und mein, eingedenk der eigenen Kinderqualen,
+leicht erregtes Mitleid kam ihren W&uuml;nschen rasch
+entgegen. Schon fr&uuml;h morgens pflegte ich mit ihr in
+den verstecktesten Teil des Parks zu fliehen; ich erfand
+die phantastischsten Spiele und die buntesten M&auml;rchen,
+und der halbe Tag ging vor&uuml;ber, ehe ich zu mir selbst
+kam. Dann geschah es wohl, da&szlig; mich heftiger Groll
+gegen die kleine Tyrannin erfa&szlig;te, die mich so in Anspruch
+nahm; aber ein bittender Blick ihrer gro&szlig;en Blauaugen,
+ein z&auml;rtlicher Druck ihrer runden &Auml;rmchen um
+meinen Hals machte mich wieder gef&uuml;gig. Nein, sie
+sollte, sie durfte nicht erleben, was ich erlebt hatte! Allm&auml;hlich
+lernte ich sogar, ihr dankbar sein: die anderen
+nannten mich einen &raquo;Blaustrumpf&laquo; &mdash; &raquo;&uuml;berspannt&laquo; &mdash; &raquo;verdreht&laquo;,
+dem s&uuml;&szlig;en sechsj&auml;hrigen Blondkopf aber
+konnte ich gar nicht phantastisch genug sein. Sie wollte
+immer neue M&auml;rchen h&ouml;ren &mdash; &raquo;ganz neue, die noch
+kein Kind geh&ouml;rt hat&laquo; &mdash;, und unsere ganze Umgebung
+wurde zum Ausgangspunkt meiner Geschichten, in die
+<a name="Page_242" id="Page_242"></a>ich G&ouml;tter- und Heldensagen verflocht. Sie glaubte an
+mich &mdash; felsenfest: wenn wir auf dem Haff segelten,
+warf sie heimlich mitgebrachten Kuchen ins Wasser, &mdash; f&uuml;r
+Neringa, die Hafffrau, die drunten hungert, &mdash; zwischen
+die Steine der Parkmauer schob sie T&ouml;pfchen
+mit Milch, &mdash; f&uuml;r die Wichtelm&auml;nnchen, die dort ihr
+Wesen treiben.</p>
+
+<p>Lie&szlig; sie mich frei, so vergrub ich mich in die Bibliothek.
+Unter dem Vorwand, die B&uuml;cher ordnen zu wollen, hatte
+ich mir dieses Asyl, das nur selten jemand betrat, gesichert.
+Es war dunkel und roch nach moderndem Papier;
+aber was k&uuml;mmerte das mich, die ich tief im Ledersessel
+kauerte und &uuml;ber dem Lesen alles verga&szlig;! Eine kuriose
+Sammlung enthielten die Schr&auml;nke: alte landwirtschaftliche
+Brosch&uuml;ren und Zeitschriften, Reichstagsprotokolle
+der j&uuml;ngsten Zeit, Modebl&auml;tter, die sich seit Jahrzehnten
+angesammelt hatten, franz&ouml;sische Romane verf&auml;nglicher
+Art, &mdash; Zolas &raquo;Nana&laquo; und &raquo;Assommoir&laquo; mitten darunter, &mdash; deutsche
+moderne Familienromane und schlie&szlig;lich in
+billigen, schlecht gebundenen Ausgaben die deutschen
+Klassiker. Mit der Hast einer Hei&szlig;hungrigen verschlang
+ich alles: von den Memoiren der Cora Pearl bis zu
+Wieland und Herder. Ich mu&szlig; aber wohl in jener
+Zeit weder f&uuml;r die Schl&uuml;pfrigkeit noch f&uuml;r den Realismus
+sehr empf&auml;nglich gewesen sein; was ich von dieser Art
+las, interessierte mich kaum, es rief h&ouml;chstens ein Gef&uuml;hl
+des Ekels in mir wach. Noch weniger fesselten mich
+die deutschen Romane. &raquo;Unsere Unterhaltungsliteratur
+ist flach, kraft- und saftlos,&laquo; schrieb ich an meine Kusine,
+&raquo;sentimental und n&uuml;chtern, weil die Schriftsteller sich
+nach ihrem fast nur aus Frauen bestehenden Publikum
+<a name="Page_243" id="Page_243"></a>richten. M&auml;nner lesen keine Romane mehr, weil sie zu
+weibisch geschrieben sind, und Frauen werden immer
+weibischer, weil sie sich mit dem faden Zeug ihren geistigen
+Magen verderben. Am schlimmsten ists, wenn auch noch
+Frauen die Romane schreiben: mit der gestohlenen
+Gloriole der Poesie verkl&auml;rte Klatschgeschichten. Ein
+neuer Grund f&uuml;r meine Antipathie gegen die Frauen.
+Ich frage mich nur: sind wir so klein, so leer, so unweiblich &mdash; oder
+hat man uns so gemacht?&laquo;</p>
+
+<p>Mit um so hei&szlig;eren Wangen und klopfenderem Herzen
+vertiefte ich mich in Goethe. Auch das, was ich schon
+l&auml;ngst kannte, war voll neuer Offenbarungen f&uuml;r mich.
+In ein kleines Heft, das ich st&auml;ndig bei mir trug &mdash; sorgf&auml;ltig
+in ein gr&uuml;nseidenes T&uuml;chlein gewickelt &mdash;,
+schrieb ich ein, was mir am besten gefiel und schlug es
+in stillen Stunden auf, wie der Priester sein Brevier,
+um zu lesen und wieder zu lesen, bis ich Satz f&uuml;r Satz
+auswendig konnte. Zwei standen doppelt unterstrichen
+an der Spitze: &raquo;Er geh&ouml;rte zu den vielen, denen das
+Leben keine Resultate gibt und die sich daher im Einzelnen
+vor wie nach abm&uuml;hen;&laquo; &mdash; &mdash; und: &raquo;Unsere W&uuml;nsche
+sind Vorgef&uuml;hle der F&auml;higkeiten, die in uns liegen,
+Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein
+werden.&laquo; Der eine sollte sein, wie ein drohend aufgerichtetes
+Zeichen, eine stete Warnung, das Leben nicht
+zu verzetteln, sondern ihm nach gro&szlig;en Zielen die feste
+Richtung zu geben, &mdash; der andere ein Tr&ouml;ster in Zeiten
+der Mutlosigkeit, wenn ich zu mir selbst das Vertrauen
+verlor oder andere mich dessen zu berauben versuchten.
+Mit bewu&szlig;ter Auflehnung gegen die asketischen Erziehungsmaximen
+meiner Mutter schrieb ich mir vor
+<a name="Page_244" id="Page_244"></a>allem solche Stellen ab, die das Recht auf Pers&ouml;nlichkeit
+und den Wert der Freude betonten; &raquo;Ein Kind, ein
+junger Mensch, die auf ihren eigenen Wegen irre gehen,
+sind mir lieber, als manche, die auf fremden Wegen
+recht wandeln;&laquo; &mdash; &raquo;Fr&ouml;hlichkeit ist die Mutter aller
+Tugenden;&laquo; &mdash; &raquo;ein gl&uuml;cklicher Mensch, ein Wesen, das
+sich seines Daseins freut, ist das Endziel der Sch&ouml;pfung.&laquo;</p>
+
+<p>Erf&uuml;llt von dem, was ich innerlich erfuhr, konnte es
+nicht ausbleiben, da&szlig; ich zuweilen auch davon sprach.
+Meine Begeisterung konnte nicht immer stumm bleiben;
+ich sehnte mich nach Menschen, um mich ihnen mitzuteilen,
+nach jungen vor allen Dingen, bei denen weder
+Spott noch die Weisheit des Alters mich h&auml;tte zur&uuml;cksto&szlig;en
+k&ouml;nnen. &raquo;Ich suche Menschen, wie Diogenes,&laquo;
+schrieb ich an meine Kusine, mit der ich aus demselben
+inneren Bed&uuml;rfnis heraus lebhaft korrespondierte, &raquo;und
+sehe dabei immer deutlicher, da&szlig; unsere miserable Erziehung
+uns um das Beste im Leben betrogen hat. Das
+bi&szlig;chen Kunst und Wissenschaft hat man uns nur gelehrt,
+damit wir dar&uuml;ber schwatzen k&ouml;nnen. Es ist kein
+Teil unserer selbst geworden; es bleibt in Museen und
+B&uuml;chern wie die Religion in der Kirche. H&auml;tten wir
+den rechten Ernst, das tiefe Verst&auml;ndnis f&uuml;r sie, &mdash; Geist
+und Herz w&uuml;rden so sehr davon erf&uuml;llt sein, da&szlig; sie
+am Gemeinen oder Oberfl&auml;chlichen gar keine Freude
+empf&auml;nden.&laquo;</p>
+
+<p>Kamen junge Leute nach Pirgallen, die, wie Onkel
+Walter spottend zu sagen pflegte, beim &raquo;Alix-Examen
+noch nicht durchgefallen waren,&laquo; so streckte ich vorsichtig
+die F&uuml;hlh&ouml;rner meines Geistes aus. Meist begegnete
+ich einem verlegenen L&auml;cheln, einem erstaunten Blick,
+<a name="Page_245" id="Page_245"></a>und meine Mutter, die solch einem mi&szlig;gl&uuml;ckten Versuch
+zuweilen zuh&ouml;rte, sagte mir einmal:</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; du das N&uuml;sseknacken gar nicht aufgeben magst!
+Du stehst doch, da&szlig; sie alle taub sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaubs aber nicht &mdash; ich will es nicht glauben,&laquo;
+antwortete ich, &raquo;mein eigene Existenz b&uuml;rgt mir daf&uuml;r,
+da&szlig; es noch andere meiner Art geben mu&szlig;!&laquo; Mama
+kr&auml;uselte sp&ouml;ttisch die Lippen: &raquo;Die Mehrzahl ist gemein &mdash; die
+Dummen sind noch die besten.&laquo; Aber je h&auml;ufiger
+sie ihrer tiefen Menschenverachtung Ausdruck verlieh,
+desto emp&ouml;rter lehnte ich mich dagegen auf, desto &uuml;bertriebener
+wurde mein Triumphgef&uuml;hl, wenn irgend eine
+Wesenssaite des Anderen, die ich ber&uuml;hrte, leise zu klingen
+begann.</p>
+
+<p>Da war besonders einer, ein junger Nachbar, der oft
+her&uuml;bergeritten kam. Tiefere Bildung besa&szlig; er nicht, aber
+das einsame, durch keine Abwechselung unterbrochene
+Leben an den grauen Wassern des Haffs hatte ihn nachdenklich
+gemacht, so da&szlig; es uns nie an Gespr&auml;chsstoff
+fehlte. Unser Verkehr dauerte nicht lange. Onkel Walter
+nahm mich eines Tages beiseite und erkl&auml;rte mir, da&szlig;
+der Brandenstein keine &raquo;Partie&laquo; f&uuml;r mich w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Ich denke ja auch gar nicht daran, ihn zu heiraten,&laquo;
+rief ich.</p>
+
+<p>&raquo;So benimm dich nicht so dumm! Die ganze Gegend
+spricht schon davon, und er selbst mu&szlig; sich Hoffnungen
+machen, wenn du dich stundenlang mit ihm allein abgibst,&laquo;
+entgegnete er. Ich war au&szlig;er mir: ein junges
+M&auml;dchen benimmt sich also unpassend, wenn es l&auml;nger
+als f&uuml;nf Minuten mit einem und demselben Herrn redet. &mdash; &raquo;Die
+lieben N&auml;chsten dr&uuml;cken nur dann ein Auge zu,
+<a name="Page_246" id="Page_246"></a>wenn sie dabei eine Verlobung wittern,&laquo; hei&szlig;t es in
+einem Brief an Mathilde. &raquo;F&uuml;hlst du, wie ekelhaft das
+ist? Welch eine faustdicke Beleidigung unseres ganzen
+Geschlechts darin liegt? Die H&uuml;ndin wertet man nicht
+anders als uns. Pfui Teufel!&laquo;</p>
+
+<p>Ich zog mich nach jenem Erlebnis immer mehr zur&uuml;ck
+und unterdr&uuml;ckte meinen Menschenhunger, bis Onkel
+Walter seinem Unwillen &uuml;ber meine &raquo;Haberei&laquo; energischen
+Ausdruck gab. Ich kam grade dazu, als er mit
+Mama &uuml;ber mich sprach.</p>
+
+<p>&raquo;Sie wird sich die besten Aussichten verscherzen
+und eine verdrehte alte Schraube werden,&laquo; sagte er.
+&raquo;Oder willst du am Ende nicht heiraten?&laquo; Damit wandte
+er sich an mich.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; will ich &mdash; sehr gern sogar, wenn der Mann
+danach ist!&laquo; lachte ich.</p>
+
+<p>Mama sah von ihrer Handarbeit auf: &raquo;Du wei&szlig;t,
+da&szlig; ich dich nicht zwingen werde. Ein M&auml;dchen, das
+wie du, eine gesicherte Zukunft hat, ist viel gl&uuml;cklicher,
+wenn sie nicht heiratet.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit eurer Zuversicht auf Alixens Zukunft!&laquo; warf
+Onkel Walter &auml;rgerlich dazwischen. &raquo;Die ber&uuml;hmte
+Tante Klotilde kann noch zehn Mal heiraten, oder
+hundert Jahre alt werden, oder ihr Geld den Hottentotten
+vermachen. Wir m&uuml;ssen sie unter die Haube
+bringen, solange sie h&uuml;bsch ist, &mdash; das allein ist eine
+Gew&auml;hr f&uuml;r die Zukunft. Sie darf sich freilich nicht
+mit Flausen den Kopf verdrehen und verzauberte Prinzessin
+spielen, sonst nimmt ein vern&uuml;nftiger Kerl von vorn
+herein Rei&szlig;aus.&laquo;</p>
+
+<p>Hochm&uuml;tig warf ich den Kopf zur&uuml;ck und sagte sp&ouml;ttisch:<a name="Page_247" id="Page_247"></a>
+&raquo;Beruhige dich, lieber Onkel, ich kriege noch zehn f&uuml;r
+einen. Ich werde dir den Kummer nicht antun, eine
+alte Jungfer zur Nichte zu haben.&laquo;</p>
+
+<p>Und nun nahm ich wieder an der Geselligkeit teil, &mdash; nicht
+allein, weil ich ihm beweisen wollte, da&szlig; ich recht
+hatte, sondern auch, weil die Tante mich &auml;rgerte, die &mdash; wie
+ich herausf&uuml;hlte &mdash; aus reinem Egoismus das
+Einsamkeitsbed&uuml;rfnis ihrer Rivalin zu f&ouml;rdern suchte.
+&raquo;La&szlig; sie doch, wenn es ihr kein Vergn&uuml;gen macht, &mdash; wir
+werden auch ohne sie fertig!&laquo; hatte sie erst k&uuml;rzlich
+ihrem Mann zugerufen, als er noch vom Wagen aus
+mich zur Teilnahme an einem Ausflug n&ouml;tigen wollte.
+Au&szlig;erdem &mdash; wer wei&szlig;?! &mdash; konnte der Gralsritter, von
+dem ich doch immer wieder heimlich tr&auml;umte, nicht auch
+hier, am grauen Gestade der Ostsee landen?!</p>
+
+<p>Picknicks und l&auml;ndliche Feste, wo schrecklich viel gegessen,
+noch mehr getrunken und wenig geredet wurde, Jagd- und
+Man&ouml;verdiners und h&auml;uslicher Trubel fingen an,
+mir sogar wieder Spa&szlig; zu machen. Wenn ein paar
+lustige Leutnants, um vom Man&ouml;ver aus Pirgallen zu
+erreichen, meinetwegen ein paar N&auml;chte um die Ohren
+schlugen; wenn abends am Strande von Kranz, dem
+nahen Seebad, wohin wir h&auml;ufig fuhren, prasselndes
+Feuerwerk mir zu Ehren in die Luft stieg; wenn Blicke
+mir folgten, die mehr sagten als schmeichelnde Worte, &mdash; dann
+schl&uuml;rfte ich mit wonnigem Wohlgef&uuml;hl den
+berauschenden Trank der Bewunderung, und die kleinen
+Teufel der Eitelkeit triumphierten &uuml;ber die guten Geister
+im B&uuml;cherschrank von Pirgallen. Aber &raquo;er&laquo; blieb unsichtbar,
+und so war meine Gesellschaftspassion immer
+nur ein Wechselfieber. &raquo;Die Gesellschaft ists gar nicht,
+<a name="Page_248" id="Page_248"></a>die mich am&uuml;siert, sondern die Rolle, die ich in ihr
+spiele,&laquo; schrieb ich an Mathilde, &raquo;denn an sich ist sie
+t&ouml;dlich langweilig und leer &mdash; leer &mdash; leer wie ein ausgeblasenes
+Ei. Damit es was taugt, mu&szlig; ich es erst
+mit meinen Farben bemalen.&laquo;</p>
+
+<p>Ein paar Wochen vor unserer Abreise kam ein Freund
+meines Onkels, Herr von Ollech, Rittmeister bei den
+Gardedragonern, nach Pirgallen. Schon auf den K&ouml;nigsberger
+Rennen hatte ich ihn kennen gelernt, und als
+wir abends zum Souper in gro&szlig;er Gesellschaft, die aus
+lauter Dohnas, Eulenburgs und Lehndorfs bestand,
+zusammen sa&szlig;en, war er der Rettungsring gewesen, an
+den ich mich gehalten hatte, um nicht in dem unvermeidlichen
+Meer kindlicher Spiele unterzugehen. Er war
+eben in Bayreuth gewesen und hatte den Parsifal geh&ouml;rt.
+Das allein h&auml;tte gen&uuml;gt, um ihn mir interessant
+zu machen; sein ernstes musikalisches Verst&auml;ndnis war
+eine weitere starke Anziehungskraft. Ich freute mich,
+da&szlig; er mit uns heimw&auml;rts fuhr.</p>
+
+<p>Abend f&uuml;r Abend sa&szlig; er dann im Halbdunkel des
+gro&szlig;en leeren Saals und entlockte dem alten Klavier
+klagende und jauchzende, z&auml;rtliche und sehns&uuml;chtige T&ouml;ne.
+Die kleinen Amoretten &uuml;ber den T&uuml;ren, auf deren runde
+K&ouml;rperchen das Licht weniger Kerzen einen rosigen Schein
+warf, schienen zu atmen, und die Bl&auml;tter der Linden
+drau&szlig;en bebten im Takt. Ich sa&szlig; vor der offnen T&uuml;re,
+den mondhellen Garten vor mir, und das Zaubernetz
+wogender Rhythmen umspann mir dichter &mdash; immer dichter
+Herz und Sinne. Dankbar hingerissen erwiderte ich den
+Druck der Hand des Spielers, wenn er schlie&szlig;lich zu
+mir heraustrat und mir Gute Nacht bot. Sah ich ihn
+<a name="Page_249" id="Page_249"></a>morgens wieder, den &uuml;berschlanken, gro&szlig;en Mann, mit
+den w&auml;sserigen Augen, der roten Nase und den ergrauenden
+Haaren, h&ouml;rte ich seine rauhe Stimme, sein
+Lachen, das wie tonlos war, so war er mir ein Fremder, &mdash; eine
+Seele voll Wohlklang, die sich auf der Suche
+nach Menschwerdung in den K&ouml;rper eines Dekadenten
+verirrt hatte.</p>
+
+<p>Angstvoll empfand ich, da&szlig; er mich liebte, und sah
+zugleich an der Selbstverst&auml;ndlichkeit, mit der man mich
+mit ihm allein lie&szlig;, was alle erwarteten. Ich f&uuml;rchtete
+die Aussprache &mdash; aber nicht weniger die Trennung.
+Ich k&uuml;rzte den Augenblick des Gutenachtsagens mehr
+und mehr ab; ich wu&szlig;te, da&szlig; ich in seiner Macht war,
+wenn der Zauber seiner Musik mich gefangen genommen
+hatte.</p>
+
+<p>Sein Urlaub ging zu Ende; ich fesselte mein Schwesterchen
+so sehr als m&ouml;glich an mich, um ein Alleinsein zu verhindern.
+Aber eines sch&ouml;nen Morgens lief sie mir davon,
+als wir grade im Begriffe waren, in den Kahn zu steigen.
+Stumm ruderte er mich auf dem schmalen Kanal, der
+sich, von B&auml;umen und B&uuml;schen dicht umstanden, durch
+den Park zog. Schon tanzten gelbe Bl&auml;tter auf seinen
+dunkelgr&uuml;nen Spiegel nieder, w&auml;hrend die Glut des
+Sp&auml;tsommertages wie eingeschlossen unter dem Laubdach
+lag. Ich starrte ins Wasser und spielte mit der Hand
+darin. Ein &raquo;Fr&auml;ulein von Kleve&laquo;, mit rauherer Stimme
+als sonst hervorgesto&szlig;en, lie&szlig; mich zusammenfahren. &raquo;Wollen
+Sie meine Frau werden?&laquo; &mdash; &mdash; Ich antwortete nicht.
+&raquo;Ich bin nicht jung, nicht sch&ouml;n,&laquo; fuhr er nach einer
+Pause leise fort. &raquo;Ich habe Ihnen nichts zu bieten,
+als &mdash;&laquo; er z&ouml;gerte, und eine fl&uuml;chtige R&ouml;te stieg ihm
+<a name="Page_250" id="Page_250"></a>hei&szlig; in die Stirn &mdash; &raquo;meinen Namen, mein Verm&ouml;gen
+und &mdash; meine Liebe.&laquo; Wieder eine lange Pause &mdash; ich
+brachte keinen Ton &uuml;ber die Lippen. Mein Gegen&uuml;ber
+seufzte tief auf. &raquo;Ich will keine rasche Antwort, wenn
+Ihr Herz Sie nicht dazu zwingt. Nur eins sagen Sie
+mir, bitte: lieben Sie einen andern?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein!&laquo; entgegnete ich, ihm grade in die Augen
+sehend. Seine Z&uuml;ge leuchteten so hell auf, da&szlig; ich erschrak.
+Er griff nach meiner Hand. &raquo;Dann will ich
+warten, und &mdash; hoffen. Es ist ja so wie so vermessen,
+da&szlig; ein alter Knabe wie ich so viel Jugend und Sch&ouml;nheit
+begehrt. Ich reise morgen fr&uuml;h &mdash; in vier Wochen
+kommen Sie durch Berlin. Ihre verehrte Frau Mutter
+soll mich Ihre Ankunft wissen lassen, wenn &mdash; wenn Sie
+f&uuml;r mich entschieden haben; &mdash; ists recht so?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; war alles, was ich hervorbringen konnte. Wir
+landeten. Als er mir beim Aussteigen die Hand reichte,
+traf mich ein Blick, &mdash; ein Blick so voll Liebe, so voll
+Leid, da&szlig; ich ihm aus lauter Mitgef&uuml;hl fast in die Arme
+gesunken w&auml;re. Abends sa&szlig; er zum letztenmal am Klavier
+und lie&szlig; seinen Phantasien freien Lauf; ich konnte der
+aufsteigenden Tr&auml;nen nicht Herr werden, lief fort und
+verschlo&szlig; mich in mein Zimmer, um es erst zu verlassen,
+als ich am n&auml;chsten Tag den Wagen &uuml;ber den Burghof
+rollen h&ouml;rte.</p>
+
+<p>Es verletzte mich, da&szlig; jedermann um unsere Beziehungen
+zu wissen schien. Ich wurde r&uuml;cksichtsvoll behandelt,
+wie eine Kranke, w&auml;hrend widerstreitende Empfindungen
+mir alle Ruhe raubten. Mu&szlig;te ich wirklich
+mit meinen achtzehn Jahren &uuml;ber solch eine Lebensfrage
+nachdenken wie &uuml;ber ein Rechenexempel? Wenn mein<a name="Page_251" id="Page_251"></a>
+Verstand zehnmal ja gesagt hatte, so warf das Nein
+meiner Sinne all seine Weisheit &uuml;ber den Haufen. Meiner
+Sinne &mdash; nicht meines Herzens. Allzu h&auml;ufig flo&szlig; es von
+Mitleid &uuml;ber, das der Liebe so &auml;hnlich sieht; wenn ich mir
+dann aber vorstellte: der Mann soll dich k&uuml;ssen, soll von dir
+Besitz ergreifen &mdash; k&ouml;rperlich! &mdash;, dann ha&szlig;te ich ihn beinahe.</p>
+
+<p>Wir waren noch in Pirgallen, als ein Telegramm
+meines Vaters eintraf. &raquo;Brigade in Schwerin&laquo; &mdash; nichts
+weiter stand darin. Die Freude war allgemein
+und bei mir am gr&ouml;&szlig;ten; meine Abneigung, nach Brandenburg
+zur&uuml;ckzukehren, beeinflu&szlig;te im Stillen meine
+Entscheidung Ollech gegen&uuml;ber. Die neue Garnison,
+der kleine Hof, die fremde, Neugier und Hoffnung in
+gleicher Weise wachrufende Umgebung gaukelten mir
+lauter lichte Zukunstsbilder vor. Als wir auf dem
+Wege nach Berlin im Zuge sa&szlig;en und meine Mutter die
+Schicksalsfrage stellte: &raquo;Soll ich Ollech benachrichtigen?&laquo;
+bedurfte es keiner &Uuml;berlegung mehr. Ordentlich komisch
+kam mirs vor, da&szlig; ich jemals zwischen &raquo;Ja&laquo; und &raquo;Nein&laquo;
+hatte schwanken k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der &Uuml;bersiedelung der M&ouml;bel blieben wir in
+Berlin. Meine Mutter kannte keine gr&ouml;&szlig;ere Freude, als
+ohne Haushaltungs- und Gesellschaftszwang in der
+Hauptstadt zu sein. W&auml;hrend sie unerm&uuml;dlich von einem
+Museum, einem Theater zum anderen ging, jede Ausstellung
+durchwanderte, die L&auml;den von innen und au&szlig;en
+betrachtete, verschwanden die scharfen Linien um ihren
+Mund und machten dem Ausdruck kindlichen Genie&szlig;ens
+Platz. Sie verga&szlig; dabei sogar ihre Erziehungsgrunds&auml;tze
+und nahm mich in Possen und Operetten mit, die
+sich im Grunde gar nicht &raquo;schickten&laquo;.</p>
+
+<p><a name="Page_252" id="Page_252"></a>Im Oktober kamen wir nach Schwerin. Der erste
+Eindruck war ein deprimierender: ein Bahnhof wie
+in einem abgelegenen Provinznest, dicht daneben eine
+riesige Holzbaracke &mdash; das Interims-Theater &mdash;, enge,
+holprige Stra&szlig;en, kleine H&auml;user mit niedrigen Fenstern,
+Menschen, deren Aussehen einen um Jahre zur&uuml;ckversetzte.
+Aber schon unser neues Heim ver&auml;nderte
+das Bild: eine kleine Villa, dicht am Park, die in fr&ouml;hlichem
+Wei&szlig; zwischen B&auml;umen und B&uuml;schen einladend
+hervorlugte. Und ich hatte zwei Zimmer darin: das
+Schlafst&uuml;bchen, wei&szlig; und blau wie einst, der kleine Salon
+in mattem Gr&uuml;n, &mdash; eine &Uuml;berraschung meines Vaters.
+Gl&uuml;ckselig war ich: zur Arbeit und zum Tr&auml;umen ein
+stiller, abgeschlo&szlig;ner Winkel f&uuml;r mich! Nicht rasch genug
+konnte ich meine B&uuml;cher in die zierlichen Etageren
+r&auml;umen, meinen Schreibtisch mit Bildern schm&uuml;cken.
+Viele verborgene Sch&auml;tze kamen ans Licht, die teils aus
+Mangel an Platz, teils aus Angst vor Mama in Koffern
+und Kisten verborgen gewesen waren. Da waren Makarts
+F&uuml;nf Sinne in gro&szlig;en Photographien, B&ouml;cklins
+Insel der Seligen. Ich hatte mich berauscht an der
+gl&auml;nzenden Sch&ouml;nheit Makartscher Frauengestalten, ich
+hatte die Wirklichkeit vergessen gehabt vor dem dunkelblauen
+Wasser und der leuchtenden Ferne auf B&ouml;cklins
+vielgeschm&auml;htem Bild. Mitten auf meinem Schreibtisch
+prangten sie nun. Eine bunte Gesellschaft, von denen
+jeder einzelne vom anderen weiter entfernt war als B&ouml;cklin
+von Makart, versammelte sich auf meinem B&uuml;cherregal:
+Goethe und Julius Wolff, dessen sentimentale Sinnlichkeit
+mich vor&uuml;bergehend fesselte, Gottfried Keller und
+Felix Dahn, dessen germanische G&ouml;tter- und Helden<a name="Page_253" id="Page_253"></a>geschichten
+meiner alten Neigung begegneten, Scherers
+Geschichte der Deutschen Literatur, die eben erschienen
+war, und die ich eifrig studierte, Webers Welt- und
+L&uuml;bkes Kunstgeschichte und daneben in wirrem Durcheinander
+griechische Klassiker, russische Novellisten, altdeutsche
+Heldenlieder in braunen Reclamb&auml;nden, moderne
+Lyriker in gold&uuml;berladenem Prachtgewand.</p>
+
+<p>Noch sp&auml;t am Abend kramte ich in meinem Zimmer,
+&uuml;berzeugt, da&szlig; niemand mich st&ouml;ren w&uuml;rde, da sich die
+Schlafstuben der Eltern ein Stockwerk h&ouml;her befanden,
+als meine Mutter eintrat. &raquo;Noch nicht zu Bett?!&laquo; rief
+sie und musterte &auml;rgerlich meine Umgebung. Dabei fiel
+ihr Blick auf Bilder und B&uuml;cher. &raquo;Du bildest dir doch
+nicht ein, da&szlig; ich dergleichen dulden werde: diese schamlosen
+nackten Frauenzimmer und dies Bild eines Verr&uuml;ckten?&laquo;</p>
+
+<p>Mir stieg das Blut zu Kopf. &raquo;Das ist mein Zimmer,
+so viel ich wei&szlig;,&laquo; sprudelte ich hervor, meine Worte
+&uuml;berst&uuml;rzend, wie stets, wenn die Erregung mir den Mut
+zur Rede gegeben hatte, &raquo;und ich bin alt genug, meinem
+Geschmack zu folgen. Soll ich vielleicht Thumann aufbauen,
+der Germanen malt wie Salonhelden, und dessen
+Frauen aussehen wie lauter wohl erzogne und gut
+toilettierte Bazardamen? Solche Verlogenheit mag ich
+nicht, &mdash; sie ist schamloser, als nackte Sch&ouml;nheit. Es ist
+mir auch ganz gleichg&uuml;ltig, ob die Leute B&ouml;cklin f&uuml;r
+verr&uuml;ckt halten. Ich finde, es w&auml;re zum davonlaufen in
+der Welt, wenn nicht die paar Verr&uuml;ckten sie noch ertr&auml;glich
+machten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das magst du halten, wie du willst&laquo;, antwortete
+Mama, und nur ihre hei&szlig;en Wangen verrieten ihren Zorn.<a name="Page_254" id="Page_254"></a>
+&raquo;Solange du im Elternhause bist, hast du dich mir zu
+f&uuml;gen, und zwar lediglich in deinem Interesse. Was
+meinst du wohl, was man von dir sagen w&uuml;rde, wenn
+man solche Dinge auf deinem Schreibtisch s&auml;he?!&laquo; Damit
+ging sie hinaus, und ich nahm tief verletzt meine Bilder,
+um sie im Schlafzimmer aufzustellen, &mdash; hier sollte sie mir
+niemand verekeln d&uuml;rfen.</p>
+
+<p>Fr&uuml;h am Morgen weckte mich Papa:</p>
+
+<p>&raquo;Du, Alixchen &mdash; wie w&auml;rs mit einem Ritt? Die
+kleine Braune wartet!&laquo; Mit einem Sprung war ich aus
+dem Bett und in wenigen Minuten in den Kleidern.
+Vergessen hatte ich den &Auml;rger, noch mehr die Vorschrift
+des Arztes. Ein herrlicher Herbsttag war es, mit jenem
+geheimnisvoll blauen Dunst zwischen den B&auml;umen und
+jenem leisen Rieseln und Tanzen goldener Bl&auml;tter darin.
+Durch eine grade Allee ritten wir an beschnittenen Laubeng&auml;ngen
+und verwitterten G&ouml;tterbildern vorbei, vor&uuml;ber
+an einem kleinen Gartenh&auml;uschen, das zwischen welkenden
+Rosen tr&auml;umte, und hinein in den Dom gewaltiger grauer
+Buchenst&auml;mme, durch deren hohe gelbgr&uuml;ne W&ouml;lbung
+nur hie und da ein Sonnenstrahl bis zur Erde drang.
+Wir ritten langsam und sprachen kein Wort, selbst der
+Hufschlag der Pferde klang ged&auml;mpft, als ob sie auf
+tiefen Teppichen gingen. Pl&ouml;tzlich, wo der Weg sich j&auml;h
+zur Seite wandte, empfing uns ein blendender Strom
+flimmernden Lichts: Vergi&szlig;meinnichtblau dehnte sich der
+See bis zum nebelgrauen Horizont, und aus ihm empor
+stieg mit T&uuml;rmen und Zinnen, Erkern und Balkonen,
+funkelnd und blitzend im hellsten Morgenglanz, ein
+M&auml;rchenschlo&szlig;.</p>
+
+<p>Uns heimw&auml;rts wendend, verfolgten wir die Uferstra&szlig;e
+<a name="Page_255" id="Page_255"></a>bis zur Stadt. Das Wasser, die feierlich breite Br&uuml;cke
+dar&uuml;ber; ein &ouml;der, sandiger Platz trennte sie vom Palast
+des Herrschers. Dem&uuml;tig und zusammengeduckt, in n&uuml;chternem
+Werktagskleid, scheu und anbetend, aus kleinen
+Fenstern hin&uuml;berblinzelnd, lag sie zu seinen F&uuml;&szlig;en.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist Mecklenburg!&laquo; sagte mein Vater.</p>
+
+<p>Die ersten Wochen in Schwerin waren ausgef&uuml;llt mit
+offiziellen Besuchen und Gegenbesuchen, die f&uuml;r mich
+lauter Entt&auml;uschungen waren. Die Menschen entsprachen
+der Stadt, ob es nun Hofmarsch&auml;lle, Minister oder
+Kammerherrn und Leutnants waren. Das Resultat
+&raquo;guter&laquo; Erziehung sprang in die Augen: vollkommene
+Gleichartigkeit des Wesens, der Ansichten, der Bildung;
+unersch&uuml;tterlicher Gleichmut, selbstverst&auml;ndliche Kirchlichkeit &mdash; eine
+Vornehmheit, die, in ihrem Abscheu vor jeder
+Extravaganz, &auml;u&szlig;erlich und innerlich vollkommen farblos
+machte. Und die Frauen! Glatt gescheitelt, streng und
+k&uuml;hl die Verheirateten; eine Schar alternder M&auml;dchen &mdash; das
+Kennzeichen jeder kleinen Residenz &mdash; mit dem
+bitteren Zug entt&auml;uschter Erwartungen um blutleere
+Lippen; wenige junge, und auch die sich zu vorschriftsm&auml;&szlig;igem
+Gleichma&szlig; zwingend. Der Hoftrauer wegen &mdash; im
+Fr&uuml;hjahr war der alte, sehr geliebte Gro&szlig;herzog
+gestorben, sein kr&auml;nklicher Nachfolger war noch im S&uuml;den &mdash; gab
+es keine gro&szlig;en Gesellschaften, dagegen zahllose
+Nachmittagstees von g&auml;hnender Langerweile und steife
+Abendgesellschaften, die ihnen nichts nachgaben. Kleine
+Diners bei der alten Gro&szlig;herzogin-Mutter, der Schwester
+Kaiser Wilhelms, bildeten eine wohlt&auml;tige Ausnahme.
+Die originelle alte Dame liebte die Jugend und war,
+bei allem strengen Urteil &uuml;ber Manieren, die ihr nicht
+<a name="Page_256" id="Page_256"></a>vollkommen schienen, ihr gegen&uuml;ber nachsichtig und freundlich,
+dabei voll sarkastischen Witzes. In ihrem kleinen
+&raquo;Palais&laquo;, einem bauf&auml;lligen H&auml;uschen, das sie zu
+verlassen sich standhaft weigerte, klang an einem Nachmittag
+oft mehr frohes Lachen, als an zehn geselligen
+Abenden bei den &uuml;brigen W&uuml;rdentr&auml;gern der Stadt.
+Was den Verkehr noch besonders erschwerte, war die
+Abneigung der eingesessenen Mecklenburger Familien
+gegen die Preu&szlig;en und die strenge Scheidung der Gesellschaft
+nach der Herkunft. Nur der Adel war hoff&auml;hig;
+m&uuml;hsam hatte Preu&szlig;en es durchgesetzt, da&szlig; wenigstens
+der Offizier, auch wenn er unadlig war, empfangen
+wurde. Seine Frau jedoch empfing man nicht, die nicht
+adlig geborene Frau eines Adligen ebensowenig.</p>
+
+<p>Die Rolle der duldenden Teilnehmerin in der &Ouml;de
+dieser Gesellschaft hielt ich nicht lange aus. Mich ganz
+zur&uuml;ckziehen, was ich am liebsten getan h&auml;tte, war bei der
+Stellung meines Vaters, mit der die Verpflichtung, &raquo;ein
+Haus auszumachen&laquo;, unweigerlich verbunden war, nur
+soweit m&ouml;glich, als die R&uuml;cksicht auf meine Gesundheit
+es verlangte. Getanzt aber wurde nicht, also blieb mir
+kein Vorwand; nur hie und da, wenn ich in ein Buch
+besonders vertieft war, oder eine Phantasie unbedingt zu
+Papier bringen mu&szlig;te, sch&uuml;tzte ich Schmerzen vor, legte
+mich zu Bett, und stand, im k&ouml;stlichen Besitz ungest&ouml;rter
+Freiheit, wieder auf, sobald die Eltern das Haus verlassen
+hatten.</p>
+
+<p>Dann kamen sie, die holden Gestalten meiner Tr&auml;ume,
+und viele blaue Hefte f&uuml;llten sich allm&auml;hlich mit Gedichten
+und Betrachtungen, M&auml;rchen und Geschichten.</p>
+
+<p>Ging ich aus, so setzte ich alle Hebel in Bewegung,
+<a name="Page_257" id="Page_257"></a>um der Langenweile Herr zu werden. Zum Kampf gegen
+sie zettelte ich unter meinen wenigen Altersgenossinnen eine
+f&ouml;rmliche Verschw&ouml;rung an: wir &raquo;schnitten&laquo; die Alten und
+Gr&auml;mlichen, wir protestierten durch die Tat gegen die
+Gewohnheit der Trennung der Geschlechter, sobald das
+Essen vor&uuml;ber war, wir spielten Theater und stellten
+lebende Bilder, wozu ich die verbindenden Texte zu
+dichten pflegte. Und unsere Jugend siegte allm&auml;hlich;
+meine geselligen K&uuml;nste fanden Anerkennung, und ich
+mu&szlig;te sie &uuml;berall gl&auml;nzen lassen. Aber solche Erfolge
+gen&uuml;gten mir nicht. Ich &raquo;suchte Menschen&laquo; &mdash; verlangender
+und sehns&uuml;chtiger denn je &mdash;, und wenn ich mich
+scheinbar am besten am&uuml;siert hatte, kam ich oft heim, um
+verzweifelt in mein Bett zu schluchzen.</p>
+
+<p>&raquo;Du hast das beste Leben von der Welt. Warum
+bist du nicht zufrieden?&laquo; schrieb mir meine Kusine, die
+kurze Zeit bei uns gewesen war und meine Zerfahrenheit
+nicht begriff.</p>
+
+<p>Ich antwortete ihr:</p>
+
+<p>&raquo;Du sagst, und zwar mit dem Ton moralischen Vorwurfs,
+da&szlig; ich nur darum die hiesige Gesellschaft so abf&auml;llig
+beurteile, weil ich noch niemanden fand, der mich
+pers&ouml;nlich interessiert. Das ist doch selbstverst&auml;ndlich!</p>
+
+<p>Oder gehst du der vielen Gleichg&uuml;ltigen wegen in Gesellschaft,
+die sich nach deinem Befinden erkundigen, obwohl
+es ihnen ganz einerlei ist, wie du dich befindest,
+die die kostbare Zeit mit Geschw&auml;tz totschlagen, von dem
+du absolut gar keine Anregung empf&auml;ngst, die ein verbindliches
+&#8250;Auf Wiedersehen&#8249; fl&ouml;ten und schon am n&auml;chsten
+Tag an deiner Leiche gleichg&uuml;ltig vor&uuml;bergehen w&uuml;rden?!
+Aber du treibst deinen Vorwurf noch weiter und sagst ent<a name="Page_258" id="Page_258"></a>r&uuml;stet,
+ich w&auml;re wieder einmal reif, mein Herz wegzuwerfen.
+Ich gebe das ohne weiteres zu: findet mein
+Geist kein Interesse, so mu&szlig; das Herz daran glauben.
+Hier im heiligen Mecklenburg ist kein Mensch, den
+ich nicht schon ausgepre&szlig;t h&auml;tte wie eine Zitrone, und
+der nicht immer sauer geblieben w&auml;re wie sie. Nun
+gilts, ihm das Zuckerwasser der Verliebtheit beizumengen,
+um ihn &uuml;berhaupt genie&szlig;bar zu machen. Deine Moralpauke
+schlie&szlig;t mit den Worten: nicht wieder &#8250;str&auml;flich&#8249;
+mit dem Feuer zu spielen. Sei beruhigt: ich bin
+grade auf das intensivste mit dem Sch&uuml;ren der Flamme
+besch&auml;ftigt. Und<em class="spaced"> wie</em> sie brennt!! &#8250;Er&#8249; ist h&uuml;bsch,
+elegant, leichtsinnig, oberfl&auml;chlich, &mdash; kurz, ganz was ich
+brauche! &#8250;Er&#8249; ist L&ouml;we, Herzensbrecher, &mdash; kurz, ein
+Holz, aus dem ich mit Vergn&uuml;gen meine Ritter schnitze!
+Du hast nat&uuml;rlich wieder Mitleid mit ihm, wie mit
+Vetter Fritz, mit Fredy usw.<em class="spaced"> Warum hat denn niemand
+Mitleid mit mir?!</em> Oder ist es nicht vielleicht
+mitleidsw&uuml;rdig, da&szlig; ich mein hei&szlig;es Herzblut tropfenweise
+mit dem Allerweltsleitungswasser des Flirts verd&uuml;nne?!
+Ich lechze nach Licht, flammendem Geisteslicht, selbst wenn
+ich bei seinem Anblick erblinden sollte, und nach einer
+Leidenschaft, an der ich mich verzehren kann.&laquo;</p>
+
+<p>Es kamen Stunden, in denen mein pochendes Herzblut
+mich in wild aufwallende Gef&uuml;hle verstrickte. Dann
+flatterte es mir vor den Augen in tausend Fl&auml;mmchen,
+hei&szlig;e Schauer liefen mir &uuml;ber den R&uuml;cken, und feuriger
+begegnete mein Blick dem des Mannes, der grade neben
+mir &uuml;ber die spiegelnde Eisfl&auml;che glitt oder beim
+Diner klingend sein Sektglas an das meine stie&szlig;. Ich
+galt f&uuml;r kokett; die jungen M&auml;dchen zogen sich von
+<a name="Page_259" id="Page_259"></a>mir zur&uuml;ck; ich hatte immer eine Korona von Kavalieren
+um mich.</p>
+
+<p>In grausamer Selbstzerfleischung schrieb ich in eines
+meiner blauen Hefte:</p>
+
+<p>&raquo;Irgendein unheimliches, wildes Tier haust in meinem
+Innern. Es zerrei&szlig;t die festesten Eisenketten. Es treibt
+mich seit meiner Kindheit von Leidenschaft zu Leidenschaft.
+Wie erb&auml;rmlich, sich erheben zu wollen &uuml;ber die
+M&auml;dchen der Stra&szlig;e. W&auml;ren wir nicht so gut erzogen,
+und wohl geh&uuml;tet, wie viele von uns gingen denselben
+Weg wie sie!&laquo; Und an anderer Stelle hei&szlig;t es: &raquo;O
+&uuml;ber das trostreiche Verweisen auf h&auml;usliche Pflichten!
+Als ob ich sie nicht alle erf&uuml;llte, ohne die geringste Befriedigung
+zu sp&uuml;ren! Staub wischen, H&uuml;te garnieren,
+Deckchen sticken, Str&uuml;mpfe stopfen, &mdash; soll das das Herz
+beruhigen, den Geist ausf&uuml;llen?! Es ist nichts als eine
+tugendhafte Bem&auml;ntelung des Zeittotschlagens. Meine
+Lebenskr&auml;fte schreien nach Bet&auml;tigung. Ich m&ouml;chte etwas
+erleben, das keine Nervenfaser unber&uuml;hrt, kein &Auml;derchen
+ohne Glut l&auml;&szlig;t, etwas leisten, das Wunden kostet ...&laquo;</p>
+
+<p>Einmal &mdash; ich sa&szlig; grade am Bett meines kranken
+Schwesterchens und baute ihr aus Goldpapier ein &raquo;Walhall&laquo;
+auf, dessen g&ouml;ttliche Bewohner aus Perlen und
+bunten Kn&ouml;pfen bestanden &mdash; lie&szlig; mich Papa zu sich
+herunter rufen. Herr von Landsberg, der Hoftheater-Intendant,
+war bei ihm.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe eine Bitte an Sie, mein gn&auml;digstes Fr&auml;ulein,&laquo;
+wandte er sich an mich. &raquo;Wir wollen nach beendeter
+Trauer den Geburtstag des Gro&szlig;herzogs durch
+eine Festvorstellung feiern. Uns fehlt ein einleitender
+Prolog. D&uuml;rfen wir daf&uuml;r auf Ihre Mitarbeit rechnen?&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_260" id="Page_260"></a>Mir klopfte das Herz vor Freude: Ich sollte f&uuml;r die
+B&uuml;hne dichten! Sollte von einem gro&szlig;en Publikum geh&ouml;rt
+werden! Trotzdem kamen mir Bedenken:</p>
+
+<p>&raquo;Ich kenne den Gro&szlig;herzog nicht. Und ihn anhimmeln,
+blo&szlig; weil er der Gro&szlig;herzog ist, &mdash; das widerstrebt mir.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Niemand verlangt das von Ihnen. Das rein Menschliche,
+da&szlig; er krank, fern seinem Lande im S&uuml;den ist, da&szlig;
+seine Abwesenheit schwer auf Handel und Wandel, Leben
+und Geselligkeit dr&uuml;ckt, da&szlig; wir ihm und uns seine Genesung
+w&uuml;nschen, gibt, scheint mir, Anregung genug zu
+dichterischer Gestaltung!&laquo; Mir leuchtete ein, was er
+sagte; die Gelegenheit, zum erstenmal &ouml;ffentlich hervorzutreten,
+war auch viel zu verlockend, als da&szlig; mein
+Widerstand sich h&auml;tte aufrecht erhalten lassen.</p>
+
+<p>Ich schrieb in schwungvollen Versen irgend etwas,
+das von den Seen und W&auml;ldern Mecklenburgs, von
+den guten heimischen G&ouml;ttern und dem tr&uuml;gerischen
+Zauber des S&uuml;dens mehr enthielt als von dem Landesf&uuml;rsten,
+den es feiern sollte. Da man ihn seiner, wie
+man glaubte, unn&ouml;tig langen Abwesenheit wegen nicht
+allzu hoch sch&auml;tzte, so entsprach meine Dichtung den
+Intentionen der Auftraggeber. Bei Landsbergs, in kleinem
+Kreise, las ich sie vor und erntete von den anwesenden
+Schauspielern einen ger&auml;uschvollen Beifall, der um so
+gr&ouml;&szlig;eren Eindruck auf mich machte, als ich noch nicht
+wu&szlig;te, da&szlig; es bei ihnen ebenso &uuml;blich ist, den Gef&uuml;hlen
+&uuml;bertrieben lauten Ausdruck zu geben, wie es bei
+uns guter Ton ist, sie bis auf ein Mindestma&szlig; zu
+unterdr&uuml;cken.</p>
+
+<p>Hier, &mdash; das schien der eine Augenblick mir zu enth&uuml;llen &mdash;,
+fand ich die Menschen, die mich verstanden,
+<a name="Page_261" id="Page_261"></a>denen die Kunst Lebensinhalt war. Ich nahm an den
+Proben teil und wurde allm&auml;hlich ein immer h&auml;ufigerer
+Gast im Hause des Intendanten. Seine geistvolle, liebend
+w&uuml;rdige Frau verh&auml;tschelte mich; er selber &mdash; wie selten
+war mir das begegnet! &mdash; nahm mich ernst und gab mir
+derlei gute Ratschl&auml;ge, um mein Talent zu f&ouml;rdern. Die
+Hauptanziehungskraft aber war mir Lisbeth Karstens,
+die junge, reizende Schauspielerin, die meinen Prolog
+sprechen sollte. Aus Begeisterung f&uuml;r die Kunst hatte
+sie das warme Nest ihres Elternhauses verlassen und
+war allein und mittellos in die Fremde gegangen. Not,
+Gemeinheit und Verkennung hatten sich ihr in den Weg
+gestellt, &mdash; ihr Enthusiasmus war st&auml;rker gewesen als
+alles. Landsberg, der es wie wenige verstand, Begabungen
+zu entdecken und die h&auml;&szlig;liche Bretterbude am Bahnhof
+infolgedessen &uuml;ber viele kostbare Theater Deutschlands
+erhob, hatte sie erst k&uuml;rzlich engagiert. Sie war ein
+ausgezeichnetes &raquo;Gretchen&laquo;, eine r&uuml;hrende &raquo;Ophelia&laquo;,
+ein hinrei&szlig;endes &raquo;K&auml;thchen von Heilbronn&laquo;, und selbst
+der blutleeren &raquo;Thekla&laquo; verhalf sie zu lieblichem Leben<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es ','">.</ins>
+Mein Prolog, von ihr gesprochen, erschien mir wirklich
+wie ein Kunstwerk. Aber, ach, wieviel Tr&auml;nen vergo&szlig;
+ich seinetwegen!</p>
+
+<p>Mit aufrichtigem Beifall hatte mein Vater ihn beurteilt;
+es schmeichelte seiner Eitelkeit, seine Tochter anerkannt
+zu sehen, aber seine hochm&uuml;tige Mi&szlig;achtung des
+Publikums war zu gro&szlig;, als da&szlig; er ihm ein Urteil &uuml;ber
+mich h&auml;tte gestatten k&ouml;nnen. Mein Name durfte nicht
+genannt werden. Ich suchte vergebens, ihn umzustimmen.</p>
+
+<p>&raquo;Damit unser guter Name durch die schmutzigen M&auml;uler
+aller Menschen gezogen wird?!&laquo; herrschte er mich an,<a name="Page_262" id="Page_262"></a>
+&raquo;und jeder Federfuchser sich erlauben kann, dich herunterzurei&szlig;en?!&laquo;
+Als der gro&szlig;e Abend hereinbrach,
+fl&uuml;sterte man sich meinen Namen nur unter dem Siegel
+der Verschwiegenheit zu. Der Beifall aber, der das
+Theater durchbrauste, klang wie eine Fanfare bis ins
+Innerste meiner Seele, und alte Kindertr&auml;ume wachten
+auf, und junger Ehrgeiz breitete seine Fl&uuml;gel aus, um
+mich weit in die Zukunft zu tragen, &mdash; dahin, wo der
+Ruhm auf ehernen St&uuml;hlen thront und immergr&uuml;ner
+Lorbeer im Glanze der nie untergehenden Sonne eichenstark
+gen Himmel w&auml;chst.</p>
+
+<p>Seitdem hatte ich keine Ruhe mehr. Oft trieb michs
+des Nachts aus dem Bett an den Schreibtisch. Mit
+Lisbeth Karstens verband mich eine immer innigere
+Freundschaft. Sie war meine Vertraute, eine geduldige,
+leicht begeisterte, fast immer kritiklose Zuh&ouml;rerin meiner
+Dichtungen. Im Theater, das ich fast t&auml;glich besuchte,
+denn in der Loge des Intendanten war Platz f&uuml;r mich,
+sobald meine Eltern mich nicht begleiteten, fand ich immer
+neue Anregung, der K&uuml;nstlerkreis im Landsbergschen
+Haus, der f&uuml;r nichts Sinn hatte als f&uuml;r das Theater,
+fachte die Glut meines Innern zur Fieberhitze an. Noch
+waren es Nebelgestalten, die ich sah und nicht zu fassen
+vermochte. Sie nahmen festere Formen an, wenn der
+alte Wagnerf&auml;nger Hill am Fl&uuml;gel stand und seine
+machtvolle Stimme den Raum erf&uuml;llte; wenn Alois
+Schmitt &mdash; einer der k&uuml;nstlerischsten Menschen, die ich
+kannte &mdash; am Dirigentenpult sa&szlig; und sein geschultes
+Orchester die Fidelio-Ouvert&uuml;re intonierte; und sie
+wurden mir sichtbar, wie Geistererscheinungen, wenn ich
+einsam durch den Wald ritt und droben auf dem G&ouml;tter<a name="Page_263" id="Page_263"></a>h&uuml;gel
+fern der Stadt, wo vor Jahrhunderten Walvaters
+Opferstein rauchte, die rauschenden Buchen miteinander
+fl&uuml;sterten.</p>
+
+<p>Es war Sigrun, K&ouml;nig H&ouml;gnis Tochter, die ich sah, &mdash; Sigrun,
+die Schildjungfrau, die in hei&szlig;em Freiheitsdrang
+und starker Liebe den Todfeind ihres Vaters, Helgi,
+den Hundingst&ouml;ter, vor seinen M&ouml;rdern sch&uuml;tzte und
+sich ihm als Gattin verband, &mdash; Sigrun, die Treueste
+der Treuen, und die geliebteste, um deretwillen Helgi
+Walhalls Wonnen verschm&auml;hte. Zu einem Drama wollt'
+ich ihre Geschichte gestalten; der Konflikt zwischen kindlichem
+Gehorsam und Mannesliebe war sein Mittelpunkt,
+seine L&ouml;sung der freiwillige Tod der Heldin.</p>
+
+<p>Meist schrieb ich des Nachts. Am Tage f&uuml;rchtete ich
+zu sehr die St&ouml;rung, die mich aus allen meinen Himmeln
+ri&szlig;. Die Friseuse, die Schneiderin, die W&auml;sche, die
+Besuche, &mdash; nichts durft ich vers&auml;umen. &raquo;W&auml;re ich ein
+Mann, es w&uuml;rde dir nicht einfallen, mich von der Arbeit
+abzurufen!&laquo; rief ich bei solcher Gelegenheit einmal verzweifelt
+Mama entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; nicht!&laquo; antwortete sie mit herbem L&auml;cheln,
+&raquo;da du aber ein Weib bist, mu&szlig;t du fr&uuml;hzeitig lernen,
+da&szlig; wir nie uns selbst geh&ouml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>Tante Klotilde fiel mir ein, die mir vor Jahren etwas
+&auml;hnliches gesagt hatte, und Groll gegen mein Schicksal
+erf&uuml;llte mich.</p>
+
+<p>Mit dem Fortschritt der Arbeit wurde meine Stimmung
+immer tr&uuml;ber. Ich f&uuml;hlte, da&szlig; ich meinem Werk den
+ganzen Gluthauch des Lebens, den ich dunkel empfand,
+nicht einzufl&ouml;&szlig;en vermochte. Der guten Lisbeth Beifall
+machte mich stutzig, nachdem ich erfuhr, wie wahllos sie
+<a name="Page_264" id="Page_264"></a>f&uuml;r alles schw&auml;rmte; der laute Ton des K&uuml;nstlerv&ouml;lkchens
+bei Landsbergs, der mir fr&uuml;her ersehnte Offenbarung
+nat&uuml;rlichen F&uuml;hlens gewesen war, tat mir weh, je mehr
+ich die falsche Note h&ouml;rte. Das Tiefste versteckten schlie&szlig;lich
+alle: wir durch schweigende Zur&uuml;ckhaltung, sie durch l&auml;rmende
+Heiterkeit. Ich zeigte Landsberg einige Szenen
+meines Werks, die mir am besten gelungen schienen.
+&raquo;Bringen Sies mir, wenn es vollendet ist, vielleicht l&auml;&szlig;t es
+sich auff&uuml;hren,&laquo; sagte er nach der Lekt&uuml;re, &mdash; nichts weiter.
+W&auml;re es das Au&szlig;erordentliche gewesen, das ich hatte
+schaffen wollen, er h&auml;tte sicherlich anders gesprochen!</p>
+
+<p>Ich hielt mich streng an klassische Vorbilder und
+&uuml;bertrug das urspr&uuml;nglich in Prosa oder in freien
+Rhythmen Geschriebene in f&uuml;nff&uuml;&szlig;ige Jamben. Alle
+W&auml;rme, alle Kraft ging dabei verloren. Je mehr ich
+umarbeitete, feilte, mit der Form und der Technik
+k&auml;mpfte, desto n&uuml;chterner und fremder sah mich meine
+eigene Arbeit an. Und schlie&szlig;lich kam ein Tag, an dem
+ich verzweifelt vor den vollgeschriebenen Bl&auml;ttern sa&szlig;,
+und wu&szlig;te, da&szlig; ich meiner Aufgabe nicht gewachsen
+war. Wie ein steuerloses Schiff auf brandendem Meere
+war ich wieder; eine Fata Morgana waren meine Hoffnungen
+gewesen; das Leben sah mich an, eine leere,
+dunkle, feuchtkalte H&ouml;hle, die von den Fackeln meiner
+Tr&auml;ume noch eben in magischem Zauber geleuchtet
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Ganz oder gar nicht,&laquo; &mdash; das war mir allm&auml;hlich
+zum Wahlspruch geworden. So verurteilte ich denn fast
+alles, was ich seit meiner Kindheit geschrieben hatte,
+zum Feuertode, verschn&uuml;rte und versiegelte das &Uuml;briggebliebene &mdash; darunter
+auch mein verungl&uuml;cktes j&uuml;ngstes<a name="Page_265" id="Page_265"></a>
+Werk &mdash; und warf den Schl&uuml;ssel der kleinen Truhe,
+in der ich es verwahrte, zum Fenster hinaus.</p>
+
+<p>Und nun &uuml;berfiel mich ein Heimweh nach den Bergen,
+so stark, so un&uuml;berwindlich, als w&auml;re ich dort zu Hause
+und &uuml;berall sonst in der Fremde. Auf meine Bitte, zu
+ihr ins Rosenhaus kommen zu d&uuml;rfen, antwortete Tante
+Klotilde umgehend, da&szlig; sie zwar noch nicht dort sei, die
+alte Kathrin aber alles zu ihrer Ankunft vorbereite und
+ich sie mit ihr dort erwarten m&ouml;ge. Ehe ich ging, zog
+ich meinem Schwesterchen noch zwei Puppen an, &mdash; Helgi
+und Sigrun. Sie liebte sie z&auml;rtlich, und noch
+Jahre nachher lachten mir ihre starren Porzelangesichter
+entgegen, als h&ouml;hnten sie meiner, die ich lebendige
+Menschen hatte schaffen wollen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_266" id="Page_266"></a></p>
+<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Allein in Grainau! &mdash; Noch lag der Schnee
+bis zum Tal hinunter, und die Sonne stand
+noch nicht hoch genug am Himmel, um mehr
+als ein paar Stunden am Tage das D&ouml;rflein wieder
+zu gr&uuml;&szlig;en, vor dem sie sich im Winter monatelang hinter
+den steilen W&auml;nden des Waxensteins versteckte. Nur im
+Rosensee spiegelte sie schon l&auml;nger ihr strahlendes Antlitz,
+als wollte sie sich &uuml;berzeugen, ob sie w&uuml;rdig des
+kommenden Fr&uuml;hlings w&auml;re. Der ri&szlig; hie und da keck
+an der grauen Wolkendecke und guckte mit seinem hellen
+blauen Himmelsauge neugierig auf die arme, kahle Erde
+herunter. Seltsam, wie wohl mir war, kaum da&szlig; die
+Loisach, voll und gelb von Schneewasser, mich l&auml;rmend,
+wie ein &uuml;berm&uuml;tiger Bub, willkommen hie&szlig;. Mich st&ouml;rten
+der Regen nicht und der Sturm, die mir k&uuml;hlend um
+Stirn und Wangen strichen; in den Lodenmantel gewickelt,
+ging ich all die vertrauten Wege, und niemand zankte
+mich, wenn ich zerzaust und beschmutzt nach Hause kam,
+oder gar die Mahlzeit vers&auml;umte. Die gute Kathrin
+sch&uuml;ttelte nur nachsichtig l&auml;chelnd den Kopf, streichelte
+mir mit einem z&auml;rtlichen: &raquo;Ach die liebe Jugend&laquo; die
+hei&szlig;en Wangen und lie&szlig; es sich nicht nehmen, mir die
+<a name="Page_267" id="Page_267"></a>gew&auml;rmten Str&uuml;mpfe und Schuhe selbst &uuml;ber die F&uuml;&szlig;e
+zu ziehen.</p>
+
+<p>War das eine Wonne, allein zu sein! &Uuml;ber mein
+Tun und Lassen selbst&auml;ndig zu entscheiden! Ein Schmetterling,
+der aus dem Puppenpanzer kriecht, konnte nicht
+froher sein als ich! Pl&ouml;tzlich &mdash; ich sa&szlig; grade unter
+tropfenden B&auml;umen auf der nassen Bank, die der Sepp
+mir gezimmert hatte &mdash; fielen mir meine achtzehn Jahre
+ein; &mdash; Himmel, war ich jung! Ganz &uuml;berw&auml;ltigt von
+dieser Erkenntnis, lief ich in gro&szlig;en Spr&uuml;ngen den Berg
+hinab und konnte mich vor Lachen nicht fassen, als ich
+der L&auml;nge nach im Moose lag.</p>
+
+<p>Tante Klotilde verschob ihre Ankunft von einer Woche
+zur andern. Wenn sie den Schnupfen hatte und das
+Wetter schlecht war, zitterte sie um ihre Stimme, und
+vor der R&uuml;cksicht auf deren Gef&auml;hrdung mu&szlig;te alles
+andere zur&uuml;ckstehen. Sie schickte mir ermahnende Briefe,
+in denen sie genau vorschrieb, wie weit ich allein gehen
+d&uuml;rfe &mdash; eine Viertelstunde im Umkreis wars h&ouml;chstens &mdash;,
+und sch&auml;rfte der Kathrin ein, gut auf mich aufzupassen.</p>
+
+<p>Indessen kam der Fr&uuml;hling, und die B&auml;ume steckten
+ihm zu Ehren ihre ersten gr&uuml;nen Bl&auml;tterf&auml;hnchen aus.
+Ich sa&szlig; schon stundenlang auf der Veranda in Tantens
+Schaukelstuhl &mdash; ohne Handarbeit, ohne Buch &mdash; und
+sonnte mich. Au&szlig;er mir und der Kathrin waren nur der
+alte G&auml;rtner und sein uralter Pudel im Haus, der im
+Stoizismus seines Greisentums das Bellen sogar schon
+aufgegeben hatte. Es war daher m&auml;uschenstill bei uns.
+Um so mehr erstaunte ich, als eine kr&auml;ftige M&auml;nnerstimme
+eines Morgens an mein Ohr schlug.</p>
+<p><a name="Page_268" id="Page_268"></a></p>
+<p>&raquo;Machen Sie mir doch nichts wei&szlig;,&laquo; rief sie, &raquo;ich
+hab doch meine Augen im Kopf, &mdash; und wette zehn
+gegen eins: das Rosenhaus ist bewohnt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber wahr und wahrhaftig, Durchlaucht, die Frau
+Baronin sind noch nicht hier!&laquo; greinte die Kathrin. Ein
+helles Gel&auml;chter war die Antwort.</p>
+
+<p>&raquo;Da k&ouml;nnten Sie am Ende recht haben &mdash; aber in
+der ganzen Welt gibt es nur einen so schwarzen Lockenkopf,
+wie der Alix ihrer, und den sah ich vom Ufer
+dr&uuml;ben. Gespenster sind nicht so h&uuml;bsch.&laquo;</p>
+
+<p>Hellmut wars! Ich lief hinaus und streckte ihm beide
+H&auml;nde entgegen. Die paar Jahre seit unserem letzten
+Zusammensein waren wie ausgewischt, und erst als ich
+sah, da&szlig; ein hochgewachsener Mann mit gebr&auml;untem
+Gesicht und keckem Schnurrb&auml;rtchen &uuml;ber den vollen Lippen
+vor mir stand, err&ouml;tete ich unwillk&uuml;rlich.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen &mdash; Sie nicht n&auml;her treten!&laquo; sagte ich z&ouml;gernd.</p>
+
+<p>&raquo;Aber Alix &mdash; &#8250;Sie!&#8249; Wir sind doch alte Freunde,&laquo;
+damit fa&szlig;te er meine Hand mit kr&auml;ftigem Druck und
+ging mit mir an den eben verlassenen Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch,
+w&auml;hrend Kathrin uns ganz bla&szlig; und geistesabwesend
+nachstarrte.</p>
+
+<p>Das Ungew&ouml;hnliche der Situation machte uns verlegen.
+Schweigend holte ich eine Tasse aus dem Schrank
+und go&szlig; ihm Tee ein, w&auml;hrend ich f&uuml;hlte, wie sein Blick
+auf mir ruhte.</p>
+
+<p>&raquo;Wie sch&ouml;n bist du geworden!&laquo; &mdash; fl&uuml;sterte er wie zu
+sich selbst. In dem Augenblick trat die Kathrin herein und
+rumorte mit eifriger Gesch&auml;ftigkeit im Zimmer. Das
+zwang uns zur Konversation, die, zuerst steif und gezwungen,
+allm&auml;hlich immer nat&uuml;rlicher wurde. Nach
+<a name="Page_269" id="Page_269"></a>dem Wie und Warum unseres Hierseins frugen wir einander,
+und ich erfuhr, da&szlig; ihn auf dem Wege nach
+Oberitalien in M&uuml;nchen pl&ouml;tzlich die Lust gepackt habe,
+die Berge von Garmisch wieder zu sehen. &raquo;Unserem
+Verwalter in Partenkirchen kam ich nicht gerade gelegen,&laquo;
+lachte er, &raquo;der hatte Gesellschaft in Mamas
+Salon, als ich eintrat. Ich habe ihm unter der Bedingung
+gn&auml;dig verziehen, da&szlig; er &uuml;ber meine Anwesenheit
+gegen jeden den Mund halten soll.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann sind wir beide inkognito,&laquo; rief ich fr&ouml;hlich,
+&raquo;die Tante findet n&auml;mlich im Grunde mein Alleinsein
+so kompromittierend, da&szlig; ich versprechen mu&szlig;te, mich in
+Garmisch nicht sehen zu lassen.&laquo;</p>
+
+<p>Bis gegen Mittag blieb er. Der guten Kathrin
+warnende Blicke, die ich zuweilen auffing, nahmen mir
+den Mut, ihn zu Tisch einzuladen. Am n&auml;chsten Morgen
+aber, vor seiner Weiterreise, versprach er, mir eine
+&raquo;feierliche Abschiedsvisite&laquo; zu machen.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn das die Frau Baronin w&uuml;&szlig;te!&laquo; sagte die
+Kathrin seufzend, als er weg war.</p>
+
+<p>Es regnete in Str&ouml;men, als ich am folgenden Tage
+erwachte &raquo;Nun kommt er sicher nicht,&laquo; war mein erster
+Gedanke, und mi&szlig;mutig zog ich die Decke wieder &uuml;ber
+die Schultern. Aber eine leise Hoffnung tauchte gleich
+darnach auf und zwang mich, statt des allt&auml;glichen
+Lodenrocks ein h&uuml;bsches, helles Hauskleid aus dem
+Schrank zu holen. Kaum sa&szlig; ich am summenden Teekessel,
+als ich drau&szlig;en sein fr&ouml;hliches &raquo;Gr&uuml;&szlig; Gott,
+Fr&auml;ulein Kathrin&laquo; h&ouml;rte. &raquo;Na&szlig; bin ich wie 'ne Katze,
+aber pudelwohl, &mdash; Sie sehen, die Viecher vertragen sich
+auch im Menschen,&laquo; f&uuml;gte er hinzu, und selbst die wohl<a name="Page_270" id="Page_270"></a>erzogene
+Dienerin erlaubte sich, zu lachen. Sie lie&szlig;
+uns sogar allein &mdash; es war ja das letztemal, mochte sie
+sich zur eigenen Beruhigung sagen.</p>
+
+<p>Wie war es behaglich im Zimmer, w&auml;hrend drau&szlig;en
+der Regen an den Fenstern niedertroff! Wir fr&uuml;hst&uuml;ckten
+und plauderten miteinander, ganz wie alte Vertraute,
+und setzten uns schlie&szlig;lich vor den kleinen Kamin, der
+eine wohlige W&auml;rme ausstrahlte. &raquo;Wie w&auml;rs mit
+einer Zigarette? frug er und hielt mir die gef&uuml;llte
+Dose hin.</p>
+
+<p>&raquo;In diesen heiligen Hallen?&laquo; antwortete ich, halb erschrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Bis die Gestrenge kommt, ist der Duft verflogen. &mdash; &mdash; Ich
+mu&szlig; dir was erz&auml;hlen, Alix, und das geht
+nicht ohne den Glimmstengel. Der macht Mut, wei&szlig;t
+du!&laquo; Wir rauchten eine Zeitlang schweigend.</p>
+
+<p>&raquo;Du mu&szlig;t mich nicht so ansehen,&laquo; fing er schlie&szlig;lich
+wieder an, &raquo;sonst kommts mir gar zu komisch vor, da&szlig;
+ich dir Gest&auml;ndnisse mache, wie einem Kameraden.&laquo; Ich
+r&uuml;ckte l&auml;chelnd den Stuhl zur Seite und sah geradaus
+ins Feuer. &raquo;Ists recht so?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Fein! &mdash; Wenn du nur nicht ein so verdammt
+h&uuml;bsches Profil h&auml;ttest! &mdash;&laquo; Er schwieg aufs neue.
+Nach ein paar Minuten aber begann er: &raquo;Ich habe &mdash; Dummheiten
+gemacht in Berlin. Es hat der armen
+Mama, die so nicht auf Rosen gebettet ist, einen t&uuml;chtigen
+Happen Geld gekostet, die Sache in Ordnung zu
+bringen &mdash;.&laquo; Ein bi&szlig;chen erschrocken wandte ich den
+Kopf nach ihm &mdash; &raquo;es war nichts Gemeines, Alix &mdash; Kind,
+gewi&szlig; nicht. Du kannst ja nicht wissen, wies
+unsereinem geht. Wir sind nicht von Stein &mdash; die jungen<a name="Page_271" id="Page_271"></a>
+M&auml;dels der Gesellschaft sind steif und langweilig wie
+Holzpuppen, &mdash; und wenn sies nicht sind, ists ihr Ungl&uuml;ck.&laquo;
+Ich fuhr zusammen. &mdash; &raquo;Kannst am Ende selbst
+ein Lied davon singen, was?! &mdash; Kurz und gut, siehst
+du, ich verliebte mich eines Tages in eine Ballettratte &mdash; einen
+s&uuml;&szlig;en, kleinen K&auml;fer, sag ich dir &mdash;&laquo;, zu dumm,
+da&szlig; ich mich in diesem Augenblick bis zu Tr&auml;nen &auml;rgerte &mdash; &raquo;aber
+gr&auml;&szlig;lich ungebildet. Ich habe sie eigentlich
+nur zwei Tage gern gehabt, nachher wars Gewohnheit,
+Mitleid, &mdash; was wei&szlig; ich&laquo; &mdash; er war aufgestanden und
+ging unruhig im Zimmer hin und her, die Zigarette
+zwischen den Fingern zerdr&uuml;ckend. &raquo;Ich konnte schlie&szlig;lich
+nicht l&auml;nger &mdash; ich mu&szlig;te frei sein! Ihr Vater
+lief spornstreichs zu Mama und heulte ihr was von
+zerst&ouml;rtem Leben, geraubter Ehre usw. vor. Mir gegen&uuml;ber
+hatte er bis dahin den untert&auml;nig-dankbarsten Diener
+gemimt. Das &uuml;brige kannst du dir am Ende vorstellen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich zitterte vor Erregung. Mich hatte ein Gedanke
+gepackt, der mich nicht minder los lie&szlig;. &raquo;Hat sie &mdash; ein &mdash; Kind?&laquo;
+stie&szlig; ich mit aller Anstrengung hervor.
+Verbl&uuml;fft blieb er vor mir stehen. &raquo;Du bist wirklich
+aus der Art geschlagen, Alix,&laquo; damit streckte er mir die
+Hand entgegen. &raquo;Meine Hand drauf: nein! W&auml;re
+das Ungl&uuml;ck geschehen, ich h&auml;tte anders gesprochen! &mdash; Aber
+wir sind noch nicht zu Ende. Man hat mich auf
+Urlaub geschickt &mdash; nach Italien, wie du siehst! &mdash;, und
+wenn die Galgenfrist zu Ende ist, soll ich &mdash; heiraten!&laquo;
+Mit komischem Entsetzen rang er die H&auml;nde.</p>
+
+<p>&raquo;Wen?&laquo; frug ich, w&auml;hrend mir das Herz h&ouml;rbar
+schlug.</p>
+
+<p>&raquo;Wen?! Ein kleines Prinze&szlig;chen nat&uuml;rlich, semmel<a name="Page_272" id="Page_272"></a>blond &mdash; du
+wei&szlig;t, wie ich so was liebe! &mdash;, bleichs&uuml;chtig,
+eine Figur wie ein wohlgehobeltes Brett.&laquo;
+Ich sp&uuml;rte mit heimlicher Freude den raschen Blick, der
+zu mir her&uuml;berzog. &raquo;Die Ebenb&uuml;rtigen mit dem n&ouml;tigen
+Mammon laufen nicht zu Dutzenden in der Welt herum.
+Und eine Ebenb&uuml;rtige mu&szlig; es sein, Mama tr&auml;umt doch
+st&auml;ndig, da&szlig; ihrem Einzigen Vetter Georgs Krone eines
+sch&ouml;nen Tages auf den Dickkopf f&auml;llt! Eine Reiche
+nat&uuml;rlich auch, &mdash; du wei&szlig;t ja, in wie schmerzlichen
+Widerspruch unser Portemonnaie zu dem Glanz unseres
+Namens steht!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und du?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;nsche ihm ein langes Leben, eine t&uuml;chtige
+Frau und ein Dutzend Jungens! Zum Regieren hab ich
+kein Talent, und zum Heiraten am allerwenigsten. Das
+wei&szlig; ich eigentlich erst seit gestern. In der Stickluft
+Berlins, angesichts des versammelten Familienrats
+war ich ganz klein. Aber wie ich gestern von dir
+ging, bin ich noch bis in die Nacht hinein in den
+Bergen herumgeklettert und habe mir einen ordentlichen
+Gletscherwind um die Nase pfeifen lassen. Heute wei&szlig;
+ich: es geht nicht &mdash; m&ouml;gen sie mich meinetwegen zu
+den Insterkosaken versetzen, ich kann die Ebenb&uuml;rtige
+nicht heiraten.&laquo;</p>
+
+<p>Er wandte mir den R&uuml;cken und sah in den Regen
+hinaus.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht&laquo; &mdash; wiederholte er leise, &raquo;ich mu&szlig;
+Eine haben, die ich liebe &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Es war ganz still zwischen uns. Nur die Uhr tickte
+laut und heftig.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte hier bleiben, Alix,&laquo; sagte er nach einer<a name="Page_273" id="Page_273"></a>
+Weile mit ruhigem Ernst. &raquo;Ich brauche die Einsamkeit
+und &mdash; dich. Du mu&szlig;t mir helfen &uuml;berlegen, was aus
+mir werden soll!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So bleibe, Hellmut,&laquo; antwortete ich rasch, aber im
+selben Augenblick fiel mir die Kathrin ein, und die Tante,
+und das Gerede der Leute; und schon kam sie selbst,
+meine getreue W&auml;chterin, und sagte, nachdem sie das
+Geschirr m&ouml;glichst langsam abger&auml;umt hatte:</p>
+
+<p>&raquo;Soll der Christoph f&uuml;r Durchlaucht einen Wagen
+bestellen? Er geht gerad ins Dorf hinunter.&laquo;</p>
+
+<p>Hellmut stieg das Blut in den Kopf. Er verstand.
+&raquo;Nein,&laquo; sagte er, &raquo;ich gehe zu Fu&szlig;. Es ist nicht n&ouml;tig,
+da&szlig; noch mehr Leute von meinem Hiersein wissen.&laquo;
+Die Kathrin sah ihn zweifelnd an. &raquo;F&uuml;rchten Sie
+nichts f&uuml;r Ihr gn&auml;diges Fr&auml;ulein, Kathrin,&laquo; fuhr
+er fort, &raquo;ich bin ihr bester Freund und werde nicht
+dulden, da&szlig; ihr auch nur ein H&auml;rchen gekr&uuml;mmt wird.&laquo;
+Als sie sich daraufhin stumm entfernt hatte, wandte er
+sich zu mir:</p>
+
+<p>&raquo;O &uuml;ber die verdammten R&uuml;cksichten auf die Gemeinheit
+der anderen! Ists nicht das nat&uuml;rlichste von der
+Welt, da&szlig; wir hier zusammen sitzen? Und nun &mdash;!
+Ich kann nicht wiederkommen, &mdash; deinetwegen nicht!&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.
+Zugleich kam mirs feige und erb&auml;rmlich vor, ihn so
+gehen zu lassen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin viel drau&szlig;en,&laquo; sagte ich z&ouml;gernd und verlegen,
+&raquo;wenn du mich brauchst, wie du sagst, dann &mdash; dann
+k&ouml;nnten wir uns irgendwo treffen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hab Dank, herzlichen Dank, Alix. Aber das macht
+die Sache nicht besser. &mdash; Uns ein heimliches Rendezvous
+<a name="Page_274" id="Page_274"></a>geben, wie &mdash; wie ... nein, das kann ich dir nicht antun.
+Machen wirs kurz: Lebwohl.&laquo; Er zog meine Hand an
+die Lippen und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten,
+rasch zur T&uuml;re.</p>
+
+<p>In mir kochte es. Ah, wer diesen G&ouml;tzen der Konvention
+zerschmettern k&ouml;nnte, auf dessen Altar unsere
+besten Gef&uuml;hle und sch&ouml;nsten Stunden verbluteten, dem
+zu Ehren wir unsere freien Glieder in Fesseln schlugen.
+Gegen Abend, als ich aus der Gartent&uuml;r trat, sprang
+mir ein kleiner Bub in den Weg und hielt mir einen
+Strau&szlig; Schneegl&ouml;ckchen entgegen. Schon zog ich die
+B&ouml;rse, um sie zu kaufen, da dr&uuml;ckte der &Uuml;berbringer ihn
+mir schelmisch lachend in die Hand und rannte davon.
+Jetzt entdeckte ich erst den Brief, der um die Stiele
+gewickelt war.</p>
+
+<p>&raquo;Im Begriff, abzureisen,&laquo; schrieb Hellmut &raquo;sende ich
+meiner lieben Freundin diese Bl&uuml;mchen, die einzigen,
+die ich auftreiben konnte. Ich fahre direkt nach Berlin.
+So leid es mir Mamas wegen tut, &mdash; mein Entschlu&szlig;
+steht fest: ich will frei bleiben. Auch wenn ich den
+Adler auf dem Helm opfern mu&szlig;. Ich werde mich zu
+den Ludwigsluster Dragonern versetzen lassen und scheide
+von Dir mit der Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen in
+Schwerin und auf eine freundliche Fortsetzung unserer
+unterbrochenen Gespr&auml;che.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 10em;">Dein alter Freund</span><br />
+<span style="margin-left: 17em;">Hellmut.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Meine Freude war so gro&szlig;, da&szlig; ich sie allein gar
+nicht tragen konnte. Die alte Kathrin mu&szlig;te, so sehr
+sie sich auch zierte, beim Abendessen neben mir sitzen
+und den Wein mit mir trinken, den ich mir selbst aus
+<a name="Page_275" id="Page_275"></a>dem Keller geholt hatte. Schlie&szlig;lich rief ich den Pudel
+herein und trieb ihn im Zimmer so lange im Kreise
+umher, bis vergessene Jugenderinnerungen in ihm aufd&auml;mmerten
+und er, fr&ouml;hlich mit dem Schwanze wedelnd,
+in ein heiseres Bellen ausbrach.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mitte Juni war ich wieder in Schwerin. In
+vier Wochen stand der Einzug des Gro&szlig;herzogs
+bevor, dem eine Reihe von Festlichkeiten
+aller Art folgen sollte. Unm&ouml;glich konnte ich
+meiner Mutter alle Toilettensorgen allein &uuml;berlassen,
+und meine Tante, die kurz nach Hellmuts Abreise
+in Grainau eingetroffen war, schenkte mir aus lauter
+R&uuml;hrung &uuml;ber meine Pflichttreue ein rosaseidenes
+Kleid, von wei&szlig;em, goldgesticktem T&uuml;ll &uuml;berrieselt. Nun
+sa&szlig; ich zu Mamas hellem Erstaunen selbst in der
+Schneiderstube. &raquo;Das sind ja ganz neue Talente, die
+du entwickelst,&laquo; sagte sie, w&auml;hrend ich unerm&uuml;dlich anprobierte,
+steckte und heftete, nur die mechanische Vollendung
+der Arbeit der N&auml;herin &uuml;berlassend. Niemand
+sollt' es merken, da&szlig; unsere Kleider nicht bei Gerson gearbeitet
+worden waren. Es war mir beinahe st&ouml;rend,
+da&szlig; ein paar unentwegte Verehrer vom vorigen Winter
+zu meinem Geburtstag eine Landpartie arrangiert hatten,
+die mich einen ganzen Tag Arbeitsunterbrechung kosten
+w&uuml;rde. Schlie&szlig;lich aber am&uuml;sierte ich mich dabei k&ouml;stlich
+und lie&szlig; mir vergn&uuml;gter denn je den Hof machen.
+Wir lagerten gerade unter den Buchen und lie&szlig;en die
+Sektpfropfen knallen, als mein Vater erschien, der am<a name="Page_276" id="Page_276"></a>
+Vormittag nicht hatte abkommen k&ouml;nnen, und eine himmelblaue
+Uniform neben ihm auftauchte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bringe Se. Durchlaucht den Prinzen Hellmut
+gleich mit, der uns heute seinen Besuch hat machen
+wollen,&laquo; sagte Papa. Alle waren aufgesprungen und
+verstummt. Jeder Prinz, selbst der kleinste, ruft in
+jedem, selbst dem vornehmsten Kreis, eine Verlegenheitspause
+hervor. Hellmut verbeugte sich und trat dann
+rasch zu mir, die ich mich allein von meinem Rasenplatz
+nicht ger&uuml;hrt hatte. &raquo;Diesen Tag habe ich mir zu
+meiner Antrittsvisite ausgesucht, um Ihnen als alter
+Freund meine ergebensten Gl&uuml;ckw&uuml;nsche zu F&uuml;&szlig;en zu
+legen.&laquo; Bei der f&ouml;rmlichen Anrede sah ich erstaunt zu
+ihm auf.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen, Durchlaucht, da&szlig; Sie sich meiner
+erinnern,&laquo; antwortete ich mit kaum verh&uuml;lltem Spott.</p>
+
+<p>Als wir nachher ziemlich isoliert beieinander sa&szlig;en, &mdash; die
+anderen hielten sich trotz all ihrer Neugierde in respektvoller
+Entfernung &mdash;, erkl&auml;rte er mir sein Verhalten.
+Mein Vater hatte ihn gebeten, von dem &raquo;Du&laquo; unserer
+Kindheit Abstand zu nehmen, &raquo;Sie kennen die Klatschm&auml;uler
+kleiner Residenzen zu gut, um meinen Wunsch
+mi&szlig;zuverstehen,&laquo; hatte er hinzugef&uuml;gt. Er war ein
+schlechter Psychologe, der gute Papa! Er h&auml;tte wissen
+m&uuml;ssen, da&szlig; dieses Verbot unseren Beziehungen die
+Harmlosigkeit nahm und ihnen den Stempel der Heimlichkeit
+aufdr&uuml;ckte. Wir kehrten ohne Verabredung zum
+Du zur&uuml;ck, sobald wir allein waren, und redeten uns
+vor anderen, belustigt &uuml;ber die Kom&ouml;die, die wir den
+Dummen vorspielten, &raquo;Durchlaucht&laquo; und &raquo;gn&auml;digstes
+Fr&auml;ulein&laquo; an.</p>
+
+<p><a name="Page_277" id="Page_277"></a>Strahlende Sommertage kamen. Die Jahreszeit, in
+der wir geboren wurden, hat eine geheimnisvolle Bedeutung
+f&uuml;r unser Leben. Nie f&uuml;hle ich das Dasein mit
+seinen Schrecken und Schmerzen, seinen Wonnen und
+Seligkeiten so stark und tief, als wenn dem Himmel
+und der Erde Glutwellen entstr&ouml;men. Wie die Rosenknospe
+sich &ouml;ffnet und sich bis zur Tiefe ihres goldenen
+Kelchs der leuchtenden Sonne preisgibt, so &ouml;ffnet sich
+dann mein Herz.</p>
+
+<p>An einem Julimorgen zogen unter klingendem Spiel
+und wehenden Fahnen Friedrich Franz II. und Anastasia,
+seine Gemahlin, durch die Stra&szlig;en von Schwerin zum
+Schlo&szlig;. Am Abend desselben Tages, w&auml;hrend der
+Mond hoch am Himmel stand und das M&auml;rchenschlo&szlig;
+in silberne Schleier h&uuml;llte, war der ganze See von
+gro&szlig;en und kleinen, mit tausenden bunter Lampen geschm&uuml;ckten
+Schiffen belebt. Bis hoch in die Masten
+schwangen sich die Lichterketten, und Blumengirlanden
+schleiften im schimmernden Wasser.</p>
+
+<p>Nur wenige W&uuml;rdentr&auml;ger waren an diesem Abend
+ins Schlo&szlig; geladen, um von den Terrassen des Burggartens
+aus dem Schauspiel unten zuzusehen. Wir geh&ouml;rten
+dazu, und Hellmut auch, der der Suite des vornehmsten
+Gastes, des K&ouml;nigs von Griechenland, attachiert
+worden war.</p>
+
+<p>Abseits stand ich unter den Taxushecken, als eine
+Stimme hinter mir fl&uuml;sterte: &raquo;Komm mit.&laquo; Ich nahm
+den Arm, der sich mir bot, und f&uuml;hlte bebend den Druck,
+mit der er den meinen an sich pre&szlig;te.</p>
+
+<p>Versteckt zwischen den Rotdornb&uuml;schen lag drunten ein
+Boot. Es trug keine Lichter, nur Kissen und Decken und
+<a name="Page_278" id="Page_278"></a>zu F&uuml;&szlig;en der Sitze in hellen K&ouml;rben eine F&uuml;lle von
+Rosen. Wir fuhren dicht am umbuschten Ufer entlang
+und hinaus, wo der See immer dunkler und einsamer
+wurde. Wie ein Heer von Gl&uuml;hw&uuml;rmchen erschienen
+von hier aus die Lichter der Schiffe, w&auml;hrend der Mond
+gro&szlig; und majest&auml;tisch zu uns hernieder sah.</p>
+
+<p>&raquo;Frierst du, Alix?&laquo; &mdash; Er zog die Ruder ein und
+h&uuml;llte mich knieend fester in die Decken. Seine Hand,
+die meinen blo&szlig;en Arm ber&uuml;hrte, war hei&szlig; und zitterte,
+und durch mein Herz zuckte ein schneidender Schmerz,
+der dabei doch so seltsam wohl tat ... Wir sahen einander an, &mdash; tief
+und fest.</p>
+
+<p>Da tauchte ein anderes dunkles Boot neben uns auf.</p>
+
+<p>&raquo;Durchlaucht verzeihen &mdash; die Herrschaften brechen
+auf &mdash;, darf ich meine Hilfe anbieten?&laquo; Graf Waldburg
+wars, ein Regimentskamerad des Prinzen, der rasch
+entschlossen in unser Boot sprang, mitten in die bunten
+Schiffe hineinruderte, wo wir &mdash; zu dritt! &mdash; von allen
+Seiten gesehen wurden und mit unseren Rosen in die
+Blumenschlacht eingriffen; zusammen erschienen wir im
+Burggarten in der Gesellschaft und erz&auml;hlten so harmlos
+als m&ouml;glich von unsrer lustigen gemeinsamen Fahrt.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen, Waldburg,&laquo; fl&uuml;sterte Hellmut. Noch
+ein Zusammenschlagen der Sporen, ein h&ouml;flich-k&uuml;hles
+Kopfneigen als Antwort von mir, und ich schritt hinter
+den Eltern dem Wagen zu, der uns heim brachte.</p>
+
+<p>Wie lauter Tr&auml;ume folgten einander die Sommertage.
+Krachende, kurze Gewitter schienen die sonst so schwere
+Luft Mecklenburgs immer wieder zu zerstreuen; die Jugend
+wagte es pl&ouml;tzlich, jung zu sein, und die Alten l&auml;chelten
+nachsichtig dar&uuml;ber.</p>
+
+<p><a name="Page_279" id="Page_279"></a>Der sonst so stille Park war voller Leben: wir tanzten
+auf glattem Rasen zwischen buntbewimpelten Masten;
+wir spielten alte traute Kinderspiele unter dem Schatten
+der B&auml;ume; und, m&uuml;de geworden, verloren wir uns in
+den geschnittenen Bucheng&auml;ngen, vorbei an springenden
+Wasserk&uuml;nsten und verwitterten G&ouml;tterbildern. Blind
+und taub f&uuml;r die Welt um uns her, und doch wie
+gefeit durch die Weihe der Hohenzeit des Jahres, bewegten
+wir uns unter den Menschen.</p>
+
+<p>Oft ging es in bekr&auml;nzten Wagen weiter hinaus in
+die W&auml;lder, oder an einen der ferneren Seen, von
+denen jeder uns sch&ouml;ner d&uuml;nkte als der andere: der eine,
+weil er sich schmal und lang zum Horizont erstreckte,
+von freundlichen D&ouml;rfern rings umgeben, der andere,
+weil er einsam und dunkel zwischen bewaldeten H&uuml;geln
+lag. Oder wir ritten am taufrischen Morgen mit verh&auml;ngten
+Z&uuml;geln querfeldein, wo oft meilenweit kein
+Mensch uns begegnete, kein Haus zu sehen war, bis ein
+stattlicher Gutshof auftauchte, die &auml;rmlichen Tagl&ouml;hnerh&auml;user
+&uuml;berragend, &mdash; ein verkleinertes Abbild von
+Schwerin. Wenn ich sie sah, pflegte ich schon von
+weitem Kehrt zu machen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie f&uuml;rchten sich wohl vor den Dorfk&ouml;tern?&laquo; meinte
+bei solcher Gelegenheit eine schnippische Freundin. &raquo;Das
+traut mir wohl keiner zu,&laquo; antwortete ich, &raquo;aber ich
+sch&auml;me mich vor den armen Leuten.&laquo; Alles lachte; nur
+Hellmut wandte sich mir zu und sagte: &raquo;Das w&uuml;rden
+die armen Leute am wenigsten verstehen. Ich glaube,
+da&szlig; sie f&uuml;r uns nichts empfinden als Neugierde und
+Bewunderung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Um so schlimmer! Ich verstehe sie nur, wenn sie
+<a name="Page_280" id="Page_280"></a>mit Steinen nach uns werfen,&laquo; entgegnete ich laut und
+dr&uuml;ckte meiner Stute die Peitsche in die Flanke, so da&szlig;
+sie gehorsam in langen Galopp verfiel. Hellmut aber
+blieb mir dicht zur Seite, griff mit der Rechten kr&auml;ftig
+in meine Z&uuml;gel und sagte, w&auml;hrend seine hellen Augen
+mich &uuml;berm&uuml;tig anblitzten: &raquo;Wirst du mir nicht davongehen,
+du S&uuml;&szlig;e, Wilde!&laquo; Mein Groll war verflogen, &mdash; da&szlig;
+ich mich ihm, dem Starken, unterwerfen durfte, &mdash; welch
+tiefe Seligkeit war das!</p>
+
+<p>Einmal waren wir nach Rabensteinfeld hin&uuml;ber gerudert,
+dem stillen Witwensitz der alten Gro&szlig;herzogin. Mit
+dem Dampfschiff war uns eine gro&szlig;e Gesellschaft vorausgefahren,
+lauter &auml;ltere und gesetzte Angeh&ouml;rige, die zuweilen
+die Verpflichtung f&uuml;hlten, uns Jugend zu besch&uuml;tzen.
+Ich hielt das nie lange aus und war stets
+die erste, die Mittel und Wege fand, aus ihrem Gesichtskreis
+zu verschwinden. Hellmut benahm sich korrekter
+und wollte die Form nicht verletzen. Auch jetzt stand
+ich mit einem lachenden: &raquo;Wer kein Philister ist, folgt
+mir,&laquo; vom Teetisch auf und ging hinunter an das
+Seeufer. Ein paar junge Herren kamen mir nach, und
+emp&ouml;rt &uuml;ber Hellmuts Eigensinn, kokettierte ich mit ihnen
+in erzwungner Lustigkeit.</p>
+
+<p>Als wir in der Abendd&auml;mmerung zu Fu&szlig; heimkehrten,
+gesellte er sich endlich wieder zu mir. Eine tiefe Falte
+grub sich zwischen seine Brauen, die seinem sonst so guten
+Gesicht einen b&ouml;sen Ausdruck verlieh. &raquo;Das darfst du
+mir nicht wieder antun &mdash; h&ouml;rst du,&laquo; zischte er mich an
+und eisern umklammerten seine Finger mein Handgelenk.
+&raquo;Verzeih mir &mdash;,&laquo; fl&uuml;sterte ich, &raquo;aber warum hast du
+mich allein gelassen?&laquo; &mdash; &raquo;Wei&szlig;t du nicht, da&szlig; ich alles
+<a name="Page_281" id="Page_281"></a>nur um deinetwillen tue?&laquo; &mdash; Ganz weich war seine
+Stimme dabei, und schweigsam gingen wir nebeneinander,
+die Worte waren zu arm f&uuml;r die F&uuml;lle unseres Gef&uuml;hls.</p>
+
+<p>An einem anderen gl&uuml;hhei&szlig;en Sommertag gab das
+Grenadier-Regiment ein Fest im Jagdschlo&szlig; von Friedrichstal.
+Hei&szlig; und ermattet vom Tanz und vom Spiel, gingen
+wir alle zum Neum&uuml;hler See herunter, wo die Buchen
+und Birken &uuml;ber dem Uferweg dichte Lauben bilden.
+Allm&auml;hlich zerstreute sich die Menge hier- und dorthin;
+wir blieben nur zu f&uuml;nfen beieinander, &mdash; zwei M&auml;dchen
+und drei Herren. An einer kleinen dichtumbuschten
+Bucht lagerten wir, und die Lust packte mich, die F&uuml;&szlig;e
+im Wasser zu k&uuml;hlen. Meine Gef&auml;hrtin err&ouml;tete dunkel
+bei meiner Aufforderung, es mir nach zu tun. &raquo;Du, das
+ist unpassend,&laquo; fl&uuml;sterte sie mir leise zu. &raquo;Unpassend?&laquo;
+wiederholte ich laut, &raquo;zeigst du vielleicht nicht deine
+H&auml;nde, deine Arme, deinen Hals, &mdash; warum nicht deine
+F&uuml;&szlig;e?&laquo; &mdash; &raquo;Bravo, bravo,&laquo; applaudierte einer der Herren.
+Das stachelte mich auf, und keck von einem zum anderen
+blickend, fuhr ich fort: &raquo;Soll ich euch sagen, was wir
+alle wissen und ihr nur nicht zu sagen euch getraut? &mdash; Wir
+sch&auml;men uns nur unserer H&auml;&szlig;lichkeit &mdash;&laquo; Damit
+hatte ich rasch Schuhe und Str&uuml;mpfe abgestreift.</p>
+
+<p>Eine beklemmende Stille trat ein; ich wagte nicht,
+mich umzusehen, mein Blick haftete auf meinen nackten
+F&uuml;&szlig;en, als s&auml;he ich sie zum erstenmal, &mdash; sie waren
+so wei&szlig;, so schrecklich wei&szlig;! &mdash; mir stieg das Blut
+bis in die Stirne. Ich ber&uuml;hrte scheu das Wasser mit
+den Zehen. &raquo;Es &mdash; es ist &mdash; zu kalt,&laquo; brachte ich
+m&uuml;hsam hervor und zog die F&uuml;&szlig;e rasch unter die Kleider.
+Ein Ger&auml;usch verriet mir, da&szlig; die Herren sich entfernten;
+<a name="Page_282" id="Page_282"></a>die Kleine neben mir, noch r&ouml;ter und verlegener als ich,
+half mir rasch beim Anziehen und lief dann auch davon.
+Langsam erhob ich mich, &mdash; die Glieder waren mir
+schwer, &mdash; da stand Hellmut vor mir &mdash; ein paar
+Schwei&szlig;tropfen auf der Stirn und doch ganz bla&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Nun baue ich Tag um Tag eine Mauer um dich,
+damit nichts und niemand dir zu nahe treten kann, und
+du &mdash; du gibst dich diesen &mdash; diesen Schurken preis,&laquo;
+kam es stockend &uuml;ber seine Lippen. Mir st&uuml;rzten die
+Tr&auml;nen aus den Augen, &mdash; doch schon hatten seine Arme
+mich umschlungen, und sein Mund pre&szlig;te sich auf den
+meinen, und die hei&szlig;en, lang zur&uuml;ckged&auml;mmten Wogen
+der Leidenschaft schlugen &uuml;ber uns zusammen.</p>
+
+<p>Wie wir uns trennten, wie ich nach Hause kam, &mdash; ich
+wei&szlig; nichts mehr davon. Ich wei&szlig; nur, da&szlig; ich
+am weit ge&ouml;ffneten Fenster sa&szlig; und die linde Nachtluft
+tief und langsam einsog, als h&auml;tte ich nie vorher die
+Wonne des Atmens gekannt. Dann stockte mein Herzschlag, &mdash; ein
+fester Tritt, ein schleppender S&auml;bel unterbrachen
+die Stille, ein lichtes Blau schimmerte durch die
+B&uuml;sche des Gartens. &raquo;Alix &mdash;&laquo; klang es sehns&uuml;chtig. &mdash; Und
+ich nahm die Rose, die mir noch zerdr&uuml;ckt im G&uuml;rtel
+hing und warf sie in zwei ge&ouml;ffnete H&auml;nde.</p>
+
+<p>Alles Denken war ausgel&ouml;scht in meinem Hirn, ich
+f&uuml;hlte nur mit gesteigerter Intensit&auml;t. Morgens am
+Kaffeetisch umarmte ich z&auml;rtlich den Vater, &mdash; es fiel
+mir pl&ouml;tzlich schwer aufs Herz, da&szlig; ich seiner r&uuml;hrenden
+Liebe stets so k&uuml;hl begegnet war &mdash;. &raquo;Du hast ja schon
+in aller Fr&uuml;he illuminiert,&laquo; sagte er und streichelte mir
+halb erstaunt, halb begl&uuml;ckt die Wangen. Sch&uuml;chtern
+und schuldbewu&szlig;t k&uuml;&szlig;te ich der Mutter die H&auml;nde, &mdash; wie
+<a name="Page_283" id="Page_283"></a>schlecht hatte ich bisher ihre Treue gelohnt! &mdash; ach,
+und wie ernst und verh&auml;rmt sah sie aus! Als
+aber das Schwesterchen hereinsprang, hob ich sie auf
+den Scho&szlig; und fl&uuml;sterte in ihr rosiges, von lauter Goldl&ouml;ckchen
+umspieltes Ohr: &raquo;Du &mdash; ich wei&szlig; was ganz
+Heimliches: heut nacht tanzten die Nixen mit dem
+grauen Schlo&szlig;zwerg, bis er vor lauter Atemnot auf
+den Rasen plumpste. Ich glaub' immer, da liegt er
+noch und schnarcht, und die Nixen haben vor Lachen
+den Heimweg ins Wasser vergessen. Komm schnell
+hinaus, &mdash; am Ende sehn wir sie noch!&laquo; Sie jubelte
+hell auf vor Freude, und richtig, &mdash; zehn Minuten sp&auml;ter
+waren wir unten am See.</p>
+
+<p>Klein-Ilschen suchte &mdash; ich aber war still und ernst geworden
+und sah hin&uuml;ber zum fernen jenseitigen Ufer: sollte
+das Gl&uuml;ck, das mir dort begegnet war, auch nur ein n&auml;chtlicher
+Spuk gewesen sein? &mdash; Wir fanden die Nixen nicht &mdash; Klein-Ilschen
+war b&ouml;se. Wie wir langsam heimw&auml;rts
+gingen, kam ein Reiter uns entgegen, &mdash; ich wagte kaum
+aufzusehen. Doch schon war er neben mir und hielt
+den Fuchs am Z&uuml;gel. &raquo;Willst du reiten, Kleine?&laquo;
+sagte er und hob das Schwesterchen, dessen Leidenschaft
+Pferde waren, in den Sattel. Still gingen wir weiter,
+unsere Augen aber versenkten sich ineinander, tief, immer
+tiefer, &mdash; bis sie Gewi&szlig;heit hatten und auch im fernsten
+Winkel der Seele nichts Lebendiges fanden als nur das
+eigene Bild.</p>
+
+<p>&raquo;Die Nixen waren weg,&laquo; sagte das Schwesterchen
+zu Hause zu Mama, &raquo;aber Prinz Hellmut lie&szlig; mich
+reiten!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Prinz Hellmut?!&laquo; Ein rascher mi&szlig;trauischer Blick
+<a name="Page_284" id="Page_284"></a>streifte mich. Ich wandte mich zu den Fenstern und
+ordnete eifrig die vielen kleinen Lichter zur abendlichen
+Illumination.</p>
+
+<p>Der Gro&szlig;herzogin Geburtstag war heute; mit dem
+pr&auml;chtigsten und zugleich dem letzten Fest dieses Sommers
+sollte er gefeiert werden. Verwandte und Freunde des
+Hofes, Deputationen der Garde-Regimenter, der ganze
+Adel Mecklenburgs waren in Schwerin versammelt.
+Stundenlang rollten auch vor unserem Hause die Wagen,
+und die Besucher kamen und gingen; Staatsvisiten
+waren es zumeist, aber auch solche guter alter Bekannter.
+Im wei&szlig;en Spitzenkleid, ein paar gelbe Rosen im G&uuml;rtel,
+stand ich im Salon, neigte mich vorschriftsm&auml;&szlig;ig &uuml;ber
+die H&auml;nde der Damen und senkte den Kopf vor den
+Herren. Was mich sonst erm&uuml;dete, machte mich heute
+froh, denn mit gesch&auml;rften Augen sah ich die Menge
+der bewundernden Blicke. Wie ich mich dann am sp&auml;ten
+Nachmittag vor der Abfahrt zum Schlo&szlig; im Spiegel
+sah, umrauscht von rosa Seide, deren starker Farbenton
+ged&auml;mpft durch goldgestickten T&uuml;ll schimmerte, &mdash; Rosen
+auf der langen Schleppe verstreut und Rosen in
+den dunkeln Locken &mdash;, da war ich zufrieden.</p>
+
+<p>Dicht gedr&auml;ngt standen die Menschen auf der Schlo&szlig;br&uuml;cke,
+wo die Wagen nur Schritt vor Schritt vorw&auml;rts
+kamen. &raquo;Alix von Kleve&laquo; &mdash; &raquo;Alix von Kleve&laquo; ging es
+fl&uuml;sternd von Mund zu Mund. Dankbar l&auml;chelnd neigte
+ich mich rechts und links aus dem offenen Wagenfenster.
+Auf den schwarzen Marmorstufen der gro&szlig;en Treppe, in
+deren tiefem Dunkel das Gold des Gel&auml;nders und der
+S&auml;ulen sich spiegelte, standen die Lakaien im roten Rock
+und die L&auml;ufer mit dem seltsamen gewaltigen Blumen<a name="Page_285" id="Page_285"></a>strau&szlig;
+&uuml;ber den Stirnen. Und droben in den Vorzimmern
+glei&szlig;te und gl&auml;nzte es von goldgestickten
+Uniformen, hellen Schleppen und funkelnden Edelsteinen.
+Wir wurden zu unseren Pl&auml;tzen gewiesen. In der Ahnengalerie
+stand die Jugend. Ich sah durch die Bogenfenster
+&uuml;ber den See hinaus und r&uuml;hrte mich nicht.
+Was gingen mich die andern Menschen an? Wozu war
+ich hier, als allein seinetwegen? Worauf wartete ich,
+als auf ihn? Die Musik im Thronsaal neben uns
+intonierte den &raquo;Einzug der G&auml;ste&laquo; auf der Wartburg,
+drei schwere Schl&auml;ge mit dem Hofmarschallstab k&uuml;ndigten
+das Nahen der Herrschaften an. Ich erwachte aus
+meinen Tr&auml;umen. Ein Rauschen ab und auf: wir versanken
+in unseren Kleidern und tauchten wieder auf &mdash; wie
+eine lange hellschimmernde Woge. Mein Blick
+haftete sekundenlang auf dem Herrscherpaar, das langsam
+durch unsere Reihen schritt: der schlanke Mann mit
+dem Kennzeichen seines Geschlechts, dem kahlen, glatten
+Sch&auml;del, darunter ein Antlitz von jener bla&szlig;-grauen
+Farbe, die das Morphium allm&auml;hlich auf die Haut seiner
+Opfer malt, zwei fiebrig gl&auml;nzende Augen darin und zwei
+Lippen, zu jenem wehm&uuml;tig-freundlichem L&auml;cheln verzogen,
+mit dem die fr&uuml;h vom Tode Gezeichneten die Jugend
+gr&uuml;&szlig;en. Neben ihm das Weib: um den &uuml;ppig-schlanken
+Leib schmiegte sich ihr Gewand schillernd wie Schlangenhaut,
+auf dem hoch erhobenen dunkeln Kopf trug sie
+stolz die Krone von Brillanten, dunkelrot w&ouml;lbten sich
+die Lippen &uuml;ber den kleinen wei&szlig;en Raubtierz&auml;hnen,
+und ein gieriges Leuchten wie von hei&szlig;em Lebenshunger
+tauchte in ihren wundersch&ouml;nen Augen auf. &Uuml;ber
+uns sah sie hinweg, sie brauchte uns nicht zu sehen, &mdash; sie
+<a name="Page_286" id="Page_286"></a>war mehr als die Jugend. In meinem Herzen aber
+wallte das Mitleid auf &mdash; mit dem Mann und mit
+der Frau.</p>
+
+<p>Dann kam der K&ouml;nig von Griechenland, &mdash; wie die
+meisten K&ouml;nige: kein K&ouml;nig. Und dann die K&ouml;nigin, &mdash; weich
+und licht und holdselig, wie die guten Feen aus
+den M&auml;rchen, und hinter ihnen der Schwarm der anderen. &mdash; Aber
+ich sah keinen mehr, denn aus dem Zuge heraus
+war Hellmut zu mir getreten.</p>
+
+<p>In einem runden Turmzimmer mit bunten Fenstern
+sa&szlig;en wir zu vier um den rosengeschm&uuml;ckten Tisch:
+Hellmut und ich, Graf Waldburg und seine Braut, die
+kleine Komte&szlig; Lantheim. Wir a&szlig;en nicht viel, aber
+unsere Gl&auml;ser klangen immer wieder aneinander, und
+prickelnd flo&szlig; der eisige Sekt durch unsere Kehlen. Leise
+und schmeichelnd t&ouml;nte von fern die Musik.</p>
+
+<p>Im goldenen Saal, durch dessen Fenster die Glut
+des Abendhimmels hineinstr&ouml;mte, w&auml;hrend viele hunderte
+flammender Kerzen alle W&auml;nde und Pfeiler aufleuchten
+lie&szlig;en wie gelbes Feuer, wurde getanzt. Es war noch
+fast leer, als wir eintraten. In wiegendem, lockendem
+Rhythmus klang die s&uuml;&szlig;e Walzerweise der &raquo;Sch&ouml;nen
+blauen Donau&laquo; von der Estrade.</p>
+
+<p>Ich lag in seinem Arm, und die T&ouml;ne schienen uns
+zu tragen. &raquo;Alix &mdash; ich liebe dich,&laquo; hauchte mir
+im weichen Takt der Bewegung seine Stimme ins Ohr &mdash; &raquo;verzehrend
+lieb ich dich &mdash; ich la&szlig; dich nicht los &mdash; nie &mdash; nimmermehr &mdash;&laquo;
+Sein hei&szlig;er Atem ber&uuml;hrte
+mich wie ein z&auml;rtlich kosender Ku&szlig;, und meine Haare
+wehten um seine Wangen.</p>
+
+<p>&raquo;Durchlaucht &mdash; Galopp &mdash; wenn ich bitten darf!<a name="Page_287" id="Page_287"></a>&laquo;
+h&ouml;rten wir pl&ouml;tzlich neben uns sagen. Aufatmend standen
+wir still, &mdash; wir hatten wirklich das strenge h&ouml;fische
+Walzerverbot vergessen! Im gleichen Augenblicke trat der
+Kammerherr der Gro&szlig;herzogin auf uns zu: &raquo;Ihre K&ouml;nigliche
+Hoheit befehlen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mich auch?&laquo; frug Hellmut. Er senkte bejahend den
+Kopf, w&auml;hrend ein leises maliti&ouml;ses L&auml;cheln seine Lippen
+kr&auml;uselte. Sollte die sch&ouml;ne F&uuml;rstin so konventionell sein
+und unser Vergehen gar noch pers&ouml;nlich r&uuml;gen wollen?</p>
+
+<p>&raquo;Sie tanzen bezaubernd, &mdash; ich mache Ihnen mein
+Kompliment, Fr&auml;ulein von Kleve!&laquo; sagte sie laut, als
+ich in tiefer Verbeugung ihre Hand an die Lippen zog.
+&raquo;Die mecklenburger Damen k&ouml;nnen sich ein Beispiel
+nehmen!&laquo; Die Umstehenden horchten hoch auf.</p>
+
+<p>&raquo;Tanzen Sie noch einmal denselben Walzer, lieber
+Prinz, den man offenbar nur verbietet, weil man ihn zu
+tanzen nicht versteht.&laquo;</p>
+
+<p>Wie auf Kommando bildete sich ein weiter Kreis um
+uns. Und wir tanzten. Aber ich f&uuml;hlte die vielen
+musternden, neidischen, feindseligen Blicke, die mich betasteten,
+wie mit feuchtkalten Fingern, und durchbohrten,
+wie mit Nadelstichen. Ein Schwindel packte mich &mdash; fester,
+immer fester lehnte ich mich in Hellmuts Arm &mdash; er
+trug mich mehr, als da&szlig; ich tanzte.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;hren Sie Ihre T&auml;nzerin auf die Terrasse, &mdash; das
+wird ihr gut tun &mdash;&laquo; sagte die Gro&szlig;herzogin, als ich
+mich bla&szlig; und zitternd wieder verbeugte. Ein Ton war
+in ihrer Stimme, der mich auffahren lie&szlig;, &mdash; hatte sie
+unser Geheimnis erraten?</p>
+
+<p>Wir gingen hinaus. Viele bunte Lampions erhellten
+die Terrasse und den Burggarten, plaudernde Gruppen
+<a name="Page_288" id="Page_288"></a>standen ringsumher. Wir aber suchten die Nacht und
+die Stille. Tief unten schmiegte sich ein von wei&szlig;en
+Bl&uuml;ten &uuml;bers&auml;ter Strauch an die dunkle Mauer, und
+ein schwerer s&uuml;&szlig;er Duft breitete sich rings um ihn.
+Jasmin &mdash; meine Blume!</p>
+
+<p>Wei&szlig;t du noch, Hellmut, wie du &uuml;berm&uuml;tig in die
+Zweige griffst und ein Regen schneeiger Bl&auml;tter mir auf
+Schultern und Haare fiel? und wie sie matt zu Boden
+taumelten vor dem hei&szlig;en Hauch deines Mundes? Du
+pre&szlig;test mich wild an dein Herz, da&szlig; der Atem mir
+stockte, &mdash; du h&auml;ttest mich morden k&ouml;nnen in jener Nacht, &mdash; mit
+einem Liebesblick h&auml;tt ich es dir vergolten.
+&raquo;Warum sagst du mir nicht, da&szlig; du mich liebst &mdash; warum
+bist du so still?&laquo; frugst du, und ich seufzte,
+den Arm fest um deinen Hals: &raquo;Ich kann dirs nicht
+sagen &mdash; ich kann nicht &mdash; ich liebe dich viel &mdash; viel
+zu sehr!&laquo;</p>
+
+<p>Droben tanzten sie wieder &mdash; wir sahen die Paare
+hinter den hellen Fenstern vor&uuml;berschweben &mdash;, und eine
+Melodie verirrte sich zuweilen bis zu uns. Wie mit
+kosenden Stimmen antworteten ihr die Wellen, die
+pl&auml;tschernd ans Ufer schlugen, und fern von den hohen
+Baumwipfeln des Parks klang hie und da ein vertr&auml;umtes
+Vogelzwitschern. Immer verzehrender gl&uuml;hten
+unsere Augen ineinander, verlangender, sehns&uuml;chtiger
+wurden unsere K&uuml;sse.</p>
+
+<p>Da verstummte die ferne Musik, ein heftiger Schreck
+machte dich zittern. &raquo;Wir m&uuml;ssen hinauf&laquo; &mdash; sagtest du
+heiser und fuhrst dann hastig fort, w&auml;hrend wir die
+Treppe zur Terrasse emporstiegen: &raquo;Wir m&uuml;ssen uns
+trennen &mdash; mein Dienst ist morgen zu Ende &mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_289" id="Page_289"></a></p>
+<p>&raquo;Und in der n&auml;chsten Woche reisen wir,&laquo; fl&uuml;sterte ich
+m&uuml;hsam, &mdash; es w&uuml;rgte mir am Halse.</p>
+
+<p>&raquo;Im Herbst erst sehen wir uns wieder &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ertrag ich nicht &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich sterbe vor Sehnsucht &mdash;&laquo; Und noch einmal zogst
+du mich an dich, und aufschluchzend barg ich meinen Kopf
+an deiner Brust.</p>
+
+<p>&raquo;Weine nicht, Liebling, weine nicht, &mdash; f&uuml;r ein ganzes
+Leben voll Liebe, das uns bevorsteht, ist das Opfer dieser
+n&auml;chsten Wochen am Ende nicht zu gro&szlig;,&laquo; versuchtest du
+uns Beide zu tr&ouml;sten, dabei fielen hei&szlig;e Tropfen aus
+deinen Augen mir auf die Stirn. &mdash;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir fuhren nach Karlsbad, &mdash; Mama, Klein-Ilschen
+und ich. Wir trafen mit einem
+gro&szlig;en Kreise alter und neuer Freunde zusammen.
+&raquo;Wir&laquo; sage ich, &mdash; aber im Grunde war ich
+gar nicht da, nur mein wandelndes Schattenbild. Automatisch
+geschah alles, was ich tat: mein Reden und
+noch mehr mein Lachen. Ich selbst sa&szlig; still im dunkeln
+Chorgest&uuml;hl eines hochragenden Doms, die H&auml;nde im
+Scho&szlig; gefaltet, die Augen emporgerichtet zu den in
+mystischen Farben gl&uuml;henden Fenstern, unbeweglich horchend
+auf den Gesang s&uuml;&szlig;er Engelsstimmen, die Stirn
+umweht von Wolken duftenden Weihrauchs ...</p>
+
+<p>Wenn ich neben dem Rollstuhl Stauffenbergs ging,
+sprach ich wohl mit ihm von alledem, was mein Interesse
+sonst erregt hatte; aber eine ganz andere, eine fremde
+Alix war es. Ich selbst, ich lachte &uuml;ber sie und ihren
+komischen Eifer. Was ging mich die hohe Politik, was
+<a name="Page_290" id="Page_290"></a>gingen mich Darwin, Wagner und Nietzsche an? Neben
+dem Reichtum lebendigen Lebens, das mir begegnet war,
+verbla&szlig;te alles zu blutleeren Schemen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Abend unserer R&uuml;ckkehr im Herbst sa&szlig; ich im
+Dunkel der Intendantenloge im Theater. &raquo;Hoffmanns
+Erz&auml;hlungen&laquo;, &mdash; jenes geniale Werk
+Offenbachs, das er geschaffen haben mu&szlig;, besessen vom
+Geiste des Zauberers, dem es galt, &mdash; gelangte zum
+erstenmal, und ungek&uuml;rzt, zur Auff&uuml;hrung. Meine Augen
+durchforschten noch die Logen und R&auml;nge &mdash; ich war ja
+nur gekommen, weil ich &uuml;berzeugt war, ihn zu finden &mdash;,
+als die ersten Akkorde der Ouverture mich schon gefangen
+nahmen. Und dann die Oper selbst! Wie es ihr zukommt,
+war jede possenhafte Nuance vermieden worden;
+Spalanzani und Coppelius, der geheimnisvolle Brillenverk&auml;ufer
+im ersten Akt, wirkten gespensterhaft, und
+Olympia, die Puppe, war nicht nur ein Automat, der
+schlie&szlig;lich zur Erh&ouml;hung der Lachlust eines einf&auml;ltigen
+Publikums zerbrochen auf die B&uuml;hne geschleift wird, &mdash; ein
+St&uuml;ck Leben schien vielmehr in sie hineingezaubert,
+das mit einem wehen Laut erstarb. Selbst die Menuettt&auml;nzer
+und T&auml;nzerinnen bewegten sich wie nichts vollkommen
+Irdisches.</p>
+
+<p>Schon verdunkelte sich der Zuschauerraum am Ende
+der Pause, als der Bogenvorhang sich teilte, &mdash; ein
+breiter Lichtstreifen fiel herein. Der erste Ton der
+Barkarole klang ged&auml;mpft aus dem Orchester &mdash; ein
+Stuhl wurde zur Seite ger&uuml;ckt &mdash; &raquo;Alix!&laquo; h&ouml;rte ich Hell<a name="Page_291" id="Page_291"></a>muts
+Stimme hinter mir, und sein Mund brannte auf
+meinem Nacken.</p>
+
+<p>&raquo;Sch&ouml;ne Nacht &mdash; o Liebesnacht &mdash; o stille mein Verlangen!&laquo;
+t&ouml;nte es von der B&uuml;hne dicht vor uns; ausgestreckt
+auf Decken und Fellen lag die sch&ouml;ne Guiletta vor ihren Anbetern;
+ihre nackten Arme und ihre blo&szlig;en Schultern leuchteten
+im Glanz der roten Ampeln. Das Blut str&ouml;mte mir
+zum Herzen, meine Hand suchte die des Geliebten. Von
+einer Melodie durchwogt, wie sie aufreizender, sinnbet&ouml;render
+nicht zum zweitenmal vorkommt, wurde die Luft immer
+schw&uuml;ler um uns. Kaum da&szlig; wir uns im hellen Licht
+des Zwischenaktes genug zu ermannen vermochten, um
+konventionelle Phrasen mit dem Intendanten zu wechseln.
+Hellmuts Uniform verriet seine Anwesenheit auch im
+Halbdunkel der Loge, Lorgnetten und Operngl&auml;ser richteten
+sich auf uns, und tuschelnd neigten sich die K&ouml;pfe
+zueinander.</p>
+
+<p>Aber schon setzte das Orchester zum letzten Akte ein.
+&raquo;Sie entfloh &mdash; die Taube so minnig&laquo; sang der blassen
+Antonia weiche Stimme. Seltsam &mdash; kein Zweifel &mdash; sie
+sah mir &auml;hnlich: der gelbliche Ton der Haut, die dunkeln
+Locken. Mich fr&ouml;stelte. O &mdash; und als dann der gespenstische
+Arzt erschien mit der hageren Gestalt, dem
+glatten Totensch&auml;del und den klirrenden Flaschen in den
+H&auml;nden &mdash; &mdash; &raquo;Mir ist nicht ganz wohl!&laquo; fl&uuml;sterte ich
+und stand leise auf. Hellmut begleitete mich. Er hielt
+meinen vorzeitigen Aufbruch nur f&uuml;r einen Vorwand.
+W&auml;hrend er mir den Mantel um die Schultern legte,
+fl&uuml;sterte er mir zu: &raquo;Ich war bei Mama &mdash; ein bi&szlig;chen
+Tr&auml;nen hats ihr gekostet &mdash;, aber schlie&szlig;lich fand sie sich
+ins Unab&auml;nderliche. Wir d&uuml;rfen hoffen, Liebling! &mdash; Hier
+<a name="Page_292" id="Page_292"></a>alles N&auml;here,&laquo; er dr&uuml;ckte mir ein Papier in die
+Hand und f&uuml;hrte mich bis zum Wagen; schon zogen die
+Pferde an, als der Schlag sich von der anderen Seite
+noch einmal &ouml;ffnete, &mdash; mit einem raschen Sprung war
+er neben mir und ich in seinen Armen, &mdash; einen Augenblick
+nur, einen kurzen, gl&uuml;ckseligen. An der n&auml;chsten
+Stra&szlig;enbiegung verschwand er ebenso, wie er gekommen
+war. Erst zu Hause, im verschlossenen Schlafzimmer,
+&ouml;ffnete ich seinen Brief.</p>
+
+<p>&raquo;Mein s&uuml;&szlig;er Liebling,&laquo; schrieb er, &raquo;die Wochen ohne
+Dich waren eine gr&auml;&szlig;liche Fastenzeit. Zum zweitenmal
+ertrage ich so etwas nicht. Das habe ich auch Mama
+gesagt, und da sie so wie so immer um mich zittert &mdash; begreifst
+Du solche Anh&auml;nglichkeit, Du Einzigste?! &mdash;, so
+hat sie meine Drohung toternst genommen. Sie wird in
+den n&auml;chsten Tagen Tante Brigitte Sonderburg, ihre
+verdrehte alte Schwester, besuchen und sehen, ob sie bei
+ihr das n&ouml;tige Kleingeld zusammenscharren kann; bei
+Vetter Georg, dem Knauser, ist nichts zu holen, Mamas
+eigne Kasse ist v&ouml;llig schwinds&uuml;chtig. Ich sch&auml;me mich,
+Dir so was schreiben zu m&uuml;ssen, meine holde, kleine
+G&ouml;ttin Du, und doch mu&szlig;t Du wissen, warum ich
+immer noch nicht in Helm und Sch&auml;rpe antrete. Meine
+Zulage reicht kaum f&uuml;r mich, der ich das Ungl&uuml;ck habe,
+ein Prinz zu sein, und diese W&uuml;rde t&auml;glich mit barer
+M&uuml;nze bezahlen mu&szlig;. Aber trotz alledem mu&szlig; es werden,
+und ich tr&auml;ume schon jede Nacht von dem weichen Nest,
+das ich f&uuml;r mein Prinze&szlig;chen &mdash; viel, viel mehr Prinze&szlig;chen,
+als alle Ebenb&uuml;rtigen zusammengenommen! &mdash; erobern
+werde!</p>
+
+<p>Verlobte schicken einander immer briefliche K&uuml;sse. Das
+<a name="Page_293" id="Page_293"></a>finde ich fad. Aber holen tu ich sie mir bei allern&auml;chster
+Gelegenheit f&uuml;r die langen sechs Wochen, die Du sie
+mir schuldig bliebst. H&uuml;te Dich beizeiten, da&szlig; Du nicht
+daran erstickst ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich konnte nicht schlafen. Es lag wie ein eiserner
+Reifen um meine Stirn. &raquo;Der Weg zur Ehe geht
+durch die Kirche&laquo; pflegte Mama zu sagen, &mdash; aber
+stand nicht ein goldener G&ouml;tze am Altar, statt des
+Priesters?</p>
+
+<p>Wir sahen uns oft, aber niemals allein. Eine zehrende
+Sehnsucht durchw&uuml;hlte mich wie eine Krankheit.
+Jeder H&auml;ndedruck schien mir die Haut zu versengen.
+Wir konnten den Karneval nicht erwarten, der zu heimlichen
+Begegnungen tausend Gelegenheiten bot. Ein Ball
+bei der Gro&szlig;herzogin-Mutter er&ouml;ffnete ihn endlich. Sie
+hatte es allen Warnungen zum Trotz durchgesetzt, da&szlig;
+er in ihrem Palais stattfand, dessen Tanzsaal erst vor
+jedem Fest von der Baupolizei untersucht werden mu&szlig;te.
+Diesmal, so erz&auml;hlte man sich, habe sie schon recht bedenklich
+den Kopf gesch&uuml;ttelt. Als wir kamen, fiel mein
+erster Blick auf Hellmut, der mit zusammengezognen
+Brauen, bla&szlig; und finster, allein in einer Fensternische
+stand. Ewig dauerte es, bis ich all die Verbeugungen
+und Begr&uuml;&szlig;ungen und stereotypen Phrasen erledigt hatte
+und meine Hand in der seinen ruhte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe Nachricht von Mama,&laquo; pre&szlig;te er m&uuml;hsam
+hervor, &raquo;Tante Brigitte hat rundweg abgelehnt. F&uuml;r
+dumme Streiche h&auml;tte sie kein Geld!&laquo;</p>
+
+<p>Mir wankten die Kniee. Da ging das alte frohe
+Leuchten &uuml;ber seine Z&uuml;ge, gepaart mit einem neuen Ausdruck
+starker Energie: &raquo;Sei nicht furchtsam, Liebling; du wei&szlig;t:<a name="Page_294" id="Page_294"></a>
+und wenn ich mich daf&uuml;r dem Teufel verschreiben sollte, &mdash; du
+wirst mein!&laquo;</p>
+
+<p>Junge Liebe ist voller Zuversicht, sie glaubt noch an
+Wunder; und sie ist sich selbst genug und vergi&szlig;t dar&uuml;ber
+die Welt. Es war eine st&uuml;rmische Saison damals, &mdash; kaum
+ein Tag verging ohne ein Diner, einen Ball, eine
+Schlittenpartie. Hellmut fehlte niemals. Wenn es nicht
+anders ging, ritt er noch in der Nacht nach Ludwigslust
+zur&uuml;ck. Er verlor allm&auml;hlich die gesunde Farbe, aber
+wenn ich ihn angstvoll um sein Ergehen frug, lachte er.
+Wir wurden immer k&uuml;hner und immer erfinderischer, um
+uns allein sehen zu k&ouml;nnen, und die fremdesten Menschen
+halfen uns dabei: sie zogen sich zur&uuml;ck, wenn wir ins
+Zimmer traten, sie vertieften sich in ein Gespr&auml;ch, wenn
+wir am gleichen Tische sa&szlig;en, sie m&auml;&szlig;igten das Tempo
+ihres Laufs, wenn sie auf der weiten Eisfl&auml;che des
+Schweriner Sees in unsere N&auml;he kamen. Da&szlig; die M&auml;dchen
+mich mieden, war mir nur eine Wohltat. Hie und
+da freilich fing ich ein h&auml;misches L&auml;cheln auf, ein vieldeutiges
+Augenzwinkern, oder h&ouml;rte mit halbem Ohr,
+wie es um mich her raunte und fl&uuml;sterte. Aber ich dachte
+dar&uuml;ber nicht nach. Ich vegetierte &uuml;berhaupt nur noch,
+und lebte allein, wenn er um mich war.</p>
+
+<p>In diesem Winter wu&szlig;te ich erst, was Tanzen ist:
+keine Bewegung, in der wir nach Vorschrift die F&uuml;&szlig;e so
+oder so setzen, kein harmlos-kindliches Vergn&uuml;gen aus
+reiner Freude am rhythmischen Regen der Glieder, &mdash; Liebe
+ist es, Liebe in all ihren tausend Phasen, Liebe, die zwei
+Menschen zu Eins verschmilzt, die sie auseinanderzieht,
+um die Sehnsucht zu steigern und sie um so gl&uuml;hender
+wieder zu vereinen. Liebe, die lockt und kokettiert &mdash; sich
+<a name="Page_295" id="Page_295"></a>dem&uuml;tig neigt und siegesbewu&szlig;t aufrichtet &mdash; die mit
+den anderen l&auml;chelt, sich ihnen vor&uuml;bergehend hingibt, nur
+um des einen, des Geliebten Glut zu loderndem Feuer
+zu entfachen.</p>
+
+<p>Die &raquo;Barkarole&laquo; beherrschte den Tanz in jenem Karneval.
+Ich h&ouml;rte sie bis in meine Tr&auml;ume.</p>
+
+<p>Zu einem Hofball wurde ein Menuett einstudiert, &mdash; der
+Tanz, in dem sich die ganze grazi&ouml;se S&uuml;ndhaftigkeit
+und k&uuml;nstlerisch verkl&auml;rte Erotik seiner Zeit widerspiegelt.
+Wir trugen dazu keinen billigen Maskentand,
+sondern schwere Kleider von Damast, breit ausladend
+&uuml;ber den H&uuml;ften, zum Umspannen schmal in der Taille,
+mit langen h&ouml;fischen Schleppen. Rosen und Lorbeer
+rankte sich auf dem meinen, die alten kostbaren Spitzen
+meiner Mutter garnierten den Rock, ihre Perlenschn&uuml;re
+schlangen sich mir um Hals und Nacken. Hoch gepudert
+die Haare, ein Sch&ouml;npfl&auml;sterchen am Mundwinkel
+und eins auf der Brust, &mdash; so traf ich im Vorzimmer
+am Abend des Festes Hellmut, meinen Herrn. Wir
+staunten einander an, &mdash; so hatte ich die ebenm&auml;&szlig;ige
+Sch&ouml;nheit seiner Gestalt noch nie empfunden wie jetzt,
+wo sie im Staatsgewand Ludwigs XV. vor mir stand.
+Aber sein Gesicht blieb ernst.</p>
+
+<p>&raquo;Mir pa&szlig;t der Narrentr&ouml;del nicht!&laquo; sagte er, w&auml;hrend
+wir uns nach Mozarts unverg&auml;nglichem Don Juan-Menuett
+neigten und drehten. &raquo;Ist nicht die glei&szlig;ende
+Pracht ein Hohn auf unsere Armut?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;hle nur, da&szlig; wir reich sind, die Reichsten der
+Welt!&laquo; antwortete ich und lehnte den Kopf zur&uuml;ck, um
+&uuml;ber die Schulter hinweg ihn selig anzul&auml;cheln, wie die
+Figur des Tanzes es grade befahl.</p>
+<p><a name="Page_296" id="Page_296"></a></p>
+<p>&raquo;Aber ich verkomme vor Qual, solang du nicht mein
+bist!&laquo; gab er zur&uuml;ck und beugte das Knie in bittender
+Geb&auml;rde zu dem lang gezognen Sehnsuchtston der
+Musik.</p>
+
+<p>Ein Walzer folgte dem Menuett. Hellmut lehnte mit
+verschr&auml;nkten Armen an einem Pfeiler, und jedesmal, wenn
+ich vor&uuml;berkam, f&uuml;hlte ich seinen Blick.</p>
+
+<p>&raquo;Du darfst heute mit keinem anderen tanzen,&laquo; redete er
+mich an, als mein T&auml;nzer mich verlassen hatte, &mdash; er
+vermochte seiner Erregung kaum Herr zu werden. Vergebens
+suchte ich ihm das Unm&ouml;gliche seines Verlangens
+klar zu machen; &raquo;ich verlasse das Schlo&szlig;, wenn du nicht
+tust, um was ich dich bitte, &mdash; ich halts einfach nicht
+aus, da&szlig; jeder Schmutzfink dich im Arm h&auml;lt und seine
+frechen Blicke sich an deiner Sch&ouml;nheit weiden.&laquo; Ich
+f&uuml;gte mich begl&uuml;ckt von der St&auml;rke seiner Leidenschaft,
+und um keinen anderen Verdacht aufkommen zu lassen,
+bat ich meine Mutter, mir in der Garderobe eine aus
+Taschent&uuml;chern improvisierte Bandage um den &raquo;verstauchten&laquo;
+Fu&szlig; zu legen, der mich am Tanzen hindern
+sollte.</p>
+
+<p>Hellmut und ich trennten uns an dem Abend nicht
+mehr. Im Ballsaal dr&auml;ngte sich die Jugend, in den
+Nebenzimmern sa&szlig;en die &Auml;lteren an den Whisttischen.
+Wir gingen durch die langen Galerien mit ihrer bunten,
+phantastischen Dekoration, wo die Lampen immer sp&auml;rlicher
+brannten. Wir standen eng aneinander geschmiegt
+vor Tristan und Isoldens Liebesm&auml;r, die hier im Schlo&szlig;
+der sittenstrengen Obotriten in hellen Farben an den
+W&auml;nden prangt, und wie Lebendige tauchten Hero und
+Leanders Marmorbilder im rosigen Schein ged&auml;mpften<a name="Page_297" id="Page_297"></a>
+Lichtes vor uns auf; ihr Busen schien zu atmen, an den
+sein Haupt sich z&auml;rtlich lehnte.</p>
+
+<p>Von ferne folgten uns die Tanzmelodien ... &raquo;Sch&ouml;ne
+Nacht &mdash; o Liebesnacht &mdash; o stille das Verlangen &mdash;&laquo;
+klang es leise &mdash; sehns&uuml;chtig.</p>
+
+<p>Und Hellmut schlang den Arm um mich, und dicht,
+immer dichter aneinander geschmiegt, flogen wir durch
+den halbdunklen Raum. Mir war, als h&ouml;rte ich ein
+unterdr&uuml;cktes Gel&auml;chter, &mdash; aber im n&auml;chsten Augenblick
+verga&szlig; ich es wieder.</p>
+
+<p>Wir tanzten, &mdash; waren wir nicht allein auf mondheller
+Wiese, von Palmen umrauscht und gro&szlig;en,
+wei&szlig;en Blumen umgeben, aus deren Goldkelch bet&auml;ubende
+D&uuml;fte str&ouml;mten? Wir tanzten, &mdash; wars
+nicht ein Schaukeln auf kristallhellen Fluten, &mdash; sahen
+wir nicht bis zum Grund, wo die blendenden Leiber
+nackter Nixen zwischen Wasserrosen auf und nieder
+tauchten und Lieder, die noch kein Menschenohr geh&ouml;rt,
+ihren roten Lippen entstr&ouml;mten? &mdash; Mein Herzschlag
+stockte &mdash; auf den n&auml;chsten Stuhl sank ich schwindelnd
+zur&uuml;ck, zu meinen F&uuml;&szlig;en brach der Geliebte zusammen,
+den blonden Kopf vergraben in meinem Scho&szlig; ...</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0"><em class="antiqua">&raquo;Oh, la marquise Pompadour,</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">Elle connait l'amour</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">Et toutes ses tendresses,</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">La plus belle des maitresses&laquo; &mdash;</em><br /></span>
+</div></div>
+
+<p>sang pl&ouml;tzlich eine kr&auml;hende Sopranstimme hinter uns.
+Hellmut sprang auf und griff instinktiv an den zierlichen
+Galanteriedegen, der ihm an der Seite hing.</p>
+
+<p>&raquo;Verdammt &mdash;&laquo; knirschte er, &mdash; es war eine leere
+Scheide, die er in der Hand hielt. Wir h&ouml;rten noch ein<a name="Page_298" id="Page_298"></a>
+Rascheln und Raunen und das ferne Schlagen einer
+T&uuml;r, dann wars still.</p>
+
+<p>&raquo;Morgen noch fahr ich selbst zu Tante Brigitte und,
+wenns nicht anders ist, zu Georg. Ich mu&szlig; ein Ende
+machen &mdash; so oder so!&laquo; fl&uuml;sterte er mir zu, ehe wir den
+Ballsaal wieder betraten. Ich suchte meine Eltern; &mdash; wir
+verabschiedeten uns. Am Ausgang, wo sich die
+meisten Menschen zusammendr&auml;ngten, trat Hellmut an
+meinen Vater heran: &raquo;Darf ich mich gleich heute f&uuml;r
+die n&auml;chsten Wochen verabschieden, Herr General,&laquo; &mdash; sagte
+er sehr laut und f&ouml;rmlich &mdash; &raquo;mein Vetter,
+Herzog Georg, w&uuml;nscht meine Anwesenheit bei den Hofb&auml;llen.&laquo; &mdash; &raquo;Reisen
+Sie gl&uuml;cklich,&laquo; antwortete mein
+Vater, und mir schien, als ob er erleichtert dabei aufatmete.
+&raquo;Am&uuml;sieren Sie sich gut&laquo; &mdash; brachte ich m&uuml;hsam
+hervor und legte meine kalten Finger fl&uuml;chtig in die seinen.</p>
+
+<p>Nur die fieberhafte Erregung gab mir Kraft, mich in
+den n&auml;chsten Wochen aufrecht zu halten. Ich fehlte in
+keiner Gesellschaft, auf keinem Ball; keine tanzte so unerm&uuml;dlich
+wie ich, an keinem andern Tisch wurde so viel
+Sekt getrunken wie an dem meinen.</p>
+
+<p>Eines Tages traf ich Graf Waldburg im Theater.
+Er machte in den Pausen mit gro&szlig;em Eifer Propaganda
+f&uuml;r eine Schlittenpartie, die mit einem Diner im Hotel
+enden sollte. &raquo;Seine Durchlaucht Prinz Hellmut bittet
+Sie um die Ehre, Sie fahren zu d&uuml;rfen,&laquo; wandte er
+sich an mich. Als ich fragend zu ihm aufsah, zuckte er
+die Achseln und sagte, nur f&uuml;r mich h&ouml;rbar: &raquo;Durchlaucht
+haben mir nichts weiter mitgeteilt, als da&szlig; ich
+rasch f&uuml;r eine Gelegenheit zu l&auml;ngerer Aussprache sorgen
+m&ouml;chte.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_299" id="Page_299"></a>Zweimal vierundzwanzig Stunden noch! Die Erregung
+steigerte sich bis zum Unertr&auml;glichen. Inzwischen
+fing es an zu tauen. Ein schmutziges Grau
+bedeckte die Stra&szlig;en der Stadt, und dichte Nebel hingen
+&uuml;ber den Seen. Mit hellem Schellengel&auml;ut erschien
+trotzdem am festgesetzten Tage Hellmuts Schlitten vor
+unserer T&uuml;r, &mdash; eine winzige mit Pelzen dicht ausgef&uuml;tterte
+Muschel, vor der ein russischer Traber unruhig
+den Boden stampfte. Mein Vater f&uuml;hrte mich hinunter.
+Hellmuts erster Blick sagte mir alles &mdash; ich schwankte,
+als Papa mir in den Schlitten half. &raquo;Also um f&uuml;nf Uhr
+p&uuml;nktlich im Hotel!&laquo; rief er noch freundlich, dann flogen
+wir davon.</p>
+
+<p>&raquo;Georg hat mich ausgelacht &mdash; Tante Brigitte war
+zynisch genug, mir zu versichern: f&uuml;r ein vern&uuml;nftiges
+Verh&auml;ltnis h&auml;tte sie Geld &mdash; f&uuml;r eine dumme Ehe nicht!&laquo;
+Mit rauher Stimme hatte er gesprochen. &raquo;Was meinst
+du, wenn wir statt zum Rendezvous auf dem Schlo&szlig;platz
+direkt auf den See f&uuml;hren, &mdash; der h&auml;lt uns nicht lange!&laquo;</p>
+
+<p>Ich packte ihn entsetzt am Arm. &raquo;Nein, Hellmut,
+nein,&laquo; flehte ich, &raquo;wir haben ja noch gar nicht gelebt!&laquo;
+Der Fanatismus des Daseins durchgl&uuml;hte mich &mdash; so
+sterben &mdash; so &mdash; nein! Und wie eine Erleuchtung kam es
+&uuml;ber mich: Tante Klotilde, &mdash; sie mu&szlig;te und konnte
+helfen. Mit schmetternden Fanfaren begr&uuml;&szlig;te die Musik
+die Ankommenden, als wir beide, die Herzen von neuer
+Hoffnung geschwellt, auf den Schlo&szlig;platz einbogen und
+uns fr&ouml;hlich an die Spitze des langen Zuges setzten.
+War das eine Fahrt durch den Wald, wo der tauende
+Schnee eine glatte Bahn geschaffen hatte! Wie wir
+den Nebel nicht sp&uuml;rten, obwohl er unsere Pelze mit<a name="Page_300" id="Page_300"></a>
+Millionen winziger Wasserperlen besetzte, so empfanden
+wir keinen Zweifel mehr an der wieder erwachten Sonne
+unseres Gl&uuml;cks.</p>
+
+<p>Die anderen kamen durchfroren von der stundenlangen
+Fahrt ins Hotel, uns, die wir ihnen weit voran gewesen
+waren und doch als letzte zur&uuml;ckkehrten, war gl&uuml;hhei&szlig;.
+Noch lange sa&szlig;en wir zusammen; die vielen
+G&auml;nge des Mahls, bei dem die meisten Paare immer
+einsilbiger wurden, das langsame Servieren, das jeden
+Nichtmecklenburger immer ungeduldiger machte, &mdash; wir
+merkten es nicht. F&uuml;r uns wars viel zu fr&uuml;h, als es
+galt, Abschied zu nehmen. Vor dem halbdunkeln Torweg,
+im rieselnden Regen, umschlo&szlig; eine kr&auml;ftige Hand noch
+einmal die meine, und spitze N&auml;gel gruben sich mir ins
+Fleisch.</p>
+
+<p>Noch in der Nacht schrieb ich an Tante Klotilde.
+Mein ganzes Herz sch&uuml;ttete ich ihr aus; mit all meiner
+Hoffnung klammerte ich mich an sie; jede Seite ihres
+Wesens suchte ich zu r&uuml;hren.</p>
+
+<p>Wenige Tage sp&auml;ter wurde ich zu ungewohnter Stunde
+zu meinem Vater gerufen. Hochrot im Gesicht, mit
+meinem Brief in der Hand, trat er mir entgegen. Mama
+sa&szlig; vor Schrecken totenbla&szlig; im Lehnstuhl. Es gab eine
+unbeschreibliche Szene. Demselben Manne, der mir
+seine Z&auml;rtlichkeit nie genug zeigen konnte, war jetzt kein
+Wort zu verletzend, um mich zu beschimpfen. Ich stand
+vor ihm, wie versteinert. Erst als er Hellmut einen
+Ehrlosen nannte und die wahnsinnigsten Drohungen
+gegen ihn ausstie&szlig;, kam ich zu mir. &raquo;Das duld' ich
+nicht, da&szlig; du seine Ehre angreifst,&laquo; rief ich und trat
+ihm dicht unter die Augen, &raquo;schlag doch mit F&auml;usten
+<a name="Page_301" id="Page_301"></a>auf mich, wenn du willst, aber ihn &mdash; ihn darfst du
+nicht anr&uuml;hren.&laquo; Papa sah mich gro&szlig; an, wandte sich
+ab und st&ouml;hnte qualvoll. Das ertrug ich nicht mehr.
+Weinend warf ich mich ihm zu F&uuml;&szlig;en. &raquo;Papachen &mdash; hab'
+doch Mitleid mit mir &mdash; mein Ungl&uuml;ck ist doch
+schon gro&szlig; genug&laquo;, schluchzte ich. Und dieselbe Hand, die
+mich fast geschlagen h&auml;tte, hob mich empor. &raquo;Mein
+armes, armes Kind,&laquo; sagte er, und mit dem Ausdruck
+eines zu Tode Verwundeten sah er mich an.</p>
+
+<p>Mama war still gewesen bis dahin. Jetzt h&ouml;rte ich
+ihre ruhige k&uuml;hle Stimme wie von weit, weit her. Sie
+las den Brief der Tante vor, ich verstand ihn kaum,
+nur die Worte &raquo;Pflicht&laquo;, &raquo;Opfer&laquo;, &raquo;Ehrgef&uuml;hl&laquo; wiederholten
+sich, wie es schien, h&auml;ufig. &raquo;Alix wird,&laquo; so schlo&szlig;
+er ungef&auml;hr, &raquo;durch diese Erfahrung klug werden und
+ihre z&uuml;gellosen Leidenschaften b&auml;ndigen lernen. Unser
+ganzes Leben ist Entsagung und Pflichterf&uuml;llung ...&laquo;
+Ich lachte gellend auf bei dieser sch&ouml;nen Tirade, um
+gleich nachher in einen wilden Weinkrampf auszubrechen.
+Papa trug mich in mein Bett. Meine Mutter verlie&szlig;
+mich von da an keine Minute. Gegen Abend lie&szlig; sie
+mich aufstehen. Kaum auf den F&uuml;&szlig;en konnt ich mich
+halten, und vor Schmerzen h&auml;tte ich am liebsten geschrien,
+aber meine Willenskraft war st&auml;rker als alles.
+Ich vermochte es sogar, meinen Vater dankbar anzul&auml;cheln,
+als er mir mitteilte, er habe &raquo;die schwere Aufgabe
+auf sich genommen, den Prinzen &uuml;ber den Ausgang
+der traurigen Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.&laquo;</p>
+
+<p>Als ich dann, wie immer, im Nebenzimmer den Tee bereitete,
+h&ouml;rte ich, mit meinen fieberhaft gesch&auml;rften Sinnen,
+Mama zu ihm sagen: &raquo;Ich kenne Alix genug, um keine
+<a name="Page_302" id="Page_302"></a>ernstliche Sorge zu haben. Wo wir bisher gewesen
+sind, &mdash; es gab immer irgend eine mehr oder weniger
+fatale Liebesgeschichte. In diesem Fall, wo ihre Eitelkeit
+mitspricht, sieht die Sache erheblicher aus.&laquo; &raquo;Aber
+du sahst sie doch! &mdash; Eine solche Verzweiflung l&auml;&szlig;t das
+&Auml;u&szlig;erste f&uuml;rchten!&laquo; wandte mein Vater ein. &raquo;Vertraue
+mir, lieber Hans &mdash; du siehst sie immer wie in
+einem goldnen Spiegel! Ich habe, gottlob, meine sehr
+n&uuml;chternen und klaren Augen behalten,&laquo; antwortete
+Mama, &raquo;wir haben jetzt nichts zu tun, als zu verh&uuml;ten,
+da&szlig; sie sich und uns durch tragische Posen kompromittiert &mdash; alles
+andre &uuml;berlasse ruhig der Zeit und &mdash;,&laquo; f&uuml;gte
+sie mit einem halben Lachen hinzu &mdash; &raquo;dem n&auml;chsten
+Mann!&laquo;</p>
+
+<p>Was sie sagte, war mir nur willkommen, und ich
+benahm mich, ihren Worten entsprechend, w&auml;hrend ich
+zu gleicher Zeit mit vollkommener Ruhe an die Ausf&uuml;hrung
+eines Planes ging, der vom ersten Augenblick
+an, da ich von der Ablehnung der Tante erfahren hatte,
+f&uuml;r mich fest stand. Ich lie&szlig; mir zur Gutenacht die
+Stirn k&uuml;ssen und legte mich ruhig nieder; da&szlig; Mama noch
+einmal kommen und nach mir sehen w&uuml;rde, wu&szlig;te ich,
+und wartete, bis sie zur&uuml;ck in ihr Schlafzimmer ging und
+jeder Ton im Hause erstorben war. Dann stand ich
+auf, zog mich sorgf&auml;ltig an, packte das N&ouml;tigste in eine
+bereit stehende Handtasche und schlich mit angehaltenem
+Atem die Treppe hinunter. Die Haust&uuml;r knarrte nicht
+einmal, als ich sie aufschlo&szlig;. Es regnete in Str&ouml;men,
+kein Mensch war zu h&ouml;ren, noch zu sehen. Ich wartete
+in meinen Mantel gewickelt, bis ein fester Schritt mir
+entgegen klang, ein schleppender S&auml;bel auf das Pflaster
+<a name="Page_303" id="Page_303"></a>taktm&auml;&szlig;ig aufschlug. So kam er jetzt jeden Abend, vom
+Fenster aus ein verabredetes Zeichen erwartend, in
+den dicht an unserem Hause liegenden Park. Er
+fuhr zur&uuml;ck, als er mich vor sich sah. Es bedurfte
+nicht vieler Worte zwischen uns. Aber was ich gleichg&uuml;ltig,
+mit einer ganz fremden ruhigen Stimme erz&auml;hlte,
+das ersch&uuml;tterte ihn so, da&szlig; er sich schwer auf meine
+Schulter lehnen mu&szlig;te. &raquo;Ich kann dich nicht lassen,
+Alix!&laquo; st&ouml;hnte er immer wieder. &raquo;Das sollst du auch
+nicht, Hellmut!&laquo; antwortete ich fest. &raquo;Da uns zum
+Ehebund der Goldsegen fehlt, schlie&szlig;en wir ihn unter
+dem Segen der Liebe.&laquo; Mit weit ge&ouml;ffneten Augen
+sah er mich an. &raquo;Du wolltest &mdash;?&laquo; klang es fragend,
+z&ouml;gernd. &raquo;Deine Geliebte werden &mdash; ja. Selbstverst&auml;ndlich
+mu&szlig; ich Schwerin sofort verlassen &mdash; &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Alix, du fieberst &mdash; du wei&szlig;t ja gar nicht, was du
+sagst, &mdash; das ist ja heller Wahnsinn!&laquo; rief er. Ich f&uuml;hlte
+pl&ouml;tzlich, wie die feuchte K&auml;lte der Nacht von den Fu&szlig;sohlen
+an langsam an mir emporkroch. &raquo;Ich bin nicht
+wahnsinnig, Liebster &mdash;&laquo; sagte ich weich und dr&uuml;ckte
+seine Hand z&auml;rtlich an meine Wange, &raquo;ganz im Gegenteil:
+ich will die wahnsinnige Weltordnung f&uuml;r mein
+Teil vern&uuml;nftig machen! &mdash; Nun la&szlig; uns nicht l&auml;nger
+hier stehen, Hellmut, wo jede Minute kostbar ist. Irgend
+eine kleine Station wird sich mit deinem Wagen doch
+noch erreichen lassen, wo ich den ersten Morgenzug erwarten
+kann &mdash;.&laquo; Er trat einen Schritt zur&uuml;ck, &mdash; &raquo;Mach
+mich doch nicht zum Schurken &mdash; Alix&laquo; &mdash; er
+packte mich am Arm und sch&uuml;ttelte mich, als wolle er
+mich aus einem Traum erwecken. Und wirklich &mdash; w&auml;hrend
+der Regen mir ins Antlitz peitschte &mdash; und
+<a name="Page_304" id="Page_304"></a>die letzten Laternen erloschen, kam es mit grausamer
+Klarheit &uuml;ber mich. &raquo;Hellmut!&laquo; rief ich noch einmal
+und breitete die Arme aus. Er st&uuml;rzte auf mich zu,
+bedeckte mir Mund und Augen und Wangen und H&auml;nde
+mit wilden K&uuml;ssen &mdash; und verschwand, wie von Furien
+gepeitscht, in der dunkeln Allee.</p>
+
+<p>Minutenlang blieb ich wie angewurzelt stehen, dann
+strich ich mechanisch mit den H&auml;nden &uuml;ber den nassen
+Mantel. Ich mu&szlig;te mich vergewissern, wer das eigentlich war,
+der hier drau&szlig;en im Regen stand. Auch an
+die Stelle griff ich, wo mir das Herz noch eben wild
+geschlagen hatte. Es war wohl nicht mehr da &mdash; es
+war wohl tot &mdash; oder am Ende in den Schmutz gefallen.
+Ganz &auml;ngstlich sah ich in die schwarzen Pf&uuml;tzen
+zu meinen F&uuml;&szlig;en. Jetzt m&uuml;&szlig;t ich eigentlich schlafen
+gehn &mdash; fuhr es mir durch den Kopf. &mdash; Gott, war
+das T&auml;schchen schwer und der nasse Mantel. &mdash; Ob ich
+mich lieber auf die Bank dort setzen sollte?! &mdash; Nach
+ein paar Schritten stockte mein Fu&szlig;: nein, das ging nicht,
+ringsumher standen schrecklich viele Menschen und starrten
+mich an. Und dann rissen sie alle den Mund weit auf,
+und von allen Ecken dr&ouml;hnte und kreischte es &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0"><em class="antiqua">Oh, la marquise Pompadour &mdash;</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">Elle connait l'amour &mdash;</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">Et toutes ces tendresses &mdash;</em><br /></span>
+<span class="i0"><em class="antiqua">La plus belle des ma&icirc;tresses &mdash; &mdash;</em><br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ich floh die Stufen empor, &mdash; ri&szlig; die T&uuml;re auf und
+setzte mich ersch&ouml;pft auf die Treppe. Aber sie krochen
+mir nach &mdash; auf H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en &mdash; wie W&uuml;rmer.
+Mit den letzten Kr&auml;ften schlich ich in mein Zimmer.
+Und pl&ouml;tzlich kam mir zum Bewu&szlig;tsein, da&szlig; ich &mdash; Alix<a name="Page_305" id="Page_305"></a>
+Kleve &mdash; hier in triefenden Kleidern auf dem Bette sa&szlig;.
+Ein Grauen &uuml;berfiel mich, als w&auml;re ich mein eigenes
+Gespenst und schwebte im schwarzen grenzenlosen Weltraum.
+Die Sinne vergingen mir.</p>
+
+<p>Acht Tage fast lag ich in v&ouml;lliger Apathie. Dann
+ging ich aus, und bald darauf ins Theater. Man gab
+&raquo;Hoffmanns Erz&auml;hlungen&laquo; &mdash; selbst bei der Barkarole
+klopfte mein Herz nicht. Es war mir offenbar abhanden
+gekommen. Nach weiteren acht Tagen tanzte ich wieder.
+Mama triumphierte.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_306" id="Page_306"></a></p>
+<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Wissen Sie das Neuste!&laquo; rief mir eine meiner
+Konkurrentinnen auf dem Kampfplatz
+weiblicher Eitelkeit zu, als wir gerade in
+der Quadrille einander gegen&uuml;ber standen; &raquo;Prinz Hellmut
+ist &mdash; krank und hat sich auf ein Jahr beurlauben
+lassen,&laquo; &mdash; dabei l&auml;chelte sie, halb triumphierend, halb
+schadenfroh, wie eben nur eine Frau l&auml;cheln kann.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;, er trug sich schon lange mit diesem Plan,&laquo;
+antwortete ich mit vollkommener Ruhe.</p>
+
+<p>An dem Abend tanzte ich bis zur Ersch&ouml;pfung und
+hatte f&uuml;r alle ein liebensw&uuml;rdiges Wort, einen koketten
+Blick, so da&szlig; die Kotillonstr&auml;u&szlig;e auf meinem Scho&szlig; sich
+h&auml;uften wie noch nie. Als ich aber zu Hause am offenen
+Fenster stand und die w&uuml;rzige M&auml;rzluft das schw&uuml;le
+Zimmer mit einer Ahnung neuen Fr&uuml;hlings f&uuml;llte, warf
+ich mit einem Gef&uuml;hl des Ekels das glitzernde Ballkleid,
+die k&uuml;nstlichen Rosen, die seidenen Schuhe von mir.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht mehr,&laquo; sagte ich zu mir selbst; alles
+erinnerte mich hier an die Vergangenheit, jeden Blick,
+jedes L&auml;cheln empfand ich, als ob schmutzige H&auml;nde mich
+betasteten. Ich mu&szlig;te fort, weit fort!</p>
+
+<p>Es kostete mich nur geringe M&uuml;he, meine Eltern zu
+bewegen, mich verreisen zu lassen. Die gesellschaftlichen<a name="Page_307" id="Page_307"></a>
+Pflichten waren f&uuml;r diesen Winter erledigt, meine Gesundheit
+bot stets willkommenen Vorwand zu fr&uuml;hen
+Landaufenthalten; es bedurfte nur einer Ansage, und ich
+konnte schon in den n&auml;chsten Tagen in Pirgallen eintreffen.
+Unter dem Schutz einer Bekannten, deren Anwesenheit
+mich zur Selbstbeherrschung zwang, fuhr ich
+nach Berlin, wo Onkel Walter, der zum Reichstag dort
+war, mich in Empfang nahm.</p>
+
+<p>&raquo;Na, du machst ja nette Streiche,&laquo; war sein erstes
+Wort. Peinlich &uuml;berrascht sah ich auf. &raquo;Wir hatten
+dich eigentlich ein paar Wochen hier behalten wollen,&laquo;
+fuhr er fort, &raquo;aber deine Aff&auml;re ist so sehr in aller
+Munde, da&szlig; es besser ist, wir lassen Gras dar&uuml;ber
+wachsen, ehe du dich zeigst.&laquo; Seine Frau ben&uuml;tzte die
+Gelegenheit, um &uuml;ber meine &raquo;mi&szlig;gl&uuml;ckten Pl&auml;ne&laquo;, meinen
+&raquo;bestraften Ehrgeiz&laquo; kleine bissige Bemerkungen zu machen,
+so da&szlig; ich erleichtert aufatmete, als ich im Zuge nach
+K&ouml;nigsberg sa&szlig;.</p>
+
+<p>Mit einer Z&auml;rtlichkeit, die mir noch inniger schien als
+fr&uuml;her, und die das einzige war, wodurch Gro&szlig;mama
+mir ihr Wissen verriet, schlo&szlig; sie mich in die Arme.
+Es war so still, so friedlich in ihren gr&uuml;nen Zimmern,
+hinter den dicken Mauern, als ob es in der ganzen
+Welt gar keine St&uuml;rme g&auml;be. Aber schon nach wenigen
+Tagen sollte ich an sie erinnert werden. Gleichzeitig
+kamen von meinen Eltern zwei Briefe an. Ich &ouml;ffnete
+den von Mama zuerst &mdash; ich f&uuml;rchtete mich instinktiv
+vor dem anderen.</p>
+
+<p>&raquo;Dein Vater&laquo;, schrieb sie, &raquo;ist in einer solchen Aufregung,
+da&szlig; ich es f&uuml;r n&ouml;tig halte, seinen Brief nicht
+ohne den meinen abgehen zu lassen. Die Versetzung nach<a name="Page_308" id="Page_308"></a>
+Bromberg traf ihn wie der Blitz aus heiterem Himmel.
+Wenn sie auch gewi&szlig; keine direkte Zur&uuml;cksetzung bedeutet,
+so h&auml;ngt sie sicherlich mit Deiner traurigen Angelegenheit
+zusammen, die h&ouml;hern Orts nicht unbemerkt und
+nicht unger&uuml;gt bleiben konnte. M&ouml;chtest Du daraus
+endlich die Lehre ziehen, da&szlig; Du Deine Launen und
+Leidenschaften im Zaum halten mu&szlig;t, wenn Du nicht
+Dich und Deine Eltern zugrunde richten willst ...&laquo;</p>
+
+<p>Mit zitternden H&auml;nden ri&szlig; ich Papas Brief auf. Er
+lautete:</p>
+
+<p>&raquo;Mein liebes Kind! In der Bibel steht, da&szlig; die
+S&uuml;nden der V&auml;ter an den Kindern heimgesucht werden,
+aber die andere bittere Wahrheit, die ich am eignen
+Leibe erfahren mu&szlig;, steht nicht darin: da&szlig; die V&auml;ter
+f&uuml;r die S&uuml;nden der Kinder b&uuml;&szlig;en m&uuml;ssen. Ich bin
+zum Chef der Landwehr-Inspektion in Bromberg ernannt
+worden, &mdash; das ist nichts anderes als eine ehrenr&uuml;hrige
+Strafversetzung, die ich mit meinem Abschiedsgesuch beantworten
+w&uuml;rde, wenn ich nicht gen&ouml;tigt w&auml;re, weiter
+zu dienen, um meine Familie zu erhalten ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich konnte der Tr&auml;nen nicht Herr werden, als ich
+Gro&szlig;mama die Briefe zu lesen gab. Mit ihrer schmalen
+k&uuml;hlen Hand strich sie mir &uuml;ber die hei&szlig;e Stirn und
+sagte beg&uuml;tigend: &raquo;Dein Vater &uuml;bertreibt in der Erregung
+gern ein bi&szlig;chen, mein Alixchen; es ist gewi&szlig; nicht so
+schlimm, wie es ihm erscheint, und du wirst es ihm nun
+auch tapfer und liebevoll tragen helfen.&laquo; Aber ich lie&szlig;
+mich nicht so leicht beruhigen. Ich schwelgte f&ouml;rmlich
+im selbstqu&auml;lerischen Bewu&szlig;tsein einer Schuld, die mir
+doch nicht als bewu&szlig;te Verschuldung erscheinen konnte.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist mein Schicksal, allen, die mich lieben, Ungl&uuml;ck
+<a name="Page_309" id="Page_309"></a>zu bringen &mdash;&laquo; so formulierte ich eines Tages Gro&szlig;mama
+gegen&uuml;ber das Resultat meiner Gr&uuml;beleien. &raquo;Das
+ist eine kindliche und &mdash; was schlimmer ist &mdash; alle Kr&auml;fte
+l&auml;hmende Auffassung,&laquo; antwortete sie: &raquo;tragische Heldinnen
+solcher Art gibt es nur in Schicksalstrag&ouml;dien, die auch
+als Kunstwerke nichts taugen.&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem unmerklichen Zwang, dessen Konsequenz
+mir erst viel sp&auml;ter klar wurde, lenkte sie mich von der
+Besch&auml;ftigung mit mir selber ab.</p>
+
+<p>Sie hatte einen Kinderhort ins Leben gerufen, wo
+die noch nicht schulpflichtigen Kleinen unter Aufsicht
+einer alten Frau aus dem Dorfe spielten und in die
+ersten Begriffe der Reinlichkeit eingeweiht wurden. Gro&szlig;mama
+brachte t&auml;glich ein paar Stunden unter ihnen zu
+und sa&szlig;, wie eine Erscheinung aus anderer Welt in
+ihrem schwarzen Sammtkleid auf erh&ouml;htem Sitz, mit den
+feinen Fingern Papierpuppen ausschneidend, w&auml;hrend
+sie den Flachsk&ouml;pfen, die sie dicht umdr&auml;ngten, M&auml;rchen
+erz&auml;hlte. Dazwischen flocht sie manchem Ruschelkopf die
+Z&ouml;pfe, oder putzte ein triefendes N&auml;slein, oder wusch
+ein paar gar zu schmutzige Pf&ouml;tchen. Was sie mit
+freundlichem Gleichmut tat, das kostete mir viel Selbst&uuml;berwindung.
+Diese Kinder straften die beruhigend-sentimentale
+Auffassung von der bl&uuml;henden l&auml;ndlichen
+Jugend L&uuml;gen. Nur wenige waren rund und pausb&auml;ckig
+und k&ouml;rperlich fehlerlos. Die meisten wackelten m&uuml;hsam
+auf krummen Beinchen daher, an Ausschl&auml;gen an
+Kopf und K&ouml;rper, an triefenden Augen litten viele,
+selbst Kr&uuml;ppel fehlten nicht, und mit Schmutz und Ungeziefer
+waren fast alle behaftet. Manche unter ihnen
+stierten mit verbl&ouml;deten Blicken ins Leere, oder sa&szlig;en
+<a name="Page_310" id="Page_310"></a>stundenlang auf demselben Fleck, wie lebensm&uuml;de Greise.
+Andere, laute und l&auml;rmende, f&uuml;hrten Worte im Munde,
+deren Sinn, den ich erst allm&auml;hlich erriet, mir die Schamr&ouml;te
+in die Wangen trieb. Ob es ihnen wirklich irgend
+etwas nutzen konnte, da&szlig; sie hier w&auml;hrend ein paar
+Kinderjahren vom inneren und &auml;u&szlig;eren Schmutz ein
+wenig gereinigt wurden?! dachte ich bei mir und wurde
+in meiner Vermutung best&auml;rkt, wenn sich ihre eigenen
+M&uuml;tter immer wieder &uuml;ber die gesundheitssch&auml;dliche
+Anwendung zu vielen Wassers beklagen kamen.</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn wir nichts weiter erreichten, als ihnen
+ein paar fr&ouml;hliche Stunden schaffen und f&uuml;r ihr ganzes
+sp&auml;teres Leben die wohlige Erinnerung an etwas Sonnenschein &mdash; so
+ist das genug,&laquo; sagte Gro&szlig;mama.</p>
+
+<p>Wir gingen auch ins Dorf und besuchten die Insten.
+Mit unheimlicher Regelm&auml;&szlig;igkeit wiederholte sich dabei
+stets dasselbe: Frauen empfangen uns, oft kaum drei&szlig;igj&auml;hrig
+und schon mit grauen Haaren, schlaffen Br&uuml;sten
+und runden R&uuml;cken, Greisinnen unter ihnen, zahnlose,
+mit tausend Falten in der Pergamenthaut, aber nur
+hie und da bl&uuml;hende junge M&auml;dchen. Die gingen alle
+in die Stadt, in den Dienst oder in die Fabrik, und
+brachten, wenn sie heimkamen, vaterlose W&uuml;rmchen mit,
+die die alten Eltern schlecht und recht aufziehen mu&szlig;ten.
+Immer warens dieselben Klagen, die uns entgegenschollen:
+der Vater, der Gatte, der Sohn vertrank die
+paar Groschen Verdienst und lohnte Weiber und T&ouml;chter
+obendrein mit Schl&auml;gen, wenn Schmalhans zuhause
+K&uuml;chenmeister war.</p>
+
+<p>Nicht weniger als drei Schankwirte machten sich
+in Pirgallen die G&auml;ste streitig. Der scharfe Geruch
+<a name="Page_311" id="Page_311"></a>von Fusel, schlechtem Tabak und Menschenschwei&szlig;,
+der in ihren R&auml;umen klebte, lie&szlig; mir vor Ekel
+den Atem stocken, und doch war der Aufenthalt dort
+noch besser, als in der Stickluft der H&auml;user, zwischen
+l&auml;rmenden Kindern und keifenden Frauen. Mich grauste
+vor jedem Trunkenbold, &mdash; jetzt fing ich an, ihn zu verstehen.
+Vergebens hatte Gro&szlig;mama bei ihrem Sohn
+die Einrichtung von Leseabenden, die Einf&uuml;hrung guter
+B&uuml;cher f&uuml;r Pirgallens Bewohner zu erreichen gesucht,
+damit sie den Weg ins Wirtshaus seltener f&auml;nden.
+&raquo;Das hie&szlig;e Bed&uuml;rfnisse wecken, die schlie&szlig;lich zur Landflucht
+treiben,&laquo; war seine Antwort gewesen.</p>
+
+<p>Nur weiter drau&szlig;en, wo die H&auml;user der Fischer einsam
+am Haffstrand lagen und die grauen Wellen jetzt im
+M&auml;rz noch Eisschollen auf ihrem R&uuml;cken trugen, lebten
+die Familien nach uraltem Brauch friedlich zusammen.
+Die kurze Pfeife in Mund, flickte der Hausvater die
+Netze, und die Hausfrau sa&szlig; am Webstuhl, schweigsam
+wie er. Kam der Feierabend, so las der Alte aus der
+vergriffenen Bibel mit schwerer, eint&ouml;niger Stimme, und
+ein Gebet schlo&szlig; den Tageslauf. Und doch kam mirs
+hier unheimlicher vor als im Dorf. Hier herrschte
+noch mit eiserner Strenge das Gesetz der Unterordnung
+der Kinder unter den Willen der V&auml;ter.
+Jeder Wunsch in die Ferne wurde erstickt, zerpr&uuml;gelt,
+jede lebenswarme Freude starb, wenn sie hier in die
+T&uuml;re trat.</p>
+
+<p>Wir kamen nie mit leeren H&auml;nden, der Dank war
+immer ein &uuml;berschwenglicher, der nicht im Verh&auml;ltnis
+zur Gabe stand. Mochte er nun von Herzen kommen
+oder verlogen sein, mir war er gleich unertr&auml;glich.<a name="Page_312" id="Page_312"></a>
+Gro&szlig;mama meinte, da&szlig; ich durch sein Abwehren beleidigend
+wirkte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht anders, Gro&szlig;mama,&laquo; sagte ich, &raquo;wenn
+ich der armen Lene eine Suppe bringe, so sch&auml;me ich
+mich, da&szlig; ich mich am liebsten vor ihr verstecken m&ouml;chte.
+Warum in aller Welt bin ich nicht die Lene?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; du es besser hast, mu&szlig;t du mit besser sein vergelten,&laquo;
+entgegnete sie ernst. Meine Empfindung aber
+steigerte sich nur. Das R&auml;tsel des Elends in der Welt
+und seine Unl&ouml;sbarkeit richtete sich riesengro&szlig; vor mir
+auf, ein Felsentor mit schwarzer Eisenpforte. Rostflecke
+bedeckten sie und Blut klebte an ihr, &mdash; Zeichen der vielen,
+die an ihr r&uuml;ttelnd vergebens Eingang verlangt hatten.
+Niemand besa&szlig; den Schl&uuml;ssel, und der Glaube, der &uuml;ber
+sie hinwegtr&auml;gt zu sonnigen Welten jenseitiger Vergeltung,
+war mir verloren gegangen.</p>
+
+<p>Abends lasen wir miteinander, Gro&szlig;mama und ich.
+Die stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen,
+die sie durch ihren Sohn regelm&auml;&szlig;ig erhielt,
+bildeten damals ihre Lieblingslekt&uuml;re. Mich langweilten
+sie zun&auml;chst schrecklich, ich verstand ja nicht einmal das
+ABC der Sache. Da&szlig; Bismarck, den wir alle wie
+einen Halbgott verehrten, sich mit der ganzen Leidenschaft
+seiner Sprache, dem ganzen Gewicht seiner Pers&ouml;nlichkeit
+f&uuml;r etwas, meiner Empfindung nach so Untergeordnetes,
+wie das Branntweinmonopol ins Zeug legte, kam
+mir komisch, ja fast ver&auml;chtlich vor. Erst als Ende M&auml;rz
+die Frage der Verl&auml;ngerung des Sozialistengesetzes auf
+der Tagesordnung stand, wuchs mein Interesse mit der
+dramatischen Bewegtheit der Verhandlungen.</p>
+
+<p>Meine Gro&szlig;mutter war von je her eine Gegnerin aller<a name="Page_313" id="Page_313"></a>
+Ausnahmegesetze gewesen, mochten sie sich nun gegen
+Polen oder gegen Sozialdemokraten richten. &raquo;Sie schaffen
+nur M&auml;rtyrer, und M&auml;rtyrer werben Scharen von
+Proselyten,&laquo; pflegte sie zu sagen; aber sich mit S&ouml;hnen
+oder Schwiegersohn, denen keine Ma&szlig;regel gegen die
+Umst&uuml;rzler energisch genug war, dar&uuml;ber auseinander
+zu setzen, hatte sie l&auml;ngst aufgegeben. Mir selbst ging
+es in bezug auf die Sozialdemokratie, wie den meisten
+Menschen in bezug auf die Religion: ich hatte noch nie
+&uuml;ber sie nachgedacht, ich vermochte es kaum, weil gewisse
+dogmatische Anschauungen sich mir von klein auf als
+etwas Selbstverst&auml;ndliches eingepr&auml;gt hatten, ohne da&szlig;
+mein Glaube daran ein irgendwie lebendiger gewesen
+w&auml;re. Sozialdemokraten sind Verbrecher, auf deren ungeschriebenen
+Tafeln der K&ouml;nigsmord zum Gesetz erhoben
+wird; sie sind gemeine L&uuml;stlinge, die ein Leben niedrigster
+Gen&uuml;sse zum Ziel alles Strebens machen; sie sind Volksverf&uuml;hrer
+und Betr&uuml;ger, die, wo es ihren Vorteil gilt,
+die Ideale der Freiheit und Br&uuml;derlichkeit im Munde
+f&uuml;hren, &mdash; nie hatte ich etwas anderes geh&ouml;rt, noch nie
+war mir ein Zweifel an diesen traditionellen Auffassungen
+in den Sinn gekommen. Die kalte Atmosph&auml;re der
+Ideallosigkeit, in der auch die Religion zu Eis erstarrte,
+und die die Lebensluft der Kreise war, in denen ich
+lebte, lie&szlig; mich immer st&auml;rker fr&ouml;steln, je &auml;lter ich wurde,
+und steigerte meine Sehnsucht nach einem hei&szlig;en Sonnenland
+des inneren Lebens, wo Hoffnungsblumen noch
+wachsen k&ouml;nnen. Die Sozialdemokratie, die auf unseren
+alten Kaiser die Mordwaffe gerichtet hatte, die das
+Vaterland st&auml;ndig beschimpfte, die Familie zerst&ouml;ren, die
+Frauen zum Gemeingut machen wollte, erschien mir wie
+<a name="Page_314" id="Page_314"></a>die letzte Entwicklungsphase der Vereisung. Es gab
+daher Augenblicke, wo ich meinem Vater und meinem
+Onkel mehr beipflichtete als meiner Gro&szlig;mutter und
+deren Wunsch, &raquo;die infamen Kerls an den Laternenpf&auml;hlen
+aufzukn&uuml;pfen&laquo;, mich nicht emp&ouml;rte.</p>
+
+<p>Mit steigendem Staunen las ich jetzt die Debatten.
+Als der Minister von Puttkamer, &mdash; der mir als kirchlicher
+Reaktion&auml;r schon unangenehm genug war, &mdash; die gegen die
+&Uuml;bermacht reicher Fabrikanten um ihr Brot k&auml;mpfenden
+belgischen Kohlenarbeiter, von denen damals die Presse
+voll war, als Beispiel jener &raquo;sozialrevolution&auml;ren Bewegung&laquo;
+hinstellte, der die deutsche Regierung &raquo;mit niederschmetterndem
+Widerstand begegnen&laquo; w&uuml;rde, frappierte
+mich diese Identifizierung armer darbender Arbeiter
+mit den deutschen Sozialdemokraten au&szlig;erordentlich, und
+als Bebel antwortete, verga&szlig; ich &uuml;ber alledem, was er
+sagte, die Person des Redners. Da&szlig; der &Uuml;bermut der
+durch die Arbeit der Armen reich gewordenen belgischen
+Fabrikanten und die Unterst&uuml;tzung, die die Regierung
+ihnen angedeihen lie&szlig;, indem sie mit milit&auml;rischer Gewalt
+wie gegen Vaterlandsfeinde gegen die Bergarbeiter vorging,
+die revolution&auml;re Bewegung hervorgerufen h&auml;tte, &mdash; hervorrufen
+mu&szlig;te, weil Menschen auf die Dauer
+keine stumpfsinnigen Sklaven sind, ebenso wie die Herrschaft
+der Knute in Ru&szlig;land notwendig den Meuchelmord
+zeugte, &mdash; das alles wirkte auf mich mit der Selbstverst&auml;ndlichkeit
+eigenster Gedankeng&auml;nge, und mich emp&ouml;rte
+die versteckte Absichtlichkeit, mit der dem Redner die
+Worte im Munde verdreht wurden und seine politischen
+Gegner ihm immer wieder unterstellten, er habe den
+Mord verherrlicht. Ich fiel erst wieder &mdash; und recht
+<a name="Page_315" id="Page_315"></a>empfindlich &mdash; aus den Himmeln meiner Begeisterung,
+als St&ouml;cker von den elenden L&ouml;hnen Berliner M&auml;nteln&auml;herinnen
+sprach, und Singer, der Parteig&auml;nger Bebels,
+der sich mir eben als Vertreter aller Unterdr&uuml;ckten
+offenbart hatte, dem pers&ouml;nlichen Vorwurf, da&szlig; er selbst
+durch solche L&ouml;hne reich geworden sei, nur mit lahmen
+Ausreden begegnete.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist wie bei den Predigern des Christentums,&laquo;
+sagte ich, wie immer rasch verbittert durch eine Entt&auml;uschung,
+zu Gro&szlig;mama, &raquo;richtet euch nach meinen
+Worten, aber nicht nach meinen Taten.&laquo; Und erheblich
+ern&uuml;chtert las ich weiter. Aber schon wenige Seiten
+sp&auml;ter schlug meine Empfindung abermals um, &mdash; es
+war eben nur Empfindung, die sich wie Sommerf&auml;den
+vom Winde hin und her treiben lie&szlig;, weil sie nicht
+zwischen die festen Pfeiler der Erkenntnis gesponnen
+war. Ein konservativer Redner verlas ein Zitat aus
+dem Kommunistischen Manifest, wonach die Weibergemeinschaft
+eines der Postulate der Sozialdemokratie
+w&auml;re. Aus Liebknechts Erwiderung ergab sich, da&szlig; es
+sich auch diesmal um eine gegnerische F&auml;lschung handelte.
+Seinem ganzen Inhalt nach gab er das Manifest wieder.
+Ich fa&szlig;te nur auf, was mich am tiefsten traf: die Forderung
+einer von &ouml;konomischen R&uuml;cksichten vollkommen
+losgel&ouml;sten Ehe. Wurde nicht hier die Standarte eines
+Ideals aufgerichtet, das die ganze christliche Zivilisation
+nicht nur nicht verwirklicht, sondern mehr und mehr in
+den Staub getreten hatte?!</p>
+
+<p>Ich sprach mit Gro&szlig;mama dar&uuml;ber.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist das Verdienst der Sozialdemokratie,&laquo; sagte
+sie, &raquo;&uuml;ber das man manche ihrer S&uuml;nden vergessen
+<a name="Page_316" id="Page_316"></a>k&ouml;nnte, da&szlig; sie alte wahrhaft christliche Ideale in ein
+neues Kleid gesteckt hat und die Menge glauben l&auml;&szlig;t,
+es handle sich auch um neue K&ouml;rper. Aber eine Verwirklichung
+kann sie trotzdem nicht dekretieren. Jahrhunderte
+einer christlichen Erziehung und Gesetzgebung
+geh&ouml;ren dazu. Sieh dir doch hier einmal die Menschen
+an. Schon die Verwirklichung einer uns so gel&auml;ufigen
+Forderung, wie die des allgemeinen Stimmrechts, erscheint
+angesichts ihrer verfr&uuml;ht. Oder meinst du, da&szlig;
+es zum Besten der Menschheit ist, wenn die Mehrheit,
+d.&nbsp;h. heute noch die Schlechten, die Dummen und Rohen,
+an ihrer Spitze stehen?&laquo; Ich verstummte vor diesem
+Argument: unsere betrunkenen Instleute &mdash; entscheidende
+Faktoren in Fragen der Kulturentwicklung, das war
+zweifellos absurd.</p>
+
+<p>Von Disraelis &raquo;Sybil&laquo; und Zolas &raquo;Germinal&laquo; hatte
+Liebknecht in derselben Rede gesprochen. Wir lasen
+daraufhin beides: das schw&auml;chliche Werk des Engl&auml;nders,
+das nur darum erstaunlich war, weil ein Premierminister
+sich so offen auf die Seite der &raquo;schwarzen
+Arbeiter&laquo; hatte stellen k&ouml;nnen, und den Roman des
+Franzosen, der mir t&auml;glich neue Schauer des Entsetzens
+&uuml;ber den R&uuml;cken jagte, dessen f&uuml;rchterliche Bilder mich
+bis in meine Tr&auml;ume verfolgten. Ich sah die Maheude
+auf dem Schlachtplatz vor dem Schacht neben dem toten
+Mann im schwarzen Schlamme sitzen und Katherine
+und Etienne tief in der dunkeln Grube, wo gurgelnd
+das Wasser h&ouml;her und h&ouml;her an ihnen emporstieg, und
+der Hunger mit kalten Knochenfingern ihren Leib zusammen
+schn&uuml;rte, w&auml;hrend der gedunsene Leichnam des
+gemordeten Rivalen wieder und wieder von den Wellen
+<a name="Page_317" id="Page_317"></a>zu ihnen empor getragen wurde; &mdash; aber f&uuml;rchterlicher,
+als all diese Bilder, haftete ein anderes unausl&ouml;schlich
+in meinem Ged&auml;chtnis: jener grauende Morgen, an dem
+sich vor dem wieder ge&ouml;ffneten Schacht scheu und geb&uuml;ckt,
+still und dem&uuml;tig all die zusammen fanden, die eben
+noch f&uuml;r ihre Freiheit Leib und Leben eingesetzt hatten.
+&raquo;Was willst du &mdash; ich hab ein Weib!&laquo; sagten sie m&uuml;de,
+&raquo;ich habe Kinder &mdash; eine Mutter &mdash; mich hungert;&laquo;
+und die Maheude, die Furie des Aufstands, z&auml;hlte schon
+die Jahre ihrer J&uuml;ngsten, bis auch sie reif w&auml;ren zur
+Einfahrt, &mdash; &raquo;sie tragen alle ihre Haut zu Markte, die
+Reihe kommt auch an sie!&laquo; &mdash; Da&szlig; es Hunger und Not
+und Elend gab, &mdash; entsetzlich war es; entsetzlicher noch,
+da&szlig; die Menschen es ertrugen.</p>
+
+<p>Inzwischen war &uuml;ber Nacht mit all seiner Herrlichkeit
+der Mai ins Land gezogen, und vorbei wars mit der
+Stille in Gro&szlig;mamas gr&uuml;nem Zimmer. Ihr Sohn und
+die Seinen kehrten heim, und ein Taubenschlag war aufs
+neue das alte Schlo&szlig; von Pirgallen. Ich wars zufrieden;
+ein Netz von Schwermut schn&uuml;rte mir den Atem
+ein, leer, zweck- und ziellos erschien mir das Leben, und
+alle Mittel versagten, um mir selbst zu entfliehen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe in letzter Zeit wieder so unter den einsamen
+Gr&uuml;belstunden gelitten und war so am Ende alles
+Denkens angelangt,&laquo; schrieb ich an meine Kusine, &raquo;da&szlig;
+der Trubel der Gef&auml;lligkeit gerade zur rechten Zeit kam;
+ich mu&szlig; in diesem bet&auml;ubenden Meer des Vergebens
+wieder untertauchen, um nicht zu sterben vor Melancholie.&laquo;
+Und ein paar Wochen sp&auml;ter: &raquo;Wenn man mit sich und
+der Welt so zerfallen ist wie ich, so ist es das Beste,
+nicht zur Besinnung zu kommen. Ich genie&szlig;e das Leben,
+<a name="Page_318" id="Page_318"></a>so lange ich jung bin und man mir huldigt, und bet&auml;ube
+die warnenden Stimmen im Innern. Ich reite,
+ich rauche, ich bin kokett, ich mache extravagante Toiletten
+und erlaube mir Dinge, die man zu verdammen pflegt, &mdash; aber
+ich w&uuml;rde mir auch nichts daraus machen,
+wenn ein Sturz vom Pferde, ein Umschlagen des Kahns
+dem dummen Spa&szlig; ein Ende machen w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>Mit einer gewissen kalten Neugier beobachtete ich
+meine steigende Anziehungskraft auf die M&auml;nner. Ihre
+Huldigungen wurden mir mehr und mehr zum Bed&uuml;rfnis;
+von ihrer Glut sprangen warme Wellen zu mir hin&uuml;ber,
+die mir zuweilen die Wohltat eigenen Feuers vort&auml;uschten.</p>
+
+<p>An meinem Geburtstagsabend, nach einem durchtanzten
+und durchspielten Tag, an dem ich mir aus
+lauter Angst, an die Vergangenheit denken zu m&uuml;ssen,
+keinen Augenblick Ruhe geg&ouml;nnt hatte, schrieb ich an
+Mathilde, die sich gerade im Harz befand und mich
+dringend in die &raquo;Stille der Bergwelt&laquo; eingeladen hatte:
+&raquo;Die Stille mag gut sein f&uuml;r den, der sich gern erinnert,
+unsereins braucht die ewig knarrende Tretm&uuml;hle des
+Am&uuml;sements. Aber gr&uuml;&szlig; mir immerhin den Harz; seine
+Berge sind freilich Kinderspielzeug, seine Felsen eines
+nichtsnutzigen Engels schlechte Kopien von Gottvaters
+Wunderwerken, aber er hat einen Vorzug: die nahe Beziehung
+zur H&ouml;lle, nach der ich ein unb&auml;ndiges Verlangen
+trage. Wenn der Teufel auf dem Brocken seinen
+Repr&auml;sentationsball gibt, sag ihm, er soll mich nicht
+vergessen. Er wird dir dankbar sein f&uuml;r deine Kupplerdienste, &mdash; ich
+bin momentan geradezu eine Delikatesse
+f&uuml;r ihn.&laquo;</p>
+
+<p>Wir siedelten bald darauf nach Kranz &uuml;ber, wo mein<a name="Page_319" id="Page_319"></a>
+Onkel eine ger&auml;umige Villa dicht am Strand gemietet
+hatte. Das reizende Seebad war &uuml;berschwemmt mit
+dem Adel Ostpreu&szlig;ens, und mit jener Selbstverst&auml;ndlichkeit
+aller Bevorrechteten, die sich unbewu&szlig;t immer
+als Mittelpunkt des Weltganzen f&uuml;hlen und die &uuml;brige
+Menschheit nicht anders ansehen als ihre Kammerdiener,
+vor denen man sich auch ungeniert gehen lassen
+kann, dominierte unser gro&szlig;er lustiger Kreis &uuml;berall:
+wir nahmen die besten Pl&auml;tze ein, die besten Schiffe
+beanspruchten wir, und wir dachten nicht im entferntesten
+an die Ruhebed&uuml;rftigkeit anderer Badeg&auml;ste, wenn wir
+bis tief in die Nacht hinein im Kursaal tanzten und vom
+Strand aus prasselnde Feuerwerke gen Himmel steigen
+lie&szlig;en. Unsere alten Herren sa&szlig;en bei Regen und
+Sonnenschein beim Skat und k&uuml;mmerten sich wenig um
+uns, so da&szlig; die Jugend sich doppelt des Lebens freute.
+Ein kleiner Graf, den wir, wegen seiner frappanten
+&Auml;hnlichkeit mit den d&uuml;nnen Spiel&auml;ffchen aus Seide,
+den Chenille-Grafen getauft hatten, gab den Ton an.
+Er war h&auml;&szlig;lich, aber ungemein gewandt und grazi&ouml;s,
+seine Schlagfertigkeit, sein bei&szlig;ender Witz, der nicht
+frei von Zynismus war, seine chevalreske Art Damen
+gegen&uuml;ber, die einen Stich von Impertinenz besa&szlig;, seine
+vielseitige k&uuml;nstlerische Begabung, die &uuml;berall im leichtfertigen
+Dilettantismus stecken geblieben war, machten
+ihn in diesem Kreis zu einer nicht allt&auml;glichen Erscheinung.
+Eine &raquo;Partie&laquo; war er nicht; er konnte sich
+daher onkelhafte Freiheiten gestatten, und f&uuml;r mich, die
+ich, wie er, nichts suchte als Am&uuml;sement, war er der
+gegebene Kavalier.</p>
+
+<p>Eines abends &mdash; wir sa&szlig;en wie gew&ouml;hnlich im Sande
+<a name="Page_320" id="Page_320"></a>und spielten Pf&auml;nderspiele &mdash; mischte sich ein neuer
+Gef&auml;hrte in unseren Kreis: Graf G&ouml;hren. Er erschien
+mir sofort als des lustigen Chenille-Grafen direktes
+Widerspiel, gemessen in den Bewegungen, etwas ungeschickt
+sogar, ernsthaft, ein wenig verlegen. Wie ein
+guter, treuer Pinscher sah er aus, mit runden erstaunten
+Augen. Mich genierte seine Anwesenheit, ich wu&szlig;te
+nicht recht, warum. Es f&uuml;gte sich in den folgenden
+Tagen, da&szlig; wir uns n&auml;her kennen lernten, und als wir
+einmal auf einem Spaziergang in den D&uuml;nen vor einem
+Gewitter die Flucht ergriffen und, von der &uuml;brigen Gesellschaft
+getrennt, in einem verlassenen Pavillon Schutz
+suchten, legte er mit ungew&ouml;hnlich sorglicher Geb&auml;rde
+seinen Mantel um meine Schultern. Ich wurde bis
+ins Innerste warm dabei, &mdash; es tat so wohl, sich unter
+gutem Schutz zu wissen! Abends am Strande war ich
+nicht recht bei der Sache und horchte erst auf, als der
+Chenille-Graf mit einer Gitarre unter dem Arm auf
+mich zu trat. &raquo;Nun hab ich f&uuml;r Ihr Lied die Melodie
+gefunden, Gn&auml;digste,&laquo; sagte er, &raquo;wenn wir das anstimmen,
+kriegen die Kranzer eine G&auml;nsehaut vor Entsetzen.&laquo;
+Mein Lied?! Ach so! &mdash; vor ein paar Tagen
+hatte er mein Notizbuch gefunden, und keck, wie er war,
+zum Lohn ein Gedicht begehrt, da&szlig; er darin entdeckt
+hatte. &raquo;Darf ich es sehen?&laquo; frug Graf G&ouml;hren. Seine
+Stirn runzelte sich, als er es las. &raquo;Sie werden es
+nicht singen lassen&laquo; &mdash; sagte er darnach mit scharfer
+Betonung zu mir gewandt. &raquo;Erlauben Sie, lieber Graf,&laquo;
+warf der andere l&auml;chelnd ein: &raquo;Fr&auml;ulein von Kleve hat
+sich des Rechts dar&uuml;ber schon begeben.&laquo; &mdash; &raquo;Es bleibt
+trotzdem ihr Eigentum, und ich versichere Sie, da&szlig; es
+<a name="Page_321" id="Page_321"></a>niemand anders h&ouml;ren wird &mdash;&laquo;. Graf G&ouml;hrens Stimme
+nahm einen drohenden Klang an, die Situation wurde
+kritisch. Mir stieg das Blut zu Kopf, &mdash; mit welchem
+Recht verf&uuml;gte dieser Mann &uuml;ber mich?! Da sah der
+Chenille-Graf mich mit seinem bezauberndsten L&auml;cheln und
+einem kecken Blinzeln seiner kleinen stechenden Augen
+an: &raquo;Ich beuge mich selbstverst&auml;ndlich, wie immer, dem
+Willen der Dame&laquo;, &mdash; und herausfordernd griffen seine
+schmalen gebr&auml;unten Finger in die Seiten der Gitarre.
+&raquo;Sie brauchen wirklich nicht um mein Seelenheil besorgt
+zu sein; Graf G&ouml;hren,&laquo; spottete ich, &raquo;wenn mein Lied
+Sie chokiert, steht es Ihnen frei, nicht zuzuh&ouml;ren!&laquo; Mit
+kurzer Verbeugung reichte er mir das Papier. Es hatte
+zu d&auml;mmern angefangen, und unsere Gef&auml;hrten str&ouml;mten
+von allen Seiten zum gewohnten Platz. Eine Bowle,
+ein paar Torten, das Ergebnis einer verlorenen Wette,
+wurden von der Strandkonditorei herunter getragen, &mdash; &raquo;und
+nun kommt das Beste!&laquo; rief der Chenille-Graf,
+&raquo;unser k&uuml;nftiges Bundeslied:&laquo;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Sto&szlig;t an mit mir! F&uuml;llt wieder die Pokale,<br /></span>
+<span class="i0">Es sch&auml;umt der Wein, sch&auml;umt wie des Lebens Lust;<br /></span>
+<span class="i0">Ein heitrer Sinn ziemt diesem G&ouml;ttermahle.<br /></span>
+<span class="i0">Im Fieber schl&auml;gt das Herz uns in der Brust,<br /></span>
+<span class="i0">La&szlig;t uns, damit die Sorgen uns versinken,<br /></span>
+<span class="i12">Trinken!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Die Herren im Kreise wiederholten den Refrain, die
+Damen schwiegen.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Lind ist die Nacht, es duften s&uuml;&szlig; die Rosen,<br /></span>
+<span class="i0">Hei&szlig; ist der Mund, der sich auf deinen pre&szlig;t;<br /></span>
+<span class="i0">Noch ist es Zeit, zu lieben und zu kosen,<br /></span>
+<span class="i0">Noch sei ein jeder Augenblick ein Fest.<br /></span><p><a name="Page_322" id="Page_322"></a></p>
+<span class="i0">La&szlig;t uns, so lang die Sommerblumen sprie&szlig;en<br /></span>
+<span class="i12">Genie&szlig;en!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Auf der Strandpromenade hinter uns sammelte sich das
+Publikum. Von einer flackernden Laterne matt erhellt,
+sah ich G&ouml;hrens Gesicht mitten darunter, und ihm zum
+Trotz stimmte ich als einzige unter den jungen M&auml;dchen,
+deren Wangen sich vor Verlegenheit mehr und mehr
+r&ouml;teten, in den Refrain ein.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Es braust das Meer, das Schiff schwankt auf und nieder,<br /></span>
+<span class="i0">Helljubelnd gr&uuml;&szlig;en wir den Wellenschaum,<br /></span>
+<span class="i0">Der Sturm singt uns das sch&ouml;nste aller Lieder<br /></span>
+<span class="i0">Und wiegt uns ein zu wild-bewegtem Traum &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Was ist das Ende, wenn die Wellen branden? &mdash;<br /></span>
+<span class="i12">Stranden!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Mit einem Akkord fanatischer Lebensfreude, der mir
+in seiner grellen Dissonanz zu den Worten schmerzhaft
+ins Herz schnitt, schlo&szlig; der S&auml;nger. Man dr&auml;ngte sich
+um uns, die Gl&auml;ser klirrten aneinander, ich hob das
+meine noch einmal hoch empor wie zum Gru&szlig; an den
+mi&szlig;g&uuml;nstigen Zuschauer, der unter der Menge verschwand.</p>
+
+<p>&raquo;Du hast dir wiedermal eine der besten Partien verscherzt,&laquo;
+sagte Onkel Walter am Morgen &auml;rgerlich zu
+mir; &raquo;Graf G&ouml;hren ist abgereist.&laquo; Ich zuckte gleichg&uuml;ltig
+die Achseln. &raquo;Du solltest zufrieden sein, wenn
+&uuml;berhaupt noch irgendwer ernsthafte Absichten hat, nach
+dem Skandal mit &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte dich, dies Thema ein f&uuml;r allemal unber&uuml;hrt
+zu lassen,&laquo; unterbrach ich ihn heftig, &raquo;im &uuml;brigen erkl&auml;re
+ich dir: lieber gehe ich betteln, als da&szlig; ich mich
+verkaufe.&laquo;</p>
+
+<p>Onkel Walter wurde dunkelrot. &raquo;M&auml;&szlig;ige dich, ja?<a name="Page_323" id="Page_323"></a>&laquo;
+herrschte er mich an, dann zuckte ein bitteres L&auml;cheln
+&uuml;ber seine sonst so gemessen beherrschten Z&uuml;ge: &raquo;Glaubst
+du, da&szlig; irgend einer von uns seinem Herzen hat folgen
+k&ouml;nnen?!&laquo; &Uuml;berrascht sah ich auf &mdash; welch Licht fiel
+pl&ouml;tzlich auf das Gl&uuml;ck von Pirgallen?!</p>
+
+<p>Im Sp&auml;therbst besuchte ich Gro&szlig;mama noch ein paar
+Tage, um dann zu meinen Eltern nach Bromberg &uuml;berzusiedeln.
+Die letzten Monate krampfhaften Lebens
+waren wie der Sturm gewesen, der dem noch immer
+vom Sommer sehns&uuml;chtig tr&auml;umenden Baum die letzten
+Bl&auml;tter entrei&szlig;t. Sonst, wenn michs fr&ouml;stelte vor dem
+nahenden Winter, gaukelte meine treue Gef&auml;hrtin
+Phantasie mir immer neue lachende Fr&uuml;hlingsbilder vor,
+und meine junge, starke Hoffnung hielt sie gl&auml;ubig fest.
+Jetzt sah ich mich vergebens um nach den beiden. In
+jener Nacht, da mein Herz gestorben war, hatten sie
+mich wohl verlassen. Sie bleiben nur Lebendigen treu.</p>
+
+<p>&raquo;Ist es nicht merkw&uuml;rdig, da&szlig; Ihr alle meinen Leichnam
+f&uuml;r mich selbst halten k&ouml;nnt?!&laquo; schrieb ich an meine
+Kusine, &raquo;oder meinst Du, ich lebte, nachdem ich mit vollen
+Segeln ins Leben hinaus fuhr, um eine neue Welt zu
+entdecken, und nun mitten auf dem Ozean treibe und nichts
+gefunden habe als das ewige Einerlei der Wogen! &mdash; &mdash; &mdash; Nur
+um eine Einsicht bin ich inzwischen reicher
+geworden: da&szlig; das Gl&uuml;ck, nach dem wir ein so unb&auml;ndiges
+Verlangen tragen, nichts ist als Bet&auml;ubung. Bet&auml;ube
+durch Arbeit, Vergn&uuml;gen, Liebe, durch Religion und
+Kunst Deine &Uuml;berlegung, bet&auml;ube den Gedanken an all
+das Elend in der Welt, geistiges und leibliches, bet&auml;ube
+die Erinnerung an selbstverschuldete Schmerzen, an gescheiterte
+Hoffnungen mit einem dieser Narkotika, und<a name="Page_324" id="Page_324"></a>
+Du wirst &#8250;gl&uuml;cklich&#8249; sein. Je j&uuml;nger man ist, desto
+leichter gehts; es ist aber leider wie mit dem Morphium:
+je mehr man seiner bedarf, desto weniger wirkt es ...&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich ging sehr ungern nach Bromberg. Ich f&uuml;rchtete
+mich. Vor Papas &uuml;bler Laune, vor der &Ouml;de
+der Kleinstadt. Nach einer Richtung wurde
+ich angenehm entt&auml;uscht: mein Vater war bei bestem
+Humor und erz&auml;hlte mir schon in den ersten zehn
+Minuten des Zusammenseins, da&szlig; seine Stellung nicht nur
+eine sehr angenehme und selbst&auml;ndige, sondern infolge der
+anzeigenden Kriegswolken an der russischen Grenze eine
+h&ouml;chst interessante w&auml;re. Aber in bezug auf die Kleinstadt
+wurden meine schlimmsten Erwartungen &uuml;bertroffen.
+Es gibt welche, die erf&uuml;llt sind von Tradition; die
+Giebelh&auml;user, die T&uuml;rme, die Kirchen, die Stadtmauern
+erz&auml;hlen unabl&auml;ssig ihre alten Geschichten, und wir
+tr&auml;umen und phantasieren schlie&szlig;lich so gern mit ihnen,
+da&szlig; wir die Welt drau&szlig;en beinah vergessen; und andere
+gibt es, die liegen warm und wohlig an breiter sch&uuml;tzender
+Bergbrust, ein Fl&uuml;&szlig;lein rauscht und pl&auml;tschert ihnen zu
+F&uuml;&szlig;en, und ringsum breitet Mutter Natur ihr wunderlieblichstes
+Spielzeug aus, &mdash; auch da ist gut sein f&uuml;r
+arme heimatlose Wanderer; aber wo Pest und polnische
+Wirtschaft die H&auml;user und Mauern zerfallen, die W&auml;lder
+rasieren lie&szlig;en und die moderne Industrie lieblos und
+gleichg&uuml;ltig an schnurgeraden Stra&szlig;en Kasernen und
+Fabriken baute, da ist recht eigentlich die Fremde, die
+nie und nimmer zur Heimat wird. Da&szlig; der alte Fritz
+hier den Kanal gebaut hatte, der die Weichsel mit der<a name="Page_325" id="Page_325"></a>
+Oder verband, da&szlig; er die Schleusen mit vielen sch&ouml;nen
+B&auml;umen umpflanzen lie&szlig;, dankte ihm jeder, der nach
+Bromberg verschlagen wurde, &mdash; diese einzige Sch&ouml;nheit
+des Orts machte es allein m&ouml;glich, hier und da frei
+aufzuatmen.</p>
+
+<p>Wie die Tiere sich in Form und F&auml;rbung ihrer Umgebung
+anpassen, so nehmen die Menschen allm&auml;hlich die
+Stimmung ihres Wohnorts an. Ein schweres Grau
+lagerte daher &uuml;ber der bromberger Geselligkeit, selbst
+die Ballgeigen litten unter einer gewissen Apathie.
+Dabei tanzte man unerm&uuml;dlich mit einem erwartungsvollen
+Eifer, als gelte es, das Vergn&uuml;gen schlie&szlig;lich doch
+einzuholen. Aber es lief immer wieder davon. Der
+Flirt stand in sch&ouml;nster Bl&uuml;te, und der Klatsch noch
+mehr, &mdash; womit h&auml;tten sich die Leute auch sonst besch&auml;ftigen
+sollen?! Es wimmelte von Uniformen aller
+Art; aber selbst die sch&ouml;nste kavalleristische Farbenpracht
+vermochte nicht &uuml;ber den Talmiglanz des Lebens hinweg
+zu t&auml;uschen. Ich verkehrte viel mit jungen Frauen;
+zwischen mir und den jungen M&auml;dchen bestand nun einmal
+ein gespanntes Verh&auml;ltnis. &raquo;Ihr Leben allein widert
+mich an&laquo;, schrieb ich an Mathilde, &raquo;ein bi&szlig;chen Musik,
+ein bi&szlig;chen Malerei, ein bi&szlig;chen Wohlt&auml;tigkeit und unter
+dieser Maske der guten Gesellschaft entweder nichts, oder
+ein unklares Durcheinander von Romantik und unterdr&uuml;ckten
+kleinen Passionen. Nie ein starkes Gef&uuml;hl, nie
+ein brennendes Interesse. O, da&szlig; ihr kalt oder warm
+w&auml;ret!&laquo; Die Frauen hatten doch einen Lebensinhalt:
+ihre Kinder, ihren Mann, ihre H&auml;uslichkeit; freilich: Zeit,
+an ihre Bildung zu denken, hatten sie nicht. Wie viele,
+die abends in eleganter Toilette, Lebenslust heuchelnd,
+<a name="Page_326" id="Page_326"></a>den Ballsaal betraten, standen vom fr&uuml;hen Morgen an
+am Kochherd, nur mit dem Burschen, dem gutm&uuml;tigen
+&raquo;M&auml;dchen f&uuml;r Alles&laquo; als H&uuml;lfe, und wuschen abends
+heimlich bei verh&auml;ngten Fenstern die Kinderw&auml;sche selbst.
+Zu standesgem&auml;&szlig;er Geselligkeit verpflichtet, gaben sie
+zwei langweilig-feierliche Soupers j&auml;hrlich, fasteten vor- und
+nachher, um sie m&ouml;glich zu machen, und bezahlten
+eine gro&szlig;e Wohnung aus demselben Grunde. Wenn
+sie aber dann, schlank und vornehm im glatten Schneiderkleid
+an der Seite ihrer eleganten, s&auml;belrasselnden
+M&auml;nner &uuml;ber die Stra&szlig;en gingen, folgten ihnen neidische
+Blicke, denn das Volk hat die Naivit&auml;t der Kinder, die
+sich den K&ouml;nig nur in Purpur und Krone, den Bettler
+nur im durchl&ouml;cherten Kleide denken k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Der aus diesem Neide geborene Groll gegen den Offizier &mdash; einem
+m&auml;nnlichen Seitenst&uuml;ck zu dem neidischen
+Ha&szlig;, mit dem die meisten Frauen jede sch&ouml;n Gekleidete
+betrachten &mdash; war wohl noch nie so stark zutage getreten
+als damals, wo selbst der Kleinst&auml;dter, den sonst die Wellen
+geistiger Bewegungen kaum erreichten, an den parlamentarischen
+K&auml;mpfen um das Septennat lebhaften Anteil
+nahm.</p>
+
+<p>Bromberg ist eine Industriestadt mit einer zum Teil
+polnischen Arbeiterbev&ouml;lkerung. Was Uniform trug,
+vermied die N&auml;he der Fabriken. Als ich einmal mit
+meinem Vater spazieren ritt, flog &uuml;ber eine Mauer weg
+ein Hagel von kleinen Steinen unseren Pferden zwischen
+die Beine. Sie stiegen erschrocken und sausten dann in
+Karriere &uuml;ber die Landstra&szlig;e, so da&szlig; mir Hut und Schleier
+davonflog und es ein St&uuml;ck Arbeit kostete, sich im Sattel
+zu halten. Papa, der seinen Fuchs besser im Z&uuml;gel hielt,
+<a name="Page_327" id="Page_327"></a>war indessen vergebens den heimt&uuml;ckischen Angreifern
+auf der Spur gewesen; er konnte sich nicht fassen vor
+Wut, und ich h&ouml;rte tagelang nichts anderes als sein
+ma&szlig;loses Schimpfen auf diese &raquo;Satansbrut von Sozialdemokraten.&laquo;
+Niemand als sie waren die Attent&auml;ter
+gewesen, sie, die sich im Reichstag durch ihre Haltung
+gegen&uuml;ber der Milit&auml;rvorlage als Vaterlandsverr&auml;ter
+dokumentiert hatten, &mdash; sie, die nichts anders verdienten,
+als samt und sonders nach den Kolonien deportiert zu
+werden.</p>
+
+<p>Die Kriegswolken ballten sich gewitterdrohend zusammen.
+Da&szlig; sie nur in der Phantasie Bismarks lebten,
+als willkommenes Mittel, seine Forderungen durchzusetzen, &mdash; das
+glaubten wir hier, dicht an der russischen
+Grenze, nicht. Eine Tag um Tag steigende Erregung
+bem&auml;chtigte sich unser: die jungen Offiziere strahlten in
+der Erwartung, da&szlig; ihr Leben endlich zum Ereignis
+werden k&ouml;nnte; mein Vater, der die Schrecken des
+Krieges kannte, war bei allem Ernst, mit dem er die
+Situation betrachtete, doch in gehobener Stimmung.
+&raquo;Soldat sein und nur Krieg spielen und Rekruten drillen,
+ist dasselbe wie K&uuml;nstler sein und nichts als Malstunden
+geben,&laquo; pflegte er zu sagen. In unserer n&auml;chsten N&auml;he
+an der Grenze standen die Kosaken, und Woche um
+Woche wurden die russischen Garnisonen verst&auml;rkt. Mein
+Vater reiste nach Berlin. Wenige Tage nach seiner
+R&uuml;ckkehr wurden die Weisungen von dort unheildrohender.
+In aller Stille wurden die Offiziere benachrichtigt, beizeiten
+f&uuml;r rasche Entfernung ihrer Familien zu sorgen;
+kam es zur Kriegserkl&auml;rung, so konnten die russischen
+Reiter in wenigen Stunden mitten in Bromberg sein.<a name="Page_328" id="Page_328"></a>
+Mein Vater, der im Kriegsfall zum Kommandanten
+der wichtigsten, weil der feindlichen Grenze am n&auml;chsten
+liegenden Festung Thorn bestimmt war, bereitete seine
+Equipierung bis in alle Einzelheiten vor, wir verpackten
+Silber und Schmuck, stellten die Koffer bereit; denn
+m&ouml;glicherweise galt es, binnen wenigen Stunden die
+Stadt zu verlassen.</p>
+
+<p>Da der Kriegsl&auml;rm auch an der Westgrenze des Reichs
+immer lauter wurde, konnte dar&uuml;ber kein Zweifel sein:
+kam es zur Explosion dieses massenhaft angesammelten
+Z&uuml;ndstoffs, so war es ein Weltkrieg, an dessen Schwelle
+wir standen.</p>
+
+<p>Bismarcks fulminante Rede, sein Appell an die
+Deutschen, die Gott f&uuml;rchteten und sonst nichts in der
+Welt, &mdash; die Ablehnung des Septennats und die Aufl&ouml;sung
+des Reichstags steigerten die fieberhafte Erregung,
+in der wir alle lebten. Zum erstenmal verfolgte ich mit
+brennendem Interesse die Wahlk&auml;mpfe und begr&uuml;&szlig;te
+freudig den Sieg der Vaterlandsfreunde &uuml;ber die Sozialdemokraten,
+die uns wehrlos den Feinden hatten &uuml;berliefern
+wollen.</p>
+
+<p>Als aber dann der Kriegsl&auml;rm so merkw&uuml;rdig pl&ouml;tzlich
+verstummte und all das gl&uuml;hende Feuer patriotischer
+Begeisterung nur da zu sein schien, um die Gerichte gar
+zu kochen, die Bismarck dem Reichstag vorsetzte, war ich
+rasch ern&uuml;chtert.</p>
+
+<p>&raquo;Droben auf der kurischen Nehrung gibt es unheimliche
+Berge von Sand. Sie wandern. Und immer
+wieder pflanzen die Menschen junge B&auml;umchen in den
+Boden, und so oft auch der gelbe M&ouml;rder &uuml;ber Nacht
+wieder kommt und das gr&uuml;nende Leben verschlingt, &mdash; sie
+<a name="Page_329" id="Page_329"></a>hoffen stets aufs neue, da&szlig; die Wurzeln ihrer Pfl&auml;nzlein
+die Erde umklammern und festigen werden. &mdash; Unser
+Zeitalter ist wie die D&uuml;nen auf der Nehrung: es
+duldet nichts Gr&uuml;nes. Vern&uuml;nftige Leute werden darum
+meine Dummheit verlachen, die mich zwingt, Hoffnungsb&auml;ume
+hineinzusetzen und sie noch dazu mit der Treibhausluft
+meiner Begeisterung zu umgeben ... Man
+will nivellieren, und es ist, als ob man nach dem
+Ma&szlig;stab des kleinsten Baumes einen ganzen Wald zurechtstutzen
+wollte. Die alten Ideale hat man zerst&ouml;rt &mdash; schon
+das Wort &#8250;ideal&#8249; entlockt den meisten ein
+mitleidiges L&auml;cheln &mdash; und h&uuml;llt sich nur hinein,
+wie Schauspieler in die Toga der Gracchen, um
+dem P&ouml;bel wei&szlig; zu machen, man w&auml;re ein echter
+Volkstribun.</p>
+
+<p>Man jagt nach Bildung im Theater, in Ausstellungen,
+auf Reisen, in der Lekt&uuml;re, nicht um Kopf, Herz und
+Seele zu weiten, sondern um seinen kritischen Witz vor
+den Leuten leuchten zu lassen. Man nahm uns Genu&szlig;f&auml;higkeit
+und gab uns Spottsucht daf&uuml;r, wie man den
+Kindern aus &#8250;Anstandsgef&uuml;hl&#8249; G&ouml;tterbilder verh&uuml;llt und
+ihnen die Trikotnacktheit des Ballets statt dessen zeigt.
+Und dabei verhungern wir im stillen nach dem, was
+die notwendigste Speise unseres inneren Menschen ist:
+nach geistigem Genu&szlig;, nach dem Glauben an ideale
+G&uuml;ter. Noch sch&auml;men wir uns dieses Gef&uuml;hls, noch
+haben wir nicht den Mut zu uns selbst, aber wenn ich
+auch in einem K&auml;fig lebe, so sp&uuml;re ich doch die Luft,
+die drau&szlig;en weht, und mir ahnt in jenen lichtesten
+Momenten des Lebens, die die vern&uuml;nftigen Leute phantastische
+Nachtstunden nennen, da&szlig; junge kr&auml;ftige B&auml;ume
+<a name="Page_330" id="Page_330"></a>den Flugsand doch noch fesseln und ihre toten Br&uuml;der
+an ihm r&auml;chen werden.&laquo;</p>
+
+<p>Dieser Brief trug mir eine lange Moralpredigt von
+der Empf&auml;ngerin, meiner Kusine, ein; sie geh&ouml;rte auch
+zu den &#8250;vern&uuml;nftigen&#8249; Leuten, und schon l&auml;ngst hatte
+unsere Korrespondenz den Charakter des Gedankenaustausches
+vollkommen eingeb&uuml;&szlig;t. Da&szlig; ich jemanden hatte,
+dem gegen&uuml;ber ich mich r&uuml;ckhaltlos aussprechen konnte,
+war aber f&uuml;r mich Grund genug, sie aufrecht zu erhalten.
+Auf meiner Reise nach S&uuml;ddeutschland, die ich,
+der Einladung von Tante Klotilde folgend, schon im
+Mai des Jahres 1887 antrat, hielt ich mich in Magdeburg
+eine Woche bei Mathilde auf. Ich w&auml;re am
+liebsten schon nach dem ersten Tage abgereist: eine
+H&auml;uslichkeit, wo die Armut in jedem Winkel zu hocken
+schien und einen stillen siegreichen Kampf mit der Vornehmheit
+k&auml;mpfte, die versch&uuml;chtert durch die R&auml;ume
+schlich; ein von des Lebens Not gezeichneter, in der
+muffigen Luft der Bureaus st&auml;ndig mit seiner Sehnsucht
+nach der freien Natur ringender Vater, der mit verbissenem
+Ha&szlig; alles verfolgte, was reich, was gl&uuml;cklich
+war; die Mutter, die trotz ihrer drei Kinder alle b&ouml;sen
+Zeichen vergr&auml;mter Altjungfernschaft an sich trug; die
+S&ouml;hne, geistig verk&uuml;mmert, durch die Schultyrannei
+um jeden Rest von Jugendfrohsinn gebracht; die Tochter,
+meine Freundin, bla&szlig;, m&uuml;de, mit M&auml;dchenfreundschaften,
+Gesangvereinen, und Sonntagsschularbeit m&uuml;hselig ihren
+Lebenshunger stillend, &mdash; da&szlig; es dergleichen gab, da&szlig;
+sich solch ein Dasein ertragen lie&szlig;!</p>
+
+<p>In M&uuml;nchen traf ich meinen Vater. Wir reisten zusammen
+nach Augsburg, einem schweren Augenblick ent<a name="Page_331" id="Page_331"></a>gegen.
+Sein Bruder Arthur, mit dem er sich seit vielen
+Jahren, wegen seiner Heirat mit einer T&auml;nzerin, &uuml;berworfen
+hatte, war seit kurzem, nach dem Tode seiner
+Frau, zu seiner Schwester gezogen, und diese w&uuml;nschte
+eine Vers&ouml;hnung der Br&uuml;der. Mit jener Bereitwilligkeit,
+die mein sonst so starrk&ouml;pfiger Vater seiner Schwester
+gegen&uuml;ber stets an den Tag legte, hatte er sich ihrem
+Willen gef&uuml;gt. Wie schwer es ihm wurde, merkte ich
+an seiner Aufregung. Es kam auch nur zu einer konventionellen
+Verkleisterung des Bruchs, einem h&ouml;flichen
+H&auml;ndedruck, einem taktvollen Nebeneinanderhergehen.
+Ich w&auml;re &uuml;ber diesen von mir nicht erwarteten friedlichen
+Ausgang der Dinge sehr erfreut gewesen, wenn
+der Zorn &uuml;ber die Art, wie meine Tante meinen Vater
+behandelte, und wie er sich von ihr behandeln lie&szlig;, mich
+nicht immer wieder &uuml;bermannt h&auml;tte. Wie an einem
+Schulbuben n&ouml;rgelte sie den ganzen Tag an ihm herum,
+und schmeichelte in einem Atem dem anderen Bruder.
+Das Zivil meines Vaters mi&szlig;fiel ihr &mdash; man sah ihm
+immer an, wie unbehaglich ihm darin zumute war &mdash;,
+wie bewundernswert war dagegen Arthurs Eleganz!
+Sie spottete &uuml;ber seine zunehmende K&ouml;rperf&uuml;lle, &mdash; welch
+jugendliche Schlankheit hatte Arthur behalten! Sie verf&uuml;gte
+r&uuml;cksichtslos &uuml;ber seine Zeit, ordnete sich selbst dagegen
+immer den W&uuml;nschen Arthurs unter. Sie hatte
+ihr Haus seinetwegen auf den Kopf gestellt, ihre M&ouml;bel
+ausger&auml;umt, um den seinen Platz zu machen, und mit einem
+liebensw&uuml;rdigen Egoismus, der ihren brutalen &uuml;bertrumpfte,
+spielte er den Herrn im Hause. Hatte sich mein Vater
+den ganzen Tag ihren Launen gef&uuml;gt, so h&ouml;rte ich durch
+die T&uuml;r, wie er sich nachts st&ouml;hnend im Bett hin und
+<a name="Page_332" id="Page_332"></a>her warf. Eines Morgens sa&szlig; ich im Gartenpavillon,
+als er, anscheinend in heftigem Wortwechsel, mit der
+Tante drau&szlig;en vor&uuml;ber ging. &raquo;Ich bin nicht dazu da,
+euren Aufwand zu bestreiten,&laquo; sagte sie, &raquo;es sollte dir
+wahrhaftig ausreichend sein, da&szlig; ich dich in deiner Tochter
+so bevorzuge.&laquo; &mdash; &raquo;Wenn ich mich nur darauf verlassen
+k&ouml;nnte,&laquo; stie&szlig; er hervor. &raquo;Ich breche mein Versprechen
+nicht &mdash; Gott soll mich vor der S&uuml;nde bewahren,&laquo;
+antwortete sie laut und fest. Sie gingen weiter. Nach
+geraumer Weile kehrten sie denselben Weg zur&uuml;ck. Die
+Tante hatte den Arm in den ihres Bruders gelegt. Sie
+sprachen friedlich, fast z&auml;rtlich miteinander. &raquo;So werd'
+ich einmal ruhig sterben k&ouml;nnen,&laquo; sagte mein Vater mit
+weicher Stimme, &raquo;bis &uuml;bers Grab hinaus will ich dir
+dankbar sein, Klotilde!&laquo;</p>
+
+<p>Milder und gef&uuml;giger als je war er in den folgenden
+letzten Tagen seines Augsburger Aufenthalts, er schien
+kaum zu merken, mit welch satanischer Freude sie die
+Situation ausn&uuml;tzte. Ich aber suchte ihm mit allen
+Mitteln der Liebe und Z&auml;rtlichkeit das Leben zu erleichtern,
+so da&szlig; er mich oft verwundert ansah und
+l&auml;chelnd sagte: &raquo;Ja, was ist denn das mit dir? So was
+hat dein alter Vater an seinem T&ouml;chterlein ja noch gar
+nicht erlebt?!&laquo; Meinem Onkel ging ich aus dem Wege,
+die Tante ha&szlig;te ich fast.</p>
+
+<p>Nach meines Vaters Heimkehr reiste ich mit ihnen
+nach Tegernsee, wo die Tante auf Wunsch Onkel Arthurs,
+dem die Einsamkeit von Grainau unsympathisch war,
+eine Villa gemietet hatte. An meinem Geburtstag, der
+in die erste Woche unseres Aufenthalts fiel, nahm mich
+der Onkel beiseite und dr&uuml;ckte mir heimlich ein Kuvert
+<a name="Page_333" id="Page_333"></a>in die Hand. &raquo;Ich wei&szlig;, Hans braucht Geld,&laquo; sagte er
+beinahe sch&uuml;chtern, &raquo;von mir nimmt ers nicht. Schick
+ihm das &mdash; zur Verwahrung &mdash; als mein Geburtstagsgeschenk
+an dich.&laquo; Er wartete meinen Dank nicht ab;
+ich schickte noch in derselben Stunde die braunen Scheine
+nach Bromberg; das Eis zwischen mir und Onkel Arthur
+war gebrochen.</p>
+
+<p>Wir wurden gute Kameraden. Die strenge Tante
+verwandelte sich unter seinem Einflu&szlig; zu einer mehr
+als nachsichtigen. Er erreichte alles, was mir Vergn&uuml;gen
+machte, vorausgesetzt, da&szlig; es auch seinen W&uuml;nschen
+entsprach! Endlich durfte ich hoch in die Berge
+hinauf, &mdash; zu dem jahrelangen Ziel meiner Sehnsucht! Er
+war ein ebenso leidenschaftlicher wie tollk&uuml;hner Bergsteiger,
+der F&uuml;hrer und gebahnte Wege verschm&auml;hte. Auf
+dem Leonhardsstein, hinter Dorf Kreuth, der spitz und
+gerade wie ein Kirchtum gen Himmel steigt, mu&szlig;te ich
+erst Probe klettern, ehe er mich &uuml;berall hin mitnahm &mdash; auf
+die Berge der Gegend zuerst und dann weiter, immer
+weiter. Eine Sportausr&uuml;stung eigener Erfindung lie&szlig;
+er mir machen: kurze Hosen und Gamaschen &mdash; etwas
+Unerh&ouml;rtes zu damaliger Zeit. Aber auch das lie&szlig; die
+Tante geschehen, sie str&auml;ubte sich nur im Namen des
+Anstands ein bi&szlig;chen, als er den &raquo;Panzer&laquo; verbot. &raquo;Ich
+fa&szlig; dich jedesmal um die Taille und la&szlig; dich unweigerlich
+sitzen, wenn du das Marterinstrument tr&auml;gst,&laquo; sagte
+er, und ich f&uuml;hlte mit Wonne die Freiheit starker Atemz&uuml;ge.</p>
+
+<p>Auf den Wallberg kletterten wir zuerst. Es gab damals
+nur einen Hirtensteg hinauf und droben nur eine kleine
+H&uuml;tte mit einfachem Heulager. Wir z&uuml;ndeten zum Zeichen
+<a name="Page_334" id="Page_334"></a>unserer Ankunft auf der Spitze ein m&auml;chtiges Feuer an
+und sahen schweigsam zu, bis es vergl&uuml;hte und das Tal
+schwarz und dunkel unter uns lag. Um so leuchtender
+strahlten jetzt die Sterne, und wei&szlig; und gespenstisch
+gl&auml;nzten von fern im Mondlicht die Schneegipfel zu uns
+her&uuml;ber. Mit einem tiefen, erl&ouml;senden Aufatmen breitete
+mein Begleiter die Arme aus. &raquo;Ich lebe!&laquo; fl&uuml;sterte
+er. Wie weh mir der Jubel tat, der in seiner Stimme
+lag! &mdash; Ich verga&szlig; seine N&auml;he, lehnte den Kopf an den
+Felsen und weinte &mdash; seit langer, langer Zeit zum erstenmal!
+Unten in der H&uuml;tte, in dem starken Heuduft fand
+ich keine Ruhe und sa&szlig; die ganze Nacht auf der Altane,
+w&auml;hrend die Geister der Vergangenheit aus der Tiefe zu
+mir aufstiegen, wie Nebel aus Fiebers&uuml;mpfen. Die
+Felsengesichter schnitten mir h&ouml;hnische Fratzen, und still
+und hoheitsvoll sahen wei&szlig;e Riesenh&auml;upter auf mich
+herab.</p>
+
+<p>Mein Onkel war ein guter Reisekamerad, dessen Lebensfreudigkeit
+seine grauen Haare vergessen lie&szlig;, dabei voll
+r&uuml;hrender Sorgfalt f&uuml;r mich. Einmal sa&szlig;en wir im
+Sonnenschein vor der Sennh&uuml;tte zur schwarzen Tenne.
+&Uuml;ber dem offnen Feuer an einem primitiven Spie&szlig; briet
+er uns ein H&uuml;hnchen; &raquo;Frauenzimmer sind zu dumm
+dazu,&laquo; sagte er, und ich &uuml;berlie&szlig; ihm nur zu gern die
+Arbeit, um, an die braunen Balken der H&uuml;tte gelehnt,
+durch dunkelgr&uuml;ne Tannenwipfel in die Sonne zu blinzeln.
+Nach dem Mahl, das die nie vergessene Flasche
+Moselwein w&uuml;rzte, streckte er sich mir zu F&uuml;&szlig;en ins
+Gras und pfiff eine Tanzweise tr&auml;umerisch vor sich hin.
+&raquo;Komisch,&laquo; sagte ich halb zu mir selber, &raquo;du bist im
+Grunde ein Primaner oder bestenfalls ein Sekondeleut<a name="Page_335" id="Page_335"></a>nant.&laquo;
+Er lachte. &raquo;Das bin ich auch; die Jahre, die
+zwischen damals und heute liegen, lebte ich nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber ...&laquo; ich stockte.</p>
+
+<p>&raquo;Sprichs ruhig aus: du hast mit dem Weib deiner
+Wahl gelebt! Niemand wei&szlig; bis heute, da&szlig; diese zwei
+Jahrzehnte die H&ouml;lle waren. Mein Stolz hie&szlig; mich
+schweigen. Ich wollte nicht, da&szlig; Mutter und Geschwister
+Recht behielten. Endlich kam die Erl&ouml;sung: sie starb &mdash; seit
+vielen Monden eine arme Irre, die nichts daf&uuml;r
+konnte, da&szlig; sie mich qu&auml;lte,&laquo; &mdash; ganz alt sah der Onkel
+pl&ouml;tzlich aus, &mdash; dann sprang er auf, sch&uuml;ttelte sich wie ein
+nasser Jagdhund und f&uuml;gte l&auml;chelnd hinzu: &raquo;die Liebe
+ist Humbug, wei&szlig;t du, echt ist allein die Natur, die
+Kunst, die Wissenschaft. Ich freue mich auf das Leben
+wie ein Student!&laquo;</p>
+
+<p>Unsere Ruhetage in Tegernsee waren beinahe anstrengender
+als unsere Wanderungen. Von fr&uuml;h bis
+sp&auml;t wimmelte es von G&auml;sten; wenn der Onkel irgendwo
+jemanden traf, der ihm interessant zu sein schien, so
+lud er ihn ein, ohne nach Nam' und Art viel zu fragen.
+Es war eine bunte Gesellschaft, die sich auf die Weise
+bei uns zusammenfand, denn Tegernsee selbst schien eine
+Art neutraler Boden zu sein, wo die heterogensten Elemente
+ihre Neugier nacheinander befriedigen konnten.
+Da gab es Prinzen echter einheimischer und zweifelhafter
+exotischer Art; Finanzgr&ouml;&szlig;en dunkelster Herkunft;
+alte Diplomaten, die bei irgend einem Hofskandal
+Schiffbruch gelitten hatten; franz&ouml;sische Marquisen, deren
+Emailleur alle vier Wochen aus Paris kam, um ihrem
+Antlitz die bezaubernde Frische zu verleihen, mit der sie
+so siegessicher auf Eroberungen ausgingen; deutsche<a name="Page_336" id="Page_336"></a>
+Gr&auml;finnen, deren grazi&ouml;se Pirouetten noch vor kurzem
+die Balletthabitu&eacute;s der Gro&szlig;st&auml;dte entz&uuml;ckt hatten; und
+um die Galerie moderner Typen der &#8250;guten&#8249; Gesellschaft
+voll zu machen, fehlte es nicht an &ouml;sterreichischen Erzherzogen,
+sogar nicht an einem K&ouml;nig, &mdash; wenn es auch
+nur einer a.&nbsp;D. war, der von Neapel, &mdash; einem alten
+Rou&eacute;, und seiner wundersch&ouml;nen extravaganten K&ouml;nigin.
+Dazwischen bewegte sich das K&uuml;nstlervolk &mdash; ein wenig
+geniert die einen, &auml;ngstlich bestrebt, es den Vornehmen
+m&ouml;glichst gleich zu tun, die anderen, Menschen von
+genialer Ungebundenheit unter ihnen, und ein paar
+Auserw&auml;hlte mit jener seltenen angeborenen Gr&ouml;&szlig;e, die
+sich &uuml;berall mit gleicher Selbstverst&auml;ndlichkeit zu bewegen
+vermag. Von mancher sch&ouml;nen &ouml;sterreichischen Komte&szlig;
+fl&uuml;sterte man sich zu, da&szlig; sie an der Entstehung Makartscher
+Frauengestalten nicht unbeteiligt gewesen war, und
+noch heut lie&szlig; sie es gern geschehen, wenn die Maler
+sich an ihr begeisterten; ein Hauch von Romantik, der
+die Dichter unweigerlich anzog, umschwebte den rotblonden
+Kopf einer grazi&ouml;sen Baronin, von deren Beziehungen
+zum Kronprinzen von &Ouml;sterreich Frau Fama
+vernehmlich fl&uuml;sterte. All das flirtete und rauschte in
+knisternder Seide und weichem Spitzengeriesel am hellen
+Strand des blauen Tegernsees, wo vor Jahrhunderten in
+kl&ouml;sterlicher Einsamkeit der fromme M&ouml;nch Werinher der
+allerseligsten Jungfrau s&uuml;&szlig;e Weisen gesungen hatte, oder
+stieg in kokettem Jagdkost&uuml;m auf bequemen Wegen zu
+den Sennh&uuml;tten hinauf, deren G&auml;ste noch vor kurzem
+nur Dirndeln, J&auml;ger und Wilddiebe gewesen waren.
+Am sp&auml;ten Nachmittag rollten die Equipagen ins kreuther
+Tal, wo hoch oben, von Bergen eng umschlossen, auf
+<a name="Page_337" id="Page_337"></a>gr&uuml;nem Plateau die Kurmusik des Bades so komisch
+quiekte und wimmerte. Man stieg dort aus, lie&szlig; seine
+Toiletten bewundern, trank seinen Kaffee mit &ouml;sterreichischer
+Betonung und von &ouml;sterreichischer G&uuml;te und
+ging an dem Springbrunnen vorbei hinunter zu den
+sieben H&uuml;tten, wo die Burschen in Kniehosen und Wadenstr&uuml;mpfen,
+die Madeln im Silbergeschn&uuml;r und weitbauschendem
+kurzem Gewand sich im Tanze drehten. Wenn
+die D&auml;mmerung kam und lustige bunte Lampions sich
+wie leuchtende Girlanden von H&uuml;tte zu H&uuml;tte zogen,
+dann &auml;nderte sich das Bild: wei&szlig;e Schleppen wirbelten
+zwischen den bunten R&ouml;cken, und Lackschuhe glitten zwischen
+den Nagelstiefeln. Droben auf der Hohensteinalp die
+blonde Sennerin und in der Langenau die schwarze Liese
+wu&szlig;ten zu sagen, warum manch vornehmer Herr den
+Weg nicht nach Hause fand &mdash; ach, und kleinwinzige
+Buberln gabs im Tal und M&auml;derln, vaterlose, mit
+feinen Fingern und schlanken Gliedern, gar wunderseltsam
+anzuschaun!</p>
+
+<p>Wo sich im kreuther Tal die Wege kreuzen, der
+eine zum Bad, der andere nach dem Achensee f&uuml;hrt, lag
+in einem weiten schattigen Park ein Haus, nicht viel
+anders als das eines reichen Bauern, mit Galerien
+ringsum und buntbemalten L&auml;den. Auf den gr&uuml;nen
+Rasenfl&auml;chen davor, auf den Spielpl&auml;tzen zu beiden
+Seiten herrschte allt&auml;glich ein frohes Leben und Treiben.
+Der Gastfreundschaft schienen keine Grenzen gesteckt, zu
+jeder Tageszeit ward man freudig begr&uuml;&szlig;t und reichlich
+bewirtet. Mich lockte dies Haus schon lange; die ersten
+K&uuml;nstler, das wu&szlig;te ich, gingen dort aus und ein.
+Aber meine Tante r&uuml;mpfte die Nase, wenn ich seiner<a name="Page_338" id="Page_338"></a>
+Erw&auml;hnung tat, und mit tadelndem Kopfsch&uuml;tteln wurden
+diejenigen aus unsern Kreisen betrachtet, die den Bann
+gebrochen hatten und sichs wohl sein lie&szlig;en in Schwarzeck.
+Ein Baron Goldberger, ein Wiener Bankier, war der
+Besitzer, und sein Aussehen verriet seine Rasse noch mehr
+als sein Name, so da&szlig; sich ihm gegen&uuml;ber jener &auml;sthetische
+Antisemitismus geltend machte, den auch Vorurteilslose
+oft nicht abstreifen k&ouml;nnen. Der Magnet des Hauses
+waren seine vier T&ouml;chter, von denen eine immer h&uuml;bscher
+war als die andre. Nachdem uns zu Ohren kam, da&szlig;
+selbst der Herzog Karl Theodor bei ihnen verkehrte, &uuml;berwand
+Onkel Arthur den Widerstand der Tante, und eines
+Nachmittags fuhren wir hin, um unsere Antrittsvisitte zu
+machen. Schon diese ersten Stunden inmitten eines
+Kreises von m&uuml;nchner K&uuml;nstlern und Schriftstellern
+&ouml;ffneten mir Ausblicke in eine neue Welt: Fragen des
+Lebens und der Kunst wurden mit so r&uuml;ckhaltloser Offenheit
+besprochen, da&szlig; ich es zun&auml;chst fast peinlich empfand
+und, ungewohnt, mich unter Fremden auszusprechen, au&szlig;erstande
+war, mich daran zu beteiligen. Um so aufmerksamer
+h&ouml;rte ich zu: war dies ein Abglanz der Welt, die
+ich suchte, ein Teil jener Menschheit, die, von neuen
+Idealen erf&uuml;llt, auszog, um sie zu erobern?!</p>
+
+<p>Ich wurde einer der h&auml;ufigsten G&auml;ste in Schwarzeck.
+Ich trotzte selbst dem Befehl der Tante, die mich glaubte
+zur&uuml;ckhalten zu k&ouml;nnen, wenn sie f&uuml;r mich nicht anspannen
+lie&szlig;, und fuhr mit der Post, oder ging zu Fu&szlig;.</p>
+
+<p>Eines Nachmittags fand ich die Tee-Gesellschaft in
+heftigster Debatte begriffen. Irgend ein Artikel aus
+M.&nbsp;G. Conrads &raquo;Gesellschaft&laquo; schien der Anla&szlig; gewesen
+zu sein. Ich erinnerte mich dunkel, von dieser &raquo;sitten<a name="Page_339" id="Page_339"></a>losen,&laquo;
+&raquo;die Sicherheit von Staat und Kirche untergrabenden&laquo;
+Zeitschrift in unserer konservativen, norddeutschen
+Presse &mdash; der einzigen, die ich zu Gesicht bekam &mdash; zuweilen
+gelesen zu haben.</p>
+
+<p>&raquo;Und ich sage Ihnen, da&szlig; er recht hat &mdash; tausendmal
+recht,&laquo; rief ein junger blonder Dichter, das gelbe Heft
+wie eine Fahne schwingend, &raquo;Wahrheit, h&uuml;llenlose Wahrheit
+ist die Muse der kommenden Dichtung. Nur indem
+wir sie ohne R&uuml;cksicht auf hyper&auml;sthetische Altjungfernnerven,
+auch in ihrer H&auml;&szlig;lichkeit, auch mit ihren Schw&auml;ren
+und Wunden vor die Menschheit hinstellen, schaffen wir
+Kunstwerke, Kulturwerte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst,&laquo; warf ein
+Maler Pilotyscher Richtung ein, &raquo;sie soll uns erheben,
+uns auf Momente wenigstens &uuml;ber das Elend des Daseins
+hinweghelfen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hinwegt&auml;uschen, sagen Sie lieber,&laquo; mischte sich die
+junge Frau eines m&uuml;nchener Redakteurs ins Gespr&auml;ch,
+die, wie man munkelte, unter anderem Namen Geschichten
+schrieb, die junge M&auml;dchen nicht lesen durften,
+&raquo;sie soll den gro&szlig;en Kindern M&auml;rchen erz&auml;hlen, statt
+sie zu lehren, mit der brutalen Wahrheit des Lebens fertig
+zu werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn das ihre Aufgabe sein soll,&laquo; entgegnete der
+Maler, &raquo;dann werden wir gl&uuml;cklich dahin gelangen,
+Operationss&auml;le und Wochenstuben auf der B&uuml;hne zu sehen.
+Mit dem Irrenhaus hat ja Ibsen schon den Anfang
+gemacht.&laquo;</p>
+
+<p>Der Name wirkte vollends wie Sprengstoff. Seit dem
+letzten Winter, wo der Herzog von Meiningen den unerh&ouml;rten
+Schritt gewagt hatte, die &raquo;Gespenster&laquo; auf seine<a name="Page_340" id="Page_340"></a>
+B&uuml;hne zu bringen, wo Berlin dem Beispiel gefolgt war
+und ein Kreis junger Hei&szlig;sporne den Dichter auf den
+Schild erhob, las und h&ouml;rte ich oft von ihm, als von
+einem halb Verr&uuml;ckten, einem, der mit Wollust im Schmutze
+w&uuml;hle. Ihn kennen zu lernen, hatte ich gar kein Verlangen
+getragen, denn auf der Suche nach neuen Idealen
+konnte er unm&ouml;glich ein Wegweiser sein.</p>
+
+<p>&raquo;Ibsen ist gr&ouml;&szlig;er als Zola,&laquo; &uuml;bert&ouml;nte eine rauhe
+M&auml;nnerstimme wie ein ferner Lawinensturz die Durcheinanderredenden,
+&raquo;Zola ist der Zustandsschilderer <em class="antiqua">par
+excellence</em>, Ibsen aber legt die kritische Sonde an die
+tiefsten &Uuml;bel der Gesellschaft. Wenn Sie sich hier so
+aufregen, meine Herrschaften, so zeigt das nur, da&szlig; es
+irgendwo einen Punkt gibt, wo auch Sie unter seiner
+Ber&uuml;hrung schmerzhaft zusammenzucken. Da&szlig; wir vor
+lauter Moral, vor lauter Pflichten, kurz vor all den
+gro&szlig;en und kleinen Stricken und Ketten, die uns formen
+und einschn&uuml;ren, unser Ich verloren haben und als
+Phantome toter Traditionen herumlaufen, statt als
+lebendige Menschen, &mdash; das ist es, was jeden trifft, und
+was Ibsen zeigt. Neugierig bin ich nur, ob diese Erkenntnis
+uns schlie&szlig;lich zu Kettenbrechern machen wird,
+oder ob irgend welche vorsorglichen Menschheitsw&auml;rter
+nicht schon mit neuen Zwangsjacken bereit stehen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Das allgemeine Gespr&auml;ch verlief sich allm&auml;hlich in die
+Rinnsale der Einzelunterhaltung und versickerte schlie&szlig;lich
+im Sande der Alltagsfragen. W&auml;hrend die anderen sich
+im Park zerstreuten, sprach ich den mit der rauhen Stimme
+an, einen echten vierschr&ouml;tigen Bajuvaren. &raquo;K&ouml;nnen Sie
+mir die Werke Ibsens nennen, die bisher in deutscher
+Sprache erschienen sind?&laquo; Er musterte mich augenblinzelnd.</p>
+<p><a name="Page_341" id="Page_341"></a></p>
+<p>&raquo;Hm&laquo; &mdash; machte er &mdash; &raquo;obs der gn&auml;digen Frau Tante
+auch recht sein wird?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darauf d&uuml;rfte es kaum ankommen, da ich sie lesen
+will,&laquo; entgegnete ich scharf, ge&auml;rgert &uuml;ber die sp&ouml;ttische
+Art seiner Antwort. Er lachte dr&ouml;hnend.</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben ja, scheints, auch so'n Tropfen Rebellenblut
+in den Adern!&laquo; Mit gro&szlig;en, ungef&uuml;gen Buchstaben
+schrieb er mir die Titel der B&uuml;cher auf eine Ecke
+Zeitungspapier, zerdr&uuml;ckte mir mit seiner Riesenfaust fast
+die Hand, die ich ihm dankbar gereicht hatte, und stapfte
+zum Parktor hinaus.</p>
+
+<p>&raquo;Wer war das?&laquo; frug ich eine der T&ouml;chter.</p>
+
+<p>&raquo;Ach &mdash; der! Den hat der Doktor neulich mal mitgebracht.
+Wie er hei&szlig;t, habe ich nicht verstanden. Ein
+ungehobelter Gesell, nicht wahr?&laquo;</p>
+
+<p>Ich nickte zerstreut. Noch auf dem R&uuml;ckweg gab ich
+eine Karte an eine m&uuml;nchener Buchhandlung auf und sah
+von nun an jedem Postboten erwartungsvoll entgegen,
+heftige Kopfschmerzen als Vorwand meines ungewohnten
+h&auml;uslichen Lebens vorsch&uuml;tzend.</p>
+
+<p>Und endlich kamen die B&uuml;cher! Ich las sie nicht, &mdash; ich
+trank sie, wie ein Durstender in der W&uuml;ste das frische
+Wasser. Nicht das Kunstwerk geno&szlig; ich in ihnen, und
+nichts sah ich von den handelnden Menschen; mir war
+vielmehr, als h&auml;tte ich lange im Dunkeln erwartungsvoll
+vor einem dichten Vorhang gestanden, den pl&ouml;tzlich ein
+Sturmwind auseinanderri&szlig;, um mir den blendenden,
+kristallhellen Spiegel dahinter zu enth&uuml;llen, der scharf
+und klar mein eigenes Bild zur&uuml;ckwarf, und das der
+Vielen um mich her.</p>
+
+<p>Worte las ich, die mich trafen wie Offenbarungen:<a name="Page_342" id="Page_342"></a>
+von den wenigen Menschen, die auf Vorposten stehen
+und f&uuml;r die Wahrheiten k&auml;mpfen, die noch zu neugeboren
+sind, als da&szlig; sie die Mehrheit f&uuml;r sich haben
+k&ouml;nnten. Und Tradition und Konvention sah ich ihrer
+bunten Gew&auml;nder entkleidet als nackte L&uuml;gen vor mir,
+und mit einem einzigen Blick erkannte ich des Weibes
+Puppendasein. Lebte ich nicht auch davon, da&szlig; ich den
+anderen Kunstst&uuml;cke vormachte?! &raquo;Ich habe Pflichten,
+die ebenso heilig sind &mdash; Pflichten gegen mich selbst &mdash;;&laquo;
+&raquo;ich mu&szlig; nachdenken, ob das, was mir gelehrt wurde,
+richtig ist, oder vielmehr, ob es f&uuml;r mich richtig ist &mdash;&laquo;
+sagte Nora, und verlie&szlig; das Puppenheim, um sich selbst
+zu finden. &raquo;Irgend wie und wann werde ich handeln
+m&uuml;ssen, wie Nora,&laquo; hei&szlig;t es in meinem Tagebuch von
+Sommer 1887, &raquo;viele Fesseln, &mdash; feine, die ich kaum f&uuml;hlte,
+und grobe, die sich mir ins Fleisch schnitten, &mdash; umschn&uuml;ren
+mich von klein an. Aber ich erkenne jetzt, da&szlig; ich jedes
+Jahr einige davon abstreifte. Sollte ich nicht auch mit
+den letzten fertig werden?&laquo; Und an meine Kusine, die
+mir &uuml;ber meine Ibsenbegeisterung erschrockene <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Verhaltungen'">Vorhaltungen</ins>
+machte, schrieb ich: &raquo;Wer, wie Ibsen, den
+Mut hat, das Schwache, das Schlechte, das geistig Tote
+niederzurei&szlig;en, der ist kein Pessimist, wie die Leute ihn
+schelten, die zu feige und zu bequem sind, um die Augen
+zu &ouml;ffnen. Nur der lebensstarke Glaube an eine Zukunft,
+f&uuml;r deren helle Tempel Platz geschaffen werden mu&szlig;, gibt
+die Riesenkraft zu solchem Werk der Zerst&ouml;rung ... Du
+warnst mich vor &#8250;un&uuml;berlegten Handlungen&#8249;; daraus sehe
+ich, wie wenig du mich verstehst. Denn gerade damit
+hat es ein Ende. Das Spiel ist aus. Auch ich mu&szlig;
+die Aufgabe l&ouml;sen, mich selbst zu erziehen, ehe ich irgend<a name="Page_343" id="Page_343"></a>wo
+Hand anlegen kann, wo es f&uuml;r mich etwas zu
+tun gibt.&laquo;</p>
+
+<p>Der Schnee lag schon bis zum Tal hinunter, als ich
+mich zur Heimkehr r&uuml;stete. Beim Abschied hielt der
+Onkel meine Hand lange in der seinen. &raquo;Schade, da&szlig;
+du den Bergen untreu wurdest,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Langsam kroch der Zug von Gmund aus den Abhang
+in die H&ouml;he. Tief unten l&auml;chelte der See mit seinem
+gro&szlig;en Vergi&szlig;meinnichtauge; freundliche rote D&auml;cher
+und spitze Kircht&uuml;rme gr&uuml;&szlig;ten von seinen Ufern, und
+hinter ihm bauten sich Ketten um Ketten wei&szlig;gl&auml;nzender
+Firnen auf. Nein, ich war den Bergen nicht untreu
+geworden, und H&ouml;henluft wars, die ich mit mir nahm.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_344" id="Page_344"></a></p>
+<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zw&ouml;lftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ein Aufenthalt in Berlin galt mir immer als ein
+Gipfel des Vergn&uuml;gens, besonders wenn Onkel
+Walter der F&uuml;hrer war. Niemand wu&szlig;te wie
+er, in welchen Theatern man am meisten lacht, in welchem
+Zirkus am schneidigsten geritten wird, und wo man am
+besten i&szlig;t und trinkt. Die acht Tage, die ich diesmal
+auf der Durchreise nach Bromberg bei ihm verbrachte,
+waren aber mehr eine Qual als ein Genu&szlig; f&uuml;r mich,
+obwohl wir vor lauter &raquo;Am&uuml;sement&laquo; gar nicht zu Atem
+kamen und meine lustige Tante sich &uuml;ber meine &raquo;blasierte
+Miene&laquo;, mit der ich wohl &raquo;die neueste Mode mitmachte&laquo;,
+nicht genug moquieren konnte. Wir waren bei Kroll
+im &raquo;Mikado&laquo;, in der Friedrich-Wilhelmstadt und bei
+Renz, wir sa&szlig;en auf der Estrade im Wintergarten,
+soupierten bei Hiller und im Kaiserhof, immer in
+derselben Gesellschaft von Gardeleutnants und konservativen
+Parlamentariern, aber von dem modernen
+k&uuml;nstlerischen und literarischen Leben, dem mein ganzes
+Interesse galt, war nur insofern etwas zu sp&uuml;ren,
+als die einen es verh&ouml;hnten, die anderen nach dem
+Staatsanwalt schrieen und der Rest heimlich und
+voll zynischer L&uuml;sternheit mit ihm lieb&auml;ugelte, wie ein
+alter Rou&eacute; mit der Stra&szlig;endirne. Familien-, Hof-<a name="Page_345" id="Page_345"></a>
+und politischer Klatsch stand im &uuml;brigen im Mittelpunkt
+der Unterhaltung, und dem &Auml;rger und der Verstimmung
+gab man, wie gew&ouml;hnlich, wenn man unter sich war,
+den kr&auml;ftigsten Ausdruck. Des armen kranken Kronprinzen
+wurde kaum mit einem Wort des Mitleids gedacht,
+die Emp&ouml;rung &uuml;ber den Einflu&szlig; der Kronprinzessin,
+&uuml;ber die von ihr eingef&auml;delte Battenberg-Aff&auml;re, deren
+Schlu&szlig;effekt der Sturz Bismarcks h&auml;tte sein sollen, &uuml;ber
+die ganze allm&auml;hlich zu Macht und Ansehen gelangende
+Kronprinzenpartei, die aus Juden und Judengenossen
+zusammen gesetzt sei, war viel zu gro&szlig;.</p>
+
+<p>Die von Bismarck kopulierte unnat&uuml;rliche Ehe zwischen
+dem Nationalliberalismus und den Konservativen
+wurde hier, wo man sich keinerlei Zwang aufzuerlegen
+brauchte, drastisch genug beleuchtet.</p>
+
+<p>&raquo;Hab ichs nicht immer gesagt,&laquo; rief bei einer
+solchen Unterhaltung eines der &auml;ltesten Mitglieder des
+Herrenhauses, der Typus eines echten Feudalherrn vom
+guten Schlag, &raquo;da&szlig; wir uns nicht st&auml;rker blamieren
+konnten, als durch diese Liierung mit den Industrierittern.
+Nichts, gar nichts Gemeinsames haben wir
+mit den Kerlen. Und 'ne Ehe gibts, wie die der Bienenk&ouml;nigin,
+die ihre werten Gatten t&ouml;ten l&auml;&szlig;t, wenn sie
+ihre Schuldigkeit getan haben. Ist irgend einer unter
+uns so d&auml;mlich, uns f&uuml;r &mdash; die K&ouml;nigin zu halten?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, h&ouml;ren Sie mal, lieber Graf, Sie werden doch
+nicht behaupten wollen &mdash;&laquo; unterbrach ihn mein Onkel.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; behaupte ich &mdash;,&laquo; polterte der alte Herr
+&raquo;la&szlig;t mal erst das Gesindel hoff&auml;hig werden &mdash; ein
+&#8250;von&#8249; und ein &#8250;Baron&#8249; ist heut schon eine Spielerei f&uuml;r
+den, ders Geld hat &mdash;, dann wirds bei uns wie in<a name="Page_346" id="Page_346"></a>
+England und in Frankreich: unsere Jungens rei&szlig;en sich
+um ihre M&auml;dels, und von dem ganzen guten preu&szlig;ischen
+Adel bleibt nichts &uuml;brig als der Name.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nur da&szlig; die Voraussetzung f&uuml;r Ihre Folgerungen
+fehlen wird: der Kronprinz wird kaum zur Regierung
+kommen, und mit seinem Tod haben die Ambitionen der
+Herren Liberalen ihr Ende erreicht.&laquo;</p>
+
+<p>Der Graf lachte und klopfte Onkel Walter freundschaftlich
+auf die Schulter: &raquo;Sie sind ein guter Kerl,
+Golzow, aber das Pulvererfinden ist ihre Sache nicht!
+Oder glauben Sie vielleicht, unter dem jungen Herrn
+w&uuml;rde die Geschichte erheblich anders werden?! Der ist
+heute konservativ &mdash; aus Opposition, nat&uuml;rlich! Er
+bleibts vielleicht auch &mdash; dem Namen nach. Aber ist
+er erst mal am Ruder, wird er auch mit gegebenen
+Gr&ouml;&szlig;en rechnen m&uuml;ssen. Ich werds ja, Gott Lob, nicht
+erleben, aber Sie, meine Herren, werden in zwanzig
+Jahren mal dem alten Lehnsburg recht geben, wenn
+er ihnen heute sagt: bis dahin sind wir amerikanisiert,
+und nicht die Ehre, nicht der reinliche Stammbaum bestimmen
+mehr den Wert des Mannes, sondern das gute
+Gesch&auml;ft.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es w&uuml;rde uns heute schon nichts schaden, wenn wir
+gesch&auml;ftskundiger w&auml;ren,&laquo; mischte sich Baron Minckwitz
+ins Gespr&auml;ch, der wegen seiner Teilnahme an
+allerlei industriellen Unternehmungen schon etwas anr&uuml;chig
+war, &raquo;man mu&szlig; mit den W&ouml;lfen heulen, will
+man nicht zugrunde gehen.&laquo;</p>
+
+<p>Graf Lehnsburg hieb mit der Faust auf den Tisch,
+da&szlig; die Gl&auml;ser klirrten. &raquo;Ich gehe lieber zugrunde!&laquo;
+br&uuml;llte er. Ein peinliches Schweigen entstand. Mir
+<a name="Page_347" id="Page_347"></a>gefiel die unverf&auml;lschte Echtheit des Alten. Er schien
+mirs an den Augen abzusehn, und reichte mir &uuml;ber den
+Tisch hinweg die Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihung, mein gn&auml;digstes Fr&auml;ulein,&laquo; sagte er
+l&auml;chelnd, &raquo;ich bin wirklich ein alter Mummelgreis,
+da&szlig; ich in Anwesenheit junger Damen so ein Zeug
+schw&auml;tze! &Uuml;brigens &mdash; ich wills gleich wieder gut
+machen &mdash; richten Sie Ihrem Herrn Vater mein Kompliment
+aus. Ich traf ihn vor vier Wochen in Stettin
+bei Ihrer Majest&auml;t, er lief mir aber davon, ehe ich ihm
+selber sagen konnte, wie gl&auml;nzend seine F&uuml;hrung im
+Man&ouml;ver war. In der Umgebung Seiner Majest&auml;t
+herrschte nur eine Stimme dar&uuml;ber.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte bis dahin vom pommerschen Kaiserman&ouml;ver,
+bei dem mein Vater das Ostkorps, den &raquo;markierten
+Feind&laquo;, zu kommandieren gehabt hatte, nur wenig geh&ouml;rt.
+&raquo;Der Kaiser war au&szlig;erordentlich gn&auml;dig,&laquo; hatte
+er mir geschrieben, &raquo;die Ernennung zum Divisionskommandeur
+kann jeden Tag erfolgen,&laquo; hatte Mama
+hinzugef&uuml;gt. Ich freute mich nun doppelt, N&auml;heres zu
+erfahren. &raquo;Sie w&uuml;nschen am Ende eine Kriegsberichterstattung
+mit allen Schikanen?&laquo; frug Graf Lehnsburg
+und baute aus Brotkr&uuml;meln und Papierschnitzeln ein
+ganzes Schlachtfeld auf, ohne erst meine Antwort abzuwarten.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie hier der Teller, das ist Stettin;
+die Papierschnitzel davor, das ist das Dorf Brunn,
+und hier die Semmeln, das sind die H&ouml;hen, die der
+General von Kleve bereits im ersten Morgengrauen
+des 14. September besetzt hielt. Er geh&ouml;rt noch zu der
+alten Sorte, wissen Sie, die von Anno 70 her wei&szlig;,
+<a name="Page_348" id="Page_348"></a>da&szlig; der, der am fr&uuml;hsten aufsteht, dem Siege am n&auml;chsten
+ist. Dort dr&uuml;ben von der Ostsee her &mdash; der Rotweinklexs
+reicht gerade f&uuml;r den T&uuml;mpel &mdash; kommt das
+feindliche Korps auf Stettin zu marschiert, das es, nach
+dem Ratschlu&szlig; der obersten G&ouml;tter, erobern soll. Der
+Kleve war ja eigentlich nur dazu da, um totgeschossen
+zu werden und den Ruhm des Gegners zu erh&ouml;hen.
+Nat&uuml;rlich war dieser Gegner &mdash; wie das die G&ouml;tter
+mit ihren Lieblingen so zu machen pflegen &mdash; noch mal
+so stark als er und hatte &uuml;berdies in seiner Mitte so
+was wie einen Schutzheiligen, der, wenn alle Stricke
+rei&szlig;en, immer noch seine Gl&auml;ubigen heraushaut.&laquo; Er
+legte dabei ein dickes St&uuml;ck Schwarzbrot in die Mitte
+der feindlichen Papierschnitzel. Die Anwesenden horchten
+auf, lachten und r&uuml;ckten n&auml;her zusammen. &raquo;Nun war
+aber ein Hundewetter an dem Tag, es regnete Bauernjungens,
+darum entdeckte das Westkorps den General,
+der schon eine ganze Weile mit allem n&ouml;tigen Klimbim
+auf seinen sieben H&uuml;geln thronte, erst nach einigem unruhigen
+Hin- und Herfackeln. Nachdem es die Situation
+gl&uuml;cklich erfa&szlig;t hatte, ging es marsch, marsch im Sturm
+voran. Prinz Wilhelm &mdash; der Schutzheilige, wissen
+Sie! &mdash; f&uuml;hrte dabei das Pommersche Grenadierregiment,
+und ich glaube, jeder einzelne Kerl darin hatte schon
+nach dem Kopf gegriffen, der bekanntlich den Lorbeer
+zu tragen bestimmt ist, als er morgens in die Stiebeln
+kroch. Aber Ihr Herr Vater h&auml;lt offenbar nichts von
+Heiligen, &mdash; er ist ein ausgemachter Ketzer, f&uuml;r den schon
+irgendwo die Dienstbeflissenen den Scheiterhaufen zusammentragen, &mdash; er
+empfing den Feind mit einem
+m&ouml;rderischen Feuer, und was von ihm nicht am Platze
+<a name="Page_349" id="Page_349"></a>blieb, das h&auml;tte er, wei&szlig; Gott, noch gefangen genommen,
+wenn nicht ein weiser Hoherpriester ihn beizeiten
+davon abgeraten h&auml;tte. Der hat freilich zum Dank
+daf&uuml;r ein paar faustdicke Grobheiten einstecken m&uuml;ssen!
+Es gab dann noch eine formidable Reiterattacke &mdash; ein
+<em class="antiqua">th&eacute;&acirc;tre par&eacute;</em> f&uuml;r die Fremden! &mdash;, wobei ein paar
+tausend arme G&auml;ule sich einbilden sollten, das Vaterland
+retten zu m&uuml;ssen; aber auch die Vierf&uuml;&szlig;ler im Ostkorps
+zeigen sich als die st&auml;rkeren. Ein schauerliches
+Abschlachten w&auml;rs im Ernstfall gewesen. Sie sehen,
+Stettin konnte ruhig sein, &mdash; und der alte Herr hat in
+der Kritik den General von Kleve &uuml;ber den gr&uuml;nen
+Klee gelobt. Trotzdem wars eine haneb&uuml;chene Dummheit,
+wie sie den Tapfersten immer zust&ouml;&szlig;t, da&szlig; er &mdash; hm! &mdash; da&szlig;
+er den &mdash; den Schutzheiligen nicht besser
+respektierte.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Onkel, der schon die ganze Zeit ungeduldig
+mit den Fingern auf der Stuhllehne getrommelt hatte,
+schien f&uuml;r den Humor der Sache keinen Sinn zu haben.
+&raquo;Schon Wochen vorher habe ich meinen Schwager gewarnt,&laquo;
+sagte er, &raquo;wer den Prinzen kennt, wei&szlig;, da&szlig;
+er alles kann, nur nicht vergessen.&laquo;</p>
+
+<p>Angriffe auf meinen Vater konnte ich nie vertragen.
+Mir stieg auch jetzt das Blut zu Kopf, und meine
+Verteidigung fiel heftiger aus, als es n&ouml;tig gewesen
+w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Ich finde, eine R&uuml;cksicht, wie du sie verlangtest,
+w&auml;re eine Pflichtverletzung gewesen. Wenn der Prinz,
+der noch nie eine Kugel hat pfeifen h&ouml;ren, mit lauter
+servilen Leuten zu tun bek&auml;me, so w&uuml;rde es Deutschland
+mal b&uuml;&szlig;en m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_350" id="Page_350"></a></p>
+<p>&raquo;Bravo!&laquo; sagte Graf Lehnsburg. &raquo;Gro&szlig;spuriges Geschw&auml;tz!&laquo;
+brummte der Onkel.</p>
+
+<p>Am fr&uuml;hen Morgen des n&auml;chsten Tages kam ein
+Telegramm: &raquo;Division in M&uuml;nster.&laquo; Mit beiden F&uuml;&szlig;en
+zugleich sprang ich aus dem Bett. Westfalen: Das
+nordische Rom &mdash; die Wiedert&auml;ufer &mdash; Annette Droste &mdash; der
+Westf&auml;lische Friede &mdash; die Hermannsschlacht, &mdash; es
+war eine verwirrende Vielheit bunter Bilder, die bei diesem
+Namen vor mir aufstiegen. Ich fuhr noch am Nachmittag
+nach Bromberg. Merkw&uuml;rdig ernst empfing mich mein
+Vater. Kaum da&szlig; ich eine Frage an ihn zu richten
+wagte. Und auch zu Hause blieb er still, w&auml;hrend mein
+Schwesterchen voll Freude &uuml;ber den Wechsel im Zimmer
+umhersprang und Mama die n&auml;chsten Pl&auml;ne erwog.
+Erst sp&auml;t am Abend, als er seine gewohnte Patience
+gelegt hatte und sich befriedigt, weil sie mit Mamas
+Hilfe richtig aufgegangen war, in den Stuhl zur&uuml;cklehnte,
+fing er an, sich &uuml;ber die Zukunft auszusprechen.
+Wir orientierten uns mit Hilfe der Rangliste &uuml;ber die
+Verh&auml;ltnisse seiner Division; bis nach Aachen und Paderborn
+dehnte sie sich aus; lauter St&auml;dte voll historischer
+Bedeutung geh&ouml;rten zu ihren Garnisonen. In M&uuml;nster
+erwartete uns eine ger&auml;umige Dienstwohnung, eine gl&auml;nzende
+Geselligkeit; der Kommandierende war meinem
+Vater als liebensw&uuml;rdiger Vorgesetzter bekannt.</p>
+
+<p>&raquo;Und trotzdem &mdash;?&laquo; Ich stockte vor dem finsteren
+Blick, der mich traf. Gleich darauf l&auml;chelte er ein wenig
+gezwungen und strich sich halb nachdenklich, halb verlegen
+den Bart. &raquo;Ihr merkt eben nichts, gar nichts,&laquo;
+sagte er, &raquo;mit der Nase mu&szlig; man euch darauf sto&szlig;en;&laquo;
+damit wies er mit dem Finger in die Rangliste: &raquo;Die<a name="Page_351" id="Page_351"></a>
+13. Division&laquo; stand dort, fett gedruckt. Die 13 aber
+war rot unterstrichen.</p>
+
+<p>Mein Vater verlie&szlig; die Gesellschaft, wenn dreizehn
+bei Tische waren, er drehte um, wenn eine Katze ihm
+&uuml;ber den Weg lief, und machte drei Kreuze, wenn ihm
+beim Morgenritt als Erste ein altes Weib begegnete.
+Ich l&auml;chelte leise und dr&uuml;ckte schmeichelnd meine Wange
+an die seine. &raquo;Den Spuk werden wir bannen, Papachen &mdash; auf
+immer.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du?!&laquo; meinte er zweifelnd und starrte mit
+gro&szlig;en Augen an mir vorbei ins Leere.</p>
+
+<p>Wir blieben nur noch wenige Tage. Der alte Packer
+aus Berlin, der jedes St&uuml;ck unserer Einrichtung kannte
+und seine Kisten stets so wiederfand, wie er sie beim
+letzten Umzug verlassen hatte, pflegte uns, wenn er kam,
+ebenso entschieden wie freundlich hinaus zu komplimentieren.
+&raquo;For ne Exzellenz is der Dreck nu jar
+nischt,&laquo; sagte er diesmal, als er mit seinem Zeitungspaket
+unter dem Arme eintrat. In Berlin hielten wir
+uns noch auf der Durchreise auf. W&auml;hrend Papa sich
+meldete, machten wir Besorgungen. Die Gr&ouml;&szlig;e der
+k&uuml;nftigen Wohnung hatte eine erhebliche Vermehrung
+unserer Einrichtung notwendig erscheinen lassen, und
+die alten M&ouml;bel waren schon lange eines neuen Gewandes
+bed&uuml;rftig. Auch an Toiletten f&uuml;r den n&auml;chsten
+Karneval fehlte es uns. Unter dem Eindruck, nun nicht
+mehr mit jedem Groschen rechnen, nicht mehr an allen
+verlockenden Auslagen als blo&szlig;e Zuschauerin vorbeigehen
+zu m&uuml;ssen, verj&uuml;ngte sich meine Mutter f&ouml;rmlich; ich
+entdeckte zum erstenmal und nicht ohne Besch&auml;mung,
+da&szlig; sie mit ihren dreiundvierzig Jahren noch immer
+<a name="Page_352" id="Page_352"></a>eine sch&ouml;ne Frau war, und eine Ahnung davon durchzuckte
+mich, da&szlig; sie im Grunde ein &auml;rmliches Leben gef&uuml;hrt
+hatte und noch Anspr&uuml;che daran zu stellen berechtigt war.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es war ein Sp&auml;therbstabend, als wir uns
+M&uuml;nster n&auml;herten; ein Wald von T&uuml;rmen
+stand schwarz am dunkelvioletten Himmel.
+Durch d&auml;mmernde Stra&szlig;en, &uuml;ber die nur hie und da
+graue Gestalten huschten, erreichten wir den Gasthof
+mit seiner gew&ouml;lbten Eingangshalle und den von jahrhundertelangen
+Tritten ausgeh&ouml;hlten Steinstufen der
+Treppe.</p>
+
+<p>Fr&uuml;h am Morgen weckte mich ein tiefer Ton, wie
+fernes Donnerrollen; allm&auml;hlich schwoll er st&auml;rker und
+st&auml;rker an, und ein Chor heller Stimmen mischte sich
+hinein: die Glocken M&uuml;nsters, die zur Fr&uuml;hmesse riefen.
+Noch lange, nachdem sie verhallt waren, schien die ganze
+Luft in geheimnisvoll klingende Schwingung versetzt.</p>
+
+<p>Ich lugte neugierig zum schmalen Erkerfenster hinaus.
+Eine breite Stra&szlig;e sah ich, eingefa&szlig;t von hochgegiebelten
+H&auml;usern mit reichen Zieraten, Erkern, Bl&auml;tterwerk und
+Zinkenkronen; jedes in sich abgeschlossen, die Trennung
+vom Nachbarn durch die ragende Spitze betonend; unten
+aber verbanden gew&ouml;lbte Arkaden, deren breite Bogen
+auf trutzig-kr&auml;ftigen Pfeilern ruhten, alle Geb&auml;ude miteinander.
+Mir war, als sei mir durch einen Blick der
+tiefe Sinn alten deutschen B&uuml;rgertums aufgegangen:
+wie es auf breitem Boden der Gemeinsamkeit und des
+gegenseitigen Schutzes festbegr&uuml;ndet ruhte und die Einheit
+und Selbst&auml;ndigkeit der Familie klar und scharf sich
+<a name="Page_353" id="Page_353"></a>daraus emporhob. Wie reich war doch jenes viel gel&auml;sterte
+&raquo;finstere&laquo; Mittelalter gewesen, das f&uuml;r Inhalt
+und Bedeutung des Lebens so wundervoll-harmonische
+Ausdrucksformen fand!</p>
+
+<p>Eine Kirche, &uuml;ber die der ganze glaubensselige
+Reichtum der Gotik ausgegossen schien, schlo&szlig; mit
+schlankem Turm, durch dessen Ma&szlig;werk hoch oben
+des Himmels lichte Bl&auml;ue strahlte, und kraftvoll
+aufw&auml;rts wachsenden Strebepfeilern die Stra&szlig;e gen
+Norden ab. Mu&szlig;ten sich nun nicht rings die Tore
+&ouml;ffnen, um fromme Beter zur Fr&uuml;hmesse zu entlassen, &mdash; Frauen
+in langen, reichen Gew&auml;ndern, mit perlengestickten
+G&uuml;rteln, das Haupt z&uuml;chtig umh&uuml;llt, das Gebetbuch
+mit kunstvoll-geschmiedeter Silberschlie&szlig;e in den
+H&auml;nden, &mdash; M&auml;nner mit bunten geschlitzten W&auml;msen
+und der nickenden Feder auf dem Barett? Ich wartete
+vergebens. Nur ein paar Weiber in jenen tonlosen
+Kleidern, die das Ende des neunzehnten Jahrhunderts,
+passend zum monotonen Stil seiner Kasernenst&auml;dte, erfunden
+hat, verschwanden hinter den Kirchent&uuml;ren. Schon
+wollte ich mich, unmutig &uuml;ber den zerst&ouml;rten Zauber
+zur&uuml;ck ins Zimmer wenden, als mein Blick noch einmal
+gefesselt ward: aus der engen Gasse gegen&uuml;ber wand
+sich lautlos ein Zug grauer Nonnen; die Zipfel ihrer
+Hauben wehten im Morgenwind, eng aneinander gedr&uuml;ckt,
+bewegten sie sich unh&ouml;rbaren Schrittes vorw&auml;rts, &mdash; eine
+Kette verflogener Nachtv&ouml;gel, die lichtscheu &uuml;ber
+den Boden strich, bis sie das dunkle Kirchentor jenseits
+verschlang. Und einsam wie vorher lag nun die
+Stra&szlig;e.</p>
+
+<p>Unser erster Gang an demselben Morgen galt unserem
+<a name="Page_354" id="Page_354"></a>k&uuml;nftigen Heim: dem ehemaligen Kloster der Augustinerinnen,
+das fast vierhundert Jahre lang dem strengen
+Orden der b&uuml;&szlig;enden Nonnen geh&ouml;rt hatte, ehe es der
+piet&auml;tlosen, s&auml;belrasselnden Preu&szlig;enpolitik zum Opfer
+fiel. Vor dem langgestreckten grauen Haus mit seinen
+dicken Mauern und kleinen Fenstern stand hinter ein
+paar m&auml;chtigen Linden halb versteckt die uralte dunkle
+Servatiikirche; die hohen Gartenmauern des Erbdrostenhofes &mdash; eines
+jener zahlreichen prunkvollen Stadtschl&ouml;sser
+westf&auml;lischer Adelsgeschlechter &mdash; umschlossen hinter ihr
+den engen Platz. Nur z&ouml;gernd betrat ich den breiten,
+fliesengedeckten Flur unseres Hauses; die laute erkl&auml;rende
+Stimme des Intendanturbeamten, der uns f&uuml;hrte, machte
+mir denselben schmerzhaften Eindruck wie die Stimmen
+all jener Kirchen-, Gallerie- und Schlo&szlig;diener, die eigens
+dazu berufen zu sein scheinen, den Besucher vor der
+Tiefe irgend eines Eindrucks zu bewahren. Ich lie&szlig; ihn
+vorangehen und blieb allein. Es war ein heller Herbsttag
+drau&szlig;en, die Sonne &uuml;berflutete das gro&szlig;e Treppenhaus,
+aber in die Zimmer hinein drang sie nicht; hier
+wehte jene schwere k&uuml;hle Luft der Gr&uuml;fte, die nie ein
+Sonnenstrahl ber&uuml;hrt. Alle Wohnr&auml;ume lagen nach
+Norden, &mdash; kein warmer Gru&szlig; lockenden Lebens durfte
+die Nonnen ber&uuml;hren, deren Zellen hier gewesen waren.
+Eine davon mochte wohl den fr&ouml;mmsten zur Wohnung
+gedient haben: auf einen winzigen Hof sah sie hinaus;
+gerade gegen&uuml;ber, zum Greifen nah, fiel der Blick auf
+das hohe gotische Fenster der Klosterkapelle, aus dessen
+zerbrochenem Glasgem&auml;lde die schmerzverzerrten Z&uuml;ge
+eines heiligen M&auml;rtyrers noch zu erkennen waren. &raquo;Hier
+ist der Zugang zur Kapelle vermauert,&laquo; hatte ich von
+<a name="Page_355" id="Page_355"></a>ferne den Beamten sagen h&ouml;ren; &raquo;die Leute erz&auml;hlen
+sich noch immer, da&szlig; die Nonnen n&auml;chtlicherweile hier
+umgehen und klagend an den W&auml;nden kratzen, weil ihnen
+der Weg versperrt wurde.&laquo;</p>
+
+<p>Unten im Garten trafen wir uns wieder. Das Wahrzeichen
+M&uuml;nsters &mdash; die Linde &mdash; schm&uuml;ckte auch ihn,
+aber jetzt, da sie kahl war, verst&auml;rkte sie nur den Eindruck
+lebloser Stille, den die Mauern ringsum hervorriefen:
+die der K&uuml;rassierkaserne auf der einen, die des
+Proviantmagazins, in das ein Fl&uuml;gel des Klosters umgewandelt
+worden war, auf der anderen Seite.</p>
+
+<p>&raquo;Hier war der Kirchhof des Klosters,&laquo; sagte unser
+F&uuml;hrer. &raquo;Als vor ein paar Jahren Exzellenz Melchior
+durch das Tor dort hereinfuhr, senkte sich der Boden,
+und die R&auml;der w&uuml;hlten vermorschte S&auml;rge auf.&laquo; &mdash; &raquo;Eine
+gem&uuml;tliche Dienstwohnung, &mdash; das mu&szlig; ich sagen,&laquo; versuchte
+mein Vater zu scherzen. Ich f&uuml;hlte, da&szlig; es auch
+ihm schwer wie ein Alb auf der Seele lag. &raquo;Mir gef&auml;llt
+sie ausnehmend,&laquo; sagte meine Mutter l&auml;chelnd,
+&raquo;die armen Toten schrecken mich nicht, und die Wohnung
+ist prachtvoll.&laquo;</p>
+
+<p>Die Handwerker brachten von nun an L&auml;rm und Leben
+hinein. Wir blieben noch ein paar Wochen im Hotel,
+und ich benutzte die Zeit, um in allen Gassen und Kirchen
+umherzustreichen. Nie hatte ich solch eine Stadt gesehen:
+in Augsburg, in N&uuml;rnberg hatte die neue Zeit
+unter der F&uuml;hrung der r&uuml;cksichtslosen Eroberer Industrie
+und Technik die alte mehr und mehr zur&uuml;ckgedr&auml;ngt,
+&uuml;berflutet, vernichtet, &mdash; hier stand das Leben still, kein
+Fabrikschlot erhob sich mit all seiner barbarischen Protzenhaftigkeit
+neben den Kirchent&uuml;rmen; hinter hohen Eisen<a name="Page_356" id="Page_356"></a>gittern,
+in vornehmer Zur&uuml;ckgezogenheit prangten die
+Renaissance- und Rokokoschl&ouml;sser der Ketteler, der Heereman,
+der Droste-Vischering, der Romberg, der Zwickel
+der Bevernf&ouml;rde, der Schmising, der Galen, der F&uuml;rstenberg;
+zwischen hundertj&auml;hrigen Linden standen Kirchen
+und Kapellen, erf&uuml;llt von der Pracht und Sch&ouml;nheit
+romanischer und gotischer Kunst; in abgelegenen Winkeln
+tauchten alte Kl&ouml;ster auf, deren gras&uuml;berwucherte H&ouml;fe
+von Kreuzg&auml;ngen wie von sch&uuml;tzenden Armen umgeben
+waren; manch alte Festungsmauer lugte drau&szlig;en vor
+der Stadt zwischen dickem Efeu und dichtem Geb&uuml;sch
+hervor, und heimlich vertr&auml;umte Pl&auml;tzchen gab es neben
+pl&auml;tschernden Brunnen, unter Weinlaub umsponnenen
+Bogen, wohin kein anderer Laut des Lebens drang.</p>
+
+<p>Da&szlig; die blaue Blume der Romantik hier Wurzel gefa&szlig;t
+hatte, als drau&szlig;en in der Welt die Aufkl&auml;rung umging
+und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten trachtete, da&szlig;
+Freiheitsschw&auml;rmer, wie die Br&uuml;der Stolberg, sich hier
+zu F&uuml;&szlig;en der F&uuml;rstin Galitzin in die Fesseln der katholischen
+Kirche schlagen lie&szlig;en und Hamann, der Magus
+des Nordens, hier seinen frommen Phantasien lebte, &mdash; wer
+verst&uuml;nde es nicht, dem M&uuml;nster seinen Zauber
+enth&uuml;llte?</p>
+
+<p>Mit der Fertigstellung unserer Wohnung hatte die
+genu&szlig;volle Zeit t&auml;glicher Entdeckungsreisen ein Ende.
+Die h&auml;uslichen und au&szlig;erh&auml;uslichen Pflichten nahmen
+mich wieder in Anspruch. &raquo;Wir feierten den gestrigen
+Einzug in unser Kloster mit dem ersten Besuch der
+Garnisonkirche und h&ouml;rten in einem kahlen, kalten,
+n&uuml;chternen Raum eine ebensolche Predigt,&laquo; schrieb ich
+an meine Kusine. &raquo;Dann kamen Besuche &uuml;ber Besuche, &mdash; leider
+<a name="Page_357" id="Page_357"></a>nur solche, bei denen es einem geht, wie dem
+erwachsenen Menschen vor dem Marionettentheater: alles
+Interesse h&ouml;rt auf, sobald der Unternehmer die Puppen
+wieder in den Kasten legt. Am liebsten m&ouml;chte ich jetzt
+still in der Fensternische meiner Zelle sitzen und lesen,
+lesen, lesen. Ich habe eine Bibliothek entdeckt &mdash; im
+Verein f&uuml;r Wissenschaft und Kunst &mdash;, die mir um so
+mehr zur Verf&uuml;gung steht, als sie niemand sonst zu benutzen
+scheint. Ein junger Beamter mit einem strengen
+Asketengesicht, der mich zuerst sehr abweisend behandelte,
+ist jetzt mein bester Berater. Du h&auml;ttest sehen sollen,
+wie seine sonst halb geschlossenen Augen aufleuchteten,
+als ich die Sch&ouml;nheit M&uuml;nsters pries! &#8250;Wenn Sie erst
+ganz Westfalen kennen w&uuml;rden!&#8249; meinte er, und dabei
+huschte ein heller Schein kindlicher Schw&auml;rmerei ihm
+&uuml;ber die Z&uuml;ge. Er gab mir St&ouml;&szlig;e von B&uuml;chern mit,
+aus denen ich Natur und Kunst seiner geliebten roten
+Erde kennen lernen soll. Was mich aber noch weit
+mehr anzieht, sind die zahlreichen Werke allgemeinen
+kulturgeschichtlichen Inhalts, die der Katalog der Bibliothek
+aufweist. Mein Berater erkl&auml;rte freilich mit aller
+Bestimmtheit, das w&auml;re nichts f&uuml;r mich, es seien B&uuml;cher
+darunter, die die Ruhe der Seele gef&auml;hrdeten; er wurde
+bla&szlig; und rot, als ich ihm versicherte, da&szlig; mir nichts
+w&uuml;nschenswerter sei; und als ich von dem alten Bibliotheksdiener
+Leckys Geschichte der Aufkl&auml;rung und Tylors
+Anf&auml;nge der Kultur verlangte, starrte er mich an wie
+eine Erscheinung und stotterte schlie&szlig;lich: &raquo;Aber &mdash; aber
+es sind nicht einmal Bilder drin!&laquo; N&auml;chtlicherweile habe
+ich sie verschlungen, mein Verstand hat zu ihnen ja und
+zehnmal ja gesagt; &mdash; meine Sinne aber schwelgten im
+<a name="Page_358" id="Page_358"></a>weihrauchgeschw&auml;ngerten D&auml;mmerdunkel des Doms.
+Unter diesem scheinbaren Widerspruch habe ich gelitten,
+bis mir klar wurde, da&szlig; es gar keiner ist: alle Seiten
+unserer Natur bed&uuml;rfen der Nahrung, und die Kunst
+ist die Nahrung der Sinne. Religion aber ist im
+Grunde nichts als Kunst und gestaltende Phantasie.
+Mir war der Protestantismus nie sympatisch; da&szlig; er
+im Grunde nicht nur eine Vergewaltigung deutschen Geistes
+und Wesens, sondern ausgesprochen areligi&ouml;s ist, wurde
+mir von diesem Standpunkt aus erst v&ouml;llig klar.</p>
+
+<p>Leider mu&szlig; ich mir zum Denken und Lernen jede
+Stunde erk&auml;mpfen. Vor R&auml;umen, Toilettenkrimskrams,
+Leute einarbeiten, Besuche machen und empfangen komme
+ich am Tage kaum zu mir selbst. Dabei haben sich wieder
+ein paar landl&auml;ufige Weisheitsspr&uuml;che als fadenscheiniger
+Plunder erwiesen: &#8250;Nach getaner Arbeit ist gut ruhn,&#8249; &mdash; &#8250;Gut
+Gewissen, sanftes Ruhekissen&#8249; &mdash; &#8250;Pflichterf&uuml;llung
+begl&uuml;ckt&#8249;, &mdash; lauter faustdicke L&uuml;gen, die man uns wie
+Binden um die Augen legt, damit wir die Wahrheit
+nicht mehr sehen k&ouml;nnen, &mdash; die Wahrheit, die uns zeigt:
+Tue Deine Arbeit, dann erst findest Du Befriedigung, &mdash; erf&uuml;lle
+Deine Bestimmung, dann erst wirst Du gl&uuml;cklich
+sein.&laquo;</p>
+
+<p>Mit steigender Virtuosit&auml;t f&uuml;hrte ich ein Doppelleben:
+ich vergrub mich stundenweise in meine B&uuml;cher, ich lebte
+mit meinen Gedanken in ihnen, w&auml;hrend ich H&uuml;te garnierte,
+schneiderte, oder mit den Vorbereitungen zu den
+immer zahlreicheren Gesellschaften, Diners und B&auml;llen
+besch&auml;ftigt war. Aber mit dem Augenblick, wo ich im
+Festkleid in den Wagen stieg oder die ersten G&auml;ste bei
+uns erschienen, zog ich den Schl&uuml;ssel zu dem Ge<a name="Page_359" id="Page_359"></a>heimfach
+meines Innern ab, und nichts blieb von mir
+&uuml;brig als die Salondame.</p>
+
+<p>P&uuml;nktlich mit dem Dreik&ouml;nigstag &ouml;ffneten sich die
+Adelsh&ouml;fe M&uuml;nsters. Der Karneval zog ein. Keiner
+von denen, die weise Ma&szlig; halten und Hygiene und
+Moral zu Hofmarsch&auml;llen ernennen, damit die braven
+Menschenkinder sich auch den Magen nicht verderben &mdash; sondern
+ein ungest&uuml;mer, ein wilder, z&uuml;gelloser, der jung
+und alt in seine Dienste zwingt, der uns &uuml;berkommt wie
+ein Rausch und uns selig-m&uuml;de zur&uuml;ck l&auml;&szlig;t.</p>
+
+<p>Eine alte Legende, die im Volke Westfalens noch
+immer lebendig ist, erz&auml;hlt, da&szlig; der Teufel einmal die
+Junker der ganzen Welt in seinen Sack gesteckt habe,
+um sie der H&ouml;lle zu &uuml;berliefern. Als er just &uuml;ber
+Westfalen flog, zerri&szlig; der Sack, und es regnete Ritter.
+Darum gibt es noch heut auf der roten Erde eine so
+gro&szlig;e Menge von ihnen, und kein K&ouml;nigshof k&ouml;nnte
+eine vornehmere Gesellschaft um sich versammeln als
+M&uuml;nster zur Karnevalszeit. Was aber ihrem alten Adel,
+dessen Ursprung sich oft bis in die dunkeln Zeiten Wittekinds
+des Sachsenherzogs verliert, den Glanz verleiht,
+ist der gesicherte Reichtum vieler Generationen. Der
+preu&szlig;ische, der schlesische, der m&auml;rkische Edelmann mit
+seinen gro&szlig;en H&auml;nden, seiner breiten Statur, seinem
+dicken Sch&auml;del verr&auml;t noch oft, da&szlig; sein Vorfahr wie
+ein Bauer arbeiten und leben mu&szlig;te, und sein derber
+Witz, seine Verst&auml;ndnislosigkeit f&uuml;r die feineren k&uuml;nstlerischen
+Reize des Lebens lassen nicht vergessen, da&szlig;
+neben Axt und Pflug sein einziges Handwerkszeug das
+Schwert gewesen ist. Seines westf&auml;lischen Standesgenossen
+rassige Schlankheit, seine der harten Arbeit seit<a name="Page_360" id="Page_360"></a>
+Jahrhunderten entw&ouml;hnten H&auml;nde verdankt er dagegen
+der Freigebigkeit des &uuml;ppigen Bodens, den Scharen
+der H&ouml;rigen, die ihn bebauen mu&szlig;ten; und die Grazie
+seiner gesellschaftlichen Formen, die Sch&ouml;nheit seiner
+Umgebung erinnert an die prunkvollen H&ouml;fe der Kirchenf&uuml;rsten
+von K&ouml;ln, von Paderborn, von M&uuml;nster, wo
+seine Ahnen erzogen wurden, und an die k&uuml;nstlerische
+Kultur, die die katholische Kirche um sich verbreitete.
+Mit einem angeborenen Sinn f&uuml;r Stoffe und Farben
+kleiden sich seine sch&ouml;n gewachsenen, ein wenig steifen
+Frauen und T&ouml;chter mit den feinen, regelm&auml;&szlig;igen, ein
+wenig leeren Gesichtern; Perlen und Edelsteine in herrlicher
+alter Fassung schm&uuml;cken ihre vollen blonden Haare,
+ihre schneewei&szlig;en Nacken und Arme. Die M&ouml;bel, die
+Schaust&uuml;cke, das reiche Silberger&auml;t in ihren H&auml;usern
+ist ererbter Familienbesitz aus den Glanzzeiten der Gotik,
+der Renaissance, des Rokoko; von den farbensatten
+Gobelins, die die W&auml;nde der S&auml;le decken, sieht die
+ganze Vergangenheit herab auf das junge Geschlecht,
+das ihr auch geistig nicht untreu geworden ist.</p>
+
+<p>Sie sind alle gl&auml;ubige Katholiken; sie vers&auml;umen die
+Messe nicht, auch wenn sie die N&auml;chte durchtanzen;
+barh&auml;uptig, Gebetbuch und Rosenkranz in den H&auml;nden,
+schreiten die vornehmsten mit in der gro&szlig;en Prozession
+am Montag nach dem Reliquienfeste und am Tage
+Mari&auml; Heimsuchung; die Kirche ist ihr eigentliches
+Vaterland; in den Jahren des Kulturkampfes behandelte
+der westf&auml;lische Adel die preu&szlig;ischen Beamten und Offiziere
+wie Feinde, und eine gewisse mi&szlig;trauische Zur&uuml;ckhaltung
+zeigte sich hier und da auch jetzt. Aber sie galt
+weniger dem preu&szlig;ischen Protestanten im allgemeinen,
+<a name="Page_361" id="Page_361"></a>als dem einzelnen, der mit taktloser Gro&szlig;spurigkeit auftrat,
+oder &mdash; dessen Adelsdiplom nicht ganz reinlich erschien.
+Hier herrschte noch vollkommenste Exklusivit&auml;t, &mdash; ein
+B&uuml;rgerlicher, ein Neugeadelter war nicht gesellschaftsf&auml;hig,
+und dies ungeschriebene Gesetz wurde den
+Einheimischen gegen&uuml;ber am strengsten gehandhabt. Eine
+Organisation westf&auml;lischer Damen, die angesichts des
+Gleichheitstaumels der franz&ouml;sischen Revolutionsepoche
+gegr&uuml;ndet worden war, konnte &uuml;ber Sein und Nichtsein
+entscheiden. Ihre Feste waren unter dem Namen der
+B&auml;lle des Damenklubs weit und breit ber&uuml;hmt und &mdash; gef&uuml;rchtet.
+Wer dazu nicht geladen wurde, war einf&uuml;r
+allemal boykottiert; r&uuml;ckhaltlos gesellschaftlich anerkannt
+war nur, wer auch bei den intimen Veranstaltungen
+nicht fehlte. Der Klub hatte die Macht, Mitglieder
+des westf&auml;lischen Adels, die sich irgend etwas
+hatten zuschulden kommen lassen, durch geheime Abstimmung
+auf Monate oder Jahre von allem Verkehr
+mit seinen Standesgenossen auszuschlie&szlig;en.</p>
+
+<p>Die R&uuml;cksicht auf diese tiefwurzelnden Auffassungen &mdash; spukte
+nicht hier sogar die Erinnerung an die Vehme? &mdash; f&uuml;hrte
+zu merkw&uuml;rdigen Konsequenzen: man hatte
+zwar durchgesetzt, da&szlig; auch die nicht adeligen Offiziere
+nicht v&ouml;llig von der Geselligkeit ausgeschlossen wurden,
+aber sie wurden nur zu gro&szlig;en B&auml;llen gebeten und
+h&auml;tten es auch dort kaum wagen d&uuml;rfen, eine westf&auml;lische
+Dame zum Tanz zu f&uuml;hren. Die vierten K&uuml;rassiere
+und die sogenannten Papst-Husaren aus Paderborn, &mdash; Regimenter,
+so vornehm wie nur irgend eins der Garde,
+in die nicht einmal ein unadliger Einj&auml;hriger Aufnahme
+fand, &mdash; waren die allein &#8250;hoff&auml;higen&#8249;. Und so war es
+<a name="Page_362" id="Page_362"></a>denn auch nicht die Stellung meines Vaters, sondern
+sein Name und der Stammbaum meiner Mutter, die uns
+rasch alle T&uuml;ren &ouml;ffneten. Geistige Anspr&uuml;che an unsere
+Gesellschaft zu stellen, hatte ich aufgegeben; die Alix Kleve,
+die mit hei&szlig;en Wangen und brennender Lebenslust zum
+Klang s&uuml;&szlig;er Walzerweisen von einem Arm in den
+anderen flog, war nicht dieselbe, die daheim mit
+klopfendem Herzen und unstillbarem Geistesdurst &uuml;ber
+den B&uuml;chern sa&szlig;.</p>
+
+<p>Die Atmosph&auml;re der Vornehmheit und des Reichtums,
+die Eleganz der T&auml;nzer, die Sch&ouml;nheit der Menschen
+und der R&auml;ume befriedigte meine Sinne; es gab Tage
+und Stunden, wo die prickelnde, fiebernde Lust des
+Karnevals mich ganz und gar gefangen nahm, wo eine
+Tanzmelodie mich wie ein elektrischer Schlag bis in die
+Fu&szlig;spitzen durchzuckte und alle &uuml;brigen Lebenst&ouml;ne erschlug.
+Wir tanzten t&auml;glich; in den Fastnachtstagen fielen sogar
+die Schranken zwischen den Gesellschaftsklassen und unter
+Papierschlangengeschossen und Konfettiregen wagten wir
+uns unter die maskierte Menge der Stra&szlig;e. Alle H&ouml;fe
+und H&auml;user standen offen; &uuml;berall konnten die Masken
+sich selbst zu Gaste laden, und doch artete die sprudelnde
+Lustigkeit nie in rohe Sp&auml;&szlig;e aus.</p>
+
+<p>Am Fastnachtsdienstag gab es ein Fr&uuml;hst&uuml;ck im K&uuml;rassierkasino,
+wo die Sektpfropfen knatterten wie Salven, und
+darauf einen ausgelassenen Tanz im Sande der Reitbahn,
+wo die Herren um die Wette &uuml;ber H&uuml;rden und Gr&auml;ben
+sprangen. Abends war der letzte Ball des Damenklubs; noch
+einmal wurde getanzt wie rasend, alte Graub&auml;rte machten
+den J&uuml;ngsten den Rang dabei streitig, und die F&uuml;lle
+der Blumen, die uns gespendet wurden, lie&szlig; sich kaum
+<a name="Page_363" id="Page_363"></a>fassen. Mir stoben Funken vor den Augen, und ich f&uuml;hlte
+nichts mehr als die wiegende, schleifende Bewegung
+und den hei&szlig;en, keuchenden Atem meiner T&auml;nzer. Pl&ouml;tzlich,
+mitten im wilden Abschiedsgalopp, stand alles still,
+wie von einem Zauber gebannt, die Musik brach ab,
+mit kurzem Gru&szlig; huschten die Damen hinaus, rasch
+warfen die Herren den Mantel &uuml;ber die Schultern &mdash; zw&ouml;lf
+schlug die tiefe Glocke vom Domturm, Aschermittwoch
+klingelte das schrille Gl&ouml;cklein von der Liebfrauenkirche.</p>
+
+<p>Mit einem Schlag schien das Leben erloschen. Still,
+mit verh&auml;ngten Fenstern lagen von nun an wieder die
+Adelsh&ouml;fe. Nur dr&uuml;ben im Erbdrostenhof regte sichs
+noch: gestern hatte die schlanke Tochter des Hauses mit
+uns getanzt, heute nahm sie im Kloster der Ursulinerinnen
+den Schleier. Wie eine gl&uuml;ckliche Braut ward sie von
+all den Ihren geleitet, und sie selbst l&auml;chelte wie eine
+solche. Mit einem Glanz verkl&auml;rter Freude auf den
+Z&uuml;gen leisteten ihre Br&uuml;der &mdash; die &uuml;berm&uuml;tigsten T&auml;nzer
+sonst &mdash; die Ministrantendienste bei der heiligen Handlung.
+Und doch wu&szlig;ten alle, da&szlig; es ein Abschied f&uuml;r
+immer war, denn in strenger Klausur verbringen die
+Ursulinerinnen ihr nur dem Gebet und der Bu&szlig;e geweihtes
+Leben.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der Fastenzeit kamen Kapuzinerm&ouml;nche nach
+M&uuml;nster, die besten Kirchenredner ihres Ordens. Sie
+Sprachen von vier Kanzeln dreimal des Tags, und Kopf
+an Kopf dr&auml;ngte sich jedesmal die Menge und hielt geduldig
+stundenlang stehend aus. Ich ging wiederholt in
+den Dom; die fanatische Beredsamkeit dieser blassen
+M&auml;nner in ihren braunen Kutten war &uuml;berw&auml;ltigend.<a name="Page_364" id="Page_364"></a>
+Sie sprachen r&uuml;cksichtslos und griffen mitten ins Leben,
+und eine Wirkung ging von ihnen aus, die nicht nur
+in dem wachsenden Andrang zu ihren Beichtst&uuml;hlen zum
+Ausdruck kam, sondern auch in den Handlungen der
+Einwohner M&uuml;nsters. Wir h&ouml;rten h&auml;ufig, da&szlig; gestohlenes
+Gut zur&uuml;ckgegeben wurde, Verleumder den Verleumdeten
+um Verzeihung baten, Treulose zu den verf&uuml;hrten
+M&auml;dchen zur&uuml;ckkehrten. &raquo;Es geht ein Zug nach
+Wahrheit und Befreiung durch die Welt, dem, ihrer
+selbst nicht bewu&szlig;t, auch die asketischen Diener der Kirche
+folgen m&uuml;ssen. Zuweilen, wenn sie mit &uuml;berw&auml;ltigender
+Kraft das Elend armer Arbeiter schilderten, und den
+Reihen, die nicht sehen und h&ouml;ren wollen, mit den
+Schrecken auch der irdischen Sorgen drohten, schien es
+wirklich Christi lebendiger Atem zu sein, der sie beseelte.
+Mir tr&auml;umte dabei von einer fernen Zukunft, wo in
+heiligen Hallen, wie diese, Missionsprediger der Freiheit
+zu den Tausenden sprechen werden.&laquo; So schrieb ich an
+Mathilde. In M&uuml;nster aber verstand man meine h&auml;ufigen
+Kirchenbesuche anders. Zufall &mdash; Absicht? &mdash; f&uuml;hrten
+mich mit katholischen Priestern zusammen, und ich merkte
+bald, welch lebhaftes Interesse sie an mir nahmen. Sie
+boten sich mir zu F&uuml;hrern in Kirchen und Kapellen an
+und verwickelten mich, wenn ich kam, in religi&ouml;se Gespr&auml;che.
+Aus meiner Stellung zum Protestantismus
+machte ich kein Hehl, und als ich einmal freim&uuml;tig erkl&auml;rte,
+da&szlig; der Katholizismus mir weit anziehender sei,
+meinte mein Begleiter vorsichtig: &raquo;Sie sollten sich mit
+unserer Kirche n&auml;her vertraut machen, wenn sie Ihnen,
+wie es den Anschein hat, die Idee des Christentums
+deutlicher repr&auml;sentiert.&laquo; &mdash; &raquo;Die Idee des Christentums?!<a name="Page_365" id="Page_365"></a>&laquo;
+erwiderte ich l&auml;chelnd. &raquo;Nein, Hochw&uuml;rden, mit ihr hat
+die katholische Kirche nichts zu tun! Und gerade das
+ist es, was ich an ihr liebe und bewundere.&laquo; Sprachlos
+starrte der Priester mich an. &raquo;Ich begreife nicht &mdash;&laquo;
+brachte er schlie&szlig;lich hervor. &raquo;Darf ich es Ihnen erkl&auml;ren?&laquo;
+Er nickte zustimmend.</p>
+
+<p>&raquo;Meiner Ansicht nach ist die urspr&uuml;ngliche Lehre Christi
+mit ihrem Asketismus, ihrer Verachtung des Lebens,
+der Freude, der Sch&ouml;nheit, ihrer Menschenfeindschaft, &mdash; bei
+aller Betonung der Menschenliebe, &mdash; der Natur der
+abendl&auml;ndischen V&ouml;lker so widersprechend, da&szlig; sie sich in
+ihrer Reinheit gar nicht durchsetzen konnte. Wir sind
+Heiden, sind Sonnenanbeter; mit den Gesch&ouml;pfen unserer
+Tr&auml;ume beleben wir Feld und Wald, Berg und Tal.
+Karl der Gro&szlig;e hat das rasch begriffen, und seine Missionare
+mit ihm. Sie hatten h&auml;ufig genug selbst Sachsenblut
+in den Adern. Darum bauten sie an Stelle der
+Heiligt&uuml;mer Wotans, Donars, Baldurs und Freyas die
+Tempel Ihrer vielen Heiligen; darum erhoben sie nicht
+den Gekreuzigten, sondern die Mutter Gottes, das Symbol
+schaffenden Lebens, auf den Thron des Himmels.
+Darum schm&uuml;cken die Diener des Mannes, der nicht
+hatte, da er sein Haupt h&auml;tte hinlegen k&ouml;nnen, ihre Gew&auml;nder,
+ihre Alt&auml;re und ihre Kirchen mit Gold und
+Edelsteinen und zogen die Kunst in ihren Dienst. Vom
+Standpunkt Christi aus hatten Ihre Wiedert&auml;ufer Recht,
+die die Bilder zerst&ouml;rten, aber die lebensstarke Natur
+ihrer Volksgenossen hat sie ins Unrecht gesetzt. Und
+wissen Sie, was mich in meiner Auffassung vom heidnischen
+Charakter des Katholizismus und seiner Lebensf&auml;higkeit
+infolgedessen best&auml;rkte: der eben verflossene<a name="Page_366" id="Page_366"></a>
+Karneval! In keinem protestantischen Lande ist dergleichen
+m&ouml;glich, auch wenn es auf denselben Breitengraden
+liegt, wie M&uuml;nster, wie K&ouml;ln, wie D&uuml;sseldorf,
+wie M&uuml;nchen. Vor lauter Verst&auml;ndigkeit und N&uuml;chternheit
+haben wir die Freude verlernt, die ein Bestandteil
+heidnischer Religi&ouml;sit&auml;t ist.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt war die Reihe an meinem Begleiter, &uuml;berlegen
+zu l&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Ob Sie, infolge irgend welcher verwirrender Lehren
+sogenannter wissenschaftlicher Aufkl&auml;rung, Heidentum
+nennen, was christ-katholisch ist, das d&uuml;rfte zun&auml;chst von
+geringem Belang sein, sofern Sie nur an die Lehren
+der Kirche glauben. Wir verlangen von den Novizen
+nicht die Gedanken- und Gef&uuml;hlstiefe des erprobten Bekenners.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber ich glaube ja an Ihre Heiligen nicht, wenn ich
+ihre Existenz auch verstehe!&laquo; Der Priester sch&uuml;ttelte den
+grauen Kopf. &raquo;Wir werden einander nie n&auml;her kommen,
+Hochw&uuml;rden. Wo Sie Religion sehen, sehe ich Kunst,
+und Ihr Gott und Ihre Heiligen sind f&uuml;r mich nicht
+&uuml;berirdische Wesen, die ich anbeten mu&szlig;, sondern Gebilde,
+die unsere Phantasie erschuf, wie die Hand des Malers
+die heilige Jungfrau dr&uuml;ben. Da&szlig; Ihre Kirche diese
+Sch&ouml;pferkraft nicht unterband, sondern sch&uuml;tzte, n&auml;hrte,
+anfeuerte, ist ein Verdienst, das sie mir ehrw&uuml;rdig macht.
+Sie werden aber nun selbst einsehen, da&szlig; sich aus solchem
+Material keine Proselyten machen lassen.&laquo;</p>
+
+<p>Man schien mich trotz alledem nicht aufzugeben. Ich
+wurde in der Gesellschaft Westfalens mit mehr Interesse
+und Aufmerksamkeit behandelt als sonst ein junges M&auml;dchen
+und war viel zu eitel, um die Vorteile dieser Aus<a name="Page_367" id="Page_367"></a>nahmestellung
+nicht angenehm zu empfinden. Da&szlig; ich
+mich im stillen immer weiter aus dem geistigen Bannkreis
+meiner Umgebung entfernte, bemerkte niemand.
+Mit wem h&auml;tte ich mich auch ehrlich aussprechen k&ouml;nnen?
+Mein Vater war in seinen kirchlich und politisch konservativen
+Anschauungen immer schroffer geworden, und
+je h&ouml;her die Stellung war, die er einnahm, je mehr er
+nichts anderes um sich hatte als Untergebene, desto
+selbstherrlicher wurde er, desto weniger duldete er Widerspruch.
+Meine Mutter wurde von steigender Antipathie
+gegen meine Studien beherrscht, jeden B&uuml;chertitel musterte
+sie mit gr&ouml;&szlig;tem Mi&szlig;trauen, und ich konnte sicher sein,
+mit irgend einer &raquo;wichtigen&laquo; h&auml;uslichen Aufgabe, wie
+W&auml;sche flicken, Staub wischen oder dergleichen, immer
+dann betraut zu werden, wenn ich am meisten gefesselt
+war. Unter unseren vielen Bekannten war niemand,
+den ich f&uuml;r w&uuml;rdig und f&auml;hig gehalten h&auml;tte, an meinen
+Interessen teil zu nehmen. Es gab schon verbl&uuml;ffte Gesichter
+genug um mich her, wenn ich etwa &uuml;ber politische
+Tagesereignisse mitzureden den Mut fa&szlig;te.</p>
+
+<p>So wurde ich denn immer launischer, reizbarer und
+hochm&uuml;tiger. Nichts als meine pessimistischen Ansichten
+&uuml;ber die Menschen hatte ich ausgesprochen, wenn ich auf
+einem Maskenfest des letzten Winters an die Rosen, die
+ich verteilte, statt der Dornen Verse wie diese geheftet
+hatte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Die Menschen tragen im Leben<br /></span>
+<span class="i0">Eine Maske vor dem Gesicht;<br /></span>
+<span class="i0">W&uuml;nsch' nicht, sie zu demaskieren,<br /></span>
+<span class="i0">Denn, wisse, es lohnt sich nicht!<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza"><a name="Page_368" id="Page_368"></a>
+<span class="i0">Und f&uuml;rchtest du die Rose,<br /></span>
+<span class="i0">Weil stets ihr Dorn dich sticht, &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">So pfl&uuml;cke dir G&auml;nsebl&uuml;mchen,<br /></span>
+<span class="i0">Die, Teuerster, stechen nicht!<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Du tr&auml;umst vom Feuer der Liebe,<br /></span>
+<span class="i0">Das hoch ein jeder preist?<br /></span>
+<span class="i0">Wisse, in unserm Jahrhundert<br /></span>
+<span class="i0">Ist es ein Irrlicht meist.<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Traue keinem hier von allen,<br /></span>
+<span class="i0">Dann erst recht nicht, wenn die Maske fiel;<br /></span>
+<span class="i0">Niemals wird die zweite Maske fallen,<br /></span>
+<span class="i0">Und was Wahrheit scheint, ist Narrenspiel.<br /></span>
+</div></div>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Im M&uuml;nster ist's finster,&laquo;<br /></span>
+<span class="i0">Wer w&uuml;&szlig;te das nicht?<br /></span>
+<span class="i0">Doch sag mir, wo in der Welt<br /></span>
+<span class="i0">Ist es licht?<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Licht war f&uuml;r mich nur die Welt der B&uuml;cher; Erkenntnisse,
+die ich gewann, erf&uuml;llten mich mit tiefer
+hei&szlig;er Freude, und die Sehnsucht wuchs hinaus aus der
+Enge des Lebens; von der Phantasie nahm sie die
+leuchtendsten Farben, um Menschen zu malen, die von
+Idealen erf&uuml;llt, mit den reichsten Waffen des Geistes
+ausgestattet, eine dunkel geahnte andere Welt zu erobern
+ausgingen. Mein Tagebuch und die Briefe an Mathilde
+waren die Vertrauten meines eigentlichen, verborgenen
+Lebens.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin in meinem Studium der Kulturgeschichte
+beim f&uuml;nften gro&szlig;en Werke angelangt,&laquo; schrieb ich da<a name="Page_369" id="Page_369"></a>mals,
+&raquo;mein Interesse daf&uuml;r ist immer im Wachsen, und
+immer wieder finde ich, was mich fast von Kindheit
+an &mdash; damals noch wie eine Ahnung &mdash; erf&uuml;llte: da&szlig;
+wir uns trotz allem, was den Blick momentan verdunkeln
+mag, unaufhaltsam vorw&auml;rts bewegen. Wehe
+denen, die hemmen wollen, sei es in der Kunst, der Wissenschaft,
+der Religion, oder der Politik! &mdash; Nur eins
+schmerzt mich oft bis zur Verzweiflung: da&szlig; ich nur
+Zuschauer bin und weder beim Niederrei&szlig;en des Alten,
+noch beim Aufbauen des Neuen tatkr&auml;ftig eingreifen
+kann.&laquo;</p>
+
+<p>An anderer Stelle hei&szlig;t es: &raquo;Auf dem Wege meiner
+stillen Studien bin ich zu der Erkenntnis gelangt, da&szlig;
+unsere Entwicklung wie auf einer Wendeltreppe vorw&auml;rts
+schreitet. Zuerst lernt man mechanisch, ohne zu verstehen,
+dann lernt man verstehen; aus beiden folgt das eigene Denken,
+und erst auf diesen drei Stufen erhebt sich der pers&ouml;nliche
+Mensch und f&auml;ngt nun scheinbar von vorn an: er
+lernt, er versteht, er denkt &mdash; oder er entz&uuml;ndet das trocken
+aufgeh&auml;ufte Pulver des Verstandes mit dem elektrischen
+Funken seines eigenen Geistes und sprengt damit die
+starren Formelmauern, um nun selbst Licht und W&auml;rme
+zu verbreiten. Auf jeder Stufe bleiben viele Menschen
+stehen; darum wird man mit dem Vorw&auml;rtsschreiten
+immer einsamer und l&auml;&szlig;t viele hinter sich zur&uuml;ck, die nicht
+gleichen Schritt mit uns hielten.&laquo;</p>
+
+<p>Soweit meine Kusine sich auf Diskussionen einlie&szlig;,
+trat sie mir entgegen. Sie verteidigte z.&nbsp;B. die Heroengeschichte
+gegen&uuml;ber der Kulturgeschichte; sie suchte
+mir zu beweisen, da&szlig; die K&ouml;nige, Staatsm&auml;nner und
+Feldherrn die Geschichte &raquo;machen,&laquo; w&auml;hrend ich erkl&auml;rte,<a name="Page_370" id="Page_370"></a>
+&raquo;da&szlig; der einzige dauernde gesunde Fortschritt aus
+dem Volk herausw&auml;chst und die Gro&szlig;en der Erde oft
+nichts sind als Marionetten in der Hand der ungeheuern
+namenlosen Masse.&laquo; Ich hatte viel zu sehr das Bed&uuml;rfnis,
+mich irgend jemandem gegen&uuml;ber auszusprechen,
+und ihr Urteil war mir &uuml;berdies viel zu wenig ma&szlig;gebend,
+als da&szlig; ich mich von ihren Gegengr&uuml;nden h&auml;tte
+abschrecken lassen. &raquo;Meine letzte Entdeckung mu&szlig; ich
+Dir mitteilen, obwohl ich von vornherein wei&szlig;, da&szlig; Du
+&uuml;ber meine &#8250;umst&uuml;rzlerischen&#8249; Ansichten wieder emp&ouml;rt
+sein wirst. Je mehr ich die Geschichte der V&ouml;lker studiere,
+desto klarer wird mir, da&szlig; der gro&szlig;e, viel zu wenig
+anerkannte Fortschritt unserer Zeit in der v&ouml;llig ver&auml;nderten
+Wertung der Arbeit besteht. Kein Volk der
+Vergangenheit hat die Arbeit an sich als etwas Ehrenvolles
+betrachtet. Im Gegenteil: nur der Sklave, der
+Kriegsgefangene, kurz, der Entrechtete, Ehrlose arbeitete.
+Die Arbeit war eines freien Mannes unw&uuml;rdig. Das
+war die durchg&auml;ngige Ansicht der antiken V&ouml;lker, das
+war auch die der Germanen. Und zu jenen Ehrlosen,
+die zur Arbeit gewisserma&szlig;en verdammt waren, geh&ouml;rten
+charakteristischerweise nicht nur die Unfreien unter den
+Frauen, sondern ihr ganzes Geschlecht. Die Arbeit
+eine Ehre &mdash; das Nichtstun ein Laster, &mdash; dahin fangen
+wir erst an, uns zu entwickeln, und zu ihrer vollen Bedeutung
+wird diese Erkenntnis erst in sp&auml;ter Zukunft gelangen. &mdash; F&uuml;r
+mich pers&ouml;nlich ist sie nicht eine blo&szlig;e
+verstandsm&auml;&szlig;ige Einsicht, sondern ein Ereignis, das mich
+ersch&uuml;tterte. Wird der Wert des Menschen an seiner
+Leistung gemessen, &mdash; wie bestehe ich vor dieser Pr&uuml;fung?!
+Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, gesund an<a name="Page_371" id="Page_371"></a>
+Geist und K&ouml;rper, leistungsf&auml;higer vielleicht als viele,
+und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal,
+sondern werde gelebt!&laquo;</p>
+
+<p>Wie sich der Hei&szlig;hungrige &uuml;ber jeden Bissen st&uuml;rzt,
+so warf ich mich &uuml;ber jede M&ouml;glichkeit des Erlebens und
+der Arbeit.</p>
+
+<p>Zu jener Zeit starb der alte Kaiser, und im M&auml;rtyrerschicksal
+seines Nachfolgers begann der Trag&ouml;die letzter
+Akt. Mit jener steigenden Erregbarkeit meiner Nerven,
+die auch die Ereignisse au&szlig;erhalb des eigenen Schicksals
+zum pers&ouml;nlichen Erlebnis werden lie&szlig;, verfolgte ich die
+Berichte der Presse, dachte des &raquo;neuen Herrn,&laquo; der
+nun kam, dessen verk&uuml;mmerter Arm mich vor Jahrzehnten
+schreckte, und der, seit jenem Gespr&auml;ch mit Graf Lehnsburg,
+seltsam drohend sich meinem Vater entgegenzustrecken
+schien. Die alte Welt versank, &mdash; der Todeskampf
+Friedrichs III. war auch der ihre. Und mit wilder
+Zerst&ouml;rungslust schienen die Elemente ihn zu begleiten.
+Unaufh&ouml;rlich str&ouml;mte der Regen, aus ihren Ufern traten
+die Fl&uuml;sse, die D&auml;mme brachen &mdash; tausende stiller Heimst&auml;tten
+wurden vernichtet, hunderttausenden armer Menschen
+drohte Hunger und Elend. Und ich sa&szlig; hier im
+gesicherten Schutz unseres Hauses mit gebundenen H&auml;nden! &mdash; In
+fieberhaftem Eifer schrieb ich die M&auml;rchen
+nieder, die ich meinem Schwesterchen im Laufe der Jahre
+erz&auml;hlt hatte. Ich schickte sie aufs geratewohl einem
+K&ouml;nigsberger Verleger, mit der Bestimmung, den etwaigen
+Erl&ouml;s den &Uuml;berschwemmten zuzuf&uuml;hren. &raquo;Ver&ouml;ffentlichungen
+dieser Art liegen au&szlig;erhalb unseres Gebiets,&laquo;
+schrieb er, und rasch entmutigt warf ich sie ins Feuer.
+Kurz darauf wurde ein Dilettantenkonzert zum Besten
+<a name="Page_372" id="Page_372"></a>der Notleidenden arrangiert, und ich, deren Karnevalsverse
+in Erinnerung geblieben waren, sollte einen Prolog
+dazu verfassen und vortragen. Es wurde mir nicht schwer,
+ich brauchte nur auszusprechen, was ich empfand, und
+als ich am Tage der Auff&uuml;hrung im schwarzem Trauerkleid
+auf hohem Podium stand, eine stumme dunkle Menge
+vor mir, und f&uuml;hlte, wie meine Stimme den Saal erf&uuml;llte, &mdash; da
+war mirs, als sprengte mein eigenes
+klopfendes Herz die Eisenreifen, die es umschn&uuml;rt hatten.
+Von der tiefen Glocke in meiner Brust sprach man mir,
+nachdem die einen mir stumm die Hand gesch&uuml;ttelt, die
+anderen, voll Enthusiasmus, mir gedankt hatten. Besa&szlig;
+ich die Macht, die Menschen zu ersch&uuml;ttern, sie zum Gro&szlig;en
+und Guten aus ihrer Stumpfheit aufzur&uuml;tteln? Er&ouml;ffnete
+sich hier irgend ein Weg f&uuml;r mich, auf dem ich endlich,
+endlich dem nutzlosen Leben entfliehen konnte? &raquo;O da&szlig;
+ich die Kr&auml;fte, die ich besitze, in einer jener Pionierarbeiten
+einsetzen d&uuml;rfte, die durch die W&uuml;ste der Welt
+neue Wege bahnen!&laquo; schrieb ich noch in der Nacht darnach
+an meine Kusine.</p>
+
+<p>Mein Prolog wurde gedruckt und in ein paar tausend
+Exemplaren verkauft. Aber dem Hochgef&uuml;hl folgte bald
+die Ern&uuml;chterung. Ein Tropfen auf den hei&szlig;en Stein
+war, was ich f&uuml;r die &Uuml;berschwemmten erreicht hatte; in
+die Alltagsstimmung fielen die Begeisterten rasch zur&uuml;ck;
+in das Alltagsleben mu&szlig;te ich aufs neue. Ich befand
+mich in einer f&ouml;rmlichen Krisis, die mich sch&uuml;ttelte wie
+ein Fieber, mir allen Schlaf und alle Selbstbeherrschung
+raubte. Als mein Vater mich daher eines Abends frug,
+warum ich so stumm und stocksteif das&auml;&szlig;e, antwortete ich
+mit einer Leidenschaft, die sich nicht mehr zur&uuml;ckd&auml;mmen
+<a name="Page_373" id="Page_373"></a>lie&szlig;: &raquo;Weil das Leben mir zum Ekel wurde &mdash; weil ich
+mich selbst nicht l&auml;nger ertragen kann. &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja um Himmels willen, was ist denn geschehen?
+Wieder so 'ne verdammte Liebesgeschichte?&laquo; Papa
+schwollen vor Schreck die Adern auf der Stirn. Mama
+dagegen sah mich fl&uuml;chtig forschend an und l&auml;chelte dann
+ihr feines maliti&ouml;ses L&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Das Gegenteil d&uuml;rfte richtig sein, &mdash; ihr fehlt
+momentan die Liebesgeschichte,&laquo; sagte sie, und sekundenlang
+fuhr es mir blitzartig durchs Gehirn, ob sie am
+Ende recht haben k&ouml;nnte. Dann aber antwortete ich
+rasch, um den Gedanken in mir selbst zu erl&ouml;schen:</p>
+
+<p>&raquo;Arbeiten m&ouml;cht ich, &mdash; irgend etwas leisten, das mich
+ganz und gar in Anspruch nimmt. Ich beneide den
+Steinklopfer an der Stra&szlig;e, der abends wenigstens
+arbeitges&auml;ttigt totm&uuml;de auf seinen Strohsack sinkt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du hast doch genug zu tun, wie ich bemerke,&laquo; meinte
+Papa nach einem kleinen z&ouml;gernden Nachdenken, &raquo;du
+liest, du malst, du schneiderst, du besch&auml;ftigst dich mit
+deiner Schwester, du bist der unersetzliche Arrangeur
+unserer Feste &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Mama unterbrach ihn: &raquo;Das gen&uuml;gt nat&uuml;rlich Alix'
+Ehrgeiz nicht. H&auml;usliche Pflichten sind ein &uuml;berwundner
+Standpunkt. Aber du hast ja Auswahl genug, wenn
+du ihrer &uuml;berdr&uuml;ssig wurdest,&laquo; damit wandte sie sich an
+mich; ihr ganzes Gesicht war rot, und ihre schmalen
+Lippen bebten, &raquo;du kannst Gesellschafterin &mdash; Gouvernante &mdash; Hofdame
+werden. Sieh dann selber zu, wie
+das harte Brod der Fremde schmeckt!&laquo;</p>
+
+<p>Mir st&uuml;rzten die Tr&auml;nen aus den Augen. Mir ahnte
+l&auml;ngst, da&szlig; mir kein Ausweg blieb, und doch ersch&uuml;tterte
+<a name="Page_374" id="Page_374"></a>mich die trockne Aufz&auml;hlung dieser einzigen M&ouml;glichkeiten,
+die f&uuml;r mich Unm&ouml;glichkeiten waren. Mein Vater
+konnte niemanden weinen sehen, am wenigsten seine
+T&ouml;chter. Er sprang auf und zog mich in die Arme,
+mir mit einem leisen: &raquo;Armes Kind, armes Kind!&laquo; die
+Wangen streichelnd. Es blieb dann eine Weile ganz
+still zwischen uns. Und dann sprach er mit derselben
+weichen Stimme auf mich ein, wie auf eine Kranke, &mdash; mit
+langen Pausen dazwischen, als wollte er mir zum
+Antworten Zeit lassen. &raquo;Sei still, mein Kind &mdash; bitte
+weine nicht mehr. &mdash; Wie ein Vorwurf ist das f&uuml;r
+mich &mdash; da&szlig; ich nicht besser f&uuml;r dich sorgte! W&auml;rst
+du ein Mann, so h&auml;tte ich dich schon auf Wege gef&uuml;hrt,
+die einen Lebensinhalt gew&auml;hrleisten, aber so &mdash; &mdash; du
+bist nur ein M&auml;dchen &mdash; nur f&uuml;r einen einzigen Beruf
+bestimmt, &mdash; alle anderen w&auml;ren doch nichts als traurige
+L&uuml;ckenb&uuml;&szlig;er. Du sollst diesem einzigen nicht so krampfhaft &mdash; oder
+leichtsinnig &mdash; aus dem Wege gehen!
+Ich bin ein alter Mann und werde nicht ruhig sterben
+k&ouml;nnen, wenn ich dich nicht im Hafen wei&szlig;!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Papa &mdash; lieber Papa!&laquo; schluchzte ich auf; dann lief
+ich hinaus und schlo&szlig; mein Schlafzimmer hinter mir zu
+und sa&szlig; auf dem Bett stundenlang mit brennenden
+Augen und wundem Herzen. Nun hatte ich ein Buch
+nach dem anderen hei&szlig;hungrig verschlungen, und dunkel
+und leer g&auml;hnte mein Inneres mich trotzdem an, &mdash; hatte
+Erkenntnisse gewonnen, die mich berauschten, und
+wenn ich zum n&uuml;chternen Tageslicht erwachte, war ich
+elender als zuvor. So ist das Gl&uuml;ck geistigen Werdens
+und Wachsens denn auch nichts weiter als Bet&auml;ubung?
+Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann?<a name="Page_375" id="Page_375"></a>
+Und hat es kein Recht auf ein eigenes Leben? &mdash; Der
+Mann! Ich dachte derer, die mir im letzten Winter
+gehuldigt hatten, &mdash; gute T&auml;nzer, lustige Kurmacher,
+zu einem fl&uuml;chtigen Flirt wie geschaffen &mdash; aber an sie
+gekettet, ihnen unterworfen sein &mdash; ein ganzes Leben
+lang &mdash; entsetzlich! Pl&ouml;tzlich aber f&uuml;hlte ich mich wie
+eingeh&uuml;llt von einem Feuerstrom, so da&szlig; im ersten Schreck
+das Herz mir stockte: ein Kind! ein Kind! &mdash; das war
+des Lebens Zweck und Inhalt. Ein Kind wollt ich
+haben, gleichg&uuml;ltig von wem, ein lebendiges Teil meiner
+Selbst, einen Sohn, &mdash; das Gesch&ouml;pf meines K&ouml;rpers
+und meines Geistes &mdash;, der meine Tr&auml;ume erf&uuml;llen, der
+werden sollte, was ich zu werden vergebens hoffte!
+Was galt mir der Mann: mochte er sein, was er wollte, &mdash; nur
+den Vater meines Sohnes brauchte ich!</p>
+
+<p>Und als wir am n&auml;chsten Abend wieder um den
+runden Tisch zusammen sa&szlig;en, sagte ich: &raquo;Du sollst dich
+nicht weiter um mich gr&auml;men, Papachen, &mdash; pa&szlig; auf,
+&uuml;ber kurz oder lang hast du einen Schwiegersohn und
+bist die b&ouml;se Tochter los!&laquo; Worauf ich lachend einen
+z&auml;rtlichen Ku&szlig; bekam. Mama nahm keine Notiz von meiner
+Bemerkung; erst am folgenden Tag kam sie darauf zur&uuml;ck.
+&raquo;Ich habe dir niemals zur Ehe zugeredet,&laquo; sagte
+sie, &raquo;und h&uuml;te mich auch jetzt davor. Das Gl&uuml;ck, das
+ein M&auml;dchen von ihr erwartet, findet sie nie.&laquo; &mdash; &raquo;Ich
+will auch kein Gl&uuml;ck &mdash; eine Lebensaufgabe will ich &mdash; ein
+Kind,&laquo; stie&szlig; ich widerwillig hervor, denn mich meiner
+Mutter anzuvertrauen, kostete mir die gr&ouml;&szlig;te &Uuml;berwindung.
+&raquo;Ein Kind?!&laquo; wiederholte sie, &raquo;um dich vollends
+mit Sorgen zu beladen?!&laquo;</p>
+
+<p>Sie hatte mich offenbar nie so wenig verstanden wie heute.</p>
+
+<p><a name="Page_376" id="Page_376"></a>Mein Vater dagegen war noch nie so liebevoll zu
+mir gewesen. Was er mir an den Augen absehen
+konnte, das tat er. Lange Morgenritte machten wir
+wieder zusammen, hinaus in die weite Heide, vorbei an
+all den stolz in sich abgeschlossenen einsamen Bauernh&ouml;fen
+und an manch uraltem Schlo&szlig; mit festen T&uuml;rmen
+und tiefen Gr&auml;ben ringsum. Und wenn er weiter ins
+Land Inspektionsreisen machte &mdash; nach Minden, nach
+Soest, nach Paderborn &mdash;, nahm er mich mit; w&auml;hrend
+er seinen Dienst erledigte, lernte ich all die Sch&auml;tze alter
+Kunst, all die Wahrzeichen alter Geschichte kennen, an
+denen Westfalen so reich ist.</p>
+
+<p>In der ersten H&auml;lfte des Monats Juni fuhren wir
+nach Aachen, der Garnison des 53. Infanterieregiments,
+dessen Chef Kaiser Friedrich war. Das Wetter war so
+sch&ouml;n, die Stadt und ihre Umgebung so unersch&ouml;pflich,
+da&szlig; wir l&auml;nger blieben, als es der Dienst meines Vaters
+erfordert h&auml;tte.</p>
+
+<p>Am Mittag des 15. Juni 1888 &mdash; wir kehrten gerade
+von einem Spaziergang in unser Hotel zur&uuml;ck &mdash; kam ein
+junger Leutnant atemlos von der Kaserne und bat uns,
+ihm so rasch wie m&ouml;glich dorthin zu folgen. Was er
+erz&auml;hlte, war so seltsam, da&szlig; wir, w&auml;re es nicht heller
+Tag gewesen, an seiner N&uuml;chternheit h&auml;tten zweifeln
+d&uuml;rfen. Ein Zug Soldaten habe, so berichtete er, auf
+dem Kasernenhof exerziert; kaum sei er abgetreten, als
+einem der Offiziere von seinem Fenster aus gro&szlig;e lateinische
+Schriftzeichen im Sande aufgefallen seien, die
+offenbar von den regelm&auml;&szlig;ig sich wiederholenden Fu&szlig;tritten
+herr&uuml;hren mu&szlig;ten. Man habe inzwischen rasch zu einem
+Photographen geschickt, um das merkw&uuml;rdige Ph&auml;nomen
+<a name="Page_377" id="Page_377"></a>auf der Platte festzuhalten, und &raquo;Exzellenz m&uuml;ssen es
+unbedingt auch in Augenschein nehmen &mdash;&laquo; f&uuml;gte er
+eifrig hinzu. &raquo;Zum Donnerwetter, was ist es denn?&laquo;
+sauste mein Vater ihn an. &raquo;Es hei&szlig;t f&uuml;r jeden deutlich &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Extrablatt! Extrablatt!&laquo; unterbrachen den &auml;ngstlich
+stotternden Leutnant in diesem Augenblick viele Stimmen.
+&raquo;Heute Morgen elf Uhr ist Kaiser Friedrich gestorben!&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Offizier wurde leichenbla&szlig;. &raquo;Elf Uhr?!&laquo;
+wiederholte er langsam. &raquo;Um diese Stunde entstand die
+Schrift!&laquo;</p>
+
+<p>Wir traten in den Kasernenhof. Das ganze Regiment
+schien versammelt und starrte wie gebannt auf den
+regenfeuchten Platz. Mitten darauf stand in riesigen
+Lettern:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 12em;">W W II.</span><br />
+</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_378" id="Page_378"></a></p>
+<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p style="text-align: right">
+M&uuml;nster, 29. Dez. 1888
+</p>
+
+<p>Liebe Mathilde!</p>
+
+<p>Das Dreibretzeljahr, von dem ich mir so viel
+versprochen hatte, geht zu Ende. Es ist nicht
+s&uuml;&szlig;, ja nicht einmal schmackhaft gewesen, und
+sein einziges greifbares Resultat ist, da&szlig; ich meine hochfliegenden
+W&uuml;nsche und Hoffnungen sauber verpackt zu
+anderem Urv&auml;terhausrat in die alte Truhe legte, wo
+ich sie vielleicht an Sonn- und Feiertagen des Lebens
+hie und da herausnehmen und mit wehm&uuml;tiger Resignation
+betrachten werde, wie die Gro&szlig;m&uuml;tter die Liebesbriefe
+ihrer sechzehn Jahre. Du brauchst mir zum neuen
+Jahr kein Gl&uuml;ck zu w&uuml;nschen; ich wei&szlig; von vorn herein,
+was es bringt: das landl&auml;ufige M&auml;dchenschicksal einer
+Vernunftheirat. Ich kenne den Gl&uuml;cklichen noch nicht,
+der sich an den Resten meines Ich entflammen wird &mdash; aber
+ich werde ihn finden, und trainiere mich jetzt schon
+zur K&uuml;hle und Ruhe, damit mir nicht am unrechten
+Ort das Herz durchgeht.</p>
+
+<p>Heut nacht hab ich beim m&uuml;den Schimmer meiner
+Rosa-Ampel lange wach gesessen und getr&auml;umt, &mdash; gegr&uuml;belt
+wohl eher, denn tr&auml;umen tut man kaum mehr,
+<a name="Page_379" id="Page_379"></a>wenn das erste Vierteljahrhundert des Lebens sich seinem
+Ende zu neigt; und tut mans trotzdem, so sind es eben &mdash; schlechte
+Tr&auml;ume. Im Kamin prasselte das Feuer,
+und wenn ich aufsah, blickte mir aus dem Spiegel ein
+Gesicht entgegen, das das einer Toten h&auml;tte sein k&ouml;nnen,
+wenn nicht die Augen von verhaltenen Tr&auml;nen geschimmert
+und die Lippen wie eine klaffende Wunde
+blutrot geleuchtet h&auml;tten. Ein Kindergesicht wars nie, &mdash; bin
+ich denn &uuml;berhaupt ein Kind gewesen? Ein
+gl&uuml;ckliches Kind? Es mu&szlig; sehr lange her sein, denn
+ich besinne mich nicht darauf. Ich mag auch nicht die
+Tafeln der Erinnerung aufdecken. H&auml;&szlig;liche Bilder zeigen
+sie. Freilich meist golden umrahmt, auf Elfenbein gemalt
+in schillernden Farben, aber sieh dir den H&ouml;llenspuk
+nur genauer an: war nicht das Schicksal ein wahnwitziger
+Maler, da&szlig; es so kostbares Material an solchen
+Schund verwandte?</p>
+
+<p>Was hat denn gehalten von alledem? Die Liebe
+etwa? Armes Menschenkind! Sie ging an dir vor&uuml;ber
+und du sahst nur so viel von ihr, um die Sehnsucht
+darnach, die fiebernde, hei&szlig;e, ewig zu sp&uuml;ren! Und der
+Glanz? Wie schnell sah das allzu scharfe Auge, da&szlig;
+er nichts war als Flittergold, &mdash; Raketen, die prasseln
+und strahlen; wenn sie verglimmt sind, ist es viel dunkler
+noch als zuvor! &mdash;</p>
+
+<p>Ich habe die Wissenschaft gepflegt, wie eine verbotene
+Liebschaft, &mdash; die bleibt mir. Ich habe die Kunst geliebt,
+sch&uuml;chtern nur und von ferne, um die Hehre nicht mit
+meiner Pfuscherei zu besudeln, &mdash; die bleibt mir. Das
+mag jenen Luxustieren unter den Menschen gen&uuml;gen,
+die vom Leben nichts wollen als Genu&szlig;, &mdash; jenen, die
+<a name="Page_380" id="Page_380"></a>so hohl sind, da&szlig; sie immer empfangen k&ouml;nnen. Ich
+aber wollte schaffen!! &mdash; Wozu lebe ich denn &uuml;berhaupt?
+W&uuml;rde mich jemand vermissen, w&uuml;rde eine L&uuml;cke
+bleiben, wenn ich nicht w&auml;re? Meine Eltern, meine
+Schwester, meine Freunde w&uuml;rden trauern. Wie lange?
+Ich bin ihnen doch allen fremd geblieben! Wer wird
+denn nur wahrhaft vermi&szlig;t? Ein guter Vater, &mdash; eine
+treue, sorgende Mutter! &mdash;</p>
+
+<p>Pfui, du hast geweint, &mdash; schnell, lache, setze die
+Maske auf, &mdash; wer zeigt denn heutzutage sein Gesicht?
+Es w&auml;ren der Falten, der Tr&auml;nen zu viele!</p>
+
+<p>Verzeih &mdash; ich schrieb in Gedanken ein Romankapitel.
+Im n&auml;chsten Brief sollst Du h&ouml;ren, wie herrlich ich mich
+am&uuml;siere!</p>
+
+<p>Prost Neujahr! &mdash; &Uuml;brigens eine prachtvolle Phrase,
+mit der man sich um das &#8250;Gl&uuml;ck&#8249; w&uuml;nschen herumdr&uuml;cken
+kann.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 20.5em;">Deine Alix.</span><br />
+</p>
+
+<p style="text-align: right">
+M&uuml;nster, 30.&nbsp;1.&nbsp;89
+</p>
+
+<p>Liebe Mathilde!</p>
+
+<p>Ein Karneval, der mich kaum zu Atem kommen l&auml;&szlig;t,
+ist die Ursache meines langen Schweigens. Ich will
+ihn durchtollen, bis zum bitteren Bodensatz genie&szlig;en,
+weil es unweigerlich der letzte f&uuml;r mich ist. So oder
+so: ich verlasse den Schauplatz nicht, es sei denn auf
+der H&ouml;he des Triumphs. Alle b&ouml;sen Geister haben
+wieder von mir Besitz ergriffen und peitschen mich vorw&auml;rts
+auf der Rennbahn der Eitelkeit, angesichts heftiger
+Konkurrenz. Mit dem neuen Kommandierenden &mdash; dem
+einst allm&auml;chtigen und gef&uuml;rchteten Chef des<a name="Page_381" id="Page_381"></a>
+Milit&auml;rkabinetts, der die Vorsehung seiner Vettern bis
+ins zwanzigste Glied gewesen ist &mdash; scheinen die L&ouml;winnen
+des alten berliner Hofs den Schauplatz ihrer T&auml;tigkeit
+hierher verlegt zu haben. Eine komische Gesellschaft:
+vornehm, blasiert, elegant, hochnasig, mit einem starken
+Stich ins Burschikose, nicht ohne &#8250;Vergangenheit&#8249;. Diese
+beiden letztgenannten Eigenschaften sind die Ursache ihrer
+nicht ganz freiwilligen Entfernung aus Berlin, wo man
+im Zeichen der Tugend und Gottesfurcht steht. Nun
+ist M&uuml;nster aber auch nicht der Ort, wo Leutnants den
+jungen Damen kameradschaftlich auf die Schultern klopfen
+und mit frischem Stallgeruch und schmutzigen Stiefeln zum
+Damenfr&uuml;hst&uuml;ck erscheinen k&ouml;nnen. Kurz &mdash; wir werden
+die fremden V&ouml;gel schon ausr&auml;uchern, und ich tue dazu,
+was ich an Koketterie, an Geist und Toiletten aufbringen
+kann. Mit dem gl&auml;nzendsten Kavalier dieses
+Karnevals, Herrn von Hessenstein, der k&uuml;rzlich hier
+Schwadronschef geworden ist, schlo&szlig; ich ein Schutz- und
+Trutzb&uuml;ndnis zu diesem Zweck. Du brauchst keine
+Kassandrarufe auszusto&szlig;en &mdash; wir gefallen einander &mdash; nichts
+weiter!</p>
+
+<p>Es gibt eine Anziehungskraft zwischen Mann und
+Weib, die mit Geist und Herz gar nichts zu tun hat;
+ich m&ouml;chte sie k&ouml;rperlichen Magnetismus nennen. Man
+ist nicht gemein, wenn man sie empfindet, weil der Instinkt
+der Natur nicht gemein sein kann. Zum Ungl&uuml;ck
+wird sie nur, weil das sentimentale Liebesgewinsel
+unserer Goldschnitt-Lyriker und unsere verlogene Erziehung
+uns dazu gebracht haben, sie vor uns selbst mit
+falschen Empfindungen zu umkleiden. Meine fiebernden
+Sinne werden oft von Menschen angezogen, von denen<a name="Page_382" id="Page_382"></a>
+Geist und Herz sich abgesto&szlig;en f&uuml;hlen. Und umgekehrt
+sind diese gefangen, wo jene beinahe Ekel empfinden.
+W&uuml;rde ich mich des Instinktes sch&auml;men und ihn infolgedessen
+mit dem Feigenblatt verlogener Schw&auml;rmerei bedecken, &mdash; in
+welch unselige Ehen h&auml;tte ich mich schon
+fesseln lassen! Vielleicht ist die wahre, dauernde Liebe
+erst m&ouml;glich unter den Gatten, die sich ganz kennen, sich
+ganz besitzen, und die noch dazu ein gewisser &auml;u&szlig;erer
+Zwang zusammenh&auml;lt. Alles &uuml;brige ist Flirt &mdash; Sport,
+oder sonst ein Fremdwort ... Wenn ich nur nicht die
+fatale Eigenschaft h&auml;tte, gegen alle Art b&uuml;rgerlich ehrbarer,
+staatlich sanktionierter, zu lebensl&auml;nglichem Gebrauch
+auf Flaschen gezogener Gef&uuml;hle einen un&uuml;berwindlichen
+Abscheu zu haben ...&laquo;</p>
+
+<p>Gegen Ende des Karnevals gab Herr von Hagen,
+unser Oberpr&auml;sident, &mdash; ein gescheiter, feiner, alter
+Herr, der einzige fast, mit dem ich eine ernstere Unterhaltung
+f&uuml;hren mochte, &mdash; ein Diner, zu dem er mich,
+entgegen der sonstigen Gewohnheit, mit einlud. Junge
+M&auml;dchen waren ja nur zum Tanzen da; man schlo&szlig; sie
+daher &uuml;berall von den Gelegenheiten aus, wo Anspr&uuml;che
+an den Geist, statt an die F&uuml;&szlig;e gemacht werden konnten.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollen heute diesen B&ouml;otier bekehren,&laquo; sagte mir
+unser Gastgeber l&auml;chelnd, indem er mir Herrn von Syburg,
+den neuen Hammer Landrat vorstellte, &raquo;er hat Ansichten
+&uuml;ber die Frauen, &mdash; na, Sie werden ja sehen!&laquo;</p>
+
+<p>Ein gro&szlig;er schm&auml;chtiger Mann machte mir eine steife
+Verbeugung, und ein paar helle, weit vorstehende Augen
+musterten mich ernsthaft. Der erste Eindruck, den ich
+empfing, war fast ein feindseliger. Als wir dann aber
+ins Gespr&auml;ch kamen, gefiel er mir. Seine Ruhe, seine<a name="Page_383" id="Page_383"></a>
+Kenntnisse, seine vielseitigen Interessen erhoben ihn &uuml;ber
+den Durchschnitt. Er war konservativ bis in die Fingerspitzen,
+und unsere Ansichten platzten st&auml;ndig aufeinander.
+Aber hinter den seinen stand eine so gefestigte &Uuml;berzeugung,
+so da&szlig; mir meine eigene Unklarheit peinlich zum
+Bewu&szlig;tsein kam. Im Grunde war ich nur sicher in der
+Negation; diese Schw&auml;che meines Standpunkts schien
+Herr von Syburg rasch zu entdecken, sie verlieh ihm
+ein &Uuml;bergewicht, das mir in unserem ferneren Verkehr
+stets peinlich f&uuml;hlbar blieb.</p>
+
+<p>Er besuchte uns am n&auml;chsten Tage und fehlte dann
+in keiner Gesellschaft. Er machte mir auf seine Art
+den Hof, tanzte fast jeden Kotillon mit mir und war
+stets mein Tischherr.</p>
+
+<p>&raquo;Nun hast du gl&uuml;cklich wieder eine neue &#8250;Briefmarke&#8249;,&laquo;
+meinte mein Vater; aber w&auml;hrend er sonst an dieselbe
+Bemerkung &auml;rgerliche Vorw&uuml;rfe kn&uuml;pfte, l&auml;chelte er diesmal
+dazu. Er neckte mich, weil ich fahnenfl&uuml;chtig zum
+Zivil &uuml;berginge, und erz&auml;hlte wohl auch gelegentlich von
+dem gro&szlig;en Besitz der Syburgs in Schleswig, oder von
+dem Ministerportefeuille, das der Landrat schon heimlich
+in der Tasche tr&uuml;ge. Seine Stimmung machte mich
+weich, &mdash; der Gedanke, da&szlig; es vielleicht in meiner Hand
+liegen sollte, ihn gl&uuml;cklich zu machen, l&auml;hmte meine
+Widerstandskraft. Dabei wurde ich Syburg gegen&uuml;ber
+immer scheuer und b&uuml;&szlig;te immer mehr von meiner
+Lustigkeit ein, weil ich mich st&auml;ndig von ihm beobachtet
+wu&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Sie kommen mir vor wie ein Abiturient im Examen,&laquo;
+sagte Hessenstein eines Tages zu mir, der der einzige
+war, dem die Entwicklung der Dinge mi&szlig;fiel, und der
+<a name="Page_384" id="Page_384"></a>kein Hehl daraus machte. Im stillen gab ich ihm recht.
+Er unterwirft mich wirklich einer f&ouml;rmlichen Pr&uuml;fung,
+dachte ich bitter. H&auml;ufig nahm er einen dozierenden
+Ton an, der mich wild machen konnte. Und doch wuchs
+seine Macht &uuml;ber mich. Es imponierte mir, da&szlig; er nie
+den girrenden Seladon spielte, sich niemals meinen
+W&uuml;nschen f&uuml;gte, ja, sich manchen leisen Tadel gestattete,
+dessen Berechtigung ich anerkennen mu&szlig;te. Schon vor
+Jahr und Tag hatte ich meiner Kusine geschrieben:
+&raquo;Ich bedarf der Bewunderung, sagst du, &mdash; gewi&szlig;!
+Und doch sehne ich mich nach einem Menschen, den
+nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft, der
+mir nicht dem&uuml;tig die H&auml;nde k&uuml;&szlig;t, sondern mich sanft
+und mitleidig an sein Herz zieht und spricht: Nun ruh
+dich aus, du armes, m&uuml;des Kind!&laquo;</p>
+
+<p>Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur Entfremdeten
+konstruieren k&uuml;nstlich eine Weibesliebe, die
+den Gleichen begehrt. Den H&ouml;herstehenden will sie;
+denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbed&uuml;rftigkeit
+ist ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie,
+meiner Sehnsucht Erf&uuml;llung vorzut&auml;uschen, und wenn
+ich auch oft entsetzt gewahr wurde, da&szlig; der Instinkt der
+Natur mich nicht zu Syburg zwang, sondern es zwischen
+uns lag wie eiskaltes Gletscherwasser, so schlugen meine
+W&uuml;nsche immer wieder die Br&uuml;cken hin&uuml;ber. Nur des
+Nachts r&auml;chte sich die unterjochte Natur an mir. Stundenlang
+lag ich wach und k&auml;mpfte mit den warnenden
+Stimmen meines Innern; erst wenn der Tag d&auml;mmerte,
+fiel ich in unruhigen Schlaf. Von der Servatiikirche
+h&ouml;rte ich die Stunden schlagen; die gleichm&auml;&szlig;igen Schritte
+z&auml;hlte ich, mit denen der Posten vor dem Hause unaufh&ouml;rlich
+<a name="Page_385" id="Page_385"></a>auf und nieder ging, und verkroch mich zitternd unter
+die Decke, wenn die M&auml;use, die unvertilgbar schienen,
+piepsend &uuml;ber die Diele raschelten. Von Kindheit an
+brach mir der Angstschwei&szlig; aus, sobald eins der zierlichen
+grauen Gesch&ouml;pfchen in meine N&auml;he geriet.</p>
+
+<p>Ich wurde immer schmaler und blasser, und m&uuml;de &mdash; immer
+m&uuml;der. Die weiche Fr&uuml;hlingsluft, die merkw&uuml;rdig
+fr&uuml;h in diesem Jahr Bl&auml;tter und Bl&uuml;ten hervorlockte,
+erschlaffte mich vollends.</p>
+
+<p>Syburg schien meine krankhafte Mattigkeit f&uuml;r weibliche
+Sanftmut zu halten; das verst&auml;rkte in seinen Augen
+meine Anziehungskraft. Ich lie&szlig; es geschehen, da&szlig; er
+mich fast schon wie sein Eigentum behandelte. Hessenstein
+versuchte vergeblich, meine Widerstandskraft wach
+zu rufen. &raquo;Sie rennen sehenden Auges in Ihr Ungl&uuml;ck,&laquo;
+sagte er einmal, &raquo;niemals passen Feuer und
+Wasser zusammen.&laquo; &raquo;Aber das Wasser l&ouml;scht das Feuer
+aus,&laquo; antwortete ich mit tr&uuml;bem L&auml;cheln, &raquo;und gerade
+das ists, was ich brauche.&laquo;</p>
+
+<p>Es war schon Ende M&auml;rz, als Prinz Sayn, der
+Kommandeur der K&uuml;rassiere und unerm&uuml;dliche liebensw&uuml;rdige
+Arrangeur aller Feste, zum Polterabend einer
+bevorstehenden Hochzeit eine Quadrille zu tanzen in
+Vorschlag brachte. Die Paare wurden bestimmt; Syburg
+war selbstverst&auml;ndlich mein Partner. Bei einer der vorbereitenden
+Zusammenk&uuml;nfte wurde die Kost&uuml;mfrage besprochen,
+und wir hatten uns beinahe schon geeinigt,
+der Auff&uuml;hrung den Charakter eines Sch&auml;ferspiels zu
+geben, als meine Mutter das Hofkost&uuml;m der Rokokozeit
+f&uuml;r angemessener hielt. Der Prinz und seine Frau, die
+mittanzen wollten und an den jugendlichen Gew&auml;ndern
+<a name="Page_386" id="Page_386"></a>schon Ansto&szlig; genommen hatten, stimmten ihr zu; da
+niemand einen Einwand erhob, schien die Angelegenheit
+erledigt. Beim Nachhausewege erfuhr ich erst den Grund,
+der meine Mutter zu ihrer Anregung bestimmt hatte.
+&raquo;Dein schweriner Pompadourkost&uuml;m hast du nur das
+eine Mal angehabt,&laquo; sagte sie, sichtlich befriedigt, &raquo;wir
+sparen nun, Gott Lob, jede Neuanschaffung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein Pompadourkost&uuml;m!&laquo; Ich erschrak und rief
+heftig: &raquo;Lieber verbrenn' ichs!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du bist wohl nicht ganz bei Trost!&laquo; antwortete Mama
+&auml;rgerlich. Meine Bl&auml;sse erst machte sie aufmerksam.
+&raquo;Ach &mdash; darum!&laquo; sagte sie gedehnt, &raquo;solch eine Sentimentalit&auml;t
+h&auml;tte ich dir nicht zugetraut.&laquo; Ich schwieg.</p>
+
+<p>Bei der ersten Tanzprobe jedoch brachte ich im stillen
+mit Hessensteins Hilfe die Jugend auf meine Seite.
+Die Herren erkl&auml;rten, da&szlig; die Hofkost&uuml;me ihnen zu kostspielig
+seien, die jungen M&auml;dchen, da&szlig; sie die langen
+Schleppen nicht leiden k&ouml;nnten. Es war eine f&ouml;rmliche
+Revolte. Syburg allein war auf Seite der &auml;lteren
+Mitwirkenden und der M&uuml;tter. &raquo;Ich kenne die Gr&uuml;nde
+Ihrer Frau Mutter,&laquo; sagte er mir leise, &raquo;und ich begreife
+nicht, wie eine so kluge junge Dame wie Sie an
+diesem kindischen Tumult teilnehmen kann.&laquo; Ich &auml;rgerte
+mich &uuml;ber die Bevormundung und mehr noch &uuml;ber das
+gute Einvernehmen zwischen Syburg und meiner Mutter,
+aber die Heftigkeit meines Widerstands war gebrochen;
+wir wurden &uuml;berstimmt.</p>
+
+<p>Und der Abend kam, wo das alte Kleid vor mir lag.
+Ein leiser Duft von Jasmin stieg aus den Falten, und
+seine B&auml;nder und Schleifen, seine gr&uuml;nen Bl&auml;tter und
+roten Rosen sahen mich an, wie lauter lebendig ge<a name="Page_387" id="Page_387"></a>wordene
+Erinnerungen. In leisen Melodien raschelte
+die Seide: <em class="antiqua">&raquo;O la marquise Pompadour &mdash; Elle connait
+l'amour &mdash;&laquo;</em>. Durch das Mieder, das sich eng um meinen
+K&ouml;rper schmiegte, sp&uuml;rte ich den Arm, der mich einst so
+z&auml;rtlich an sich gezogen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Hellmut!&laquo; st&ouml;hnte ich leise und brach in Tr&auml;nen aus.
+Der Felsen, den ich vor die Grabkammer meines Innern
+gew&auml;lzt hatte, war zersprengt; und wo ich nur Totes
+w&auml;hnte, st&uuml;rzte wild wie ein Gie&szlig;bach das Leben hervor.</p>
+
+<p>&raquo;Du weinst?!&laquo; Mein Vater stand vor mir. &raquo;Es ist
+nichts &mdash; Papachen &mdash; nichts!&laquo; versuchte ich ihn zu beruhigen
+und trocknete hastig Augen und Wangen. Er
+l&auml;chelte liebevoll: &raquo;Sei nur ganz ruhig, mein Alixchen &mdash; alles &mdash; alles
+wird gut werden!&laquo; Und als ich,
+meiner selbst nicht m&auml;chtig, noch einmal krampfhaft aufschluchzte,
+zog er mir die H&auml;nde vom Gesicht und sagte
+leise: &raquo;Syburg war l&auml;ngst bei mir und hat &mdash; als ein
+ehrenwerter Mann durch und durch &mdash; zuerst deine
+Eltern gefragt, ob er um dich werben d&uuml;rfe ...&laquo; Ich
+fuhr auf und starrte ihm entsetzt ins Gesicht. &raquo;Das
+darf dich nicht kr&auml;nken, mein Kind, &mdash; du solltest selbstverst&auml;ndlich
+nichts davon wissen &mdash; die Freiheit der
+Entschlie&szlig;ung sollte dir allein vorbehalten bleiben &mdash;&laquo;
+Er schlo&szlig; mich ger&uuml;hrt in die Arme, &mdash; er war &uuml;berzeugt,
+mich ganz getr&ouml;stet zu haben &mdash; der gute
+Vater!</p>
+
+<p>Er f&uuml;hrte mich zum Wagen hinunter &mdash; meine Schleppe
+raschelte &uuml;ber die breiten Stufen &mdash; drau&szlig;en, rechts und
+links, standen die Menschen, um mich anzustaunen; &mdash; hatte
+ich diesen Augenblick nicht schon einmal erlebt? Damals &mdash; im
+wei&szlig;en Kleide wars gewesen, als ich zur Kirche fuhr,
+<a name="Page_388" id="Page_388"></a>um ein Gel&uuml;bde abzulegen, von dem mein Herz nichts
+wu&szlig;te!</p>
+
+<p>Auf der Treppe des Hotels ergriff mich ein Schwindel.
+Hessenstein sprang zu und st&uuml;tzte mich. In demselben
+Augenblick war Syburg neben mir. &raquo;Ihre Dame erwartet
+Sie,&laquo; sagte er scharf und k&uuml;hl zu meinem Begleiter,
+und gehorsam legte ich meine Hand in seinen
+dargebotenen Arm.</p>
+
+<p>Und dann tanzten wir. War ich ein Automat, da&szlig;
+meine F&uuml;&szlig;e sich im Takt bewegten, w&auml;hrend meine Seele
+weit, weit fort war &mdash; oder war ich die kleine Seejungfrau,
+die ihre Menschwerdung bei jedem Schritt,
+den sie tat, mit schneidenden Schmerzen bezahlen mu&szlig;te?! &mdash; Wie
+fest schlossen sich heute die Finger meines T&auml;nzers
+um meine Hand &mdash; wie Teufelskrallen, die mich nicht
+mehr los lassen wollten &mdash;; und so sengend hei&szlig; wehte
+sein Atem mir in den Nacken! &Auml;ngstlich vermied ich es,
+ihn anzusehen, ich sah ihn niemals gern, wenn er tanzte,
+wie auf Draht gezogen bewegte er sich, &mdash; ach, und
+heute &mdash; heute tanzte spukhaft eine andere Gestalt neben
+mir &mdash;</p>
+
+<p>Die Musik intonierte die letzte Tour. Ich mu&szlig;te ihn
+ansehen, &uuml;ber die Schulter hinweg, f&auml;cherschlagend, mit
+einem koketten L&auml;cheln. Und da traf mich sein Auge,
+und blieb auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides
+haften &mdash; mit schw&uuml;ler, begehrlicher L&uuml;sternheit &mdash;</p>
+
+<p>Noch eine Verbeugung, und wiegenden Schrittes, sich
+an den Fingerspitzen haltend, verlie&szlig;en die Paare den
+Saal. Meine Kraft war zu Ende. Ich bat Syburg,
+meine Mutter zu rufen, da ich mich leidend f&uuml;hlte und
+nach Haus fahren m&uuml;&szlig;te. Ohne R&uuml;cksicht auf all die
+<a name="Page_389" id="Page_389"></a>erstaunten Blicke, die mich trafen, nahm ich den Mantel
+um und stand schon auf der Treppe, als meine Eltern
+mich einholten. Angekleidet, wie ich war, warf ich mich
+zu Hause aufs Bett. Mama f&uuml;hlte mir den Puls und
+schickte nach dem Arzt. &raquo;Die &uuml;bliche Fr&uuml;hlingskrankheit
+junger Damen,&laquo; sagte er, &raquo;schicken Sie ihr Fr&auml;ulein
+Tochter aufs Land.&laquo; Mit einem Gef&uuml;hl der Befreiung
+ergriff ich den guten Rat und stellte mich kr&auml;nker, als
+ich war, nur um ihm folgen zu d&uuml;rfen.</p>
+
+<p>Es war Ende April damals. Die kleine F&uuml;rstin Limburg
+fiel mir ein, die mich wiederholt nach Hohenlimburg eingeladen
+hatte. Sie war ein reizendes Frauchen, das jedoch
+seiner nicht ganz ebenb&uuml;rtigen Herkunft wegen von der
+Gesellschaft M&uuml;nsters schlecht behandelt worden war. Zuerst
+aus blo&szlig;em Widerspruchsgeist, dann aus Sympathie hatte
+ich mich ihrer eifrig angenommen und mir ihre Freundschaft
+erworben. &raquo;Kommen Sie sofort, freue mich riesig&laquo;
+war ihre telegraphische Antwort auf meine Anfrage, ob
+mein Besuch ihr recht w&auml;re.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Fr&uuml;hling des Jahres 89 schien allen Dichterphantasien
+gerecht werden zu wollen. In reinem
+Blau spannte sich der Himmel Tag um Tag &uuml;ber
+die Erde, und es spro&szlig;te und bl&uuml;hte &uuml;berall; keinen kahlen
+Winkel duldete der Lenz in seiner verschwenderischen Laune.
+Am ersten Mai fuhr ich &uuml;ber die Haar hinunter ins Lennetal;
+leuchtend wie fl&uuml;ssiges Silber, schl&auml;ngelte sich der
+Flu&szlig; zwischen den Bergen, die ihn links und rechts,
+von gr&uuml;ngoldigem Glanz &uuml;bergossen, in weichen Linien
+begrenzten. So weit das Auge blickte: Wald und Berg,
+<a name="Page_390" id="Page_390"></a>und hoch oben die Burg mit T&uuml;rmen und Zinnen, wie
+ein starker, trutzig gewappneter Sch&uuml;tzer dieses stillen
+Friedens. Aber je n&auml;her ich kam, desto mehr verschob
+sich das Bild: breit und massig dehnte sich die Stadt
+unten am Ufer aus, als h&auml;tte sie sich mit Ellbogen und
+F&auml;usten Platz geschaffen; und verletzt von der Roheit
+des Eindringlings, der mit seinen schwarzen Fabrikschloten
+zu ihr hinauf drohte, zog sich die Burg hinter
+ihren dunklen B&auml;umen zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Anna Limburg empfing mich am Bahnhof. Und ihr
+helles Lachen und Schwatzen begleitete unsere ganze
+Fahrt hinauf, so da&szlig; ich Mu&szlig;e hatte, die Augen wandern
+zu lassen. Die Stadt verschwand wieder in der Tiefe;
+je h&ouml;her wir kamen, desto mehr wuchsen die Berge empor:
+dort der Kegel des Raffenbergs, der Wei&szlig;enstein mit
+seinen zackigen Spitzen, das Felsentor der H&uuml;nenpforte,
+und fern am Horizont die blauen H&ouml;hen der Ruhr.
+O, wer doch immer hoch oben bleiben k&ouml;nnte, wohin
+kein L&auml;rm und kein Ru&szlig; zu dringen vermag!</p>
+
+<p>Durch den langen gew&ouml;lbten Torweg ratterte der
+Wagen in den Burghof, den hohe Mauern, T&uuml;rme und
+Wehrg&auml;nge umschlossen. &raquo;Ists nicht sch&ouml;n hier?&laquo; l&auml;chelte
+Anna. &raquo;Aber mit meinem Fritz w&uuml;rd' ich auch in einer
+Rumpelkammer gl&uuml;cklich sein,&laquo; f&uuml;gte sie rasch hinzu und
+flog ihrem Mann um den Hals, der eben auf uns zu trat.</p>
+
+<p>Stille Tage folgten. Von der Galerie der Schlo&szlig;mauer
+tr&auml;umte ich stundenlang ins Land hinaus; auf
+der Terrasse unter den hohen, knospenden Linden sa&szlig; ich,
+wo vier alte Gesch&uuml;tze an die Zeit erinnerten, da die
+Grafen von Limburg noch selbst&auml;ndig Kriege f&uuml;hren und
+M&uuml;nzen pr&auml;gen konnten; und zu Fu&szlig;, zu Wagen und
+<a name="Page_391" id="Page_391"></a>zu Pferde besuchten wir die Gegend ringsum. Noch
+gab es hier weltabgeschiedene T&auml;ler, mit lindenumgr&uuml;nten
+Bauernh&ouml;fen, und steile H&ouml;hen, mit Burgen gekr&ouml;nt,
+von den Sprossen alter Geschlechter bewohnt; fast &uuml;berall
+aber dr&ouml;hnten die Eisenh&auml;mmer, kreischten die S&auml;gen
+und klapperten die M&uuml;hlen; und wer die Geister der
+Vergangenheit suchen wollte, der mochte sie wohl nur
+noch tief in den Felsenh&ouml;hlen der Berge finden. Viele
+St&auml;tten erinnerten durch Namen und Sage an die G&ouml;tter
+der Alten, an Wodan und Donar, an die K&auml;mpfe der
+R&ouml;mer gegen das m&auml;chtige Volk der Sachsen, an Wittekinds
+vergebliches Ringen mit dem gewaltigen Karl
+und seine Unterwerfung unter Kreuz und Krone, &mdash; aber
+schon lauerte das gefr&auml;&szlig;ige Ungeheuer, die neue
+Zeit, um sie alle zu verschlingen. Sieghaft stieg der
+Fabrikschornstein empor, wo der Burgturm langsam
+zusammenst&uuml;rzte. Ich floh seinen Anblick und w&auml;re so
+gern auf den ausgebreiteten schillernden Fl&uuml;geln der
+Phantasie vor mir selbst entflohen ins sonnendurchgl&uuml;hte
+M&auml;rchenreich, aber die Wirklichkeit fing mich immer wieder
+mit ihren grauen, dichten Spinnenf&auml;den.</p>
+
+<p>Mein Vater schrieb mir fast t&auml;glich, und selten nur
+blieb Syburgs Name unerw&auml;hnt in seinen Briefen.
+&raquo;Ich sah ihn auf dem letzten Rennen in Hamm,&laquo; hie&szlig;
+es zuletzt, &raquo;er frug voll aufrichtiger Teilnahme nach
+Deinem Befinden und freute sich Deines Wohlergehens.
+Er hofft Dich in Brake bei Bodenbergs zu sehen;
+Limburgs werden des alten Herrn siebenzigj&auml;hrigen
+Geburtstag doch sicher mitfeiern helfen.&laquo;</p>
+
+<p>Da&szlig; er sich so gewaltsam in mein Leben hineindr&auml;ngte
+und die Erw&auml;gungen der Vernunft, die Gef&uuml;hle
+<a name="Page_392" id="Page_392"></a>der Kindespflicht, die Sehnsucht nach Inhalt und Zweck
+des Daseins seine W&uuml;nsche unterst&uuml;tzten! Jene geheimnisvolle
+Gewalt des Instinkts, die mich in M&uuml;nster
+von seiner Seite gerissen hatte, schien mich auch jetzt
+unter ihren Willen zwingen zu wollen. &raquo;Geh ihm aus
+dem Wege &mdash;&laquo; fl&uuml;sterte sie mir zu. Aber von jeher
+hielt ich sie f&uuml;r meinen b&ouml;sen Engel, mit dem ich glaubte
+ringen zu m&uuml;ssen. Zu tief hatte sich mir der Mutter
+einziges Erziehungsprinzip eingepr&auml;gt, das Selbstbeherrschung
+mit Selbstent&auml;u&szlig;erung gleich setzte.</p>
+
+<p>So sa&szlig; ich denn am n&auml;chsten Morgen zur Abfahrt
+ger&uuml;stet am Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch &mdash; &raquo;ohne Mailaune,&laquo; wie
+Anna neckend bemerkte, &mdash; als der Diener die Post
+brachte: &raquo;Revolution im Kohlenrevier&laquo; stand in fetten
+Lettern an der Spitze des Kreisblatts, und mein Vater
+schrieb: &raquo;In Gelsenkirchen haben sich ein paar dumme
+Bengels mausig gemacht, und die Kohlenfritzen flehen
+nun mit schlotternden Knien um milit&auml;rischen Schutz.
+Obwohl etwas Angst und eine kleine Tracht Pr&uuml;gel
+den Protzen, die die armen Leute zum Besten ihres
+Geldsacks in die Gruben schicken, ganz gesund w&auml;re,
+mu&szlig;te ich heute schon eine Kompagnie Dreizehner nach
+Gelsenkirchen schicken, denen die K&uuml;rassiere morgen folgen
+werden. Ich finde solche Aktionen eines Soldaten unw&uuml;rdig ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zu dumm!&laquo; rief Anna &auml;rgerlich. &raquo;Nun ists mit der
+ganzen Stimmung vorbei. Statt lustig zu sein, werden
+uns die Herren mit Politik an&ouml;den!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Am besten w&auml;rs, wir blieben zu Hause,&laquo; meinte ihr
+Mann. Davon aber wollte sie nichts wissen. Sie
+weinte fast vor Erregung.</p>
+<p><a name="Page_393" id="Page_393"></a></p>
+<p>&raquo;Angsthase, der du bist! Wenns in M&uuml;nster brennt,
+wirst du in Limburg noch nach der Feuerspritze laufen!&laquo;
+Der F&uuml;rst lachte und streichelte der kleinen Frau beg&uuml;tigend
+die Wangen.</p>
+
+<p>&raquo;Sei ruhig, Kindchen &mdash; nat&uuml;rlich fahren wir!
+Brake ist, Gottlob, weit vom Schu&szlig;, und im dortmunder
+Kreis scheint alles ruhig zu sein.&laquo;</p>
+
+<p>Aber je mehr wir uns auf der Fahrt aus den gr&uuml;nen
+Bergt&auml;lern entfernten, und je zahlreicher die zum Himmel
+starrenden Essen wurden, desto st&auml;rker sprach ihr Anblick
+f&uuml;r ungew&ouml;hnliche Vorg&auml;nge: das Leben, das ihnen
+sonst in grauen W&ouml;lkchen, in schwarzen Schwaden, in
+tollem Funkenspr&uuml;hen vielgestaltig entquoll, war erloschen.
+Ungehindert strahlte die Maiensonne vom
+wolkenlosen Himmel; wie ein Feiertag wars.</p>
+
+<p>Im grauen Herrenhaus zu Brake, das, von einem
+Wassergraben umgeben, mit seinen dicken Mauern und
+kleinen Fenstern d&uuml;ster ins weite ebene Land hinaussah,
+wurden wir freudig empfangen. Viele hatten im letzten
+Augenblick abtelegraphiert, vor allem fehlte es an jungen
+Herren f&uuml;r die tanzlustigen M&auml;dchen, sie waren entweder
+mit ihrer Truppe im Streikgebiet um Gelsenkirchen
+oder mu&szlig;ten in ihren Garnisonen aller Befehle
+gew&auml;rtig sein. Nur Syburg trat mir entgegen &mdash; mit
+einem so freudigen Aufleuchten in den sonst so unbeweglichen
+Z&uuml;gen, da&szlig; es mir unwillk&uuml;rlich warm ums
+Herz ward &mdash; und Hessenstein, der mit seiner Schwadron
+in Dortmund in Quartier lag und her&uuml;bergeritten war.
+&raquo;Am liebsten h&auml;tte ich alle meine Kerls mitgenommen,&laquo;
+sagte er. &raquo;Man sch&auml;mt sich f&ouml;rmlich seines S&auml;belrasselns
+inmitten v&ouml;lliger Kirchenruhe.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_394" id="Page_394"></a></p>
+<p>&raquo;Wenn Sie nur nicht doch noch recht blutige Arbeit
+bekommen!&laquo; meinte Syburg. &raquo;Eine Rotte Betrunkener, &mdash; und
+das Ungl&uuml;ck ist geschehen.&laquo;</p>
+
+<p>Anna sollte Recht behalten: trotz der blumengeschm&uuml;ckten
+Tafel, der feurigen Weine und der launigen
+Toaste auf den Hausherrn und das Geburtstagskind
+wollte die echte Feststimmung nicht aufkommen. Alles
+war voll von den Ereignissen, und jeder wu&szlig;te andere
+Details zu erz&auml;hlen. Der Ortspfarrer war eben von
+Castrop zur&uuml;ckgekehrt. Er hatte die Streikenden der
+Zechen Erin und Schwerin gesehen und gesprochen.
+&raquo;Ihr Verhalten ist ein so w&uuml;rdiges,&laquo; sagte er, &raquo;da&szlig;
+die Aufregung der Zechenbeamten dem gegen&uuml;ber einen
+peinlichen Eindruck macht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dasselbe habe ich eben vom Oberpr&auml;sidenten geh&ouml;rt,
+den ich in Witten traf,&laquo; meinte Graf Recke. &raquo;Er kam
+aus Gelsenkirchen, wo er mit den Arbeitern der Hibernia
+verhandelt hat. Ihre Forderungen halten sich zun&auml;chst
+in durchaus diskutabeln Grenzen, und wenn die Presse
+wegen der Achtstundenschicht Zetermordio schreit, so
+wei&szlig; sie eben nicht, was uns alten Westfalen von
+Jugend an bekannt ist: da&szlig; nach unseren Bergordnungen
+vom 17. Jahrhundert an die Schicht schlechthin achtst&uuml;ndig
+war und erst das gesegnete 19. Jahrhundert,
+wie mit so vielen guten alten Bestimmungen, auch damit
+aufr&auml;umte. Die Knappschaften verlangen nichts
+anderes als das Recht ihrer V&auml;ter.&laquo;</p>
+
+<p>Baron Bodenberg best&auml;tigte Reckes Behauptung.</p>
+
+<p>&raquo;Und mit ihren &uuml;brigen W&uuml;nschen steht es im Grunde
+nicht anders,&laquo; f&uuml;gte er hinzu, &raquo;in meiner Jugend hatten
+die Grubenbesitzer den Knappen gegen&uuml;ber keine freie<a name="Page_395" id="Page_395"></a>
+Hand. &Uuml;ber Annahme und Entlassung der Arbeiter,
+Feststellung der L&ouml;hne, Regelung des Betriebs usw. usw.
+stand die Entscheidung damals ausschlie&szlig;lich der k&ouml;niglichen
+Bergbeh&ouml;rde zu. Jetzt, im Zeitalter der famosen
+freien Konkurrenz kann jeder Jude, der sich eine Grube
+kauft, aber nie in seinem Leben selbst die Nase hineinsteckt,
+machen, was er will. Opponieren ihm mal die
+alten Leute, so holt er sich polnisches Gesindel und
+ruiniert uns durch das hergelaufene Volk den guten
+Stamm und seine gute Gesinnung. Ich sprach erst
+gestern einen H&auml;uer von der Zeche Schleswig, der hier
+vom Gutshofe stammt, ein Spielkamerad meiner S&ouml;hne
+war und ein Knappe vom guten alten Schlage ist.
+&#8250;Wir wollen gar nicht randalieren,&#8249; meinte der, &#8250;und
+hauen unseren gr&uuml;nen Jungens selbst eine runter, wenn
+sie spektakeln. Auch um den Lohn ists uns nicht so
+sehr zu tun, nur k&uuml;rzere Schicht m&uuml;ssen wir haben und
+anst&auml;ndige Behandlung.&#8249; Und solche Leute werden wie
+Aufr&uuml;hrer mit Pulver und Blei bedroht!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, die Herren sehen die Dinge zu sehr
+durch die Brille der Tradition,&laquo; mischte sich F&uuml;rst Limburg
+ins Gespr&auml;ch. &raquo;Alte Bestimmungen und altes
+Recht entsprechen doch kaum mehr der ganz ver&auml;nderten
+Betriebsweise. Und das wissen die einsichtsvolleren
+unter den Knappen sicher ganz genau. Mir scheint daher,
+da&szlig; die eigentliche Triebkraft der ganzen Bewegung
+nicht in der Sehnsucht nach der &#8250;guten alten Zeit&#8249; zu
+suchen ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und worin sonst, wenn ich fragen darf?&laquo; warf der
+alte Bodenberg, der so sehr das Orakel der Gegend
+war, da&szlig; er Widerspruch selten erfuhr, gereizt ein.</p>
+<p><a name="Page_396" id="Page_396"></a></p>
+<p>&raquo;In demselben Gegensatz, der auch die Sozialdemokratie
+gro&szlig; zieht: dem zwischen den ungeheueren Reicht&uuml;mern
+auf der Seite der Unternehmer und der Besitzlosigkeit,
+um nicht zu sagen der Armut, auf der Seite
+der Arbeiter &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Armut! Darin steht man wieder Ihre jugendliche
+Neigung zu starken Worten!&laquo; polterte Bodenberg;
+&raquo;als ob unsere Bergleute von Armut auch nur 'ne
+Ahnung h&auml;tten! Haben alle ihr H&auml;uschen, ihren
+Gem&uuml;segarten und m&auml;sten sich ein Schwein &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und doch, Herr Baron, haben wir unten im Dorf
+manche Ehefrau, die schon mitverdienen mu&szlig;, und die
+Kinder schicken sie gewi&szlig; auch nicht aus Vergn&uuml;gen so
+fr&uuml;h als m&ouml;glich &mdash; mit gef&auml;lschten Geburtsscheinen,
+wenns nicht anders geht &mdash; in die Grube,&laquo; lie&szlig; sich
+der Pfarrer vernehmen.</p>
+
+<p>&raquo;Von der verdammten Genu&szlig;sucht kommt das, und
+von nichts anderem!&laquo; unterbrach ihn der alte Baron,
+&raquo;zu meiner Zeit gingen die Knappenfrauen noch in
+Kopft&uuml;chern und Sch&uuml;rzen in die Kirche &mdash; heute mu&szlig;
+jede einen Federhut tragen und die R&ouml;cke auf dem
+Tanzboden schwenken &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn die Leute sehen, da&szlig; die Herren Direktoren
+mit vierzig- und f&uuml;nfzigtausend Mark Gehalt auf
+Gummir&auml;dern fahren und Sektgelage geben und die
+Aktion&auml;re schmunzelnd enorme Dividenden schlucken, so
+ists doch kein Wunder, da&szlig; sies ihnen auf der einen
+Seite nachmachen m&ouml;chten und auf der anderen vor
+Neid immer rabiater werden. Die ganze Bewegung ist
+dadurch entstanden &mdash; ich komme damit auf meinen
+Ausgangspunkt zur&uuml;ck &mdash;, da&szlig; die gl&auml;nzende Konjunktur
+<a name="Page_397" id="Page_397"></a>der letzten Jahre ausschlie&szlig;lich den Besitzern und
+Aktion&auml;ren, nicht aber den Bergleuten zugute kam.
+Hier hakt notwendigerweise die sozialdemokratische Agitation
+ein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sehen, was das betrifft, sicher zu schwarz, lieber
+Limburg,&laquo; sagte Graf Recke, &raquo;jedenfalls, soweit unser
+h&ouml;rder Kreis in Frage kommt. Unsere frommen,
+k&ouml;nigstreuen Bergleute &mdash; und Sozialdemokraten! Selbst
+ihre Versammlungen schlie&szlig;en sie mit einem Hoch auf
+den Kaiser!&laquo;</p>
+
+<p>Hessenstein r&auml;usperte sich vernehmlich: &raquo;Und doch
+haben mir heute morgen ein paar Kameraden von den
+Dreizehnern erz&auml;hlt, da&szlig; die Direktoren der Zeche
+Schleswig gleichfalls um milit&auml;rischen Schutz gebeten
+haben. Man f&uuml;rchte Ausschreitungen gegen Streikbrecher,
+hie&szlig; es.&laquo;</p>
+
+<p>Bodelschwing lachte, da&szlig; ihm die Tr&auml;nen in den
+wei&szlig;en Bart liefen: &raquo;Das ist wirklich kostbar! &mdash; Die
+Furcht ist schon die ansteckendste Krankheit! &mdash; Viel
+eher m&ouml;cht' ich glauben, da&szlig; unsere Dorfsch&ouml;nen sich
+auf diese ungew&ouml;hnliche Weise f&uuml;r den morgigen Feiertag
+die T&auml;nzer bestellten, die ihnen wahrscheinlich ebenso
+fehlen wie uns!&laquo;</p>
+
+<p>Schweigsam hatte Syburg bis dahin zugeh&ouml;rt. Sein
+k&uuml;hler, hochm&uuml;tig-wissender Ausdruck &mdash; der typische
+des altpreu&szlig;ischen Beamten &mdash; reizte mich.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre landr&auml;tliche W&uuml;rde verbietet Ihnen wohl, sich
+auszusprechen?&laquo; wandte ich mich spottend an ihn, und
+als er, unangenehm &uuml;berrascht, aufsah, f&uuml;gte ich rasch
+hinzu: &raquo;Oder sollten Sie ketzerische Gedanken zu verbergen
+haben?&laquo;</p>
+<p><a name="Page_398" id="Page_398"></a></p>
+<p>&raquo;Ketzerische Gedanken?!&laquo; &mdash; er warf mir einen
+tadelnden Blick zu &mdash; &raquo;vielleicht! Aber andere, als
+Sie anzunehmen scheinen! So milde, wie die Herren
+hier, vermag ich die Dinge nicht zu beurteilen. Nach
+meiner Ansicht hat eine gewissenlose sozialdemokratische
+Agitation die gut bezahlten Bergarbeiter zum Kontraktbruch
+verf&uuml;hrt, und es ist unsere Pflicht, sie, wenn es
+sein mu&szlig;, mit Gewalt auf den Weg des Rechts zur&uuml;ckzuf&uuml;hren.
+Wortbruch und Pflichtvergessenheit sind &uuml;berall
+der Anfang vom Ende.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ganz Ihrer Meinung, Herr von Syburg!&laquo; antwortete
+ich, w&auml;hrend mir das Blut hei&szlig; in die Schl&auml;fen
+stieg. &raquo;Es kommt nur darauf an, auf welcher Seite
+Wortbruch und Pflichtvergessenheit zu finden ist! Wenn
+die Grubenbesitzer, die in der gl&uuml;cklichen Lage sind,
+eine Havanna rauchend vor dem Tischlein-deck-dich zu
+sitzen, den Arbeitern nicht so viel geben, da&szlig; sie anst&auml;ndig
+leben k&ouml;nnen, so ist das Pflichtvergessenheit;
+und wenn sie, die zu allen Vergn&uuml;gungen der Welt
+Zeit haben, ihnen das althergebrachte Recht auf eine
+geregelte Arbeitszeit vorenthalten, so ist das Wortbruch!&laquo;</p>
+
+<p>Syburg pre&szlig;te die Lippen zusammen, &mdash; er zwang
+sich offenbar zu einer ruhigen Antwort.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sprechen aus der Gef&uuml;hlsperspektive der Frau.
+Das ist verzeihlich. Sie kennen, Gott sei Dank, diese
+aufr&uuml;hrerische, mit sozialdemokratischen Phrasen vollgef&uuml;tterte
+Bande nicht, die jetzt auf den Gruben und
+in den Fabriken das gro&szlig;e Wort f&uuml;hrt und an allem
+r&uuml;ttelt, was uns heilig ist.&laquo;</p>
+
+<p>Wie eine Vision sah ich pl&ouml;tzlich all die Gestalten
+des Elends wieder, die mir im Leben begegnet waren:<a name="Page_399" id="Page_399"></a>
+aus den Vorst&auml;dten Posens und Augsburgs, aus den
+D&ouml;rfern des Samlands.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&ouml;gen recht haben,&laquo; sagte ich nachdenklich, &raquo;die
+kenn' ich nicht &mdash; aber andere kenn' ich. Und das
+Eine wei&szlig; ich gewi&szlig; &mdash;&laquo; meine Stimme zitterte vor
+Erregung &mdash; &raquo;w&auml;re ich eine von denen, meine Geduld
+w&auml;re ersch&ouml;pft, und ich w&uuml;rde mich um Treue und
+Pflicht nicht k&uuml;mmern.&laquo;</p>
+
+<p>Syburgs blasses Gesicht hatte sich mit tiefer R&ouml;te
+&uuml;berzogen; doch die Herrin des Hauses hob die Tafel
+auf, und er unterdr&uuml;ckte noch rasch eine scharfe Antwort,
+die ihm offenbar auf den Lippen schwebte. W&auml;hrend
+des ganzen warmen Fr&uuml;hlingsabends, der uns alle in
+den Park hinauslockte, mied er mich. Nur beim Abschied
+hielt er meine Hand fest in der seinen und
+fl&uuml;sterte: &raquo;Ich m&ouml;chte, da&szlig; wir uns vers&ouml;hnen &mdash; ganz
+und auf immer &mdash;, darf ich darauf hoffen, wenn ich
+nach Hohenlimburg komme?&laquo; Ich nickte nur.</p>
+
+<p>Wir blieben &uuml;ber Nacht in Brake, um den bequemen
+Fr&uuml;hzug benutzen zu k&ouml;nnen. Aber als wir am n&auml;chsten
+Morgen herunterkamen, trat uns der alte Bodenberg
+mit ernstem Gesicht entgegen. &raquo;In Witten und Annen
+hat das Milit&auml;r scharf geschossen,&laquo; sagte er, &raquo;in Dortmund
+soll die Haltung der Arbeiter eine drohende sein &mdash; nach
+H&ouml;rde sind, wie mein Verwalter eben berichtet,
+die K&uuml;rassiere unterwegs. Wenn auch die Stimmung
+der Leute in unserer n&auml;chsten Nachbarschaft vollkommen
+friedlich ist, so m&ouml;chte ich Sie doch bitten, diesen Tag
+noch abzuwarten &mdash; oder wenigstens Ihre Damen hier
+zu lassen &mdash;&laquo; So sehr wir uns str&auml;ubten &mdash; Anna,
+weil die Gesellschaft des alten Ehepaars sie langweilte,
+<a name="Page_400" id="Page_400"></a>ich, weil mir nichts erw&uuml;nschter gewesen w&auml;re, als den
+Aufstand der Arbeiter in der N&auml;he zu sehen, &mdash; wir
+mu&szlig;ten uns f&uuml;gen.</p>
+
+<p>Ich lief in den Park, &mdash; vielleicht, da&szlig; sich von hier
+aus irgend etwas ersp&auml;hen lie&szlig;. Das Abenteuerfieber
+der Jugend packte mich, dasselbe Fieber, durch das
+Schulbuben auf Auswandererschiffe getrieben und schw&auml;rmerische
+Byron-Seelen in phantastische Freiheitsk&auml;mpfe
+gerissen werden, das Fieber, das &uuml;berall ausbricht, wo
+ein Gluthauch pl&ouml;tzlich die Normaltemperatur des Alltags
+vertreibt. Hohe Mauern wehrten mir den Ausblick.
+Sollten sie mich immer wieder von der lebendigen Welt
+da drau&szlig;en trennen?</p>
+
+<p>Ich trat auf den Gutshof. Feiert&auml;gige Stille herrschte
+auch hier. Aber dr&uuml;ben, wo zwei m&auml;chtige Linden am
+Ausgang zur Stra&szlig;e Wache standen, sah ich einen Haufen
+lebhaft gestikulierender Menschen. Ein grauer Kopf mit
+der Bergmannsm&uuml;tze auf den kurzgeschorenen Haaren
+ragte aus ihrer Mitte hervor. &raquo;Ich, ich bin dabei gewesen!&laquo;
+h&ouml;rte ich ihn schreien, als ich n&auml;her hinzutrat, &mdash; &raquo;ein
+Wunder, da&szlig; ich mit heilen Gliedern davon kam!
+Sie haben geschossen, wie verr&uuml;ckt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So erz&auml;hlt doch, Mann, erz&auml;hlt!&laquo; &mdash; &raquo;Wo &mdash; wo
+ists denn gewesen?&laquo; best&uuml;rmten ihn die Umstehenden.
+&raquo;In Bochum &mdash; gestern abend. Ein blutjunger Leutnant
+kommandierte Feuer &mdash; grad, als die Menschen
+aus dem Bahnhof str&ouml;mten. Wie die Hunde die
+Hammelherde, so umschlossen die Soldaten die Leute &mdash; lauter
+harmloses Volk &mdash; kaum einer von uns darunter, &mdash; und
+dann lag der Platz voller Toten &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Irgend woher klang eine Kirchenglocke. Der Berg<a name="Page_401" id="Page_401"></a>mann
+schwieg, ri&szlig; die M&uuml;tze vom Kopf und schlug mit
+der harten rissigen Hand das Kreuz &uuml;ber Stirn und
+Brust. Erst jetzt sah ich ihn genauer. Der Kohlenstaub
+schien sich in die Falten unter den Augen eingebrannt
+zu haben, so da&szlig; sie aussahen wie die gro&szlig;en runden
+Augenh&ouml;hlen der Totensch&auml;del. Farblos fahl waren die
+Z&uuml;ge; eine breite, gelbe Narbe, die das Gesicht in zwei
+H&auml;lften teilte, entstellte sie zur Fratze. Er wandte sich
+zum Gehen, und die Menge dr&auml;ngte ihm nach. Die
+gerade schwarze Stra&szlig;e, mit den kahlen Pappeln zu
+jeder Seite und dem schweren Grau tr&uuml;bdunstigen
+Fr&uuml;hlingshimmels ringsum, verschlang sie rasch. Drohend
+wie ein Galgen ragten in der Ferne die Glockenst&uuml;hle
+in die Luft, und die Sonnenstrahlen scheuten sich vor der
+Ber&uuml;hrung dieser &Ouml;de ...</p>
+
+<p>Langsam, schweren Herzens, wandte ich mich wieder
+dem Schlosse zu. Die Hausbewohner waren zur
+Sonntagsandacht in der Halle versammelt. Auf hohem
+Stuhl sa&szlig; der Hausherr und las aus der alten Bibel:
+&raquo;Kommet her zu mir alle, die ihr m&uuml;hselig und beladen
+seid ...&laquo;</p>
+
+<p>Und die Vertreter christlicher Ordnung schossen auf
+die M&uuml;hseligen und Beladenen! dachte ich bitter.</p>
+
+<p>&raquo;Es l&auml;&szlig;t mir keine Ruhe,&laquo; sagte der alte Bodenberg,
+nachdem der letzte Ton auf dem Harmonium verklungen
+war und die Dienerschaft sich entfernt hatte.
+&raquo;Kommen Sie, Limburg, wir gehen ein St&uuml;ck Weges
+zur Zeche hinunter &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Entsetzt schrie Anna auf: &raquo;Das darfst du mir nicht
+antun, Fritz!&laquo; Aber beg&uuml;tigend legte die alte Baronin
+ihre feine Greisenhand auf den Arm der Erregten:<a name="Page_402" id="Page_402"></a>
+&raquo;F&uuml;rchten Sie nichts, kleine Frau, &mdash; die Leute hier
+kr&uuml;mmen unseren M&auml;nnern kein H&auml;rchen.&laquo; Wir blieben
+trotzdem in kaum zu bemeisternder Unruhe zur&uuml;ck. Wir
+horchten auf jeden Ton, w&auml;hrend einer den anderen
+durch eine m&ouml;glichst harmlos-heitere Unterhaltung &uuml;ber
+die Erregung hinwegzut&auml;uschen suchte, und sprangen
+gleichzeitig erleichtert auf, als nach einer Stunde Bodenbergs
+kr&auml;ftige Stimme vom Hof herauf durch das
+Fenster klang.</p>
+
+<p>&raquo;Hab' ichs euch nicht gesagt?&laquo; lachte er uns entgegen.
+&raquo;Sie freuen sich drunten ihres Feiertags, wie
+nur je. Die Kinder spielen auf den Stra&szlig;en, die
+Frauen stehen im Sonntagsputz vor den T&uuml;ren und
+schwatzen mit den Nachbarn.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und doch hei&szlig;t es, da&szlig; Soldaten kommen,&laquo; unterbrach
+ihn Limburg mit einem Ausdruck schwerer Besorgnis in
+den Z&uuml;gen.</p>
+
+<p>&raquo;M&ouml;gen sie doch! Gegen die Kinder, die jetzt schon
+in der Vorfreude hurraschreiend ihre F&auml;hnchen schwingen,
+werden sie kaum zu Felde ziehen. Sahen Sie nicht
+den krummbeinigen Schlingel, dem seine Gef&auml;hrtin, ein
+s&uuml;&szlig;es M&auml;delchen mit Haaren wie rote Flammen, den
+Platz an der Spitze der kleinen Gesellschaft streitig
+machte? Gef&auml;hrliche Aufr&uuml;hrer sind das, nicht wahr?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; sah ich sie &mdash; aber ich sah auch die Gesichter
+der M&auml;nner hinter den Fenstern der Kneipe ...&laquo;</p>
+
+<p>Ein Ger&auml;usch &mdash; wie ein fernes Prasseln von Hagelk&ouml;rnern
+auf Glasscheiben &mdash; unterbrach das Gespr&auml;ch.
+Bodenberg wurde aschfahl &mdash; &raquo;Gewehrsalven&laquo; &mdash; murmelte
+Limburg. Wir standen, wie an den Boden gebannt, &mdash; in
+atemloser Erwartung. Unten auf dem<a name="Page_403" id="Page_403"></a>
+Hof liefen die Leute zusammen. &raquo;Sie schie&szlig;en,&laquo; schrie
+einer. Wir st&uuml;rzten hinunter bis ans Tor, keiner sprach
+mehr ein Wort, aber von einer Angst erf&uuml;llt starrten
+wir alle die lange, &ouml;de, schwarze Stra&szlig;e hinab. Die
+Zeit schien still zu stehen, Ewigkeiten d&uuml;nkten uns die
+Minuten. Endlich erhob sich in der Ferne eine Wolke
+Staubs vom Boden: Menschen, die liefen, als w&auml;re
+der Teufel ihnen auf den Fersen. N&auml;her und n&auml;her
+kamen sie: Weiber mit wehenden Haaren und verzerrten
+Z&uuml;gen &mdash; schreiende Kinder mit rot verquollenen
+Augen &mdash; ihre Sonntagskleider bedeckt mit dem schwarzen
+Ru&szlig; der Stra&szlig;e. &raquo;Sie morden uns &mdash;&laquo; st&ouml;hnte eine
+wei&szlig;haarige Alte, warf die hageren Arme verzweifelt
+um den Kopf und brach vor uns zusammen ...</p>
+
+<p>Tr&ouml;stend und helfend gingen Brakes Bewohner von
+einem zu anderen, und endlich gelang es, aus dem
+wirren Durcheinander des allgemeinen Erz&auml;hlens ein
+Bild dessen zu gewinnen, was geschehen war.</p>
+
+<p>Der Ton der Pfeifen und Trommeln hatte alles auf
+die Dorfstra&szlig;e gelockt. Den Gro&szlig;en voran waren die
+Kinder jubelnd den einziehenden Soldaten entgegengelaufen,
+als ein barsches &raquo;Platz da&laquo; ihres F&uuml;hrers,
+eines jungen Leutnants, die Freude in Furcht verwandelt
+hatte. Die Kinder hatten sich hinter den Gro&szlig;en verkrochen,
+die M&auml;nner eine drohende Haltung angenommen.</p>
+
+<p>&raquo;Nur das rothaarige Lieserl stellte sich keck mitten
+auf die Stra&szlig;e,&laquo; sagte die Alte, die noch auf dem
+Boden hockte.</p>
+
+<p>&raquo;Und den Franz sah ich, wie er einen Stecken aus
+unserem Zaun ri&szlig; und damit wild herumfuchtelte,&laquo;
+berichtete zungenfertig eine andere. &raquo;&#8250;Platz da&#8249; &mdash; rief
+<a name="Page_404" id="Page_404"></a>der Leutnant dann noch einmal, und die Soldaten
+trieben uns alle gegen die H&auml;user. Da dr&auml;ngte sich
+die Mutter vom Franz mit dem Kleinsten an der Brust
+durch die Reihen &mdash; der Junge ist ihr &Auml;ltester, ihren
+Mann brachten sie ihr voriges Jahr tot aus der Grube &mdash;;
+sie hatte ihn grade erwischt, als der Herr Offizier noch
+mal losschrie &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;&#8250;Immer die Augen auf den Feind halten,&#8249; sagte er.
+Ich hab' es ganz genau geh&ouml;rt,&laquo; erg&auml;nzte ein blasses
+Ding mit fanatisch funkelnden Augen die Worte der
+Erz&auml;hlerin.</p>
+
+<p>&raquo;Den Feind, &mdash; damit meinte er uns!&laquo; riefen sie alle
+durcheinander und selbst auf den Wangen der M&uuml;desten
+und Stillsten erschienen rote Flecken.</p>
+
+<p>&raquo;Da wars aus mit der Ruhe bei den Knappen &mdash; sie
+drohten mit den F&auml;usten, sie schimpften, auch ein
+paar Steine flogen ...&laquo; Die Erz&auml;hlerin schluchzte auf.</p>
+
+<p>&raquo;Dann schossen sie auf uns &mdash;&laquo; sagte mit tonloser
+Stimme die Alte. Und nun schwiegen sie alle &mdash; nur
+verhaltenes Weinen unterbrach die Stille.</p>
+
+<p>Ich griff mir an den Kopf, &mdash; es war doch wohl nur
+ein b&ouml;ser Traum, der mich narrte?! Es brauste mir in
+den Ohren, das Entsetzen schn&uuml;rte mir die Kehle zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Dem Franz seine Mutter war die erste, die fiel &mdash;&laquo;
+wie aus weiter Ferne schlugen die Worte wieder an
+mein Ohr. &raquo;Ich sah sie dicht vor mir &mdash; die Haare
+ganz voll Blut, &mdash; das J&uuml;ngste an die Brust gepre&szlig;t &mdash; und
+den Stock noch in der Hand, den sie dem Franz
+entrissen hatte ...&laquo;</p>
+
+<p>War ich es, die qualvoll aufst&ouml;hnte &mdash; oder war
+es<em class="spaced"> ein</em> Ton, der sich uns allen entri&szlig;?!</p>
+<p><a name="Page_405" id="Page_405"></a></p>
+<p>&raquo;... Ja, und die rote Liefe lag auch mitten auf der
+Stra&szlig;e &mdash; sie guckte grade in den Himmel mit den
+toten Augen ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das s&uuml;&szlig;e M&auml;delchen mit den Flammenhaaren ...&laquo;
+fl&uuml;sterte der alte Bodenberg mit erstickter Stimme.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir fuhren noch an demselben Tage auf einem
+gro&szlig;en Umweg zur&uuml;ck. Dicht hinter Unna
+wies der F&uuml;rst aus dem Fenster. &raquo;Wir
+passieren hier den historischen Boden der Zukunft,&laquo; sagte
+er, &raquo;dort dr&uuml;ben auf der Heide stand noch zu meines
+Vaters Lebzeiten jener uralte sagenumwobene Birkenbaum,
+und jenseits, von den Schl&uuml;ckinger H&ouml;hen, sahen
+die Bauern, wie die blutige Schlacht um ihn tobte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht ist sie heute schon keine Sage mehr,&laquo; antwortete
+ich.</p>
+
+<p>Mit steigender Erregung verfolgte ich in den n&auml;chsten
+Tagen die Ereignisse. Noch mehr als durch die Zeitungen
+erfuhren wir durch Briefe und durch die Erz&auml;hlungen
+der Augenzeugen.</p>
+
+<p>Kaum eine Stimme war, die f&uuml;r die Zechendirektoren
+Partei ergriffen h&auml;tte, und die Emp&ouml;rung war allgemein,
+je h&auml;ufiger sie den Bergleuten, die im Vertrauen auf
+ihre Versprechungen die Arbeit wieder aufgenommen
+hatten, ihr Wort brachen.</p>
+
+<p>&raquo;Habt ihr endlich Hunger genug?!&laquo; Damit empfingen
+die Zechenbeamten von Gelsenkirchen die wieder einfahrenden
+Knappen, und in H&ouml;rde trieben sie kranke
+Weiber und Kinder aus den Zechenh&auml;usern, wenn die
+M&auml;nner im Ausstand beharrten.</p>
+<p><a name="Page_406" id="Page_406"></a></p>
+<p>&raquo;Ich glaube, da&szlig; wir vor einer gro&szlig;en Umw&auml;lzung
+stehen,&laquo; schrieb ich an meine Kusine, &raquo;die Macht des
+Kapitals mu&szlig; gebrochen werden. Vor hundert Jahren
+hat die Revolution den Absolutismus und den Feudalismus
+gest&uuml;rzt, &mdash; sie waren dessen wert! &mdash;, eine
+k&uuml;nftige Revolution wird den Kapitalismus vernichten,
+und wir werden das wunderbare Schauspiel erleben,
+da&szlig; der Adel und die Arbeiter zusammen gehen.&laquo;</p>
+
+<p>Die Deputation der Bergleute zum Kaiser schien mir der
+Auftakt des gro&szlig;en Schauspiels, das ich erwartete. Und
+die ersten Nachrichten von ihrem Empfang, von der Anerkennung
+ihrer W&uuml;nsche durch den Monarchen best&auml;tigten
+meine Hoffnungen. Dann aber sickerten allerlei andere
+Ger&uuml;chte durch: die drei Deputierten waren keineswegs
+befriedigt zur&uuml;ckgekommen; kaum zehn Minuten hatte er
+Zeit gehabt, sie anzuh&ouml;ren, mit einer Drohung gegen alle,
+die sich den Anordnungen der Beh&ouml;rden widersetzen
+w&uuml;rden, hatte er seine Antwort geschlossen. Und was
+folgte, schien die Wahrheit der Ger&uuml;chte zu best&auml;tigen:
+das ganze Streikkomitee wurde verhaftet, der Oberpr&auml;sident,
+der stets zu vermitteln gesucht hatte, mu&szlig;te einem
+Nachfolger weichen, dem der Ruf eines Scharfmachers
+voran ging. &raquo;Studt ist ein glatter H&ouml;fling,&laquo; schrieb
+mir mein Vater, &raquo;der mir neulich mit dem verbindlichsten
+L&auml;cheln erkl&auml;rte, da&szlig; meine offenbare Verkennung
+so trefflicher Leute, wie der Grubenmagnaten, h&ouml;heren
+Orts unliebsam empfunden w&uuml;rde. Mich solls nicht
+wundern, wenn wir in Preu&szlig;en noch mal so weit kommen,
+vor jedem Geldsack auf dem Bauche zu rutschen.&laquo;</p>
+
+<p>Unter den Entt&auml;uschungen litt ich, als betr&auml;fen sie mich
+selbst. Mit der M&auml;rtyrergloriole hatte ich das Haupt
+<a name="Page_407" id="Page_407"></a>der erschossenen Bergmannsfrau und das rote K&ouml;pfchen
+des Proletarierkindes umwoben und den gr&auml;&szlig;lichen
+Eindruck in der eigenen Erinnerung verkl&auml;rt; nun waren
+sie umsonst gestorben, und nichts als der schwarze Stra&szlig;enru&szlig;
+umgab sie.</p>
+
+<p>Ich war in wehm&uuml;tig weicher Stimmung, als Syburg
+kam. Am Morgen desselben Tages hatte mir Anna mit
+einem selig-versch&auml;mten L&auml;cheln von ihrer Mutterhoffnung
+erz&auml;hlt, hatte mich in das wei&szlig;e Zimmer gef&uuml;hrt, das
+den jungen Erdenb&uuml;rger erwartete, und all die weichen,
+duftigen Dinge aus Spitzen und Battist waren mir durch
+die Finger geglitten. Meine H&auml;nde waren hei&szlig; geworden
+dabei, und die Tr&auml;nen waren mir in die Augen gestiegen.
+Und die kleine Anna hatte sich emporgereckt, um mich mit
+einem altklug wissenden Ausdruck auf den Mund zu k&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Nun lie&szlig; sie all die Kupplerk&uuml;nste spielen, in denen
+junge, gl&uuml;ckliche Frauen Meisterinnen sind. Sie pries
+neckend meine Sch&ouml;nheit und meine Tugenden, erz&auml;hlte
+allerlei Abenteuerliches von meinen vielen Verehrern und
+lie&szlig; uns schlie&szlig;lich, M&uuml;digkeit vorsch&uuml;tzend, im Park allein.
+Syburg schien nur darauf gewartet zu haben.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte Klarheit haben zwischen uns, volle Klarheit,
+Fr&auml;ulein Alix,&laquo; begann er, zum erstenmal vertraulich
+meinen Namen nennend. Ich fuhr unwillk&uuml;rlich
+erschrocken zusammen. Aber die Frage, die er stellte,
+war nicht die erwartete &mdash; gef&uuml;rchtete. &raquo;Man hat mir
+erz&auml;hlt, Sie h&auml;tten sich neulich nach dem Aufstand auf
+der Zeche Schleswig mit gr&ouml;&szlig;ter Sch&auml;rfe f&uuml;r die Streikenden
+ausgesprochen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich bezwang meinen Zorn &uuml;ber diese Art, mich auf
+Herz und Nieren zu pr&uuml;fen.</p>
+<p><a name="Page_408" id="Page_408"></a></p>
+<p>&raquo;Und wenn ich es getan h&auml;tte,&laquo; sagte ich rasch und
+abwehrend, &raquo;ist es nicht eine der ersten Forderungen
+Ihres Christentums, den Unschuldigen beizustehen? &mdash; Gebietet
+es nicht Ihre Religion, sich opferm&uuml;tig zwischen
+die Kinder und ihre M&ouml;rder zu werfen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein Christentum?! Meine Religion?!&laquo; Er sah
+mich gro&szlig; an. &raquo;Sie haben sich falsch ausgedr&uuml;ckt, wie
+ich hoffe! Unser Glaube ist der gleiche &mdash; nicht wahr,
+Fr&auml;ulein Alix?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie spielen ein m&auml;nnliches Gretchen, Herr von
+Syburg!&laquo; fuhr ich auf, &raquo;mit welchem Recht behandeln
+Sie mich wie ihr Beichtkind?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit dem Recht des Mannes, der das Jawort ihrer
+Eltern erhielt!&laquo; Er griff nach meiner Hand, die ich
+ihm heftig entri&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;So erfahren Sie denn, da&szlig; ich dies Recht nicht anerkenne!
+Niemand hat &uuml;ber mich zu verf&uuml;gen &mdash; niemand &mdash; als
+ich, ich ganz allein. Und ich &mdash; ich werfe Ihnen
+ihr Jawort vor die F&uuml;&szlig;e!&laquo;</p>
+
+<p>Ich wandte ihm den R&uuml;cken, schritt ruhig durch
+die Lindenallee, &uuml;ber den Burghof, die Treppen hinauf
+in mein Zimmer &mdash; warf die T&uuml;r ins Schlo&szlig;, riegelte
+zu &mdash; reckte die Arme weit aus: nun war ich frei!</p>
+
+<p>Anna lie&szlig; ich vergebens klopfen &mdash; fragen &mdash; bitten.
+Ich w&auml;re au&szlig;erstande gewesen, irgend jemandem Rede
+und Antwort zu stehen. Ich mu&szlig;te allein sein.</p>
+
+<p>Noch stand ich mit einem Gef&uuml;hl des Schreckens vor
+dem Abgrund, der zwischen mir und meiner Welt auseinanderklaffte.
+Unter den Speerw&uuml;rfen blendenden
+Sonnenlichts war der Nebel zerrissen, den ich, mich selbst
+bel&uuml;gend, so lange f&uuml;r eine Br&uuml;cke gehalten hatte. Ich
+<a name="Page_409" id="Page_409"></a>stand auf fremdem Boden, &mdash; zurecht finden mu&szlig;t ich
+mich, meine Gedanken sammeln, &uuml;ber meine Zukunft
+entscheiden.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen, in aller Fr&uuml;he schrieb ich an
+meine Eltern und trug den Brief selbst zur Stadt hinunter.
+Schneidend pfiff der Wind &uuml;ber die H&ouml;hen, als
+ich abw&auml;rts schritt. In grauen Wolken verschwanden
+die T&uuml;rme der Burg, und aus der Tiefe gr&uuml;&szlig;ten mich
+sieghaft die schwarzen Schlote.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_410" id="Page_410"></a></p>
+<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Und nun kamen stille Wochen auf Hohenlimburg.
+Die Mutterhoffnung hatte Anna v&ouml;llig ver&auml;ndert.
+Sie lernte die Einsamkeit lieben und
+&uuml;berlie&szlig; mich stundenlang mir selbst. In den ersten Tagen
+f&uuml;rchtete ich mich vor jedem Postwagen, der ankam.
+Die Briefe, die er brachte, waren fast noch schlimmer,
+als die Ankunft des Vaters gewesen w&auml;re, die ich erwartet
+hatte. Die Gr&uuml;nde, die mich bewogen hatten,
+Syburgs Werbung abzulehnen, hatte dieser nat&uuml;rlich
+in einer Weise dargestellt, die mich kompromittieren
+sollte. &Uuml;ber meine Sympathie mit den Bergarbeitern
+wurden, wie es schien, nicht ohne Syburgs Hilfe,
+wahre R&auml;ubergeschichten verbreitet, denen mein Vater
+zun&auml;chst Glauben schenkte. Und derselbe Mann, der
+eben erst gegen die Unternehmer gewettert hatte, gefiel
+sich jetzt in wilden &Uuml;bertreibungen und beschuldigte
+mich, sein Ungl&uuml;ck zu sein. &raquo;Da&szlig; ich, ein k&ouml;nigstreuer
+Edelmann und Offizier, es erleben mu&szlig;te, da&szlig; meine
+Tochter mit diesen wortbr&uuml;chigen Hallunken sympathisiert!&laquo;
+schrieb er. Aber die Anschuldigungen, mit denen
+er mich in der ersten Aufregung &uuml;berh&auml;ufte, trafen mich
+weit weniger als der tiefe Schmerz &uuml;ber mein Schicksal,
+der in seinen sp&auml;teren, ruhigeren Briefen zum<a name="Page_411" id="Page_411"></a>
+Ausdruck kam. &raquo;Wie hatte ich mich gefreut, dich versorgt
+zu sehen, ehe ich sterbe &mdash;&laquo; dies Wort tat mir
+bitter weh. Meiner Mutter Briefe dagegen mit ihrem:
+&raquo;ich habe es vorausgesehen&laquo;, &mdash; &raquo;ich wu&szlig;te, da&szlig; du
+dich nie in geregelten Bahnen bewegen w&uuml;rdest&laquo; &mdash; &raquo;deine
+Romane sind nur um ein Kapitel reicher geworden&laquo; emp&ouml;rten mich.</p>
+
+<p>Auch meine Tante schrieb mir. &raquo;Deine Ablehnung
+einer, wie mir Hans mitteilte, so ungew&ouml;hnlich guten
+Partie ist ein Schaden, den du dir selbst zugef&uuml;gt hast,
+und dessen Folgen du ebenso zu tragen haben wirst wie
+die sonstigen Folgen deines Eigensinns ...&laquo;</p>
+
+<p>Schweigend lie&szlig; ich alle Vorw&uuml;rfe &uuml;ber mich ergehen.
+Ich machte weite Spazierg&auml;nge, auf denen mir der
+schwarze C&auml;sar, der treue Hofhund, nicht von der Seite
+wich. Dem Zusammenhang meines Lebens suchte ich
+nachzusp&uuml;ren: Was war es gewesen &mdash; was wollte es
+von mir? Und wenn es Abend wurde, schrieb ich nieder,
+was mir durch den Kopf gegangen war, und meine
+Feder brachte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken.</p>
+
+<p>&raquo;Der Bildhauer bildet sein Werk aus einem rohen
+Marmorblock, er behaut es, er gl&auml;ttet es, er sucht die
+weichen Formen einer Venus aus dem harten Material
+herauszuarbeiten. Es dauert lange, ehe er sich selbst
+gen&uuml;gt; nicht das lebende Modell will er kopieren,
+er will ein Sch&ouml;nheitsideal, das ihm best&auml;ndig vorschwebt,
+verwirklichen. Anders der Handwerker, der
+rasch ein effektvolles Dekorationsst&uuml;ck schaffen will: er
+fertigt ein Holzger&uuml;st, drapiert es mit Sackleinwand,
+wirft Gyps dar&uuml;ber und setzt eine fertig gekaufte Allerweltsgipsb&uuml;ste
+darauf. Aus einiger Entfernung wirkt
+<a name="Page_412" id="Page_412"></a>seine Arbeit nicht &uuml;bel, dem Rohen t&auml;uscht sie dauernd
+ein Kunstwerk vor, &mdash; nur in der N&auml;he schau sie nicht
+an und h&uuml;te sie wohl vor Regen und Sturm, das Holzger&uuml;st
+m&ouml;chte sonst allzu schnell zum Vorschein kommen! &mdash; Hat
+ein K&uuml;nstler oder ein Handwerker mich geschaffen?
+Habe ich die N&auml;he zu f&uuml;rchten und das
+Wetter? Oder st&uuml;rzt mich kein Sturm? Bin ich, oder
+scheine ich nur?&laquo; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Bald lie&szlig; es mir keine Ruhe mehr, &mdash; kaum da&szlig; ich
+den n&ouml;tigsten Schlaf mir g&ouml;nnte &mdash;, ich schrieb und
+nannte das kleine schwarze Buch, &uuml;ber dessen Seiten meine
+Feder fiebernd flog: Wider die L&uuml;ge. Seine ersten
+Seiten lauteten:</p>
+
+<p>&raquo;Die L&uuml;ge ist der Anfang alles Verderbens, ist das
+Verderben selbst. Alle Sch&auml;den, an denen unsere Zeit,
+an denen wir selber kranken, entspringen aus diesem
+Grund&uuml;bel. Wir sprechen in vollt&ouml;nenden Phrasen von
+Wahrheit, und doch trennen uns von ihr tote Jahrhunderte.
+Denn die Wahrheit der Vergangenheit wird
+zur L&uuml;ge der Gegenwart. Wie ein Verbrechen verstecken
+wir, was in die alten Formen und Formeln nicht passen
+will, und sehen nicht, da&szlig; es vielmehr Verbrechen ist,
+diese Formen und Formeln aufrecht zu erhalten. Wir
+beugen uns unter Gesetze, gegen die wir uns innerlich
+emp&ouml;ren, und triumphieren, wenn wir schlie&szlig;lich selbst
+das Gef&uuml;hl der Emp&ouml;rung unterdr&uuml;ckt haben. Und die
+Diener der Kirche und des Staates lehren uns, da&szlig; wir
+damit den Himmel erwerben.</p>
+
+<p>&raquo;Was ist Wahrheit? &mdash; Zweifelnd und verzweifelnd,
+sch&uuml;chtern und wild flog diese Frage durch die Jahrtausende.
+Oft glich die Antwort einem Achselzucken,
+<a name="Page_413" id="Page_413"></a>noch &ouml;fter dem Befehl eines Tyrannen, der jeden Widerspruch
+mit dem Beil des Henkers lohnt. Der Muhamedaner
+schw&ouml;rt auf den Koran, der Jude auf den Talmud,
+der Christ auf die Bibel. Und jeder, der ein neues
+Gedankengeb&auml;ude gen Himmel t&uuml;rmt, sagt: das ist
+Wahrheit.</p>
+
+<p>&raquo;Gibt es eine Wahrheit? Eine unumst&ouml;&szlig;liche, an der
+kein Steinchen sich lockert? Eine unbedingt g&uuml;ltige f&uuml;r
+alle Zeiten, alle Kreaturen, alle Welten?</p>
+
+<p>&raquo;Wie ein fernes Licht hinter einem dunkeln Vorhang
+leuchtet sie, und langsam, Schritt f&uuml;r Schritt, dringt
+die Erkenntnis erobernd vor und raubt dem Glauben
+einen Fu&szlig;breit Boden nach dem anderen. Der Weg
+wird heller, aber fern bleibt das Licht. Das Ende
+aller Dinge f&auml;llt zusammen mit seiner Enth&uuml;llung. Wir
+aber leben, und darum haben wir die reine Wahrheit
+nicht.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen w&auml;hlen zwischen fremder Wahrheit und
+unserer Wahrheit. Wir werden zu L&uuml;gnern, wenn wir
+bequem und gedankenlos nach den fertigen Wahrheiten
+der anderen greifen.</p>
+
+<p>&raquo;Wer wahr sein will, mu&szlig; frei sein. Frei von den
+Ketten, in die Erziehung, Bildung, Tradition uns geschmiedet
+haben, frei von den Zauberbrillen, mit denen
+die Priester unser Augenlicht verdunkelten, frei von der
+Tracht der Lakaien, in die die Machthaber der Erde die
+Abh&auml;ngigen zwingen. Was du nicht selbst erwarbst,
+nicht selbst bist, das ist L&uuml;ge und Sklaverei.</p>
+
+<p>&raquo;Die Erziehung ist wie eine eiserne Form, in die die
+weichen Kinderseelen hineingepre&szlig;t werden. Und sollte
+doch nur ein Stab sein, zum Halt f&uuml;r das junge
+<a name="Page_414" id="Page_414"></a>wachsende B&auml;umchen. Im Leben des Kindes bedeutet
+das &#8250;Warum?&#8249; die Geburt des Menschen. Die Erziehung
+schl&auml;gt es tot, kaum da&szlig; es die Glieder regt. Das
+Schulzuchthaus spannt in dasselbe Joch den Begabten
+und den Unbegabten, den Phantasiereichen und den
+N&uuml;chternen. Es stopft die Gehirne voll mit Namen,
+Zahlen und Regeln, und der beste Sch&uuml;ler ist, der rasch
+aufnimmt, der schlechteste, der sich gr&uuml;belnd das Geh&ouml;rte
+zu eigen machen will. Dar&uuml;ber stirbt das &#8250;Warum&#8249;, das
+Gehirn trocknet ein, das Herz verschrumpft, und an
+Stelle selbst&auml;ndigen Denkens, lebendiger Begeisterung
+f&uuml;r das Gute, Wahre und Sch&ouml;ne treten Geschichtstabellen,
+Bibelspr&uuml;che, Urteile &uuml;ber Welt und Menschen.</p>
+
+<p>&raquo;Wehe, wer dem Lehrenden widerspricht: Denken f&uuml;hrt
+auf Abwege, Zweifeln schafft Ketzer und Aufr&uuml;hrer.</p>
+
+<p>&raquo;Verschling ihn getrost, den weichen s&uuml;&szlig;en Brei, den
+man dir mundgerecht vorsetzt, du P&auml;ppelkind, du verlernst
+dabei selbst den Gebrauch deiner Z&auml;hne!</p>
+
+<p>&raquo;Nicht als mythendurchwebte Geschichte der Juden
+werden dem Kinde uralte Urkunden der Menschheit vorgetragen,
+als Wahrheit vielmehr, daran zu zweifeln
+S&uuml;nde ist. Rauben und Morden, Verfolgen und Betr&uuml;gen, &mdash; das
+Volk Gottes tat es auf Jehovas Befehl,
+unter seinem Schutz, und demselben Kinde, das diesen
+Gott anbeten, seine Auserw&auml;hlten verehren soll, wird
+die Religion der Liebe gepredigt.</p>
+
+<p>&raquo;Nimm auch das hin, du arme kleine Menschenmaschine:
+R&uuml;ttelst du nur mit einem eigenen Gedanken
+daran, so f&auml;llt das ganze Haus in Tr&uuml;mmer.
+Bringe deinen Verstand h&uuml;bsch zum Schweigen, werde
+<a name="Page_415" id="Page_415"></a>wie alle, die es in der Welt zu Geld und Ansehen
+bringen: eine lebendige L&uuml;ge.</p>
+
+<p>&raquo;Ein gebildeter Mensch ist das Ziel der Erziehung.
+Herrlich! Wenn es wahr w&auml;re. Bilden hei&szlig;t den
+gegebenen Stoff zur h&ouml;chsten Vollkommenheit entwickeln, &mdash; nicht
+aus Gips Marmors&auml;ulen, aus Holz Eisenkonstruktionen,
+aus Glas Diamanten machen. Aber an
+Stelle des Seins die T&auml;uschung setzen, ist das Zeichen
+unserer Bildung. Wer &uuml;ber alles mitredet, stets mit
+einem fertigen Urteil bei der Hand ist, selten bewundert,
+gilt als gebildet. Urteilsf&auml;higkeit ist Kriterium der
+Bildung, aber doch nur dann, wenn das Urteil ein
+eigenes ist. Zu dieser Bildung aber ist der Weg lang
+und steil, und mi&szlig;trauisch sollte stets fertiges Urteil
+machen.</p>
+
+<p>&raquo;Der Gebildete unserer Tage scheint, was er nicht
+ist; er bel&uuml;gt andere, oft auch sich selbst; er begeht
+geistigen Diebstahl, indem er fremde Weisheit als eigene
+ausgibt; er beraubt sich der wundervollsten Lebensfreude,
+indem er zwar lernte, sich durch stete Verneinung
+hochm&uuml;tig &uuml;ber alle zu erheben, nicht aber offnen Sinnes
+zu genie&szlig;en, was Natur und Kunst geschaffen haben.
+Vergiftet ward uns der frische sprudelnde Quell der
+Bildung, ert&ouml;tend rinnt er nun durch die Adern des
+Volks und tr&uuml;bt seinen Blick, so da&szlig; es den Vieles-Wissenden
+an Stelle des Selbst-Seienden zum G&ouml;tzen
+erhebt.</p>
+
+<p>&raquo;Wer wider die L&uuml;ge streiten will, mu&szlig; die neue
+Wahrheit verk&uuml;nden. Welches ist sie?</p>
+
+<p>&raquo;Die Wahrheit von den Kindern zun&auml;chst:</p>
+
+<p>&raquo;Das Ziel der Erziehung sei kein Lexikon, sondern ein
+<a name="Page_416" id="Page_416"></a>freier Mensch. Wissen sei nicht Selbstzweck, sondern
+Mittel zu dem Zweck, das Leben reich, den Menschen stark
+zu machen. T&ouml;te kein &#8250;Warum&#8249;, locke es vielmehr hervor,
+wie der G&auml;rtner durch sorgsame Pflege die jungen
+Triebe hervorlockt. Leite, &mdash; meistere nicht. Wisse, da&szlig;
+deine Wahrheit nicht die des Kindes ist, da&szlig; du es
+l&uuml;gen lehrst, wenn du sie ihm aufzwingst. M&auml;rchenglaube
+ist Kindeswahrheit. La&szlig; sie ihm. Erz&auml;hle ihm
+darum die Mythen der V&ouml;lker wie M&auml;rchen: von Isis
+und Osiris zu Odin und Baldur, von Jehova zu Jupiter
+bis zum himmlischen Vater der Christen. Zeig ihm, wie
+die Menschen unter tausend Namen und Formen vor
+dem heiligen Geheimnis schaffenden Lebens anbetend
+knieten. Lehre es ihn schauen und bewundern in jeder
+duftenden Blume, jeder Wolke, jedem Stern, jedem Gesetz
+der Natur.</p>
+
+<p>&raquo;Und dann f&uuml;hre es ein in die Geschichte der Menschen.
+Schaffe keine Engel und Teufel aus deiner Machtvollkommenheit &mdash; aber
+st&ouml;re das Kind nicht, wenn es sich
+eigene Helden bildet. Tritt bescheiden zur&uuml;ck mit deinem
+eigenen Ich hinter dem werdenden Ich des anderen.
+Was er nicht selbst beurteilen kann, lehre ihn nicht beurteilen.
+Es ist Sentimentalit&auml;t, durch unsere Erfahrungen
+dem Kinde die eigenen ersparen <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'zuwollen'">zu wollen</ins>. Denn
+eigene Erfahrung ist die allein sichere Stufenleiter der
+Entwicklung. F&uuml;hrt sie das Kind fort von dir, so
+jammere nicht, denn nicht dein Eigentum ist es, sondern
+sein eigenes und das der Menschheit. Pr&auml;ge ihm nicht
+Lebensregeln ein, weise ihm vielmehr den Weg, um
+seines Lebens eigene Regeln zu finden.</p>
+
+<p>&raquo;Und seines Herzens eigene Religion.</p>
+<p><a name="Page_417" id="Page_417"></a></p>
+<p>&raquo;Welches ist die Wahrheit von ihr? Der Entwickelungsgang
+der Menschheit ist vom ersten Ursprung an
+ein stetig fortschreitender. Kindlicher M&auml;rchenglaube ist
+der vom verlorenen Paradiese; der Mann glaubt an das
+zu erobernde.</p>
+
+<p>&raquo;In der Natur gibt es keinen Stillstand: der Flu&szlig;
+strebt dem Meere zu, der Baum w&auml;chst empor, zum
+Menschen wird das Kind. Dies &#8250;Vorw&auml;rts&#8249; ist ein Gesetz,
+das sich nie verleugnet; so oft seine Kraft zu
+schwinden drohte, so oft brach es auch machtvoll durch
+alle Schranken, die menschliche Torheit m&uuml;hsam aufrichtete.
+Die &Uuml;berzeugung von der Unumst&ouml;&szlig;lichkeit dieses
+Gesetzes weitet unser Herz und unseren Geist. Wir
+werden es aus allen Verdunkelungen, aus allen Leiden,
+von denen die Geschichte der V&ouml;lker und der Menschen
+erz&auml;hlt, heraus erkennen, wenn es unser eigenes Lebensprinzip
+geworden ist. Wir werden es auch dann bejahen,
+wenn es t&ouml;tet, weil wir wissen, da&szlig; welke Bl&auml;tter
+fallen m&uuml;ssen, um jungen Trieben Platz zu machen, da&szlig;
+die Bl&uuml;te sterben mu&szlig;, wenn die Frucht reifen soll.</p>
+
+<p>&raquo;Der Pessimismus sagt: Es gibt kein Gl&uuml;ck; der
+Pietismus versichert: Die Erde ist ein Jammertal. Aber
+die neue Wahrheit lehrt: Es gibt ein Gl&uuml;ck, das &uuml;ber
+alles Leid hinweghilft; jede Blume auf dem Felde, jede
+Eichel am Baum, jeder S&auml;ugling am Mutterherzen
+zeugt davon. Sein Gesetz ist: Wachse! Werde! Soll
+es allein f&uuml;r die Religion nicht gelten?</p>
+
+<p>&raquo;Was ist Religion? Der Zug nach oben, die Ehrfurcht
+vor dem Unerkannten, Nichtzuerkennenden. Sollte sie
+unwandelbar feststehen, weil sie sonst kein Halt, keine St&uuml;tze
+w&auml;re f&uuml;r so viele? Was ist denn das Feststehende an
+<a name="Page_418" id="Page_418"></a>ihr? Etwa der Glaube, da&szlig; Gott Eins und doch Drei,
+oder da&szlig; Christus einer Jungfrau Sohn ist? Oder der
+Glaube an die Speisung der Tausende, an die feurigen
+Z&uuml;nglein des heiligen Geistes? Selbst der strengste
+Christ wird darin nicht den Urquell seiner Herzensreligion
+finden. Was ihn zu dem macht, was er ist,
+ihm die Kraft gibt zum Handeln und zum Ertragen,
+das ist nichts anderes als die &Uuml;berzeugung von der Unendlichkeit
+des Werdens, &mdash; theologisch ausgedr&uuml;ckt:
+der Unsterblichkeitsglaube. F&uuml;r ihn mag er in der
+Form des pers&ouml;nlichen Fortlebens, der Auferstehung des
+Fleisches, Wahrheit sein. Uns ward er zur Wahrheit
+im Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wie ein Sto&szlig;
+fortwirkt ohne Aufh&ouml;ren, wirkt die Tat fort und der
+Gedanke ohne Ende.</p>
+
+<p>&raquo;Staat und Kirche lehren die Religion Christi wie vor
+achtzehnhundert Jahren. Was die Apostel, einfache
+M&auml;nner des Volks, in orientalischer Phantasie und
+kindlichem Glauben von ihres Herren und Meisters Geburt
+und Leben erz&auml;hlten, soll uns noch Wahrheit sein.
+Was aber bleibt f&uuml;r uns, wenn wir hinter den Mythen
+die Wahrheit suchen? Die g&ouml;ttliche Geburt Christi?
+Des Menschen Geist ist g&ouml;ttlichen Ursprungs, und wer
+seiner Bestimmung folgt bis zum Tode, &mdash; der ist Gottes
+Sohn. Wir aber, die wir uns nennen nach dem Namen
+des Nazareners, der, wie wenige vor und nach ihm,
+der alten L&uuml;ge die neue Wahrheit entgegensetzte und
+sich ans Kreuz schlagen lie&szlig; von den Frommen seiner
+Zeit, &mdash; wir verleugnen das gr&ouml;&szlig;te, was uns ward:
+den Geist. Wir stempeln seine g&ouml;ttliche Kraft zur S&uuml;nde
+und lehren im Namen des Gekreuzigten, da&szlig; wir nicht
+<a name="Page_419" id="Page_419"></a>zweifeln, das hei&szlig;t: nicht denken d&uuml;rfen. Aber die neue
+Wahrheit von der Religion predigt die Pflicht des
+Zweifelns, weil der Zweifel die neue Wahrheit gebiert
+und die Wurzeln des Werdens in ihm ruhen.</p>
+
+<p>&raquo;Denke bis zu den letzten Konsequenzen, rei&szlig;e nieder,
+was deinem Denken im Wege steht; selbst das Heiligste,
+das Unantastbare ist unheilig und ein Frevel, wenn es dem
+Gedanken zur Schranke ward. Denke, &mdash; und du wirst
+reich, denke, &mdash; und du wirst stark und froh. Wer, und
+ob er gleich hundert Jahre lebte, wird solchen Werdens
+ein Ende finden? Darum, statt Christi wundersame
+Geburt zu verk&uuml;nden, verk&uuml;ndet die Heiligkeit unseres
+Lebens! &mdash; Und sein Opfertod? Wer an ewige H&ouml;llenstrafen
+glaubt, den lehrt die Angst, da&szlig; die eigene
+Schuld von einem anderen ges&uuml;hnt werden k&ouml;nnte.
+Jesus aber starb nicht f&uuml;r andere, sondern f&uuml;r seine
+&Uuml;berzeugung, &mdash; er lehrte die Tat, nicht die Reue. Und
+seine Auferstehung? Wer verm&ouml;chte an ihr zu zweifeln?
+Lebt nicht sein Geist &mdash; und wird er nicht ewig leben,
+auch wenn seine Lehre nicht die Wahrheit an sich ist,
+sondern nur eine Stufe zu ihr? &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Nun aber bleibt mir noch die R&auml;tselfrage nach der
+neuen Wahrheit vom Leben! Warum all die Qual und
+Not, all das Elend und die Verzweiflung? Im Kampf
+ums Dasein sind Milliarden Lebewesen untergegangen,
+um h&ouml;heren Formen, reiferen Gehirnen Platz zu machen.</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;ber Tote geht alle Entwicklung.</p>
+
+<p>&raquo;Die rohe Kraft wich den feineren Kr&auml;ften des Geistes,
+und die Kr&auml;fte des Geistes warten ihrer Erg&auml;nzung
+durch die der Seele. Ohne Qualen g&auml;be es keine Kraft,
+die an ihnen w&auml;chst und sich bew&auml;hrt.</p>
+<p><a name="Page_420" id="Page_420"></a></p>
+<p>&raquo;Wer am Leiden zugrunde geht, ist des Lebens nicht
+wert gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;W&auml;chst nicht selbst aus dem Hunger der Massen der
+Riese, der ihn &uuml;berwinden wird? Schafft die Not nicht
+die Einigkeit und den Kampf, gr&uuml;nt nicht heimlich unter
+Blutlachen und Tr&auml;nen die junge Saat der kommenden
+Menschen?</p>
+
+<p>&raquo;Nur Eins ist not: da&szlig; wir in dem ungeheuern Triebrade
+der Entwicklung kein Staubkorn sind, das hindert,
+bis es zermalmt wird, kein Rostfleck, der den Mechanismus
+anfri&szlig;t, bis er verrieben ist. Wenn wir kein Teil der
+motorischen Kraft sein k&ouml;nnen, seien wir wenigstens ein
+Tr&ouml;pflein &Ouml;ls, ein winziges Z&auml;hnchen.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist die neue Wahrheit vom Leben.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mir war, als h&auml;tte ich mir ein R&uuml;stzeug geschmiedet,
+das mich un&uuml;berwindlich machte.
+Gl&uuml;ckselig sah ich jedem jungen Tage entgegen
+und wanderte mit frischen Kr&auml;ften tief in den
+Wald, die Lenzluft einatmend, die starke, w&uuml;rzige, &mdash; den
+echten Jugendborn f&uuml;r Geist und K&ouml;rper.</p>
+
+<p>Es war hoher Sommer, als ich mich entschlo&szlig;, meines
+Vaters Wunsch Folge zu leisten und zum Kaiserman&ouml;ver
+nach M&uuml;nster zur&uuml;ckkehren.</p>
+
+<p>Am Tage meiner Ankunft prangte die Stadt schon in
+vollem Schmuck: Fahnen und Wimpel in bunter Farbenpracht
+flatterten im Winde, aus den Fenstern hingen
+Teppiche, &uuml;ber die Stra&szlig;en zogen sich gr&uuml;ne Girlanden,
+mit roten und blauen Sommerblumen besteckt. Eine bunte
+Volksmenge f&uuml;llte die Stra&szlig;en. Alte Trachten tauchten auf:<a name="Page_421" id="Page_421"></a>
+Frauen mit schweren, goldgestickten Hauben, M&auml;nner
+mit wei&szlig;en Str&uuml;mpfen und roten Westen, auf denen
+dicke Silberkn&ouml;pfe gl&auml;nzten. Als am n&auml;chsten Morgen
+in gl&uuml;hendem Sommersonnenschein das Kaiserpaar einzog,
+schien die ganze Luft erf&uuml;llt von dem gewaltigen Konzert
+der Glocken, und der Donner der Gesch&uuml;tze klang nur
+wie der tiefe Akkord der Begleitung. Alle Pracht und
+allen Reichtum hatte der Adel Westfalens aufgeboten;
+in altert&uuml;mlichen Kaleschen, gemalt und goldverziert,
+gepuderte Kutscher und Lakaien in roten, blauen, gelben
+und wei&szlig;en R&ouml;cken auf Bock und Trittbrett, fuhren seine
+Vertreter mittags zum Empfang ins Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>Kein Prunkzelt der Medizeer konnte &uuml;ppiger sein als das
+auf dem Ludgeriplatz, wo die Mitglieder des Landtags den
+Landesherrn zum Mittagsmahl empfingen. Und kein florentinischer
+Palast konnte gr&ouml;&szlig;eren Glanz entfalten als das
+Haus des Damenklubs, das am Abend die kaiserlichen
+G&auml;ste erwartete. Auf den Treppenstufen standen die J&auml;ger
+der Herzoge von Croy, von Ratibor, von Rheina-Wolbeck,
+der F&uuml;rsten Bentheim und Salm; mit kostbaren Gobelins,
+alten Venetianer Spiegeln, Waffen aller L&auml;nder und
+Zeiten, goldenen und silbernen Schaugef&auml;&szlig;en waren die
+S&auml;le geschm&uuml;ckt, aber die F&uuml;lle der Edelsteine auf den
+K&ouml;pfen, den Schultern, und den Armen all der sch&ouml;nen,
+rassigen Frauen &uuml;berstrahlte alles. Mit schimmernden
+Seidenkleidern und bunten Uniformen f&uuml;llten sich die
+R&auml;ume; eine Fanfare, &mdash; und unter dem Bogen der
+T&uuml;re erschien das Kaiserpaar: in Husarenuniform, den
+Dolman &uuml;ber dem kurzen, linken Arm der Kaiser, in
+wei&szlig;em Brokat die Kaiserin. Zum erstenmal sah ich ihn
+wieder seit meiner Kinderzeit: das gebr&auml;unte Gesicht
+<a name="Page_422" id="Page_422"></a>war noch finsterer geworden, der emporgewirbelte Bart
+konnte &uuml;ber die herabgezogenen Mundwinkel nicht t&auml;uschen,
+und das gleichm&auml;&szlig;ig verbindliche L&auml;cheln der blonden
+Frau neben ihm war zu konventionell, ihr helles Antlitz
+zu ausdruckslos, als da&szlig; es den Blick von ihm h&auml;tte
+ablenken, die Empfindung von Eisesk&auml;lte, die uns alle
+&uuml;berkam, h&auml;tte vertreiben k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Der Ball begann. Ich f&uuml;hlte, wie die jungen Damen
+mehr als sonst von mir abr&uuml;ckten, wie man, trotz der
+Erregung des Augenblicks, Zeit fand, &uuml;ber mich zu
+tuscheln und zu raunen. Hessenstein stand wie ein
+riesiger W&auml;chter neben mir. Er war es auch, der mir
+zufl&uuml;sterte, noch ehe eine &raquo;gute Freundin&laquo; mich schadenfroh
+davon unterrichten konnte, da&szlig; Syburg sich verlobt
+habe. Und an seinem Arm flog ich durch den Saal,
+als der erste Walzer seine Schmeichelweise ert&ouml;nen lie&szlig;.
+Unten, dicht vor der Estrade, wo die Kaiserin Cercle
+hielt, stand der Kaiser. Im Rausch des Tanzes bemerkte
+ich ihn erst, als die Schleppe meines Kleides ihn
+streifte. Einen Augenblick lang sah er mir nach und
+l&auml;chelte, w&auml;hrend mir mit einem Gef&uuml;hl des Triumphes
+durch den Sinn scho&szlig;, da&szlig; kein T&auml;nzer im Saal so
+sch&ouml;n war wie der meine und keine Dame so gut tanzte
+wie ich. So sollte es sein: nicht allm&auml;hlich, wie die
+alternden Mauerbl&uuml;mchen, wollte ich mich losrei&szlig;en
+vom Jugendleben, &mdash; auf der H&ouml;he vielmehr wollte ich
+Abschied feiern! In den Pausen dr&auml;ngten sich die jungen
+M&auml;dchen in die N&auml;he der Kaiserin und kehrten mit
+verkl&auml;rten Gesichtern zur&uuml;ck, wenn es ihnen gelungen
+war, vorgestellt zu werden. &raquo;Wollen Sie nicht auch &mdash;?&laquo;
+meinte Hessenstein bedenklich. &raquo;Wozu?&laquo; antwortete ich
+<a name="Page_423" id="Page_423"></a>lachend &raquo;um eines Handkusses und einer Phrase willen
+meine Spitzen in Gefahr bringen!&laquo;</p>
+
+<p>Im Speisesaal war auf erh&ouml;htem Platz die Kaisertafel
+gedeckt; aus Gold waren Bestecke, Sch&uuml;sseln und Schalen,
+phantastische Orchideen nickten aus hohen Kristallkelchen,
+Kr&auml;nze von gelben Rosen hoben sich leuchtend von der
+mattvioletten Seide der W&auml;nde. Tisch an Tisch reihte
+sich in dem weiten Raum darunter, und den Dreihundert,
+die sich hier zusammenfanden, wurde von silbernen
+Sch&uuml;sseln auf silbernen Tellern serviert. Ich sa&szlig; in
+einem fr&ouml;hlichen kleinen Kreis abseits unter dem Schatten
+gro&szlig;bl&auml;tteriger Palmen; zwischen ihren St&auml;mmen hindurch
+konnte ich hinauf zur Kaisertafel blicken. Das
+Profil Wilhelms II. stand scharf gegen den hellen Hintergrund.
+Ich sah, wie er das Sektglas wieder und wieder
+zum Munde hob und wie er lachte, &mdash; der kleine dicke
+Herzog von Croy, der ihm gegen&uuml;ber sa&szlig;, liebte derbe
+Sp&auml;&szlig;e, &mdash; aber es war das Lachen eines Ausgelassenen,
+das mit Heiterkeit nichts zu tun hat. Die starke rechte
+Hand gestikulierte lebhaft und benutzte nur hie und da
+das Doppelbesteck, um ein paar Bissen zu schneiden und
+zum Munde zu f&uuml;hren. Kraftlos, bewegungslos wie
+ein fremdes Glied hing die behandschuhte Linke an dem
+kurzen Kinderarm.</p>
+
+<p>Sommerschw&uuml;le br&uuml;tete in den Stra&szlig;en, als wir heimw&auml;rts
+fuhren, und ein Sommernachtsm&auml;rchentraum hielt
+die alte Stadt umfangen. Exotische Gl&uuml;hw&uuml;rmchen
+schienen um die Pfeiler der Laubeng&auml;nge zu tanzen, sich,
+allen Linien des Ma&szlig;werks folgend, bis hoch in die
+Spitzen der Kircht&uuml;rme zu schwingen. Die grauen Steine
+verschwanden; aus Licht und Farben waren die spitzen<a name="Page_424" id="Page_424"></a>
+Giebel, die schlanken S&auml;ulen, die hohen Fensterbogen
+gebaut. Hinter dem dunkeln Laubdach der alten Linden
+schimmerte der Dom wie ein gewaltiger Tempel des
+Lichtgotts.</p>
+
+<p>Wir fuhren langsam in unseren hellen Kleidern,
+Ballblumen im Haar, und die Menge jubelte uns zu,
+wo wir vor&uuml;berkamen. Aus den offenen Fenstern und
+den G&auml;rten t&ouml;nte Gesang und Musik.</p>
+
+<p>Lebensfreudiges Heidentum lachte und leuchtete um
+uns, jenes Heidentum, das die katholische Kirche klug
+zu erhalten verstand. Wo der Protestantismus mit seiner
+kunstfeindlichen N&uuml;chternheit einzog, entfloh es; wo der
+Bischof im goldgestickten Ornat dem Prediger im schwarzen
+Trauerkleid Platz machen mu&szlig;te, wo die lustigen rotr&ouml;ckigen
+Chorknaben verschwanden und in das mystische,
+weihrauchgeschw&auml;ngerte Dunkel der Kirchen grelles Tageslicht
+eindrang und duftloser Alltag, da verlor das Volk
+allm&auml;hlich den Kindersinn, der sich in phantastischem Prunk
+und bunten Spielen &auml;u&szlig;ert.</p>
+
+<p>Zu F&uuml;&szlig;en der Porta Westfalica waren vierzehn Tage
+sp&auml;ter die Kaiserman&ouml;ver. Mit einer Parade vor den
+Toren von Minden wurden sie er&ouml;ffnet. Es war dasselbe
+Bild wie immer bei solchen Gelegenheiten: schwarze
+Menschenmassen, graue Staubwolken, geschmacklos dekorierte
+Trib&uuml;nen, von Fremden und Einheimischen dicht
+besetzt; auf dem Felde davor, wohin das Auge reichte,
+blitzende Uniformen, wehende Helmb&uuml;sche, stampfende
+Pferde. In der Ferne die blauen H&ouml;henz&uuml;ge des Wesergebirges, &mdash; ein
+ruhig-ernster Abschlu&szlig; des lebendigen
+Bildes.</p>
+
+<p>Wenn ein altes Ro&szlig;, das schon lang vor dem Last<a name="Page_425" id="Page_425"></a>wagen
+keucht, die Trompete h&ouml;rt, so spitzt es die Ohren,
+hebt den m&uuml;den Kopf und versucht mit den lahmen
+Beinen grazi&ouml;s zu t&auml;nzeln; und wenn der Mensch, der
+die Soldatenspielerei der V&ouml;lker schon l&auml;ngst f&uuml;r frevelhaft
+h&auml;lt, die alten Kriegsm&auml;rsche h&ouml;rt, so mu&szlig; er an
+sich halten, um nicht mit zu marschieren; tauchen aber
+die Truppen selbst vor seinen Augen auf, &mdash; all die
+Tausende junger, lebensstarker Menschen zu Fu&szlig; und zu
+Pferde, im silber- und goldverschn&uuml;rten Rock, im gl&auml;nzenden
+K&uuml;ra&szlig; und die Sonne spiegelnden Stahlhelm, mit schwarzwei&szlig;en
+wehenden F&auml;hnchen, den rasselnden S&auml;bel zur
+Seite, oder mit dem dr&ouml;hnenden Gleichma&szlig; des Tritts
+zahlloser Bataillone, &mdash; so pocht das Herz ihm h&ouml;her,
+so fest ers auch halten m&ouml;chte.</p>
+
+<p>Ich stand in der Mittelloge der Trib&uuml;ne. Dicht vor
+mir die Suite des Kaisers, die fremdl&auml;ndischen F&uuml;rsten,
+er selbst, und an ihnen vor&uuml;ber ein gl&auml;nzender Strom
+von Soldaten, den die Tonwellen schmetternder Fanfaren
+zu tragen und zu treiben schienen. Ich wollte nicht
+staunen, nicht bewundern, aber die Worte des Spottes
+erstarben mir auf den Lippen. Wecken jene Kl&auml;nge
+verlorene Erinnerungen aus barbarischer Vorzeit? Peitscht
+der Anblick kriegerischer Wehr jenen Tropfen Blutes
+auf, der von unseren Vorfahren, denen Kampf Lust und
+Leben war, noch in unseren Adern rollt? Oder ist es
+nicht blo&szlig; die Suggestion der Masse, der Musik, der
+Farben, die unsere Sinne berauscht? W&uuml;rde es uns nicht
+in dieselbe Erregung versetzen, wenn diese Soldaten
+M&auml;nner der Arbeit w&auml;ren, ihre Waffen blanke Werkzeuge,
+ihre Uniformen Festgew&auml;nder, das ganze strahlendbunte
+Bild eine gewaltige Revue der Arbeit?</p>
+
+<p><a name="Page_426" id="Page_426"></a>Ich gr&uuml;belte noch dar&uuml;ber nach, als ein brausendes
+&raquo;Hurrah&laquo; mich aufsehen lie&szlig;. Der Kaiser hatte sich an
+die Spitze der 53er gesetzt und f&uuml;hrte das Regiment
+seines Vaters an den Trib&uuml;nen vor&uuml;ber. Als spontane
+Gef&uuml;hls&auml;u&szlig;erung wurde jubelnd begr&uuml;&szlig;t, was nur eine
+Aus&uuml;bung h&ouml;fisch-milit&auml;rischer Sitte war.</p>
+
+<p>&raquo;Wird ihm diesmal schwer geworden sein,&laquo; meinte
+F&uuml;rst Limburg leise, der neben mir stand. &raquo;Warum?&laquo;
+frug ich verwundert. &raquo;Der Spuk im aachener Kasernenhof
+soll ihn nicht wenig erregt haben!&laquo;</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen ritt ich mit Limburgs unter
+F&uuml;hrung eines Korps-Gendarmen ins Man&ouml;vergel&auml;nde.
+Mit tr&uuml;ben Gedanken, die der regnerische Tag nicht
+heller machte, war ich zu Pferde gestiegen. Meinen
+Vater hatte ich seit meiner R&uuml;ckkehr so wortkarg und
+finster gefunden, wie nie vorher; in diesen Tagen aber
+war er von haltloser Heftigkeit, so da&szlig; alles vor ihm
+zitterte. Ob er wohl auch an das pommersche Kaiserman&ouml;ver
+vom Jahre 87 dachte?! &mdash; In einem Geh&ouml;ft
+fanden wir Verdy, den Kriegsminister, dessen sarkastischer
+Witz mich immer ebenso anzog, wie sein vernachl&auml;ssigtes
+&Auml;u&szlig;ere mich abstie&szlig;. &raquo;Sauwetter!&laquo; brummte er, mir
+die Hand sch&uuml;ttelnd &raquo;Sie h&auml;tten sich auch was Besseres
+aussuchen k&ouml;nnen, als diesem Man&ouml;ver beizuwohnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was bedeutet die seltsame Betonung, Exzellenz?&laquo;
+frug ich unruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Na, Sie sehen doch, &mdash; es regnet,&laquo; wich er aus,
+&raquo;und dann &mdash; all das Hofgeschmei&szlig;, &uuml;ber das man
+stolpert! Wissen Sie &uuml;brigens, &mdash; Majest&auml;t hat Herrn
+von Wittich in letzter Stunde die F&uuml;hrung des markierten
+Feindes &uuml;bertragen.&laquo; Ich erschrak. Wittich, der General<a name="Page_427" id="Page_427"></a>adjutant
+und G&uuml;nstling des Kaisers, ein Mann, dessen
+milit&auml;rische Leistungen mein Vater zu verh&ouml;hnen pflegte, &mdash; stand
+ihm heute als Gegner gegen&uuml;ber!</p>
+
+<p>Wir ritten weiter. Unterwegs begegnete uns ein
+Ordonanzoffizier vom Stabe meines Vaters. Er strahlte.</p>
+
+<p>&raquo;Das war ein Bravourst&uuml;ck,&laquo; rief er mir schon von
+weitem entgegen. &raquo;Die dreizehnte Division hat einen
+Marsch hinter sich, der alles in Erstaunen setzte. Nat&uuml;rlich
+kam die feindliche Kavallerie zu sp&auml;t und wurde
+gl&auml;nzend abgewiesen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich atmete auf. Vor der M&uuml;hle Habichtshorst wehte
+die Kaiserstandarte. Wir ritten so nah heran wie m&ouml;glich.</p>
+
+<p>Im n&auml;chsten Augenblick brauste und dr&ouml;hnte es
+dicht vor uns: unter tausenden von Pferdehufen bebte
+die Erde, die ganze Kavallerie-Division st&uuml;rmte zum
+Angriff, &mdash; ein Anblick, der den Herzschlag stocken lie&szlig;
+und jenes Fieber gespannter Erregung ausl&ouml;ste, das den
+Hazardspieler packt, wenn er die Elfenbeinkugel rollen
+sieht. Ich verga&szlig; meine Unruhe &mdash; den Vater &mdash; den
+peitschenden Regen &mdash;, meine Hand, die den Feldstecher
+vor die Augen hielt, zitterte. Einen Moment trat das
+Antlitz des Kaisers in mein Gesichtsfeld: seine Augen
+gl&uuml;hten, und seine Lippen zuckten. Ich begriff pl&ouml;tzlich
+seine Leidenschaft f&uuml;r solch ein Schauspiel.</p>
+
+<p>Gleich darauf h&ouml;rte ich Trommeln und Pfeifen: im
+Sturmschritt r&uuml;ckte die Infanterie von der anderen Seite
+vor, &mdash; sie kam in unz&auml;hlbaren Massen, wie aus der
+Erde gestampft, mit Hurra und knatterndem Gewehrfeuer.
+Ich sah den Fuchs meines Vaters, &mdash; da pl&ouml;tzlich
+ein Signal: Das Ganze Halt!, und still stand der
+Kampf.</p>
+
+<p><a name="Page_428" id="Page_428"></a>Merkw&uuml;rdig scheu wichen mir auf dem Heimweg
+unsere Offiziere aus. Kurz vor Minden traf ich Hessenstein,
+den ich anrief. &raquo;Was ist geschehen?&laquo; frug ich ver&auml;ngstigt.</p>
+
+<p>&raquo;Es soll einen b&ouml;sen Auftritt gegeben haben,&laquo; antwortete
+er. &raquo;Auf die Mitteilung, da&szlig; er geschlagen
+sei, ist Ihr Herr Vater in helle Wut geraten. &#8250;Sie
+sind wohl des Teufels&#8249;, soll er geschrien haben, &#8250;ihre
+ganze Kavallerie ist ja vernichtet&#8249;. Alle, die ich sprach,
+geben ihm &uuml;brigens Recht. Der Sturm auf Nordhemmern
+und Holzhausen h&auml;tte zweifellos seinen Sieg gesichert,
+wenn er nicht abgebrochen worden w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>Wir reisten noch an demselben Tage nach M&uuml;nster zur&uuml;ck
+und erwarteten dort meinen Vater. Er war ruhiger,
+als ich gef&uuml;rchtet hatte, und erwog mit solcher Sicherheit
+die Aussichten auf ein Armeekorps, da&szlig; wir selbst
+kaum mehr daran zu zweifeln vermochten.</p>
+
+<p>Als der nahende Karneval uns grade wieder an die
+geselligen &raquo;Pflichten&laquo; zu erinnern begann, starb die alte
+Kaiserin Augusta, und es war f&uuml;r diesen Winter mit
+Spiel und Tanz vorbei. Nichts h&auml;tte mich mehr befriedigen
+k&ouml;nnen. Nun konnte ich mich ungest&ouml;rt der
+Aufgabe widmen, deren Erf&uuml;llung ein neues Leben einleiten
+sollte.</p>
+
+<p>Das kleine Buch, das ich in Hohenlimburg zu schreiben
+begonnen hatte, enthielt die Skizzen, aus denen ich ein
+Gem&auml;lde schaffen wollte, so stark an Farben, so lebendig
+an Gestalten, da&szlig; in Zukunft niemand daran w&uuml;rde
+vor&uuml;bergehen k&ouml;nnen. Aber so rasch jener erste Entwurf
+entstanden war, so langsam gings mit der neuen Arbeit.
+Ich entdeckte L&uuml;cken in meiner Bildung, die durch die
+<a name="Page_429" id="Page_429"></a>mir zu Gebote stehenden Mittel unausf&uuml;llbar blieben.
+Meine Unwissenheit auf den Gebieten der Philosophie und
+der Naturwissenschaften st&uuml;rzte mich oft in die tiefste
+Verzweiflung. Mein ganzes bisheriges Leben erschien
+mir dann wertlos, die Zukunft, wie ich sie ertr&auml;umte,
+auf immer gef&auml;hrdet. Oft sa&szlig; ich bis in die Nacht
+hinein gr&uuml;belnd am Schreibtisch, und erst, wenn das
+letzte Scheit Holz im Kamin erlosch und die Finger
+in der Winterk&auml;lte erstarrten, huschte ich fr&ouml;stelnd in
+mein Schlafzimmer.</p>
+
+<p>Ich war in dieser Zeit so mit meinen eigenen
+Gedanken besch&auml;ftigt, da&szlig; ich mich automatenhaft in
+meiner Umgebung bewegte, bis mir eines Tages
+meines Vaters klanglose Stimme auffiel. &raquo;Bist du
+krank, Papachen?&laquo; frug ich besorgt. Er lachte gequ&auml;lt:
+&raquo;Ich sollte es sein!&laquo; Als ich am n&auml;chsten Morgen zum
+Fr&uuml;hst&uuml;ck in sein Zimmer trat, lag er im Lehnstuhl,
+leichenbla&szlig;, mit weit aufgerissenen Augen. Ich st&uuml;rzte
+neben ihm in die Kniee und griff nach seiner schlaff
+herabh&auml;ngenden Hand. In dem Augenblick kam er zur
+Besinnung; ein Ton, der nichts menschliches an sich hatte,
+drang aus seiner Kehle, &mdash; er sprang auf, schlug wild
+aufschluchzend die H&auml;nde vors Gesicht, um in der
+n&auml;chsten Minute wieder zur&uuml;ckzusinken. Da fiel mein
+Blick auf einen wei&szlig;en Bogen, aus einem blauen Umschlag
+halb herausgerissen, &mdash; ich griff danach und las
+mit verdunkeltem Blick nur die drei Worte: &raquo;... der
+Abschied bewilligt ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die dreizehnte Division!&laquo; murmelte mein Vater.</p>
+
+<p><a name="Page_430" id="Page_430"></a>Nicht rasch genug konnten wir unseren Haushalt
+aufl&ouml;sen. Mein Vater vertauschte noch an
+demselben Tage die geliebte Uniform mit dem
+schwarzen Rock. Aber er wagte sich damit bei Tage
+nicht auf die Stra&szlig;e; sein Gesicht f&auml;rbte sich dunkelrot
+bei jedem Soldaten, der ohne Gru&szlig; an ihm vor&uuml;berging.
+Ich folgte ihm wie sein Schatten; er sah aus wie einer,
+dem der Tod nachschleicht. Ohne Anteilnahme h&ouml;rte er
+zu, wenn meine Mutter Zukunftspl&auml;ne schmiedete; wenn
+sie aber in der Aussicht auf ein ruhiges Leben f&ouml;rmlich
+froh zu werden vermochte, erhob er sich schwerf&auml;llig und
+ging hinaus. Er k&uuml;mmerte sich um nichts, &auml;u&szlig;erte keinen
+Wunsch, lie&szlig; alles geschehen.</p>
+
+<p>Meine Mutter verkaufte ein gut Teil der M&ouml;bel &mdash; er
+merkte es nicht; sein Adjutant verhandelte mit
+Hilfe des Reitknechts mit den Pferdeh&auml;ndlern, &mdash; er
+betrat den Stall nicht mehr. Als dann aber der
+Morgen kam, wo die Pferde fortgef&uuml;hrt werden sollten
+und wir alle versuchten, ihn in seinem Zimmer festzuhalten,
+lief er pl&ouml;tzlich auf den Flur hinaus, &mdash; hell
+hatte der Fuchs, sein Lieblingspferd, gewiehert, auf
+dem Hofe unten stand er, sein goldiges Seidenhaar
+gl&auml;nzte im Sonnenlicht und lustig bellend, wie sonst vor
+dem Morgenritt, sprang ihm Percy, der wei&szlig;e Terrier,
+an die Nase. Gegen die Scheibe pre&szlig;te mein Vater die
+Stirn, ein Beben ersch&uuml;tterte seinen starken K&ouml;rper, und
+schwere Tr&auml;nen rollten ihm &uuml;ber die Wangen. Der Fuchs
+verschwand im Torweg; nur der Hund blieb noch unschl&uuml;ssig
+stehen, kniff den Schwanz, sah fragend zu uns hinauf
+und trottete dann erst nach &mdash; langsam, ganz langsam.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_431" id="Page_431"></a></p>
+<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>F&uuml;nfzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>M&auml;rzsturm im Harz. Er sch&uuml;ttelte auf den H&ouml;hen
+die schweren Schneemassen von den B&auml;umen
+und peitschte durch die T&auml;ler feuchtkalten,
+rieselnden Regen. Hochauf geschwellt wie ein Gie&szlig;bach
+rauschte die sonst so bescheiden fl&uuml;sternde Radau durch
+das St&auml;dtchen. Unter den kahlen, schwarzbraunen Eichen
+stand in grauschillernden Lachen das Wasser; es hing in
+hellen Tropfen in den Spinngeweben zwischen den
+Balken des Musikpavillons und im d&uuml;rren Weinlaubgerank
+um die muffig riechenden Wandelhallen. Mit
+geschlossenen Fensterl&auml;den schliefen H&auml;user und Gasth&ouml;fe
+noch den Winterschlaf, und auf den Wegen in die W&auml;lder
+hatten Regen und Schnee all die vielen Fu&szlig;spuren des
+vergangenen Sommers verwischt.</p>
+
+<p>Jeden Morgen, wenn die blecherne Uhr von Juliushall &mdash; das
+einzig Lebendige zu dieser Stunde &mdash; sieben
+schlug, trat aus dem kleinen H&auml;uschen gegen&uuml;ber ein
+Mann heraus: mit zwei m&uuml;den, blauen Augen unter
+finster gefalteter Stirn sah er k&uuml;hl und gleichg&uuml;ltig zum
+ewig grauen Himmel auf; die vollen Lippen, die ein
+dichter blonder Bart beschattete, pre&szlig;ten sich fest aufeinander,
+und die eine Faust auf dem R&uuml;cken, die andere
+um den Kr&uuml;ckstock gespannt, ging er rasch die Chaussee
+<a name="Page_432" id="Page_432"></a>hinauf. Er lief immer mehr, je weiter er kam; tauchte
+irgendwo ein Mensch auf, so bog er seitw&auml;rts in die
+W&auml;lder. Zuweilen folgte ihm vorsichtig sp&auml;hend ein
+junges blasses M&auml;dchen, dem die schwarzen Locken im
+Wind wild um die Stirne tanzten. Aber sie kam nicht
+weit, &mdash; sie h&auml;tte schlie&szlig;lich laufen m&uuml;ssen, um ihn im
+Auge zu behalten, und das Herz klopfte ihr zu stark.
+So ging sie denn aufseufzend, mit einem sorgenvollen
+Zug um den Mund, die schmale Treppe wieder hinauf,
+in die Puppenwohnung mit den verschossenen Puppenm&ouml;beln,
+den bunten &Ouml;ldrucken an der gro&szlig;blumigen
+Tapete, dem unbehaglich d&uuml;rftigen Pensionsfr&uuml;hst&uuml;ck auf
+dem runden Tisch. Sie schluckte den d&uuml;nnen Kaffee,
+a&szlig; widerwillig ein winziges Br&ouml;tchen und sprang mit
+nerv&ouml;ser Hast auf, als nebenan Stimmen laut wurden.
+&raquo;Schwester!&laquo; rief die eine halb verschlafen &mdash; &raquo;Alix!&laquo;
+klang eine andere, scharfe, spitze durch die zweite T&uuml;r.
+Vor dem kleinen M&auml;dchen knieend, das sich die goldenen
+L&ouml;ckchen wohlgef&auml;llig &uuml;ber die rosigen Fingerchen wickelte,
+zog sie ihm Str&uuml;mpfe und Schuhe an, um gleich darnach
+zur Mutter zu gehen, die vor dem Spiegel der geschickten
+H&auml;nde ihrer &Auml;ltesten wartete.</p>
+
+<p>&raquo;Papa war heute wieder sehr b&ouml;se &uuml;ber den schlechten
+Kaffee,&laquo; sagte sie, w&auml;hrend sie mit dem Kamm durch
+die noch immer vollen blonden Haare ihrer Mutter fuhr,
+&raquo;und der Ofen will auch nicht brennen, &mdash; wir sollten
+doch lieber umziehen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du wei&szlig;t, da&szlig; alle anderen Pensionen erheblich teurer
+sind,&laquo; antwortete die Mutter gereizt, &raquo;Hans mu&szlig; sich eben
+an Einschr&auml;nkung gew&ouml;hnen.&laquo;</p>
+
+<p>Kam der Vater gegen Mittag zur&uuml;ck, mi&szlig;mutig und
+<a name="Page_433" id="Page_433"></a>m&uuml;de, so sa&szlig; seine &Auml;lteste schon seit ein paar Stunden
+neben dem Schwesterchen und spielte Lehrerin. Des
+Nachmittags gingen sie zu viert spazieren; aber angesichts
+der gramvollen Verschlossenheit des Vaters, der unnahbaren
+K&uuml;hle der Mutter und einer Natur, die von
+der wei&szlig;gl&auml;nzenden Winterpracht und der gr&uuml;nschimmernden
+Fr&uuml;hlingshoffnung gleich weit entfernt war,
+verstummte selbst Klein-Ilschens Lachen und leichtsinniges
+Geplauder. Im stillen atmete jeder auf, wenn der
+Familienausflug ein Ende nahm, und doch versicherte
+einer dem anderen, da&szlig; er &raquo;herrlich&laquo; gewesen w&auml;re.</p>
+
+<p>Gro&szlig;e Schmerzen bed&uuml;rfen der Einsamkeit. Schw&uuml;l
+und schwer lasten sie wie Gewitterluft, wenn sie sich
+nicht entladen k&ouml;nnen; und die Qualen des anderen mit
+ansehen, hei&szlig;t die eigenen verdoppeln. Aber Tradition
+und Sitte predigen in verlogener Sentimentalit&auml;t, da&szlig;
+sie gemeinsam getragen werden m&uuml;ssen; und ihnen beugten
+sich die drei Menschen, so sehr sie auch auseinander
+verlangten.</p>
+
+<p>Wenn alle schliefen, brannte bei der Schwarzen,
+Blassen noch lange die Lampe. Aus den Schulb&uuml;chern
+der Schwester bereitete sie sich auf das Pensum des
+n&auml;chsten Tages vor, &mdash; sie hatte ja nie gelernt, zu lehren,
+und m&uuml;hsam wars, das Notwendige nachzuholen. Dabei
+war auch noch stets der Arbeitskorb voll, geflickt mu&szlig;te
+werden und gen&auml;ht, &mdash; niemand durfte merken, da&szlig; die
+Verh&auml;ltnisse der Familie ihrem Rang nicht mehr entsprachen.
+Sehns&uuml;chtig schweiften die dunkeln Augen der
+Arbeitenden oft genug zu den B&uuml;chern, die erwartungsvoll
+mit blanken Goldlettern auf dem R&uuml;cken von dem
+kleinen Regal zu ihr her&uuml;bersahen. Stahlen sich dann
+<a name="Page_434" id="Page_434"></a>aber gar Tr&auml;nen zwischen den Wimpern hervor, so zog
+sie einen zerknitterten Brief aus der Tasche, mit feinen
+Schriftz&uuml;gen dicht bedeckt, und las ihn, den sie schon fast
+auswendig wu&szlig;te, wieder und wieder. Er lautete:</p>
+
+<p style="text-align: right">
+Pirgallen, 10. M&auml;rz 1890
+</p>
+
+<p>&raquo;Mein geliebtes Enkelkind!</p>
+
+<p>Deine Mutter schreibt mir, mit welch ruhigem Ernst
+Du Dich in die neue Lage gefunden hast, und wie treulich
+Du all die Pflichten, die sie Dir auferlegt, erf&uuml;llst, so
+da&szlig; ich Dich nun ganz besonders meiner z&auml;rtlichen Liebe
+und freudigen Anerkennung versichern m&ouml;chte. Ich habe
+oft gef&uuml;rchtet, die kleinen Teufel der Eitelkeit m&ouml;chten
+von meiner Alix reinem Herzen schlie&szlig;lich Besitz ergreifen;
+vielleicht hat die F&uuml;hrung Gottes, die uns
+kurzsichtigen Menschen oft grausam erscheint, auch f&uuml;r
+Dich den rechten Weg gefunden, auf dem Dein besseres
+Selbst sich voll entfalten kann. Ich habe, wie Du wei&szlig;t,
+von Anfang an den Abschied Deines Vaters nicht so
+tragisch genommen als alle anderen, als vor allem er
+selbst. Je &auml;lter wir werden, desto gleichg&uuml;ltiger erscheinen
+uns solch &auml;u&szlig;erliche Begebenheiten. Da&szlig; es
+freilich eine harte Schule gerade f&uuml;r Hans ist, der an
+seiner empfindlichsten Stelle, &mdash; seinem Selbstbewu&szlig;tsein,
+seinem Ehrgeiz, &mdash; getroffen wurde, wei&szlig; ich nur zu
+wohl. Aber er ist stark und gut genug, um sie schlie&szlig;lich
+bestehen zu k&ouml;nnen, wenn Ihr alle, Du besonders, mein
+Kind, an der er mit all seiner Z&auml;rtlichkeit h&auml;ngt, ihm
+in geduldiger Liebe beizustehen nie unterlassen werdet
+und er f&uuml;r seine ungebrochene Kraft eine T&auml;tigkeit
+findet, die ihr entspricht.</p>
+
+<p><a name="Page_435" id="Page_435"></a>Aber noch eine andere, und f&uuml;r Dich vielleicht schwerer
+zu erf&uuml;llende Aufgabe mu&szlig; ich Dir, meine Alix, &uuml;bertragen.
+Ich hoffe, Du wirst daran den Grad meines
+Vertrauens zu Dir ermessen k&ouml;nnen und es nicht als
+Grausamkeit empfinden, wenn ich gerade Deinen jungen
+Schultern diese Last auferlege. Ich bin 78 Jahre alt
+und kann jeden Tag abberufen werden. Es ist mir
+m&ouml;glich gewesen, meine einzige Tochter, Deine Mutter,
+durch regelm&auml;&szlig;ige pekuni&auml;re Zuwendungen, durch Geschenke,
+Badereisen und dergleichen, vor qu&auml;lenden Sorgen
+zu bewahren. Nichts konnte mich mehr freuen, als da&szlig;
+ich dazu imstande war, denn seine Lieben mit dem zu
+unterst&uuml;tzen, was man entbehren kann, ist niemals ein
+Opfer. Deine Mutter hat es um so selbstverst&auml;ndlicher
+angenommen, als sie stets zu dem Glauben berechtigt
+war, da&szlig; ihr k&uuml;nftiges Erbteil noch unangetastet in
+meinem Besitz sich befinde. Um den Frieden ihrer Ehe
+nicht zu st&ouml;ren, habe ich ihr die Wahrheit verschwiegen.
+Sterbe ich, so wird sie erfahren, da&szlig; Hans auf Grund
+dieser Erbschaft von meinem Sohn Walter im Laufe
+der Jahre Darlehen empfing, die sie sogar um ein betr&auml;chtliches
+&uuml;bersteigen. Das wird f&uuml;r Deine Mutter
+nicht nur eine gro&szlig;e Entt&auml;uschung sein, es wird auch
+Einschr&auml;nkungen aller Art nach sich ziehen, und auch an
+bitteren Empfindungen zwischen Deinen Eltern wird es
+nicht fehlen. Dir, meine Alix, teile ich das schon
+heute mit, damit Du bereits jetzt Deinen Einflu&szlig; dahin
+geltend machst, da&szlig; Euer neues Leben sich m&ouml;glichst
+einfach gestalte, und Du fortf&auml;hrst, ein flei&szlig;iges Hausm&uuml;tterchen
+zu sein. Deine Eltern glauben Deiner Jugend,
+Deiner Zukunft, einer m&ouml;glichen Heirat alle R&uuml;cksicht
+<a name="Page_436" id="Page_436"></a>schuldig zu sein, sie werden sich gewi&szlig; einen Aufenthaltsort
+aussuchen, wo Du die gewohnte Geselligkeit finden
+und eine gesellschaftliche Rolle spielen kannst. Ich denke
+zu hoch von meiner Enkelin, als da&szlig; ich nicht w&uuml;&szlig;te,
+da&szlig; Du h&ouml;here Werte zu sch&auml;tzen und h&ouml;heren Zielen
+zu folgen wei&szlig;t. Eine Ehe ist nur selten ein Gl&uuml;ck,
+am wenigsten eine solche, die im Ballsaal geschlossen
+wird, und Dich hat Gott mit so vielen guten Gaben
+bedacht, da&szlig; Du auch au&szlig;erhalb der nat&uuml;rlichen weiblichen
+Lebenssph&auml;re einen Dich und Andere befriedigenden
+Lebensinhalt finden wirst. Suche Dir diesen Inhalt,
+nicht nur um Deiner selbst willen, sondern auch, um
+Deinen Eltern die Sorge um Dich von der Seele zu
+nehmen. Dein Vater freilich, immer ein Optimist in
+diesen Dingen, rechnet f&uuml;r seine T&ouml;chter mit den Millionen
+der augsburger Tante. Deine alte Gro&szlig;mutter, mein
+Kind, die stets in dem Rufe stand, schwarz zu sehen, wei&szlig;
+aber aus Erfahrung, da&szlig; es mehr als t&ouml;richt ist, auf den
+wankelm&uuml;tigen Sinn reicher Frauen Zukunftsburgen zu
+bauen. Klotilde ist ebenso egoistisch wie launisch, und
+ihrer Eitelkeit zu schmeicheln hast Du, Gott Lob!, noch nicht
+verstanden. Darum ist der Rat, der letzte vielleicht, den
+ich Dir geben kann, der: stelle Dich auf Deine eigenen
+F&uuml;&szlig;e. &Uuml;ber das &raquo;Wie&laquo; zu entscheiden, wird freilich
+Deine Sache sein. Nur an ein paar Beispiele m&ouml;chte
+ich Dich erinnern: an Frau v.&nbsp;W., die ein sch&ouml;nes,
+gefeiertes M&auml;dchen, eine verw&ouml;hnte Frau gewesen ist.
+Ihr Mann verjubelte, was sie besa&szlig;, und mu&szlig;te, als
+unheilbar Gel&auml;hmter, den Abschied nehmen, so da&szlig; ihr
+allein die Erhaltung der ganzen Familie zufiel. Sie
+setzte sich an den Schreibtisch, schrieb Romane und er<a name="Page_437" id="Page_437"></a>warb,
+was n&ouml;tig war, um zu leben und ihre Kinder
+zu erziehen. Oder denke an die kleine Gr&auml;fin B., deren
+Eltern starben, als ihre f&uuml;nf Geschwister noch unm&uuml;ndige
+Kinder waren. Mit den K&uuml;nsten, durch die sie bisher
+nur die Verwandten erfreut hatte, erhielt sie von da an
+die Ihren. Ihre gemalten Teller, ihre gebrannten
+Wappen und gepunzten Ledereinb&auml;nde findest Du jetzt
+in den Auslagen gro&szlig;er Berliner Gesch&auml;fte.</p>
+
+<p>Und nun lebwohl, mein Herzensenkelkind; ich f&uuml;hle,
+da&szlig; Du mich recht verstehst, und wei&szlig; zuversichtlich, da&szlig;
+ich im Vertrauen auf Dich ruhig meine Augen werde
+schlie&szlig;en k&ouml;nnen. Ich dr&uuml;cke Dich an mein Herz, als</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 12em;">Deine treue, sehr alte</span><br />
+<span style="margin-left: 21em;">Gro&szlig;mama.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Viele schlaflose N&auml;chte hatte mich dieser Brief gekostet,
+und noch war keine Stunde am Tage vergangen,
+die mich nicht an ihn erinnert h&auml;tte. Im ersten &Uuml;berschwang
+des Gef&uuml;hls hatte ich Gro&szlig;mama alles versprochen,
+was sie von mir erwartete, und freudigen
+Herzens hatte ich mich in meine Aufgabe gest&uuml;rzt. Aber
+der Eifer erlahmte bald, und es blieb nichts &uuml;brig als
+n&uuml;chterne, eiskalte Pflichterf&uuml;llung. Ich mu&szlig;te Gro&szlig;mamas
+W&uuml;nschen folgen, weil die Verh&auml;ltnisse mir unweigerlich
+ihre Erf&uuml;llung aufzwangen, und ich konnte
+es, soweit die h&auml;uslichen Pflichten in Betracht kamen.
+Aber wie sollte ich es fertig bringen, mich &raquo;auf eigene
+F&uuml;&szlig;e zu stellen&laquo;?! Nach Selbst&auml;ndigkeit hatte ich mich
+gesehnt mein Leben lang, &mdash; nach Selbst&auml;ndigkeit und
+nach Freiheit &mdash;, aber das wars ja gar nicht, was
+Gro&szlig;mama unter ihren eigenen Worten verstand, und
+<a name="Page_438" id="Page_438"></a>was ich zu erreichen gen&ouml;tigt werden w&uuml;rde. Nicht
+meiner &Uuml;berzeugung leben, mein geistiges Ich befreien
+sollte ich, sondern im Dienst der Familie meine Begabungen
+in blanke M&uuml;nze umsetzen.</p>
+
+<p>Aus bunten Lappen, Blumen und Bildern hatte ich
+mir einst im Zimmerwinkel einen heimlichen Tempel erbaut,
+der wertlos f&uuml;r mich wurde und entweiht durch den
+ersten fremden Blick, der hineinfiel, &mdash; und nun sollte
+ich meine Gedanken, den ganzen Inhalt meines Seelenheiligtums
+preisgeben, sollte f&uuml;r den Verkauf denken
+und tr&auml;umen, wie man Spitzen kl&ouml;ppelt, um sie nach
+dem Meter an den Mann zu bringen?! Ich hatte gehofft,
+mit jenem kleinen schwarzen B&uuml;chlein einmal
+&ouml;ffentlich wider die L&uuml;ge zu k&auml;mpfen, &mdash; aber nur um
+des Kampfes willen! In den Schmutz ziehen hie&szlig; es
+die ganze gro&szlig;e Sache, wenn auch nur ein Gedanke
+an &raquo;Verdienen&laquo; sich mit ihr verband. Nein &mdash; tief in
+den Koffer und noch tiefer in den Hintergrund meines
+Herzens mu&szlig;te ich das schwarze B&uuml;chlein bannen, solange
+ich an &raquo;Verdienen&laquo; denken mu&szlig;te. Ob ich wohl auch,
+wie Frau v.&nbsp;W., Romane schreiben k&ouml;nnte? &mdash; Eine
+tiefe Ehrfurcht vor dem Schaffen der Dichter erf&uuml;llte mich
+von je her. Als h&ouml;here Wesen erschienen sie mir, Gott
+&auml;hnlich, da sie Menschen schufen, wie er. Sie wurden
+geboren durch ein h&ouml;heres Naturgesetz und nur durch
+ein solches zum Schaffen gezwungen. Ein Frevler am
+Heiligtum, wer sich zu ihnen erhob, um mit Phantasien
+und Versen zu schachern, &mdash; lieber Hemden n&auml;hen, oder
+Str&uuml;mpfe stricken!</p>
+
+<p>Fl&uuml;chtig fiel mir meine Geschicklichkeit ein, Kleider
+zu machen und H&uuml;te zu garnieren, &mdash; doch: ein Fr&auml;u<a name="Page_439" id="Page_439"></a>lein
+von Kleve eine Schneiderin, eine Putzmacherin &mdash; unm&ouml;glich!
+Aber wie viel Tischkarten hatte ich nicht
+schon gemalt, wie viel St&uuml;hle und Tische und Kasten
+und Rahmen gebrannt, &mdash; hier war vielleicht ein Weg,
+der sich betreten lie&szlig;. Von nun an benutzte ich jede
+freie Stunde, um mit dem Pinsel oder dem Brennstift
+Seide und Sammet, Papier, Holz und Leder zu bearbeiten.</p>
+
+<p>&raquo;Komisch,&laquo; meinte Papa eines Abends, &raquo;da&szlig; du pl&ouml;tzlich
+mit solchem Eifer Dilettantenk&uuml;nste treibst. Es ist
+doch noch lange Zeit bis Weihnachten.&laquo; &mdash; &raquo;An Alix'
+Geistesspr&uuml;nge solltest du eigentlich schon gewohnt sein,&laquo;
+spottete Mama. Hei&szlig; stieg mir das Blut in die Schl&auml;fen;
+eine heftige Antwort schwebte mir schon auf der Zunge,
+als ein f&uuml;r Hamburgs Stille ungewohnter L&auml;rm auf
+der Stra&szlig;e uns alle ans Fenster trieb.</p>
+
+<p>&raquo;Extrablatt &mdash; Extrablatt!&laquo; Mein Schwesterchen
+st&uuml;rmte die Treppe hinab, &mdash; endlich ein Ereignis in
+diesem einf&ouml;rmigen Leben! &mdash;, und mein Vater ihr nach,
+der immer irgend etwas Ungeheures erwartete und sich
+seit seinem Abschied mehr denn je in Prophezeiungen
+gefiel.</p>
+
+<p>&raquo;Bismarck ist entlassen &mdash;&laquo; atemlos rief er es uns
+von der Stra&szlig;e herauf zu und stieg mit jugendlicher
+Elastizit&auml;t die hohen Stufen wieder hinauf. Hochrot
+war er im Gesicht, die Schwei&szlig;tropfen standen ihm auf
+der Stirn, und ein triumphierendes Leuchten war in seinen
+Augen. Erstaunt sah ich zu ihm auf.</p>
+
+<p>&raquo;Er auch!&laquo; sagte er wie zu sich selbst und l&auml;chelte.
+Nun verstand ich ihn: ein Gr&ouml;&szlig;erer war gefallen, von
+demselben Sch&uuml;tzen getroffen, &mdash; nicht mehr als der Gedem&uuml;tigte
+stand er da, sondern als der Gef&auml;hrte dessen,
+<a name="Page_440" id="Page_440"></a>der das Reich gegr&uuml;ndet hatte und von des Reiches
+drittem Kaiser aus dem Wege ger&auml;umt worden war.
+Von dem Tage an lebte er auf, wurde gespr&auml;chig wie
+fr&uuml;her, verfolgte mit steigendem Interesse die politischen
+Ereignisse, und seine oppositionelle Stellung zum &raquo;neuen
+Kurs&laquo; wurde eine immer schroffere.</p>
+
+<p>&raquo;Wir werden nach Berlin &uuml;bersiedeln,&laquo; sagte er mit
+einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschlo&szlig;.
+&raquo;Dort er&ouml;ffnen sich mir alle M&ouml;glichkeiten zu literarischer
+und politischer T&auml;tigkeit.&laquo; Er begann f&uuml;r die konservative
+Presse sch&auml;rfster Observanz zu schreiben, die
+damals der &Auml;ra Caprivi all ihren Widerstand entgegensetzte.</p>
+
+<p>Die Aussicht auf Berlin elektrisierte selbst die
+Mutter: auf Theater, Konzerte, Ausstellungen freute sie
+sich wie ein Kind. Ein unterdr&uuml;ckter, ungestillter Hunger
+schien pl&ouml;tzlich bei ihr zum Ausbruch zu kommen. Auch
+ich war mit der Wahl von Berlin zufrieden; dort w&uuml;rde
+es mir leichter werden als anderswo, meine Arbeiten
+anzubringen, und die tr&uuml;be Nebelstimmung meines
+von der Pflicht und dem Erwerb ausgef&uuml;llten Daseins
+w&uuml;rde doch vielleicht hier und da von einem Sonnenstrahl
+aus der Welt geistigen Lebens &mdash; der f&uuml;r mich
+unerreichbar fernen! &mdash; durchbrochen werden. Da&szlig;
+meine Freude eine so ged&auml;mpfte war, begriffen die Eltern
+nicht. Mein Vater bem&uuml;hte sich immer wieder, der
+Ursache nachzusp&uuml;ren.</p>
+
+<p>&raquo;Du wirst mit Mama die Hofb&auml;lle besuchen &mdash; auch
+wenn ich nicht mittun kann,&laquo; sagte er eines Tages mit
+g&uuml;tigem L&auml;cheln. &raquo;Nein, Papachen!&laquo; antwortete ich,
+ihm dankbar die Wange k&uuml;ssend. &raquo;Ich bin lange genug
+<a name="Page_441" id="Page_441"></a>ausgegangen &mdash; ich mache mir nicht das mindeste
+daraus.&laquo;</p>
+
+<p>Er sch&uuml;ttelte bek&uuml;mmert den Kopf, &mdash; nun war er
+vollends ratlos. Wie gut, dachte ich, da&szlig; seine J&uuml;ngste,
+Tischen mit dem Goldhaar, die allzeit Fr&ouml;hliche, ihm
+immer wieder die Sorgenfalten von der Stirne lachte
+und schmeichelte. Oft schickte ich sie hinein, wenn ich
+ihn in tr&uuml;ben Gedanken wu&szlig;te. Sie verstand es, wie
+Sonnenschein, alle Regentropfen glitzern zu machen. Und
+jeden Abend trieb sie die b&ouml;sen Geister, die sich am Tage
+heimlich eingeschlichen hatten, mit ihren Wirbelt&auml;nzen
+zu T&uuml;ren und Fenstern hinaus. Sie hatte Musik in
+den Gliedern; jede Melodie wurde ihr zur rhythmischen
+Bewegung. Unerm&uuml;dlich pfiff der Vater, und auf und
+nieder, hin und her flog sie, ein <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'flattender'">flatternder</ins> Irrwisch &mdash; mit
+Feuerfunken in den Augen und gl&uuml;henden Rosen
+auf den Wangen. Ganz ver&auml;ngstigt flackerte die kleine
+Petroleumlampe, &mdash; aufgest&ouml;rt aus ihrer w&uuml;rdevollen
+Ruhe, mit der sie sonst nur flei&szlig;ige H&auml;nde und stille
+Menschen zu bescheinen gewohnt war. Ich sa&szlig; indessen
+am Tisch und beugte den Kopf immer tiefer auf die
+Arbeit; oft schlich ich still hinaus, &mdash; ich wu&szlig;te nur zu
+gut, da&szlig; mich niemand vermissen w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Ich wurde bla&szlig; und schmal, und blaue Ringe umschatteten
+meine Augen.</p>
+
+<p>Da kam eines Tages ein Telegramm aus Pirgallen:
+&raquo;Mama im Sterben. Walter&laquo;. Mir l&auml;hmte der Schreck
+die Glieder; stumpfsinnig sah ich zu, wie meine Mutter
+in Tr&auml;nen ausbrach. Ich kannte den Tod ja nur vom
+H&ouml;rensagen; noch war mir niemand von denen gestorben,
+die mir die liebsten waren. Erst als ich sah,
+<a name="Page_442" id="Page_442"></a>wie meine Mutter hastig den Koffer packte, kam ich
+zu mir.</p>
+
+<p>&raquo;Ich komme mit&laquo;, sagte ich rasch und ri&szlig; ein paar
+Sachen aus dem Schrank und aus der Kommode. &raquo;Du?!&laquo;
+Mama sah erstaunt von ihrer Arbeit auf. &raquo;Davon
+kann selbstverst&auml;ndlich keine Rede sein. Entweder wir
+reisen alle &mdash; und das ist zu kostspielig &mdash;, oder du mu&szlig;t
+bei Haus und Ilse bleiben. Die Kleine kann nicht
+allein sein.&laquo; Ich zitterte vor Aufregung: Pl&ouml;tzlich
+ward mir klar, da&szlig; der einzige Mensch, der mich verstand,
+der mich liebte &mdash; mich selbst, so wie ich wirklich
+war &mdash;, mit dem Tode rang; da&szlig; ich ihn verlieren
+sollte, ohne da&szlig; ich ihn je ganz besa&szlig;, ohne in das
+kostbare offene Gef&auml;&szlig; seines gro&szlig;en Herzens all mein
+Leid, all meine Zweifel ausgegossen zu haben und
+Kraft und Klarheit und Verst&auml;ndnis von ihm zu empfangen.</p>
+
+<p>&raquo;Ilse ist gro&szlig; genug &mdash; und Papa sorgt f&uuml;r sie &mdash; besser
+als ich. Ich bitte dich &mdash; la&szlig; mich mit! &mdash;&laquo; rief
+ich verzweifelt.</p>
+
+<p>&raquo;Du wei&szlig;t, da&szlig; es unm&ouml;glich ist &mdash;&laquo; Mamas Stimme
+wurde scharf, &raquo;oder hast du vielleicht das Geld f&uuml;r die
+Reise?&laquo;</p>
+
+<p>Tr&auml;nen des Zorns, der Emp&ouml;rung, der Scham st&uuml;rzten
+mir aus den Augen: Gro&szlig;mama starb, &mdash; und von Geld
+konnte gesprochen werden! &mdash;</p>
+
+<p>Meine Mutter fuhr allein, aber auch sie kam zu sp&auml;t:
+in der Nacht vor ihrer Ankunft hatte die Greisin ausgeatmet.</p>
+
+<p>Jetzt erst dachte ich all dessen, was bevorstand, und
+der Schmerz wich mehr und mehr der Angst. Ich be<a name="Page_443" id="Page_443"></a>obachtete
+Papa: er vermochte seiner Aufregung kaum
+Herr zu werden. Wenige Tage nach der Beerdigung
+kam ein Brief von Mama. Er &ouml;ffnete ihn nicht, sondern
+ging damit aus dem Zimmer und schlo&szlig; sich in seiner
+Schlafstube ein. Ich horchte an der d&uuml;nnen Wand:
+ein Stuhl fiel zu Boden &mdash; ein unterdr&uuml;cktes St&ouml;hnen &mdash; ein
+bitter-grelles Auflachen klang an mein Ohr.
+Mein ganzes Herz trieb mich zu ihm, aber ich hatte den
+Mut nicht, meinem Gef&uuml;hl zu folgen. Als Papa nach
+ein paar Stunden zu Tisch erschien, sah er so m&uuml;de, so
+zerfallen und verzweifelt aus wie damals, als ihm der
+Abschied ins Haus geschickt worden war.</p>
+
+<p>Eine Woche sp&auml;ter kehrte Mama zur&uuml;ck. Ihre Schl&auml;fen
+waren grau geworden, und noch fester als sonst pre&szlig;ten
+sich die schmalen Lippen aufeinander. Mit einem k&uuml;hlen
+Blick streifte sie den Vater und mich, reichte uns fl&uuml;chtig
+die Hand und hatte nur f&uuml;r Ilschen einen z&auml;rtlichen
+Ku&szlig;. Zu Hause &uuml;bergab sie mir ein gro&szlig;es Packet.
+&raquo;Ihren schriftlichen Nachla&szlig; hat Mamachen dir hinterlassen,&laquo;
+sagte sie, &raquo;du kannst damit machen, was du
+willst.&laquo; Mir traten die Tr&auml;nen in die Augen. Die
+liebe, gute Gro&szlig;mama! Nun w&uuml;rde sie doch f&uuml;r mich
+eine Lebendige bleiben! So rasch wie m&ouml;glich zog ich
+mich mit meinem Schatz in mein Zimmer zur&uuml;ck. Aber
+ich hatte kaum die Siegel gel&ouml;st, die vielen B&auml;nder ge&ouml;ffnet,
+als ein heftiger Wortwechsel zu mir her&uuml;bert&ouml;nte.
+&raquo;Hinter meinem R&uuml;cken hast du mein Erbteil verbraucht,&laquo;
+sagte Mama, &raquo;und da&szlig; auch meine Mutter
+mir verschwieg, was mich doch wohl am n&auml;chsten anging, &mdash; das
+verbittert mir noch die Erinnerung an die
+Tote ...&laquo;</p>
+<p><a name="Page_444" id="Page_444"></a></p>
+<p>&raquo;Habe ichs etwa f&uuml;r mich gebraucht?!&laquo; brauste Papa
+auf, &raquo;oder nicht vielmehr f&uuml;r dich, deinen Haushalt,
+deine Toiletten, und f&uuml;r die Kinder &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und f&uuml;r deine Pferde, und die &uuml;berfl&uuml;ssigen Geschenke,
+und dein ganzes gro&szlig;spuriges Auftreten!&laquo; setzte
+sie heftig hinzu. &raquo;Warum hast du mich behandelt wie
+ein unm&uuml;ndiges Kind, und mir nicht gesagt, da&szlig; wir
+von deinem Gehalt nicht auskommen?! Ich h&auml;tte mich,
+wei&szlig; Gott, auch an gr&ouml;&szlig;ere Einschr&auml;nkung gew&ouml;hnt &mdash; wie
+an so vieles andere!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich dich schonen, dir ein angenehmes Leben
+schaffen wollte! &mdash; Aber beruhige dich, liebe Ilse &mdash; beruhige
+dich. Ich hatte zwar gerade gehofft, da&szlig; wir
+nun endlich ein gemeinsames, ein menschliches Leben
+miteinander f&uuml;hren w&uuml;rden, &mdash; aber du erinnerst mich
+beizeiten daran, da&szlig; ich auch jetzt nichts weiter bin,
+als dein Portemonnaie....&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit solchen Phrasen verschone mich bitte, &mdash; sie
+t&auml;uschen mich &uuml;ber die Tatsache nicht hinweg, da&szlig; es
+doch nur mein Geldbeutel war, den du &mdash; angeblich in
+meinem Interesse! &mdash; geleert hast.&laquo;</p>
+
+<p>Ich erwartete zitternd eine w&uuml;tende Antwort, &mdash; statt
+dessen h&ouml;rte ich, wie des Vaters Stimme umschlug und
+weich und flehend wurde.</p>
+
+<p>&raquo;Ilschen &mdash; sei doch nicht so grausam &mdash; siehst du
+denn nicht, wie mich die Selbstvorw&uuml;rfe schon gemartert
+haben? &mdash; Im Grunde hast du ja recht &mdash; ganz recht &mdash; aber
+es war doch nur meine gro&szlig;e Liebe zu dir &mdash; die
+stete Angst, die deine zu verlieren, die mich dir all
+das verschweigen lie&szlig;, die immer wieder &mdash; in jeder
+Form &mdash; um deine Gunst werben mu&szlig;te, &mdash; ich w&uuml;rde
+<a name="Page_445" id="Page_445"></a>auch Millionen f&uuml;r dich ausgegeben haben, wenn ich sie
+gehabt h&auml;tte...&laquo;</p>
+
+<p>Das konnt ich nicht mehr mit anh&ouml;ren, &mdash; wie gejagt
+lief ich in den Garten hinunter.</p>
+
+<p>Und b&ouml;se war die Zeit, die folgte: der Vater in der
+gedr&uuml;cktesten Stimmung, jeder Blick, den er auf seine
+Frau warf, ein Betteln um Liebe, w&auml;hrend sie kaum
+die notwendigsten Worte mit ihm wechselte und mit
+peinigender Betonung bei jeder Gelegenheit Sparsamkeit
+predigte, &mdash; das Schwesterchen dazwischen, das sich um
+so leidenschaftlicher an mich anklammerte, je unheimlicher
+es ihm bei den Eltern zumute wurde, &mdash; und schlie&szlig;lich
+ich selbst, m&uuml;de und herzenswund, und dabei krampfhaft
+bem&uuml;ht, der Kleinen Lehrerin und Spielkamerad
+zugleich zu sein und dem Vater Frohsinn vorzut&auml;uschen,
+um ihn zu erheitern.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en gl&uuml;hte und gl&auml;nzte der Sommer. Ein einziger
+gr&uuml;ner Dom war der Wald, die grauen St&auml;mme
+der Buchen seine gewaltigen S&auml;ulen, der Duft der
+Tannen sein w&uuml;rziger Weihrauch. Und doch floh ich
+vergebens hinaus, um hier zu finden, was ich einst im
+Hochgebirge gefunden hatte: Kraft und Weihe. Menschenmassen
+&uuml;berfluteten jetzt Berge und T&auml;ler; ihre niedrigen
+Eitelkeiten, ihre verstaubten Interessen trieben den
+Frieden und die Andacht aus den W&auml;ldern. Und die
+Natur hatte sich ihnen allm&auml;hlich angepa&szlig;t: mit ihren
+geebneten Parkwegen, ihren umz&auml;unten Rasenfl&auml;chen
+und gepflegten Blumenbeeten war sie nichts, als ein
+Salon im Freien.</p>
+
+<p>Alte Freunde aus M&uuml;nster, die zur Reitschule nach
+Hannover kommandiert worden waren, besuchten uns
+<a name="Page_446" id="Page_446"></a>um diese Zeit, und ihr Entsetzen &uuml;ber mein Aussehen
+machte meine Eltern erst darauf aufmerksam.</p>
+
+<p>&raquo;Was fehlt dir blo&szlig;?&laquo; rief mein Vater besorgt.</p>
+
+<p>&raquo;Ein bi&szlig;chen Leben, Exzellenz,&laquo; schnitt Rittmeister
+von Behr mir die Antwort ab. &raquo;B&auml;ume, Berge und
+Wasserf&auml;lle sind keine rechte Gesellschaft f&uuml;r Ihr Fr&auml;ulein
+Tochter. Geben Sie sie uns mit nach Hannover;
+hat sie mit uns erst ein paar Pullen Sekt geleert und
+ein paar G&auml;ule kaput geritten, dann wird das Blut
+ihr schon wieder in die Wangen schie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>Ich lehnte die Einladung ab: &raquo;Wir sind in tiefer
+Trauer, Herr von Behr, und mein schwarzes Kleid
+pa&szlig;t kaum in Ihre Gesellschaft.&laquo; Als wir allein waren,
+sagte meine Mutter mit einem kaum merklichen Z&ouml;gern:
+&raquo;Wenn das schwarze Kleid allein dich zur&uuml;ckh&auml;lt, so
+kannst du es ruhig mit einem wei&szlig;en vertauschen. Hier
+ist Mamachens letzter Brief an mich, worin sie den
+Wunsch ausspricht, da&szlig; ihre Enkel keine Trauer anlegen
+sollen.&laquo; &mdash; &raquo;Und das sagst du mir jetzt erst?!&laquo; entfuhr
+es mir, &mdash; hatte ich es doch die ganze Zeit &uuml;ber wie
+eine Beleidigung der Toten empfunden, die Trauer um
+sie den neugierig-mitleidigen Blicken aller Welt preiszugeben.
+Meine Mutter verstand mich falsch.</p>
+
+<p>&raquo;Ich h&auml;tte nicht geglaubt, da&szlig; du so wenig Herz hast,&laquo;
+meinte sie gekr&auml;nkt, &raquo;dann wirf nur den Krepp beiseite
+und geh deinem Vergn&uuml;gen nach.&laquo;</p>
+
+<p>In der n&auml;chsten Viertelstunde war ich bereits umgezogen,
+aber bei meiner Weigerung Herrn von Behrs
+Einladung gegen&uuml;ber blieb ich. Erst Papas Bitten,
+seinen Vorw&uuml;rfen und seinen sorgenvollen Blicken, die
+ich stets auf mir ruhen f&uuml;hlte, gab ich schlie&szlig;lich nach.</p>
+
+<p><a name="Page_447" id="Page_447"></a>Der schneidigste Kavallerist der Armee war zu jener
+Zeit Leiter der Reitschule, und der Kursus der Stabsoffiziere
+hatte gerade eine gro&szlig;e Zahl der besten Reiter
+nach Hannover gef&uuml;hrt. Kraft und K&uuml;hnheit, Lebenslust
+und Leichtsinn gaben sich ein Stelldichein; der Tretm&uuml;hle
+des Kasernenhofdienstes entronnen, von der Familie
+entfernt, die mehr als alles andere an die schmerzvolle
+W&uuml;rde des Alterns erinnerte, feierten all diese reifen
+M&auml;nner ein st&uuml;rmisches Wiedersehen mit der Jugend.
+Sie tranken und spielten die N&auml;chte durch und sa&szlig;en
+beim Morgengrauen wieder im Sattel; sie fanden sich
+strahlend und heiter, ihrer eigenen grauen Haare spottend,
+zur &uuml;ppigen Mittagstafel ein und tanzten abends ausdauernder
+als die j&uuml;ngsten Leutnants. Ich war das
+einzige junge M&auml;dchen in diesem Kreis, und der Verkehr
+inmitten dieser bunten Gesellschaft, die die Kavallerie
+ganz Deutschlands vertrat, war um so ungezwungener,
+als der Gedanke, der sich sonst st&ouml;rend und trennend
+zwischen die m&auml;nnliche und die weibliche Jugend schiebt, &mdash; &raquo;Kann
+er mich heiraten?&laquo; &mdash; &raquo;Ist sie eine Partie?&laquo; &mdash; hier
+nicht aufkam, wo jeder Mann &mdash; wenigstens
+solange er in unserer Gesellschaft war &mdash; den Trauring
+am Finger trug.</p>
+
+<p>Ah, wie gut tat es doch, wieder fr&ouml;hlich zu sein! Zu
+vergessen &mdash; im Lebensrausch der Stunde!</p>
+
+<p>Einmal war ein kleiner s&auml;chsischer Husar mein Tischnachbar &mdash; &raquo;Herr
+von Egidy&laquo;, hatte man ihn mir vorgestellt, &mdash; und
+ich hatte die gedrungene Gestalt mit dem
+runden Sch&auml;del kaum im Ged&auml;chtnis behalten. Jetzt
+fielen mir pl&ouml;tzlich ein paar gro&szlig;e blaue Augen auf, die
+mich mit einem so reinen Ausdruck anstrahlten, wie er
+<a name="Page_448" id="Page_448"></a>mir bei einem Manne selten begegnet war. Wir
+kamen in ein Gespr&auml;ch, das mich, je &uuml;berraschender sein
+Inhalt wurde, desto mehr fesselte. Dieser Husarenmajor
+hatte andere Gedanken hinter seiner breiten Stirn
+als die &uuml;ber Schwadronsexerzieren und Jagdreiten.
+Man hatte sich gerade &uuml;ber die j&uuml;ngsten Verordnungen
+des Kaisers gegen den Luxus unterhalten, und bei aller
+Wahrung der Form war doch der Ausdruck des Unmuts
+ein allgemeiner.</p>
+
+<p>&raquo;Mich haben die Worte Sr. Majest&auml;t geradezu begl&uuml;ckt,&laquo;
+sagte Egidy. &raquo;Wir nennen uns Christen, und
+verleugnen die Lehre Christi fast t&auml;glich.&laquo;</p>
+
+<p>Erstaunt sah ich auf. Noch nie hatte jemand zwischen
+Austern und Mocturtle-Suppe &uuml;ber die Lehre Christi
+mit mir gesprochen. War das ein schlechter Witz? Ich
+begegnete einem ernsten Blick, der meine Vermutung
+L&uuml;gen strafte.</p>
+
+<p>&raquo;Wir sollen doch Christen sein, nicht hei&szlig;en!&laquo; fuhr er
+fort &raquo;und der Heiland sa&szlig; mit den Z&ouml;llnern bei Tisch. &mdash; Verzeihen
+Sie, gn&auml;diges Fr&auml;ulein &mdash; ich verga&szlig; &mdash; das
+ist kaum ein Dinergespr&auml;ch mit einer jungen Dame &mdash; aber
+meine Gedanken kreisen immer mehr um denselben
+Punkt &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie deuten meine Verwunderung falsch, Herr von
+Egidy,&laquo; antwortete ich, &raquo;Sie warfen meine ganze gesellschaftliche
+Erfahrung &uuml;ber den Haufen, &mdash; und das verbl&uuml;ffte
+mich. Wir alle pflegen doch sonst unsere Gedanken,
+besonders wenn sie so ketzerischer Natur sind,
+f&uuml;r uns zu behalten. Ich wenigstens &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So haben Sie welche und verschweigen sie nur?!&laquo;
+Er l&auml;chelte &mdash; sein ganzes Gesicht leuchtete auf dabei,<a name="Page_449" id="Page_449"></a>
+&raquo;Meinen Sie denn nicht auch, da&szlig; nur einer &ouml;ffentlich
+auszusprechen braucht, was alle an &mdash; wie Sie sagen &mdash; ketzerischen
+Gedanken in sich tragen, um jedem die
+Zunge zu l&ouml;sen?! Wie ein gro&szlig;es befreiendes Aufatmen
+w&uuml;rde es durch die Menschheit gehen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick schlug einer ans Glas: &raquo;Das
+h&ouml;chste Gl&uuml;ck der Erde liegt auf dem R&uuml;cken der
+Pferde, und am Herzen des Weibes &mdash; &mdash;&laquo; Es gab
+ein allgemeines St&uuml;hler&uuml;cken &mdash; Ansto&szlig;en &mdash; Gel&auml;chter.
+Alles umringte mich und forderte von mir eine Antwort.
+Ohne viel &Uuml;berlegung brachte ich auf die
+lustigen Majore, die am Jungbrunnen von Hannover
+wieder zu Leutnants geworden w&auml;ren, einen Trinkspruch
+aus. Und wieder klangen die gef&uuml;llten Gl&auml;ser aneinander,
+und alle Rosen, die die Tafel geschm&uuml;ckt hatten, h&auml;uften
+sich vor mir. Aber ich l&auml;chelte nur mechanisch &uuml;ber die
+Huldigung. &raquo;Wie ein gro&szlig;es befreiendes Aufatmen
+wird es durch die Menschheit gehen, wenn nur einer
+auszusprechen wagt, was alle an ketzerischen Gedanken
+in sich tragen,&laquo; &mdash; das lie&szlig; mich nicht los. In meinem
+Koffer zu Haus lag ein schwarzes Buch, &mdash; war es
+wirklich meine h&ouml;here Pflicht, das Schwesterchen zu
+unterrichten, der Mutter die Haare zu k&auml;mmen und mit
+schlechter Dilettantenarbeit ein paar Taler zu verdienen &mdash; statt
+das erl&ouml;sende Wort in die Welt zu rufen?
+Denn felsenfest glaubte ich daran, da&szlig; es ein erl&ouml;sendes
+Wort sein w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Vormittag besuchte mich Egidy. Er hatte
+ein Manuskript bei sich, mit den klaren, gro&szlig;en Schriftz&uuml;gen
+des Soldaten bedeckt, wie ich sie bei meinem Vater
+gewohnt war. &raquo;Ernste Gedanken&laquo; nannte er es. Wir
+<a name="Page_450" id="Page_450"></a>waren ungest&ouml;rt, und er begann mir daraus vorzulesen, &mdash; eine
+Kritik der Kirchenlehren war es, ein Bekenntnis
+zu einem Christentum Christi ohne Dogmen, ohne Wunder,
+in einfachen lapidaren S&auml;tzen geschrieben, durchgl&uuml;ht
+von einem kindlich-naiven Glauben an die eigene Sache,
+an ihren sicheren Sieg, an die Menschheit. Mir war
+das alles vertraut, und ich konnte mich einer leisen
+Entt&auml;uschung, da&szlig; es nicht mehr war, nicht erwehren.
+Er schien meine Gedanken zu erraten.</p>
+
+<p>&raquo;Ihnen ist das nichts Neues,&laquo; sagte er, &raquo;das freut mich.
+Neu daran ist doch nur, da&szlig; es jemand ausspricht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber das haben schon viele vor Ihnen getan,&laquo; wandte
+ich ein, &raquo;Strau&szlig;, Renan, die Protestantenvereinler &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich kenne die Leute nicht,&laquo; antwortet er br&uuml;sk, &raquo;und
+das beweist, das sie nichts taugten, &mdash; sonst h&auml;tten ihre
+Schriften wirken<em class="spaced"> m&uuml;ssen</em> &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie denken an eine Ver&ouml;ffentlichung?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;An was sonst? Jedes Wort wendet sich doch an die
+Masse! Ich mu&szlig; handeln, weil kein anderer es getan
+hat!&laquo; Seine blauen Augen funkelten dabei.</p>
+
+<p>&raquo;Und &mdash; die Folgen?! Bangt Ihnen davor nicht?&laquo;
+Mit aufrichtiger Bewunderung sah ich zu dem Mann
+in dem bunten Husarenrock auf, der jetzt erregt, straff
+aufgerichtet, vor mir hin und her ging. Er l&auml;chelte
+wieder sein vertrauendes Kinderl&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann mich doch nur freuen! Ein paar Unverst&auml;ndige
+werden r&auml;sonnieren, die wenigen, wirklich noch
+vorhandenen Altgl&auml;ubigen werden Zeter-Mordio schreien,
+aber die Masse des Volkes &mdash; wir alle sind &#8250;Volk&#8249;, wissen
+Sie &mdash; wird in Bewegung gesetzt werden. Und der
+Kaiser &mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_451" id="Page_451"></a></p>
+<p>&raquo;Der Kaiser?!&laquo; rief ich, auf das &auml;u&szlig;erste &uuml;berrascht.</p>
+
+<p>&raquo;Ja der Kaiser!&laquo; wiederholte er mit fester Stimme.
+&raquo;Ihm vertraue ich vor allem. All dein Tun ist von
+wahrhaft christlichem Geiste erf&uuml;llt: seine Erlasse, seine
+Arbeiterpolitik &mdash; denken Sie nur an die Arbeiterschutz-Konferenz!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin ganz und gar anderer Meinung, Herr von
+Egidy, und Ihr Vertrauen ist mir viel zu wertvoll, als
+da&szlig; ich Ihnen nicht die Wahrheit schuldig w&auml;re,&laquo;
+antwortete ich in tiefer Bewegung. &raquo;Sie sollen Ihre
+Schrift erscheinen lassen &mdash; gewi&szlig; &mdash;, aber die Bewegung,
+die Sie erwarten, wird ausbleiben. Denn was
+heute not tut, ist nicht eine Erneuerung, sondern eine
+&Uuml;berwindung des Christentums, dazu werden Sie beitragen,
+weil auch Ihr Werk Steine abbr&ouml;ckelt vom Bau
+der Kirche. &mdash; Sie l&auml;cheln?! Nun &mdash; ich gebe zu, da&szlig; in
+meinem Mund vermessen klingen mag, was ich sage, &mdash; vielleicht
+irre ich mich, vielleicht haben Sie recht,
+aber eins wei&szlig; ich ganz gewi&szlig;: der Kaiser wird Sie
+nicht unterst&uuml;tzen &mdash; doch den sch&ouml;nen bunten Rock ausziehen, &mdash; das
+wird er Ihnen!&laquo;</p>
+
+<p>Ungl&auml;ubig erstaunt sah mich Egidy an: &raquo;So jung
+und so pessimistisch! Dieser Rock und dies Buch sind
+einander doch nicht unw&uuml;rdig. Und wenn ich als Soldat
+und als Christ meine Pflicht erf&uuml;lle, &mdash; wie k&ouml;nnte mein
+Kaiser mich dieses Rocks entkleiden?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg. Wie eine Entweihung w&auml;re mirs vorgekommen,
+dieses Mannes r&uuml;hrenden Kinderglauben noch
+einmal anzutasten.</p>
+
+<p>Der n&auml;chste Tag war der letzte meines Aufenthalts in
+Hannover, und mit einer Schleppjagd sollte an demselben<a name="Page_452" id="Page_452"></a>
+Morgen der Kursus der Stabsoffiziere abgeschlossen
+werden. Schon fr&uuml;h um f&uuml;nf Uhr fuhren wir, Frau
+von Behr und ich, im leichten Jagdwagen hinaus zum
+Rendezvous. Taufrisch lag die weite Heide vor uns,
+von Gr&auml;ben und Hecken und von dem im Sonnenlicht
+glitzernden blauen Band der kleinen Witze durchschnitten.
+Zwischen Weidenst&auml;mmen und gelbem Ginster hatte sich
+eine gro&szlig;e Gesellschaft zusammengefunden: junge Offiziere
+der Reitschule, M&auml;dchen und Frauen der Gesellschaft in
+hellen Sommerkleidern, Burschen und Ordonnanzen mit
+Decken und M&auml;nteln und der Koch des Kasinos mit
+seinem wei&szlig;besch&uuml;rzten Stab vor dem mit Kisten und
+F&auml;ssern hochget&uuml;rmten Kremperwagen. Mit Feldstechern
+und Opernguckern bewaffnet, warteten wir alle der
+Reiter. Und pl&ouml;tzlich brauste es heran, wie ein farbenspr&uuml;hendes
+M&auml;rchen aus Tausend und einer Nacht: blau,
+gr&uuml;n, gelb, rot, wei&szlig;, &mdash; hatte ein Regenbogen sich dicht
+&uuml;ber die Erde gespannt?! N&auml;her kam es und n&auml;her &mdash; das
+Schnauben der Rosse, das Sausen der Gerten, der
+vielstimmig-aufmunternde Zuruf der Reiter vereinten sich
+zu einem einzigen fiebrisch-wirbelnden, wild aufreizenden
+Ton. Da flog ein Brauner, den schlanken Leib lang
+gestreckt dicht vor mir &uuml;ber das Fl&uuml;&szlig;chen, hinter ihm
+ein Fuchs &mdash; ein Schimmel mit wehendem Schweif
+kaum eine Nasenl&auml;nge weiter, und nun &mdash; zehn, zwanzig,
+hundert rassige Tiere, Schaum vor dem Maul, mit
+bebenden N&uuml;stern, &mdash; mir klopfte das Herz, und noch
+minutenlang nachher f&uuml;hlte ich nichts als die wundervoll-leidenschaftliche
+Erregung dieses Augenblicks. Dann
+lagerten wir auf dem gr&uuml;nen Rasen, duftige Erdbeerbowle
+kredenzten die Ordonnanzen, und mitten in der<a name="Page_453" id="Page_453"></a>
+Schar dieser durch die eigene Leistung froh bewegten
+M&auml;nner kam ich mir einmal wieder wie zu Hause vor.
+Da fiel mein Blick auf einen, der mit verschr&auml;nkten
+Armen und gefurchter Stirne abseits stand: Egidy, &mdash; und
+ich erwachte aus der Bet&auml;ubung. Nein &mdash; hier
+war meinesgleichen nicht mehr, &mdash; ich erhob mich hastig
+aus dem lustigen Kreise und trat auf ihn zu.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Worte kommen mir nicht aus dem Sinn&laquo; &mdash; sagte
+er, &raquo;ich ging nach Hannover in der Meinung, noch
+einmal fr&ouml;hlich sein zu k&ouml;nnen, und &uuml;berzeugte mich f&uuml;r
+immer, da&szlig; der Frohsinn gebannt ist und, &mdash; bleiben
+die ernsten Gedanken in meinem Schreibtisch &mdash;, nimmer
+wiederkehren w&uuml;rde. Und nun empfind' ich, da&szlig; die
+Ver&ouml;ffentlichung dem Frohsinn erst recht den Weg sperren
+wird.&laquo; Seine Stimme sank. Mit einer raschen Bewegung
+legte er die Hand vor die Augen: &raquo;Und es ist
+doch so sch&ouml;n gewesen!&laquo;</p>
+
+<p>Ein Blick voll tiefem Abschiedsweh flog &uuml;ber die
+Haide, den schimmernden Flu&szlig;, die lachenden Kameraden.
+Mir wurden die Augen feucht. Ich griff
+nach seiner Hand. &raquo;Gehen wir,&laquo; sagte ich leise, &raquo;losrei&szlig;en
+m&uuml;ssen wir uns doch &mdash; ehe die anderen uns
+verleugnen.&laquo; Und stumm, schweren Herzens, z&ouml;gernd,
+als schleppten wir eine unsichtbare Kette nach, schritten
+wir durch den Wald zur n&auml;chsten Station.</p>
+
+<p>Abends war ich wieder in Harzburg. Noch in der
+Nacht nahm ich mein schwarzes B&uuml;chlein aus dem Koffer,
+schrieb ein paar Zeilen dazu und sandte es fr&uuml;hmorgens
+an Egidy. Eine unbestimmte Hoffnung, da&szlig; er doch
+vielleicht der Befreier &mdash; auch mein Befreier &mdash; werden
+k&ouml;nnte, lie&szlig; mir das Herz dabei h&ouml;her schlagen. Wenige<a name="Page_454" id="Page_454"></a>
+Tage sp&auml;ter bekam ich seine Antwort. &raquo;Wir sind Bundesgenossen,&laquo;
+schrieb er, &raquo;denn nicht darauf kommt es an,
+was wir glauben, sondern was wir sind; nicht darauf,
+wie wir uns nennen, sondern ob wir wollen, da&szlig; etwas
+werde. Ich rechne auf Sie. Zu wirken gilt es, solange
+es Tag ist, mein ganzes Dasein geh&ouml;rt diesem Wirken.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 6.5em;">In wahrster respektvoller Ergebenheit</span><br />
+<span style="margin-left: 21em;">M. von Egidy.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Nun verflossen meine Tage wieder in alter Einf&ouml;rmigkeit;
+aber ihr tr&uuml;bes Grau war wie Fr&uuml;hlingsnebel,
+der die Sonne ahnen l&auml;&szlig;t, und meine tr&auml;ge gewordene
+Phantasie griff wieder nach der Palette, um Zukunftsbilder
+zu malen. Ich konnte unsere Abreise kaum mehr
+erwarten. In Berlin w&uuml;rde der gro&szlig;e Strom des
+Weltgeschehens die Rinnsale des Eigenlebens aufnehmen,
+das enge Beieinandersein innerlich entzweiter Menschen
+w&uuml;rde aufh&ouml;ren, und &raquo;das Wunderbare&laquo; w&uuml;rde vielleicht
+doch noch erl&ouml;send in mein Dasein treten.</p>
+
+<p>Meine Mutter war, um Wohnung zu suchen, schon
+vorausgereist, als ich von Professor Fiedler, dem Herausgeber
+der Goethe-Zeitschrift, einen Brief erhielt. Er
+hatte sich nach Gro&szlig;mamas Tod zuerst an Onkel Walter
+gewandt, um zu erfahren, welche Erinnerungen ihr Nachla&szlig;
+an den gro&szlig;en Freund ihrer Jugend enthielte, und dieser
+hatte ihn an mich verwiesen. Ob ich f&uuml;r seine Zeitschrift
+einen Artikel schreiben wolle, frug er, &mdash; ich staunte:
+wie kam es nur, da&szlig; ich bisher so blind gewesen war?!
+Die Lebende hatte mich ernst und eindringlich auf den
+Weg des Erwerbs gewiesen, und die Tote gab mir die
+Mittel an die Hand, durch die es mir m&ouml;glich sein
+sollte, ihn zu betreten!</p>
+
+<p><a name="Page_455" id="Page_455"></a>Gewi&szlig;, mit Freuden w&uuml;rd' ich den Aufsatz schreiben,
+antwortete ich; viele wertvolle Erinnerungsbl&auml;tter von
+der Hand der Verstorbenen seien in meinem Besitz, die ich
+zu ver&ouml;ffentlichen die Absicht h&auml;tte, und &uuml;beraus dankbar
+w&uuml;rde ich ihm sein, wenn ich dabei auf seine Hilfe
+rechnen k&ouml;nne. Umgehend erhielt ich noch einen Brief,
+worin mir der Gelehrte seinen Beistand zusicherte. Ich
+strahlte: das war ein Anfang, &mdash; der erste Schritt zur
+Unabh&auml;ngigkeit, und vielleicht &mdash; zum Ruhm!</p>
+
+<p>An einem jener leuchtenden Herbstabende, wie sie
+nur im Norden Deutschlands vorkommen, n&auml;herten wir
+uns Berlin. In hellem Violett, das hie und da ins
+Rosenrote &uuml;berging, lag der Dunst der Gro&szlig;stadt &uuml;ber
+den H&auml;usern, verwischte ihre H&auml;&szlig;lichkeit und verlieh
+ihnen einen Schimmer phantastischen Lebens. Feuchtgl&auml;nzende
+Schienenstr&auml;nge liefen vor uns her und dehnten
+sich nach allen Seiten, &mdash; zahllose Polypenarme, die sich
+verlangend dem gewaltigen Ungeheuer der Stadt entgegenstreckten,
+das mit roten, gr&uuml;nen und wei&szlig;en grell-glotzenden
+Augen gierig Ausschau hielt nach neuer Beute.
+Ein schwarzer Rachen, &ouml;ffnete sich die Halle des Bahnhofs.
+Mit Gezisch und Geratter brauste der Zug hinein &mdash; Rauchschwaden
+stiegen auf &mdash; ein letztes Ausatmen seiner
+Maschine &mdash; ein kurzer, harter Sto&szlig; noch &mdash; und Berlin
+hatte ihn verschlungen. Aufgeregt, r&uuml;cksichtslos, erwartungsvoll
+schoben und dr&auml;ngten sich die Menschen.
+Mir aber war, als m&uuml;&szlig;ten meine F&uuml;&szlig;e den grauschwarzen
+Asphalt sanft und schmeichelnd ber&uuml;hren: Neuland
+war es, das ich betreten hatte.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_456" id="Page_456"></a></p>
+<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p style="text-align: right">
+Berlin, 28.&nbsp;12.&nbsp;90
+</p>
+
+<p>Liebe Mathilde!</p>
+
+<p>Du beklagst Dich &uuml;ber mein monatelanges
+Schweigen, und solltest doch froh sein, da&szlig;
+ich Dich w&auml;hrend einer Zeit innerer und
+&auml;u&szlig;erer Zerrissenheit mit Briefen verschonte. Womit
+ich nicht behaupten will, da&szlig; ich Dir jetzt das Bild
+abgekl&auml;rter Weisheit geben k&ouml;nnte. Aber ich habe zum
+mindesten den Taumel &uuml;berwunden und sehe das Verwirrende,
+Vielgestaltige des neuen Lebens. &mdash; Doch Du
+willst zun&auml;chst seinen Rahmen kennen lernen. Er ist &mdash; um
+ihn mit zwei Worten zu kennzeichnen &mdash; bronzierter
+Gips, den der Fremde f&uuml;r vergoldete Holzschnitzerei
+zu halten verpflichtet ist. Wir wohnen &mdash; nat&uuml;rlich! &mdash; im
+&#8250;vornehmen&#8249; Westen, aber an jener Grenzscheide, wo
+die neuesten Mietskasernen mit ihren dunkeln H&ouml;fen
+und protzigen Fassaden sich mit den Kartoffelfeldern
+begegnen. Unsere Wohnung hat einen Aufgang &#8250;nur
+f&uuml;r Herrschaften&#8249; und ist selbstverst&auml;ndlich &#8250;hochherrschaftlich&#8249;:
+&uuml;ber den T&uuml;ren tanzen Stuckamoretten mit
+verrenkten Armen und Beinen, die &Ouml;fen sind Prachtgeb&auml;ude
+aus den buntesten Kacheln, das E&szlig;zimmer &mdash; ein
+<a name="Page_457" id="Page_457"></a>wahrer Tanzsaal &mdash; hat Holzpaneele und eine
+Holzdecke aus Papier, der Salon weist gar eine imitierte
+Seidentapete auf, die der Wirt uns als ganz besonders
+&#8250;vornehm&#8249; anpries, und das Herrenzimmer prunkt im
+papierenem Leder! Dazu hat der Tapezier die Gardinen
+von acht Zimmern an die Fenster und T&uuml;ren dieser drei
+R&auml;ume geh&auml;ngt, so da&szlig; die &Uuml;ppigkeit eine geradezu
+&uuml;berw&auml;ltigende ist und unsere verschossenen M&ouml;bel und
+zertretenen Teppiche in einem vorteilhaften Zwielicht
+Glanz und Reichtum vort&auml;uschen. Die n&uuml;chterne Wahrheit
+beginnt erst mit dem langen dunkeln Korridor, an
+den sich drei Kammern &mdash; Schlafzimmer genannt &mdash; anlehnen.
+Eine davon bewohne ich. Es ist mir gelungen,
+sie mittelst Kretonnevorh&auml;ngen in zwei R&auml;ume
+zu verwandeln, die sich freilich beide mit einem Fenster
+begn&uuml;gen m&uuml;ssen und von der Existenz des Himmels
+keine Ahnung haben, geschweige denn von der der Sonne.</p>
+
+<p>Und doch mu&szlig; zwischen meiner Seele und der Sonne
+irgendein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen: mein
+Denken und F&uuml;hlen friert ein ohne sie. Wenn ich
+arbeiten will, mu&szlig; ich darum immer zuerst &uuml;ber Felder
+und Sturz&auml;cker laufen, wo kein Haus und kein Baum
+Schatten werfen. Trotzdem will meine Arbeit nicht so
+recht hell und warm werden ...</p>
+
+<p>Bald nach unserer Ankunft besuchte uns Professor
+Fiedler. Mein Artikel &uuml;ber Gro&szlig;mamas Goethe-Erinnerungen
+gefiel ihm &mdash; unter uns gesagt: mir gar
+nicht! &mdash;, und f&uuml;r alles, was ich sonst noch von ihr
+habe, war er aufs h&ouml;chste interessiert. Er empfahl mich
+an Rodenberg, an Lindau, an Westermanns Monatshefte,
+und ich habe auf Monate, vielleicht auf Jahre
+<a name="Page_458" id="Page_458"></a>hinaus zu tun, ohne da&szlig; der Eintritt in die Literatur
+mir irgendwelche Schwierigkeiten gekostet h&auml;tte. Auch
+sonst bin ich vom &#8250;Gl&uuml;ck&#8249; beg&uuml;nstigt: Meine Brennarbeiten
+hat der Offizierverein zum Verkauf angenommen, und
+meine Erfindung &mdash; die Vereinigung von Brennen und
+Malen auf Sammet und Tuch &mdash; hat eine Frauenzeitung
+geschildert und mich dabei als Verfertigerin
+empfohlen. Ich habe meinen Eltern infolgedessen das
+Taschengeld schon &#8250;k&uuml;ndigen&#8249; k&ouml;nnen, und dieser erste
+Schritt zur Selbst&auml;ndigkeit ersetzt mir etwas den Mangel
+an seelischer und geistiger Befriedigung. Da ich den
+Eltern &uuml;berdies durch Schneidern, Putzmachen und
+Gouvernantenspielen bei Ilse ein M&auml;dchen f&uuml;r alles
+und ein Fr&auml;ulein erspare, so kann ich mir einbilden,
+mich bereits selbst zu erhalten. Nur da&szlig; dies blo&szlig;e
+Erhalten des Lebens vom Leben selbst weit entfernt ist.</p>
+
+<p>Ich sehe dich heimlich l&auml;cheln. &#8250;Ihr fehlt einmal
+wieder der Mann,&#8249; sagst Du. Du irrst: ich komme mir
+mit meinen 25 Jahren so alt vor, da&szlig; ich bereits gro&szlig;m&uuml;tterlich
+mitleidig l&auml;chle, wenn andere von Liebe reden.
+Besinnst Du Dich auf Vetter Fritz in Brandenburg?
+Du warst damals sittlich entr&uuml;stet, da&szlig; ich dem guten
+Jungen den Kopf verdrehte. Nachdem er in den letzten
+acht Jahren meinen Geburtstag nicht einmal vergessen
+hatte, stellte er sich hier wieder bei uns ein, &mdash; noch
+immer derselbe kindliche Mensch, trotz seiner Gardeulanenuniform.
+Mit Blumen und Blicken wirbt er
+um mich, und seine Treue r&uuml;hrt mich oft so, da&szlig; ich
+mich frage, ob es nicht das Beste w&auml;re, seine Frau zu
+werden. Dann h&auml;tte die liebe Seele Ruhe, und allen
+Ambitionen und Befreiungsgel&uuml;sten w&auml;re ein f&uuml;r allemal
+<a name="Page_459" id="Page_459"></a>ein Riegel vorgeschoben. Die gesamte Familie &mdash; die
+durch Onkel Walters und Maxens, durch Tante Jettchen
+und ihre Kinder und Enkel erschreckende Dimensionen
+angenommen hat &mdash; unterst&uuml;tzt nat&uuml;rlich im stillen die
+Sache, und das reizt mich zum Widerspruch.</p>
+
+<p>Na, &uuml;berhaupt die Familie! Die Familiensonntage
+vor allem, wo man sich mittags und abends genie&szlig;t, meist
+f&uuml;nfzehn bis zwanzig Mann hoch! Nur eins ist f&uuml;r mich
+dabei wohltuend: da&szlig; ich mich wieder einmal so recht
+intensiv als das einzige schwarze Schaf empfinde.</p>
+
+<p>Seit St&ouml;ckers Abschied ist der Antisemitismus geradezu
+epidemisch geworden, gerade so, wie der Kultus Bismarcks &mdash; wenigstens
+in den Kreisen meiner lieben Verwandtschaft &mdash; erst
+nach seinem Sturz ins Kraut scho&szlig;.
+Und ein Staatsanwalt w&uuml;rde Karriere machen, wenn
+er das Geschimpfe auf S.&nbsp;M. mit anh&ouml;ren k&ouml;nnte, &mdash; vorausgesetzt,
+da&szlig; die Delinquenten nicht preu&szlig;ische
+Edelleute, sondern internationale Sozis w&auml;ren! Der
+adlige Klub am Pariser Platz, wo nur die Alleredelsten
+der Nation aufgenommen werden und Papa und die
+Enkels t&auml;glich verkehren, ist der Mittelpunkt der Fronde;
+Str&ouml;me von Skandalosa flie&szlig;en aus seinen T&uuml;ren in
+die Welt, und ich k&ouml;nnte aus lauter Widerspruchsgeist &mdash; der
+zuweilen zur Objektivit&auml;t erzieht &mdash; fast zur
+Verteidigerin des &#8250;neuen Herrn&#8249; werden, wenn er nicht
+selbst der sich kaum sch&uuml;chtern entwickelnden Anerkennung
+immer wieder einen Fu&szlig;tritt g&auml;be, so da&szlig; sie zusammenknickt
+wie ein Veilchen unter dem Nagelschuh. Du
+kannst Dir denken, wie es mich z.&nbsp;B. begeisterte, als er
+in der Schulreform die Initiative ergriff, und welche
+Hoffnungen ich an die Konferenz kn&uuml;pfte. Und dann
+<a name="Page_460" id="Page_460"></a>stellte ihr S.&nbsp;M. keine andere Aufgabe, als die Schule
+in ein Kampfmittel gegen die Sozialdemokraten zu verwandeln
+und blindw&uuml;tigen Hurrapatriotismus noch
+mehr als bisher zu verbreiten. Nat&uuml;rlich bestand die
+Antwort der zusammengerufenen &#8250;F&uuml;hrer der Jugend&#8249;
+in devotester Verbeugung vor dem allerh&ouml;chsten Willen,
+und befriedigt von dem &#8250;Erfolg&#8249; des &#8250;offenen&#8249; Gedankenaustausches
+schlo&szlig; S.&nbsp;M. die Versammlung mit einer
+Verbeugung seinerseits vor der Kirche.</p>
+
+<p>F&uuml;r Egidy war dies Ereignis, seit er den Abschied bekam,
+wohl der gr&ouml;&szlig;te Schmerz. Ich stehe mit ihm in Briefwechsel,
+und so sehr ich mich im Gegensatz zu vielen
+seiner Grundanschauungen befinde, genie&szlig;e ich diese lebens- und
+glaubensstarke Individualit&auml;t, wie ein Durstiger
+frisches Quellwasser. &#8250;So schwer auch die Gegenwart
+mich belastet,&#8249; schrieb er mir k&uuml;rzlich, &#8250;so kraftvoll ich
+auch ringen mu&szlig;, um die Erinnerung niederzuk&auml;mpfen,
+die gerade in diesen Tagen furchtbar an mir zehrt, da
+das Regiment, das acht Wochen nach dem Erscheinen
+der Ernsten Gedanken das meine werden sollte, sein Jubil&auml;um
+feiert, &mdash; so beseelt mich doch die Hoffnung, da&szlig;
+ich dem Vaterlande, der Welt noch dienen kann, und
+da&szlig; das, was ich tat, nicht fruchtlos war. Auch auf
+den Kaiser ist meine Hoffnung unzerst&ouml;rbar, &mdash; es gilt
+nur sein Ohr zu erreichen....&#8249;</p>
+
+<p>Doch <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'im'">ich</ins> sehe, da&szlig; mein Brief sich zu einem Buch
+auszuwachsen beginnt, &mdash; hoffentlich ein Beweis f&uuml;r die
+k&uuml;nftige Regsamkeit unseres Briefwechsels.</p>
+
+<p>Was soll ich Dir nun ohne Phrase und ohne Kom&ouml;die
+zum neuen Jahre w&uuml;nschen? Gl&uuml;ck? Wer glaubt daran?
+Befriedigung? Wer findet sie, solange das Blut noch
+<a name="Page_461" id="Page_461"></a>hei&szlig; durch die Adern rollt! Soll ich auf ewige Seligkeit
+vertr&ouml;sten? Ein schwacher Trost f&uuml;r den, der die
+irdische noch nicht durchkostet hat. Lerne dich bescheiden,
+werde so rasch wie m&ouml;glich alt und k&uuml;hl, &mdash; ist das nicht
+am Ende der beste Wunsch?!</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 8em;">In treuer <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Freudschaft'">Freundschaft</ins></span><br />
+<span style="margin-left: 17em;">Deine Alix.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+
+<p style="text-align: right">
+Berlin, 20.&nbsp;2.&nbsp;91
+</p>
+
+<p>Liebe Mathilde!</p>
+
+<p>Seit meinem letzten Brief und Deiner Antwort &mdash; die
+meiner Erwartung vollkommen entsprach, alldieweil
+Du meine Arbeitswut nur als Intermezzo zwischen zwei
+Romankapiteln betrachtest &mdash; sind wieder einige inhaltreiche
+Wochen vergangen. Ich fange allm&auml;hlich an,
+den Pulsschlag des Weltlebens zu empfinden und den
+meinen auf denselben Takt einzustellen, wobei ich allerdings
+immer deutlicher den Gegensatz zwischen mir und
+der lieben Verwandtschaft empfinde, deren Blut so tr&auml;ge
+flie&szlig;t, da&szlig; es eigentlich Anno 70 noch kaum &uuml;berwunden
+hat. Der j&uuml;ngste Familienzuwachs ist nach der Richtung
+besonders charakteristisch. Du entsinnst Dich, da&szlig; Papa
+einen j&uuml;ngeren Bruder hatte, der Geistlicher war und
+im Irrenhaus starb. Er hinterlie&szlig; eine Wittwe mit
+f&uuml;nf Kindern in bedr&auml;ngtester Lage, und Tante Klotilde
+mu&szlig;te sich wohl oder &uuml;bel entschlie&szlig;en, das Ihre zur
+Erhaltung der Familie beizutragen, was sie nat&uuml;rlich
+von vornherein gegen sie einnahm. Die m&uuml;tterlichen
+Verwandten taten desgleichen; Papa verschaffte den
+S&ouml;hnen ein Unterkommen im Kadettenkorps, Mama
+erreichte, da&szlig; eine der T&ouml;chter die mir zugedachte Frei<a name="Page_462" id="Page_462"></a>stelle
+im Augustastift bekam, so da&szlig; Tante Marie schlie&szlig;lich
+nur f&uuml;r ein Kind zu sorgen hatte. Jetzt wills das
+Ungl&uuml;ck, da&szlig; die M&auml;dchen erwachsen sind und die S&ouml;hne
+in die Armee eintreten, und was das Malheur voll
+macht: die ganze Gesellschaft ist aus der Art der Kleves
+geschlagen. Tante Klotilde entr&uuml;stet sich dar&uuml;ber, und
+Papa schimpft wie ein Rohrspatz, da&szlig; die m&uuml;tterliche
+Verwandtschaft das Blut verdorben hat und er nun gen&ouml;tigt
+ist, die Jungens weiter zu bringen. Er war ja
+von je der hilfreiche Geist, wenn irgendein Vetter
+durch das Einj&auml;hrige bugsiert werden oder in ein anst&auml;ndiges
+Regiment Aufnahme finden sollte. So hat er
+denn f&uuml;r Erich, den &auml;ltesten dieser mi&szlig;ratenen Kleves,
+sein altes Regiment gef&uuml;gig gemacht und ihm &mdash; in
+der goldenen Zeit der eigenen Korpshoffnungen! &mdash; die
+n&ouml;tige Zulage versprochen. Das Einl&ouml;sen dieses Versprechens
+wird ihm jetzt gewaltig sauer, und es macht
+mir eine Riesenfreude, da&szlig; ich bald imstande sein werde,
+einen Teil davon auf mich zu nehmen.</p>
+
+<p>Tante Marie lebt mit ihren T&ouml;chtern in Potsdam,
+die S&ouml;hne sind in Lichterfelde und Frankfurt, und
+diese N&auml;he verschafft uns das Gl&uuml;ck ihrer Sonntagsbesuche.
+Ich sitze dabei immer wie auf Nadeln in
+Erwartung von Papas sarkastischen Bemerkungen und
+&uuml;berbiete mich in Liebensw&uuml;rdigkeit, wenn mir auch
+gar nicht darnach zumute ist. Alle miteinander sind
+kaiserlich bis in die Knochen, ist doch Tante Marie
+mit der neuen Hofclique verschw&auml;gert, mit den Eulenburgs
+vor allem, die nahe daran sind, das Hausmeiertum
+an sich zu rei&szlig;en. Infolgedessen sind sie
+nat&uuml;rlich auch kirchlich-orthodox; &mdash; darnach kannst Du<a name="Page_463" id="Page_463"></a>
+Dir die Harmonie unserer Beziehungen ungef&auml;hr vorstellen!
+Mama, mit ihrem oft ganz fanatischen Gerechtigkeitsgef&uuml;hl
+ist die einzige, die sie aus &Uuml;berzeugung
+verteidigt und es sogar unternahm, Tante Klotilde, die
+jede pers&ouml;nliche Zusammenkunft mit ihren Neffen und
+Nichten bisher vermieden hat, freundlicher zu stimmen.
+Sie wirft mir Herzlosigkeit vor, weil ich sie darin nicht
+unterst&uuml;tzen mag, und zankt sogar mit ihrem Lieblingsbruder,
+der sie warnte, sich &#8250;kein Kuckucksei ins Nest zu
+legen&#8249;. Die Gefahr ist, scheint mir, sehr gering, denn
+um bei Tante Klotilde etwas zu erreichen, m&uuml;&szlig;te Mama
+ungef&auml;hr das Gegenteil von dem verlangen, was sie
+erreichen will. Au&szlig;erdem w&uuml;rde ich den armen W&uuml;rmern
+einen t&uuml;chtigen Anteil an Tante Klotildes Reicht&uuml;mern
+von Herzen g&ouml;nnen.</p>
+
+<p>In schroffem Gegensatz zu diesem Zwangsverkehr steht
+ein anderer, den ich mir erk&auml;mpft habe, &mdash; obwohl Du
+mich bereits vorher vor meinen &#8250;j&uuml;dischen Beziehungen&#8249;
+warntest: der im Hause Fiedlers und Rodenbergs. Papa
+war zuerst entr&uuml;stet, als ich ihn um die Erlaubnis bat,
+den freundlichen Einladungen der beiden, meine literarische
+T&auml;tigkeit so lebhaft unterst&uuml;tzenden, folgen zu
+d&uuml;rfen. Nach einigem Brummen, R&auml;uspern und Toben &mdash; wobei
+ich ver&auml;ngstigt wie immer aus dem Zimmer
+floh, w&auml;hrend Ilschen lachte und den Papa zu meinen
+Gunsten umschmeichelte &mdash; entschlo&szlig; er sich freiwillig
+zu offiziellen Familienvisiten und gestattete mir dann,
+die Gesellschaften allein zu besuchen. Nun genie&szlig;e ich
+den geistig anregenden Verkehr ungeheuer und fange an,
+meine Sch&uuml;chternheit angesichts dieser mir doch sehr neuen
+Menschen und fremden Verkehrsformen zu &uuml;berwinden.<a name="Page_464" id="Page_464"></a>
+Ich bin seit langem daran gew&ouml;hnt, meine Ansichten nur
+im h&ouml;chsten Affekt auszusprechen, so da&szlig; ich erst eine
+gewisse Schwerf&auml;lligkeit niederk&auml;mpfen, ja sogar mit
+dem Ausdruck ringen mu&szlig;. Das steigert sich, wenn
+Namen genannt und Ereignisse lebhaft er&ouml;rtert werden,
+von denen ich keine Ahnung habe.</p>
+
+<p>Im Mittelpunkt des Interesses steht auf der einen Seite
+die neue literarische Bewegung, die sich in der Freien B&uuml;hne
+ein eigenes Theater schuf, und deren Vertreter stark realistische
+und sozialistische Tendenzen haben, und auf der anderen
+der neu aufsteigende Stern am Dichterhimmel &mdash; Sudermann &mdash;,
+dessen Dramen, wie Du sicher aus den Zeitungen
+wei&szlig;t, wahre St&uuml;rme f&uuml;r und wider hervorrufen.
+Ich kenne von alledem noch nichts. Onkel Walter
+erkl&auml;rt, da&szlig; &#8250;ein junges M&auml;dchen&#8249; Sudermanns Werke
+unm&ouml;glich sehen k&ouml;nne, &mdash; aber ins Residenztheater und
+in den Wintergarten werde ich ohne Bedenken mitgenommen! &mdash;,
+und im Kreise meiner literarischen Bekannten
+sieht man den Jungen von Friedrichshagen &mdash; einem
+Vorort von Berlin, wo sie, wie man munkelt,
+ein gemeinsames Leben f&uuml;hren, das das kommunistische
+Prinzip sogar auf &mdash; die Frauen ausdehnt! &mdash; skeptisch
+gegen&uuml;ber. Ich bin zwar sehr geneigt, mich, wenn auch
+nicht der Autorit&auml;t Onkel Walters, so doch dem reifen
+Urteil meiner neuen Freunde von vornherein anzuschlie&szlig;en,
+um so mehr, als <em class="antiqua">Dr.</em> Friedrich, der hervorragendste
+Kritiker Berlins und ein tiefer Goethe-Kenner,
+an ihrer Spitze steht, aber mich interessiert jede moderne
+Erscheinung viel zu sehr, als da&szlig; ich sie nicht aus
+eigner Anschauung kennen lernen wollte.</p>
+
+<p>Wegen Vetter Fritz sei ganz ruhig. Ich habe besseres
+<a name="Page_465" id="Page_465"></a>zu tun, als zu kokettieren. Meine Haltung ihm gegen&uuml;ber
+ist eine ganz passive: ich empfinde mit wohligem
+Behagen die Atmosph&auml;re seiner Zuneigung, und vielleicht
+ist solch ein sich lieben lassen f&uuml;r mich ein Lebensbed&uuml;rfnis,
+ebenso wie das sich bescheinen lassen von der
+Sonne.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 14em;">Von Herzen</span><br />
+<span style="margin-left: 16.5em;">Deine Alix.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Meine Mutter pflegte sich Onkel Walters Ansichten
+fast immer zu unterwerfen, weil es
+im Grunde stets die ihren waren. Aber
+in Bezug auf meine Theaterbesuche geriet sie in einen
+Zwiespalt mit ihrer eigenen Neigung und mit ihrem
+Pflichtgef&uuml;hl. Das Theater wurde mehr und mehr ihre
+Leidenschaft, &mdash; es war, als suche diese k&uuml;hle, harte
+Frau das Leben, weil sie selbst nicht gelebt hatte &mdash;,
+aber f&uuml;r sich allein und ihr pers&ouml;nliches Vergn&uuml;gen
+Geld auszugeben, w&auml;re ihr nie in den Sinn gekommen.
+Also nahm sie mich mit, beruhigte ihr Gewissen damit,
+da&szlig; &raquo;uns doch niemand sehen wird&laquo;, und sch&auml;rfte mir
+ein, nicht dar&uuml;ber zu sprechen. So sahen wir &raquo;Die
+Ehre&laquo; und &raquo;Sodoms Ende&laquo;, dessen urspr&uuml;ngliches
+Verbot auf des Kaisers direkten Eingriff zur&uuml;ckgef&uuml;hrt
+wurde und den Erfolg des Werks von vornherein gesichert
+hatte. Der tiefe Eindruck, den wir empfingen,
+setzte sich aus Verbl&uuml;ffung, Entsetzen und Ergriffenheit
+zusammen. Aber w&auml;hrend er sich bei meiner Mutter
+durch den befreienden Gedanken ausl&ouml;ste, da&szlig; hier der
+verdorbenen Bourgeoisie und den verha&szlig;ten Parven&uuml;s
+<a name="Page_466" id="Page_466"></a>ein gr&auml;&szlig;liches Spiegelbild vorgehalten werde, das sie
+im Grunde nichts anging, wirkte er in mir schmerzhaft
+nach. Ich sah in meinen Tr&auml;umen Alma, das verdorbene
+M&auml;dchen aus dem Hinterhaus, und Frau Adah, die
+arme Reiche, die nach Gl&uuml;ck und Liebe lechzte, w&auml;hrend
+ihr Mann sich mit Stra&szlig;endirnen umhertrieb. Sie waren
+nichts als Typen der modernen Gesellschaft, und ihre
+Wahrhaftigkeit ersch&uuml;tterte mich.</p>
+
+<p>Und dann las ich mit demselben Feuereifer, mit dem
+ich einst in Posen meine heimlich erworbenen Reklamb&auml;ndchen
+verschlang, die Werke der &raquo;Jungen&laquo;. Jedes
+Buch ri&szlig; mir einen neuen Schleier von den Augen.
+Kretzers &raquo;Meister Timpe&laquo;, Holz-Schlafs &raquo;Familie Selicke&laquo;,
+Gerhart Hauptmanns &raquo;Vor Sonnenaufgang&laquo;, &mdash; mit
+welcher Grausamkeit enth&uuml;llten sie ungeahnte Tiefen des
+Elends! Dazwischen fielen mir in bunter Reihe B&uuml;cher
+in die H&auml;nde &mdash; von Strindberg, von Garborg, von
+Przybyszewski &mdash;, die mit demselben brutalen Wahrheitsfanatismus
+blutende Herzen und zuckende Sinne blo&szlig;legten.
+Und in diesem grellen Licht, das nur tiefe
+Schatten und blendende Helle schuf und milde, zart
+verschwimmende D&auml;mmerung nicht duldete, enth&uuml;llte sich
+nun auch die Welt in mir. Hatte ich die zehrende Glut
+meines Innern, all die Qualen meiner jungen Sinne
+doch nur vergebens mit den Feuerl&ouml;scheimern des Verstandes
+und der Pflichterf&uuml;llung zu ersticken gesucht.</p>
+
+<p>Das Leben hatte in tausend und abertausend bunten
+Farbenflecken unruhig, blendend, vor meinen Augen geflirrt;
+jetzt erst entdeckte ich, da&szlig; sie alle notwendig zueinander
+geh&ouml;rten und zu einem einzigen, riesigen Gem&auml;lde
+zusammenschossen. Es galt nur, die Blicke fest
+<a name="Page_467" id="Page_467"></a>und mutig darauf zu richten, nicht zu schaudern vor der
+Wahrheit, die im zerschlissenen, blutbefleckten Gewande
+der Not der schier endlosen Schar der Hungernden
+und Blinden, der Lahmen und Verkr&uuml;ppelten, der Irren
+und der Kettentr&auml;ger voranschritt. Wer sehend war,
+erkannte unter ihrem Bettlermantel das K&ouml;nigskleid,
+und ihm wandelte sich die Gei&szlig;el, die sie trug, zur Fahne
+des Sieges.</p>
+
+<p>Das Grauen verschwand, ein Gef&uuml;hl unbezwinglicher
+Kraft &uuml;berkam mich. O, ich war stark genug, um, Seite
+an Seite mit den anderen, Ruinen einzurei&szlig;en und
+Felsen aufeinander zu t&uuml;rmen!</p>
+
+<p>War ich es wirklich?! Beugte ich mich nicht &auml;ngstlich
+jenem pedantischen Schulmeister, dem Alltag, der
+mich jeden Morgen aus meinen Tr&auml;umen weckte, mich
+zwang, zwanzig alte, muffig riechende B&uuml;cher zu durchst&ouml;bern,
+um &uuml;ber irgend einen vergessenen Zeitgenossen
+Goethes einen kleinen Artikel zu schreiben, oder
+meinem Schwesterchen beim Rechnen beizustehen, oder
+Mamas Winterhut neu zu garnieren, oder f&uuml;r ein
+Dutzend &uuml;berraschender Abendg&auml;ste den Tisch zu decken?!</p>
+
+<p>In der Goethe-Zeitschrift waren inzwischen meine
+Aufs&auml;tze erschienen, und von den weimarer Freunden
+und Verwandten meiner Gro&szlig;mutter wurde mir eitel Anerkennung
+zu Teil. Auch der Gro&szlig;herzog lie&szlig; mir sagen,
+wie sehr ihn interessiere, was ich schreibe, und legte mir
+nahe, nach Weimar zu kommen, wo ich zu neuen Studien
+und Arbeiten alle T&uuml;ren offen und alle Menschen hilfsbereit
+finden w&uuml;rde. Mein Vater strahlte &uuml;ber diesen
+Erfolg und begriff nicht, wie ich auch nur einen Moment
+z&ouml;gern k&ouml;nne, der Anregung Folge zu leisten.</p>
+<p><a name="Page_468" id="Page_468"></a></p>
+<p>&raquo;Du bist doch nun einmal dem Tintenteufel verfallen,&laquo;
+meinte er, &raquo;nun kannst du es wenigstens auf eine standesgem&auml;&szlig;e
+Weise sein.&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg. Sollte ich ihm den Schmerz bereiten
+und ihm sagen, da&szlig; die Fesseln des &raquo;Standesgem&auml;&szlig;en&laquo;
+mir schon jetzt schmerzhaft genug ins Fleisch schnitten?</p>
+
+<p>Auch im Kreise der Goethe-Zeitschrift verstand man
+mich nicht.</p>
+
+<p>&raquo;Der Gro&szlig;herzog selbst fordert Sie auf und bietet
+Ihnen seine Hilfe an, und Sie haben noch Bedenken,
+nach Weimar zu gehen?!&laquo; sagte Professor Fiedler, als
+ich einmal wieder zu einer gr&ouml;&szlig;eren Abendgesellschaft bei
+ihm war. &raquo;Nur Ihre schriftstellerische Jugend bietet
+mir eine Erkl&auml;rung daf&uuml;r! Was viele Gelehrte vergebens
+w&uuml;nschten &mdash; Zugang zu den verschlossenen
+Sch&auml;tzen Weimars &mdash;, wird Ihnen hier entgegen getragen,
+und Sie greifen nicht mit beiden H&auml;nden zu! Das bedeutet
+doch nichts anderes, als eine Sicherstellung Ihrer
+literarischen Zukunft, als den Beginn einer gro&szlig;en
+Karriere.&laquo; Ich hatte ihm und seiner Unterst&uuml;tzung schon
+zu viel zu verdanken, als da&szlig; sein Zureden ohne Eindruck
+h&auml;tte bleiben k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben pers&ouml;nliche Beziehungen zum Gro&szlig;herzog
+von Sachsen-Weimar?&laquo; mischte sich ein anderer Gast ins
+Gespr&auml;ch, der mich bisher von der H&ouml;he seiner Ber&uuml;hmtheit
+und seiner vielbewunderten &Auml;hnlichkeit mit Goethe
+kaum eines fl&uuml;chtigen Gru&szlig;es gew&uuml;rdigt hatte. Ich erz&auml;hlte
+von Gro&szlig;mamas Freundschaft mit Karl Alexander.
+Der Kreis um mich vergr&ouml;&szlig;erte sich. Man erging sich
+in Lobeserhebungen des F&uuml;rsten, &uuml;ber den ich in meinen
+Kreisen immer nur hatte lachen und spotten h&ouml;ren.</p>
+<p><a name="Page_469" id="Page_469"></a></p>
+<p>&raquo;Wenn Sie sich seiner Gunst weiter erfreuen, &mdash; welche
+Dienste k&ouml;nnen Sie dann der Wissenschaft leisten!&laquo; sagte
+der Mann mit dem Goethe-Kopf. Seltsam, wie er pl&ouml;tzlich
+von meiner Leistungskraft &uuml;berzeugt schien, obwohl er
+alle Zusendungen meiner Artikel mit Stillschweigen &uuml;bergangen
+hatte! Er f&uuml;hrte mich zu Tisch, und ich, die ich
+bis jetzt eine bescheiden abseits Stehende gewesen war,
+sah mich auf einmal im Mittelpunkt der Gesellschaft.
+Das verletzte mich aufs tiefste: waren das die freien,
+geistig hoch stehenden Menschen, zu denen ich bewundernd
+aufgesehen hatte, deren Verkehr mich in den Strom geistigen
+Fortschritts rei&szlig;en sollte?</p>
+
+<p>Auf das angenehmste &uuml;berrascht wandte ich mich daher
+meinem Nachbarn zur Rechten zu, der meinen Aufsatz
+in der Goethe-Zeitschrift gelesen zu haben schien und ein
+paar kritische Bemerkungen dar&uuml;ber machte. Er war
+ein bekannter &ouml;sterreichischer Dichter, dessen tapfere
+B&uuml;cher, aus denen das ganze Leid des jahrhundertelang
+verfolgten und unterdr&uuml;ckten Judentums herausschrie, mich
+ihn schon lange bewundern lie&szlig;en.</p>
+
+<p>&raquo;Wie stolz m&uuml;ssen Sie sein, so wertvolle Andenken an
+Goethe Ihr eigen zu nennen, wie die Gedichte an Ihre
+Frau Gro&szlig;mutter, wie den Ring aus der Hand des
+Olympiers,&laquo; meinte er.</p>
+
+<p>Ich zog den schmalen Goldreif vom Finger. Er machte
+die Runde um den Tisch. Alles schien entz&uuml;ckt, dankbar,
+voll Bewunderung.</p>
+
+<p>&raquo;Mu&szlig; man das dem Fr&auml;ulein glauben?!&laquo; rief
+pl&ouml;tzlich eine helle Stimme von der anderen Seite
+der Tafel. Halb verletzt, halb erstaunt, suchte ich
+mit den Augen die Sprecherin, &mdash; sie hatte offenbar
+<a name="Page_470" id="Page_470"></a>nicht den mindesten Respekt vor meinen f&uuml;rstlichen Beziehungen.</p>
+
+<p>&raquo;Juliane D&eacute;ry&laquo; &mdash; fl&uuml;sterte mir mein Tischherr zu,
+&raquo;ein &uuml;berspanntes, hypermodernes Frauenzimmer. Sie
+kennen doch ihre Novellen?&laquo;</p>
+
+<p>Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Aber ihre
+Unart gefiel mir. Nach dem Souper sprach ich sie an.</p>
+
+<p>Sie sa&szlig; hingekauert zu F&uuml;&szlig;en des &ouml;sterreichischen
+Dichters und ma&szlig; mich mit einem feindseligen Blick,
+w&auml;hrend sie ungeduldig den tief herabgesunkenen &Auml;rmel
+ihres ausgeschnittenen nilgr&uuml;nen Kleides auf die Schulter
+zur&uuml;ckschob.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe kein Interesse f&uuml;r Goethe und nicht das
+mindeste f&uuml;r die Goethe-Philologie,&laquo; sagte sie gereizt.</p>
+
+<p>&raquo;Fr&auml;ulein von Kleve sieht mir aber auch nicht aus,
+als ob sie mit Haut und Haaren der Philologie verfallen
+w&auml;re,&laquo; lachte der Dichter, ein wenig verlegen ob der
+Ungezogenheit seiner Gef&auml;hrtin.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen f&uuml;r die gute Meinung,&laquo; antwortete
+ich und setzte mich auf einen geraden Holzstuhl, der mit
+ein paar anderen seinesgleichen, einigen von Zeitschriften
+beladenen Tischen und schlichten B&uuml;cherregalen die Einrichtung
+des Raumes bildete. Es schien als sei diese
+Einfachheit wohlerwogene Absicht, denn um so gewaltiger
+und beherrschender traten die Goethe-Bilder hervor, die
+die W&auml;nde schm&uuml;ckten. &raquo;Tats&auml;chlich habe ich gar keine
+Neigung zur Philologie, &mdash; sehen Sie nur, wie all der
+aufgeh&auml;ufte papierne Wissenskram schon vor dem blo&szlig;en
+Abbild des lebendigen Goethe zusammenschrumpft! Es
+widerstrebt mir geradezu, ihn zu vermehren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum tun Sie's denn?!&laquo; rief die junge Schrift<a name="Page_471" id="Page_471"></a>stellerin,
+sp&ouml;ttisch lachend. Ich schwieg. Ich hatte die
+Empfindung, schon viel zu viel von mir selbst verraten
+zu haben. Der Dichter, bem&uuml;ht, zwischen mir und dem
+M&auml;dchen zu seinen F&uuml;&szlig;en eine Br&uuml;cke zu bauen, lenkte
+ein: &raquo;Seien Sie ihr nicht b&ouml;se. Sie ist viel besser, als
+sie sich gibt, und mit der borstigen Au&szlig;enseite will sie nur
+das allzu Weiche ihres Inneren verstecken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie will?!&laquo; Juliane D&eacute;ry sprang auf und w&uuml;hlte
+mit nerv&ouml;sen schmalen Fingern, die merkw&uuml;rdig wenig
+zu der kurzen breiten Hand und dem vulg&auml;ren Handgelenk
+pa&szlig;ten, in ihrem wirren Haarschopf. &raquo;Sie will
+gar nicht. Aber zuweilen mu&szlig; sie. Und das M&uuml;ssen
+widert sie an. Nicht verbergen, blo&szlig;legen, was ihr im
+Innern lebt &mdash; ganz nackt und blo&szlig; &mdash;, da&szlig; Ihr guten
+anst&auml;ndigen Leute eine G&auml;nsehaut kriegt, das will sie, &mdash; das
+wollen wir alle, die wir jung sind, und dem Leben
+dienen, &mdash; und keinem toten G&ouml;tzen.&laquo; Mir stieg das Blut
+in die Schl&auml;fen. Das Zimmer hatte sich gef&uuml;llt. Wie
+konnte man vor all diesen fremden Menschen die Pforten
+seiner Seele aufrei&szlig;en, dachte ich, und doch beneidete ich
+sie, weil sie es konnte.</p>
+
+<p>Sie hatte einen Funken ins Pulverfa&szlig; geschleudert.
+Eine allgemeine Unterhaltung &uuml;ber das Wollen und
+K&ouml;nnen der Jungen entspann sich, bei der die scheinbar
+ruhigsten Menschen in leidenschaftliche Erregung gerieten, &mdash; jene
+Erregung, die immer verr&auml;t, da&szlig; der Kampf
+aufh&ouml;rt, objektiv gef&uuml;hrt zu werden. Ich h&ouml;rte mit
+steigendem Erstaunen zu. Verteidigten sie nicht im
+Grunde ihre pers&ouml;nliche Ruhe, wenn sie mit Keulen auf
+alle diejenigen losschlugen, die die Wahrheit vom Leben
+verk&uuml;ndigten?</p>
+<p><a name="Page_472" id="Page_472"></a></p>
+<p>&raquo;Der P&ouml;belruhm Zolas und Ibsens ist den Leuten zu
+Kopfe gestiegen,&laquo; eiferte <em class="antiqua">Dr</em>. Friedrich, der von vielen
+als zweiter Lessing gepriesen wurde, und sein schmales
+bartloses Gesicht r&ouml;tete sich. &raquo;Man spekuliert auf die
+ganz gemeine Freude am Schmutz, und hat damit nat&uuml;rlich
+die Masse auf seiner Seite. Was w&uuml;rde der
+Gro&szlig;e hier sagen&laquo; &mdash; er wies mit einer theatralischen
+Geb&auml;rde auf die Bilder an den W&auml;nden &mdash; &raquo;wenn er
+diese Entartung der deutschen Literatur h&auml;tte erleben
+m&uuml;ssen!&laquo;</p>
+
+<p>Eine Pause trat ein. Juliane D&eacute;ry stampfte mit dem
+Fu&szlig; und bi&szlig; sich die vollen Lippen wund, aber auch sie
+schwieg. Die Autorit&auml;t des gef&uuml;rchteten Mannes wirkte
+l&auml;hmend auf alle. Ich allein war noch viel zu naiv, um
+von seiner Macht eine Ahnung zu haben.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, niemand w&uuml;rde die Jungen besser verstehen
+und w&uuml;rdigen als er,&laquo; begann ich leise und
+stockend, w&auml;hrend &auml;ngstliche, warnende und sp&ouml;ttische
+Blicke sich auf mich richteten. &raquo;Sein Werther, sein
+Meister, sein Faust und sein Gretchen vor allem m&ouml;gen
+die meisten seiner Zeitgenossen durch ihre Wahrhaftigkeit
+nicht minder verletzt haben als die Enth&uuml;llungen des
+&auml;u&szlig;eren und inneren Elends der Gegenwart Sie heute
+verletzen. Mir scheint, Dichter und K&uuml;nstler m&uuml;ssen uns
+die Wahrheit zeigen, wie sie ist, weil wir selber nicht den
+Mut haben, sie aus eigener Kraft zu sehen.&laquo;</p>
+
+<p>Man unterbrach mich; Rufe der Entr&uuml;stung wurden
+laut, ich wollte schon versch&uuml;chtert schweigen, als ein
+k&uuml;hler, herausfordernder Blick <em class="antiqua">Dr</em>. Friedrichs mich traf,
+der jetzt dicht vor mir stand.</p>
+
+<p>&raquo;Reden Sie nur weiter, gn&auml;diges Fr&auml;ulein, reden Sie!<a name="Page_473" id="Page_473"></a>
+Es ist psychologisch interessant, einmal zu sehen, wie die
+Dinge auf Menschen wirken, die, wie Sie, dem Leben
+so fern stehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich stehe ihm n&auml;her, viel n&auml;her, als Sie glauben &mdash;&laquo;
+nun flossen mir die Worte rasch und klar von den
+Lippen &mdash; &raquo;und ich wei&szlig;, da&szlig; wir nicht weiter kommen &mdash; der
+Einzelne nicht und die Gesamtheit nicht &mdash;, solange
+wir uns scheuen, das B&ouml;se und Widerw&auml;rtige, das
+H&auml;&szlig;liche und Schmerzhafte zu sehen, wie es ist. Erst
+daran erprobt sich die Lebenskraft. Kein gr&ouml;&szlig;eres Zeichen
+der Dekadenz gibt es als die Furcht vor dem Schmerz.
+Sie ist unsere Krankheit, und an ihr geht unsere Welt
+zugrunde, wenn sie sich von den Ibsen und Zola und
+Nietzsche und denen, die ihresgleichen sind, nicht heilen
+l&auml;&szlig;t.&laquo; Ich atmete tief auf. Jetzt erst sah ich wieder,
+wer um mich war: man l&auml;chelte, halb verlegen, halb mitleidig,
+man zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn nichts anderes, so haben Sie doch eins bewiesen,
+meine Gn&auml;digste,&laquo; sp&ouml;ttelte <em class="antiqua">Dr</em>. Friedrich, &raquo;Sie
+haben Ihren Beruf verfehlt: eine Rednerin ist an Ihnen
+verloren gegangen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte mich gedr&uuml;ckt und verlegen und mochte den
+Mund nicht mehr auftun.</p>
+
+<p>Auf dem Nachhausewege schlo&szlig; sich mir pl&ouml;tzlich
+Juliane D&eacute;ry an und schob ihren Arm in den meinen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind eine tapfere kleine Person,&laquo; sagte sie, &raquo;aber
+furchtbar dumm sind Sie auch! &mdash; Das vergi&szlig;t Ihnen
+der Friedrich nie!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn meine ganze Dummheit darin besteht, &mdash; die
+Folgen will ich auf mich nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na &mdash; allerhand Achtung vor Ihrer Kurage! &mdash; Aber &mdash; da
+<a name="Page_474" id="Page_474"></a>wir zwei die Wahrheit zu vertragen scheinen,
+so sag ichs frei heraus: Ihre Dummheit ist noch nicht
+ersch&ouml;pft. Sie haben Ihr Gewissen sogar mit einem
+Verbrechen beladen. Sie haben der Kunst ethische
+Motive angedichtet. Die Kunst ist Kunst, &mdash; nicht mehr,
+aber auch nicht weniger. Sie hat eine neue Sch&ouml;nheit
+entdeckt, die der Wahrheit &mdash; der H&auml;&szlig;lichkeit meinetwegen &mdash;,
+die mu&szlig; sie darstellen. Im Wort, im Bild,
+im Ton. Aber n&uuml;tzen und bessern will sie nicht, soll
+sie nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mag sein, da&szlig; das nicht ihre Absicht ist. Auch die
+Blume bl&uuml;ht und duftet und ist sch&ouml;n und vollendet, selbst
+wenn sie nicht zur Frucht werden wollte. Aber die Frucht
+kommt ohne ihre Absicht.&laquo;</p>
+
+<p>Es zuckte ironisch um die Mundwinkel meiner Begleiterin.
+&raquo;Ihr Vergleich hinkt. Die Blume mu&szlig; sterben,
+soll die Frucht ihre Folge sein. Die Kunst aber bl&uuml;ht
+und ist immer Frucht und Blume zugleich.&laquo;</p>
+
+<p>Wir waren &uuml;ber kaum angelegte Stra&szlig;en, an Kartoffelfeldern
+vorbei bis zu der alten Linde gelangt, die mitten
+in der Stra&szlig;enkreuzung des Kurf&uuml;rstendamms und der
+Tauenzienstra&szlig;e stand, ein letzter Zeuge jener Vergangenheit,
+wo die lauernde Schlange der Gro&szlig;stadt die Natur
+noch nicht bis zum letzten Rest in ihrer Umarmung erdrosselt
+hatte.</p>
+
+<p>Wir trennten uns mit einem H&auml;ndedruck und doch
+eben so fremd wie vorher. Nicht zu jenen geh&ouml;rte ich,
+deren Gast ich eben gewesen war, und nicht zu ihr.
+Wohin denn?...</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_475" id="Page_475"></a></p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen schrieb ich an meine Verwandten
+nach Weimar und k&uuml;ndigte meinen
+Besuch an. In die Arbeit wolle ich mich
+st&uuml;rzen, das w&uuml;rde wieder das Beste sein.</p>
+
+<p>Vor meiner Abreise kam die Familie noch einmal vollz&auml;hlig
+bei uns zusammen: Onkel Walter mit seiner Frau,
+die Potsdamer Kleves, Vetter Fritz und Vetter Hermann
+Wolkenstein, der als Offizier auf keine Karriere zu
+rechnen hatte und daher zur Diplomatie &uuml;bergegangen
+war. Auch Tante Jettchen, das Familienorakel, war
+gekommen, sehr alt, sehr gebrechlich, aber mit ihren
+scharfen klugen Augen doch noch alles sehend, alles beobachtend,
+und in ihrem Urteil h&auml;rter denn je. Ihr
+Kopf schien nichts als ein Lexikon der Familie zu sein.
+Sie kannte die Schicksale der entferntesten Verwandten.
+Mich mochte sie nicht: da&szlig; ich als Kind auch nur
+wochenlang eine j&uuml;dische Schulfreundin gehabt hatte, war
+ein unausl&ouml;schlicher Makel in meiner Erziehung. Heute
+jedoch lie&szlig; sie sich meinen Handku&szlig; auf das gn&auml;digste
+gefallen.</p>
+
+<p>&raquo;Es freut mich, freut mich sehr, da&szlig; du nach Weimar
+gehst,&laquo; sagte sie, &raquo;f&uuml;r verschrobene K&ouml;pfe wie deinen ist
+das gut &mdash; sehr gut. Literarisch angehauchte Frauenzimmer
+haben dort Aussicht auf Hofkarriere.&laquo; Ich l&auml;chelte
+unwillk&uuml;rlich: Professor Fiedler hatte auch von der
+&raquo;Karriere&laquo; gesprochen!</p>
+
+<p>Die Unterhaltung drehte sich zun&auml;chst um Familienereignisse.
+Von den Vettern, die um die Ecke gegangen
+waren, und die, statt wie fr&uuml;her nach Amerika, jetzt
+nach den Kolonien abgeschoben wurden, um als Kultur<a name="Page_476" id="Page_476"></a>tr&auml;ger
+aufzutreten; von den sitzengebliebenen Kusinen, die
+Krankenpflegerinnen wurden, weil andere Berufe sich
+doch nicht schickten, war die Rede. &raquo;Besser sich die Finger
+mit Blut als mit Tinte beschmutzen,&laquo; kr&auml;hte die hohe
+Greisenstimme Tante Jettchens. Und dann wurde das
+unerh&ouml;rte Ereignis kr&auml;ftig glossiert, da&szlig; ein Golzow die
+Tochter eines Gro&szlig;industriellen geheiratet hatte. Die
+erste Unadelige in der Familie, und noch dazu der Spr&ouml;&szlig;ling
+eines &raquo;Kohlenfritzen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und der Kerl, der Ernst, hat noch die Frechheit
+gehabt, mir seine Verlobungsanzeige zu schicken.&laquo;
+Auf Tante Jettchens runzligen Wangen brannten
+rote Flecke. &raquo;Aber freilich, wenn von oben das
+Beispiel gegeben wird! &mdash; Wenn Se. Majest&auml;t selbst
+mit dem Kanonen-Krupp und den Hamburger Kaffees&auml;cken
+fraternisiert! &mdash; Und amerikanische Milliard&auml;rst&ouml;chter,
+deren V&auml;ter noch mit dem B&uuml;ndel auf dem
+R&uuml;cken durchs Land zogen, hoff&auml;hig werden!&laquo; &mdash; Ihre
+Stimme &uuml;berschlug sich, der stockende Atem zwang sie
+zum Schweigen. Und nun erst griff die rechte Stimmung
+Platz, ohne die eine Gesellschaft unserer Kreise kaum
+noch m&ouml;glich schien: Jeder wu&szlig;te einen neuen Hofklatsch,
+eine neue Variation einer der vielen Kaiserreden oder
+fl&uuml;sterte dem Zun&auml;chstsitzenden &mdash; aus R&uuml;cksicht auf die
+anwesenden jungen M&auml;dchen &mdash; einen neuen derben
+Spa&szlig; zu, durch den irgendein Eulenburg oder Kessel
+die Lachlust Sr. Majest&auml;t gereizt und sich eine neue
+Gunstbezeugung errungen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r das Modell des Doms, mit seiner &uuml;berladenen
+Pracht, hat er selbst die Zeichnungen entworfen,&laquo; sagte
+der eine, &raquo;dem Darsteller des gro&szlig;en Kurf&uuml;rsten in<a name="Page_477" id="Page_477"></a>
+Wildenbruchs neuem Spektakelst&uuml;ck, dem &#8250;neuen Herrn&#8249; &mdash; das
+&uuml;brigens ein unglaublich taktloser Angriff auf
+Bismarck ist &mdash; hat er pers&ouml;nlich gezeigt, wie ein Hohenzoller
+sich bewegen und benehmen mu&szlig;,&laquo; &mdash; f&uuml;gte ein
+anderer hinzu, &raquo;kurz, der liebe Gott kann alles, aber der
+Kaiser kann alles besser,&laquo; lachte Onkel Walter. Und die
+alte Tante sch&uuml;ttelte sich vor Vergn&uuml;gen: &raquo;Als <em class="antiqua">roi soleil</em>
+hat er sich ja auch schon malen lassen!&laquo;</p>
+
+<p>Nur die Kleves waren verlegen und still, und Papa
+hatte sich mit bezeichnenden Blicken auf die jungen
+Offiziere schon oft vernehmbar ger&auml;uspert.</p>
+
+<p>&raquo;Nun aber genug des grausamen Spiels,&laquo; unterbrach
+er schlie&szlig;lich den allgemeinen Redeflu&szlig;. &raquo;Ich
+komme gewi&szlig; nicht in den Verdacht, ein Sachwalter des
+neuen Kurses zu sein, wenn ich daran erinnere, da&szlig;
+wir doch auch Ursache haben, dem jungen Herrn zuzustimmen.
+Schien er im &Uuml;berschwang jugendlicher Gef&uuml;hle
+den Herren Sozialdemokraten Konzessionen zu machen
+und den Arbeitern die Backen zu streicheln, so hat er doch
+beizeiten gestoppt und andere Saiten aufgezogen &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Doch die Verteidigung steigerte nur die Heftigkeit des
+Angriffs. Merkw&uuml;rdig, welche Reizbarkeit alle Menschen
+befallen hatte, wie es fast unm&ouml;glich schien, eine ruhige
+Unterhaltung zu f&uuml;hren.</p>
+
+<p>&raquo;Du siehst die Dinge wirklich nur von au&szlig;en, lieber
+Hans,&laquo; rief Onkel Walter, der sich als Reichstagsmitglied
+f&uuml;hlte und sich gern das Ansehen gab, als w&auml;re
+er in alle politischen Kulissengeheimnisse eingeweiht;
+&raquo;tats&auml;chlich steuert man direkt in den Sozialismus hinein,
+und das um so rascher, je mehr man uns, die einzigen
+St&uuml;tzen der Monarchie, vor den Kopf st&ouml;&szlig;t. Ist es er<a name="Page_478" id="Page_478"></a>h&ouml;rt,
+da&szlig; von einem preu&szlig;ischen K&ouml;nige Ausdr&uuml;cke wie
+der von der Rebellion der Junker kolportiert werden
+k&ouml;nnen, da&szlig; Reden gehalten werden, wie auf dem
+brandenburgischen Provinziallandtag, die nichts anderes
+sind, als ein Kriegsruf gegen uns?!&laquo;</p>
+
+<p>Meine Mutter stimmte eifrig zu. &raquo;Der Geist der
+Unzufriedenheit, von dem der Kaiser sprach, und der die
+Seelen vergiftet, ist wahrhaftig anderswo zu suchen!&laquo;
+sagte sie und lenkte die Unterhaltung auf die moderne Literatur.
+Seitdem sie &raquo;Die Ehre&laquo; und &raquo;Sodoms Ende&laquo; gesehen
+hatte, schien sie von dem Eindruck ganz beherrscht
+zu sein und schwankte zwischen der Emp&ouml;rung, die die
+traditionelle Auffassung von dem, was sich schickt, ihr
+auspre&szlig;te, und zwischen der Anerkennung, zu der ihr
+Gerechtigkeitsgef&uuml;hl sie zwang. Sie w&uuml;nschte sichtlich ihre
+Emp&ouml;rung zu st&auml;rken, aber unsere G&auml;ste hielten dies
+Thema nicht f&uuml;r der M&uuml;he wert, um sich deswegen zu
+erhitzen. &raquo;Wie kannst du dergleichen ernsthaft nehmen,&laquo;
+meinte Onkel Walter achselzuckend; &raquo;eine neue Form
+am&uuml;santer Schweinereien &mdash; nichts weiter.&laquo; Nur Tante
+Jettchen ereiferte sich: &raquo;Anst&auml;ndige Leute gehen in solche
+St&uuml;cke nicht.&laquo; Und erleichtert &uuml;ber die Wendung des
+Gespr&auml;chs, sekundierte ihr die fromme Tante aus Potsdam.</p>
+
+<p>Am Tisch der Jugend, wo man indessen Schreibspiele
+gespielt hatte, sa&szlig; ich in steigender Erregung. Pl&ouml;tzlich
+trafen mich die scharfen Augen des Familienorakels.
+&raquo;Ich glaube gar, das K&uuml;ken m&ouml;chte mitreden, wo sie
+nicht einmal hinh&ouml;ren sollte.&laquo; Ich wurde rot. Auf
+der faltigen Stirn der alten Frau erschienen hundert
+neue Runzeln. &raquo;Du erlaubst dir am Ende, eine andere
+Meinung zu haben?!&laquo; forderte sie mich heraus. Ver<a name="Page_479" id="Page_479"></a>legenheit
+vor all den Blicken, die sich auf mich richteten,
+Angst vor dem Skandal, den ich erregen w&uuml;rde, lie&szlig;en
+mich schweigen. Aber als wir Jugend beim Abendessen,
+getrennt von den anderen, zusammensa&szlig;en und Hermann
+Wolkenstein eine wegwerfende Bemerkung machte, die
+mir in seinem Munde doppelt l&auml;cherlich vorkam, verteidigte
+ich die moderne Richtung in Kunst und Literatur,
+und zwar um so sch&auml;rfer, je mehr mich die Beschr&auml;nktheit
+und der dumme Hochmut der anderen emp&ouml;rte.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig; Tante Klotilde um deine Ansichten?&laquo; frug unvermittelt
+eine der Potsdamer Kleves und streifte mich
+mit einem schiefen, lauernden Blick.</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;rde vor ihr am wenigsten Ansto&szlig; nehmen, sie
+zu entwickeln,&laquo; antwortete ich und warf den Kopf zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Von dir wundert mich schon gar nichts mehr,&laquo; meinte
+Hermann naser&uuml;mpfend. &raquo;Wer sich mit j&uuml;dischen Literaten
+intimiert ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Beleidige doch deine Vorfahren nicht noch im
+Grabe &mdash;&laquo; spottete ich.</p>
+
+<p>Er warf mir einen b&ouml;sen Blick zu. Die anderen,
+ihrer tadellosen Ahnenreihe bewu&szlig;t, l&auml;chelten leise. Das
+reizte ihn noch mehr. Er hieb mit der riesigen, wei&szlig;en,
+gepflegten Hand auf den Tisch, da&szlig; sein Kettenarmband
+klirrend unter der Manschette hervorsprang.</p>
+
+<p>&raquo;Und du spiel' dich nicht auf,&laquo; zischte er zwischen
+den Z&auml;hnen hervor; &raquo;mit deiner Vergangenheit hast du
+am wenigsten Grund dazu.&laquo; Ein unartikulierter Laut
+lie&szlig; mich den Kopf rasch zur anderen Seite wenden,
+Fritz hatte ihn ausgesto&szlig;en. Er sa&szlig; da, kreidewei&szlig; im
+Gesicht, mit zuckenden Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden meine Kusine um Verzeihung bitten,<a name="Page_480" id="Page_480"></a>
+Baron Wolkenstein,&laquo; herrschte er Hermann an. &raquo;Habe
+gar keine Ursache, Herr von Langenscheid,&laquo; antwortete
+dieser, lehnte sich breit in den Stuhl zur&uuml;ck und steckte
+die H&auml;nde in die Hosentaschen. Ich umklammerte hastig
+die hei&szlig;en Finger meines Verteidigers. &raquo;Mach doch
+keine Geschichten, Fritz &mdash;, Hermann ist taktlos wie
+immer &mdash; bitte, mir zuliebe, beruhige dich! &mdash; das ist
+ja gr&auml;&szlig;lich &mdash; hier, im Hause meiner Eltern!&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick fingen die Verwandten im Nebenzimmer
+an, sich zu verabschieden. Fritz zog mich beiseite.
+Er zitterte vor Erregung.</p>
+
+<p>&raquo;Und du verteidigst dich nicht einmal gegen solche
+Gemeinheit,&laquo; fl&uuml;sterte er mit erstickter Stimme.</p>
+
+<p>&raquo;Verteidigen?! Vor solch einem Menschen?!! Soll
+ich ihm vielleicht eingestehen, da&szlig; ich einmal im Leben
+liebte, &mdash; mit ganzer Seele und mit vollem Herzen?!
+Soll vor den Leuten, die gar keiner starken Empfindung
+f&auml;hig sind, mein Inneres entbl&ouml;&szlig;en, was ich vor mir
+selbst zu tun kaum den Mut habe?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Alix!&laquo; von weit her schien jemand meinen Namen
+zu rufen, mit einem Ausdruck, der mir in die Seele
+schnitt.</p>
+
+<p>Im n&auml;chsten Moment beugte ich mich zum Abschied
+&uuml;ber die welke Hand Tante Jettchens, h&ouml;rte mit halbem
+Ohr ein allgemeines Stimmengewirr und f&uuml;hlte schlie&szlig;lich
+noch Papas Lippen auf meiner Stirn.</p>
+
+<p>&raquo;Gott Lob,&laquo; murmelte er, &raquo;den Abend h&auml;tten wir
+hinter uns!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_481" id="Page_481"></a>Vertr&auml;umt und erstaunt sah ich um mich, als ich
+acht Tage sp&auml;ter in Weimar ankam. Stand
+die Zeit hier seit zehn Jahren still?! Derselbe
+helle Maienabend wie damals empfing mich. Und
+in dasselbe alte Haus an der Ackerwand f&uuml;hrte mich
+die Hofequipage, wie einst, als die Gro&szlig;mutter ihr
+Enkelkind zum erstenmal hergeleitete. Sie freilich war
+nicht mehr da, und doch war mirs, als ob ihr Kleid
+neben mir die Treppe hinauf rauschte. Auch ihr Bruder
+war lange tot, und doch schien's, als w&auml;re der sch&ouml;ne,
+tief br&uuml;nette Mann mit den schmalen H&auml;nden und dem
+leicht gebeugten Nacken, der mich empfing, kein anderer
+als er.</p>
+
+<p>Im Rokokosalon mit den vielen Miniaturen &uuml;ber
+dem grazi&ouml;sen Sofa und den verbla&szlig;ten Pastellbildern
+an der mattblauen Seidentapete erhob sich aus dem
+goldgeschnitzten Lehnstuhl am Fenster ein schlankes Frauenbild
+und streckte mir mit einem s&uuml;&szlig;-z&auml;rtlichen L&auml;cheln
+ein wei&szlig;es H&auml;ndchen entgegen. War das wirklich die
+Gr&auml;fin Wendland &mdash; meine Tante &mdash;, oder war es
+nicht Frau von Stein, deren Schatten sich aus dem
+Nebenhaus hierher verirrt hatte?! Dann kamen die
+Kinder und begr&uuml;&szlig;ten mich, &mdash; lauter kleine Elfen mit
+allzu schweren Haaren auf den feinen K&ouml;pfchen und
+allzu gro&szlig;en Blauaugen &uuml;ber den schmalen Wangen.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en vor meinem Zimmer pl&auml;tscherte der Brunnen,
+wie vor uralten Zeiten, und die B&auml;ume rauschten feierlich,
+als tr&auml;fe ihre Kronen niemals ein Wirbelsturm.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen besuchte mich der Gro&szlig;herzog.
+Er kam zu Fu&szlig; und unangemeldet, mit den raschen
+<a name="Page_482" id="Page_482"></a>elastischen Schritten eines jungen Mannes; ich hatte
+kaum Zeit, ihm bis zum Treppenaufgang entgegenzugehen.
+Und dann sa&szlig; er mir im Rokokosalon gegen&uuml;ber, und
+je l&auml;nger er sprach &mdash; mit heller Stimme und in dem
+eleganten Franz&ouml;sisch des <em class="antiqua">ancien r&eacute;gime</em> &mdash;, desto tiefer
+versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel
+stieg die Vergangenheit empor. Von der Gro&szlig;mutter
+erz&auml;hlte er mir zuerst, wie sch&ouml;n und wie gut und wie
+klug sie gewesen w&auml;re, wie sie Weimars Geist in sich
+verk&ouml;rpert habe, wie er nie habe verstehen k&ouml;nnen, da&szlig;
+sie <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'andersvo'">anderswo</ins> als in ihrer Seelenheimat zu leben imstande
+gewesen war. Zuweilen legte er die Hand &uuml;ber die
+Augen, eine gelbliche, blutleere muskellose Hand, die
+gewi&szlig; niemals fest zuzupacken vermocht hatte, und lehnte
+sich, als k&auml;me pl&ouml;tzlich die Erinnerung an das eigene
+Alter &uuml;ber ihn, tief in den Stuhl zur&uuml;ck. Aber gleich
+darauf reckte sich sein schmaler Oberk&ouml;rper krampfhaft
+auf, die H&auml;nde umschlossen die Seitenlehnen, die Augen
+weiteten sich, und mit dem stereotypen angelernten F&uuml;rstenl&auml;cheln,
+das &uuml;ber jede Empfindung hinweg t&auml;uschen soll,
+begann er wieder zu reden. Nun war ich nicht mehr
+das Enkelkind der Freundin seiner Jugend, sondern die
+Schriftstellerin, von der er die Erf&uuml;llung eines langgehegten
+Wunsches erwartete. Die Geschichte der Gesellschaft
+Weimars sollte ich schreiben, jener Gesellschaft,
+die seit Goethes Ankunft in der Residenz Karl Augusts
+&raquo;getreu ihrer Tradition, K&uuml;nstler und Dichter als gleichberechtigte
+aufgenommen und ihnen den Weg zum Ruhm
+gebahnt hat.&laquo; Und von den Vielen erz&auml;hlte er, denen
+Weimar ein Sprungbrett ins Leben gewesen war, die
+hier zuerst die Anerkennung fanden, die die Welt drau&szlig;en
+<a name="Page_483" id="Page_483"></a>ihnen versagte. Er begeisterte sich an seinem eigenen
+Gedankengang, sein farbloses Gesicht &uuml;berzog sich mit
+einer ganz feinen bl&auml;ulichen R&ouml;te, und in seinen verschleierten
+Augen entz&uuml;ndete sich ein stilles Licht.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind pr&auml;destiniert, dies Werk zu schaffen: Getr&auml;nkt
+mit Weimars Erinnerungen, erzogen in Weimars
+Geist, geleitet von dem unfehlbaren Takt der Aristokratin,&laquo;
+sagte er, indem er sich erhob und mir die Hand reichte.
+&raquo;Von Ihnen brauche ich keine jener widerw&auml;rtigen Enth&uuml;llungen
+zu f&uuml;rchten, die die Kunst beschmutzen, das
+Leben vergiften. Meine Archive stehen Ihnen offen;
+dasselbe glaube ich auch im Namen der Gro&szlig;herzogin
+versprechen zu d&uuml;rfen. Ich hoffe, Sie oft zu sehen &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Zu einer Antwort lie&szlig; er mir keine Zeit mehr, &mdash; da&szlig;
+ich nicht nein sagen k&ouml;nnte und d&uuml;rfte, war ihm selbstverst&auml;ndlich.
+Ich hatte mich nur noch tief und dankbar
+zu verneigen.</p>
+
+<p>Und immer enger spann sich Weimars Zaubernetz mir
+um Geist und Sinne. Mit offenen Armen, wie eine
+Heimkehrende, ward ich &uuml;berall aufgenommen. W&auml;hrend
+langer Audienzen besprach die Gro&szlig;herzogin meine Arbeit
+im Goethe-Archiv mit mir. Sie blieb stets in jedem
+Wort und jeder Bewegung die unnahbare F&uuml;rstin, und
+doch lag ein m&uuml;tterlicher Ausdruck auf ihren Z&uuml;gen,
+wenn ich eintrat. Der kleine, derbe Erbgro&szlig;herzog, in
+allen St&uuml;cken das Gegenteil seines Vaters, glich ihm
+mir gegen&uuml;ber in der Freundlichkeit, die durch seinen
+breiten Weimarer Dialekt und seine mit einer gewissen
+Absichtlichkeit &uuml;bertriebene Verachtung aller Form noch
+um einen Schein herzlicher war, und seine gute, dicke
+Frau, die gewi&szlig; eine pr&auml;chtige Landpastorin abgegeben
+<a name="Page_484" id="Page_484"></a>h&auml;tte, unterst&uuml;tzte ihn darin. Mit der halben Hofgesellschaft
+verbanden mich verwandtschaftliche Beziehungen;
+Vettern und Kusinen sechsten und achten Grades behandelten
+einander hier in dem festgeschlossenen Kreise
+wie nahe Blutsverwandte. Wir waren in gro&szlig;er Gesellschaft,
+wenn kaum einer unter uns nicht &raquo;Du&laquo; zu dem
+anderen sagte.</p>
+
+<p>Wie ein s&uuml;&szlig;er Duft verl&ouml;schter Wachskerzen schwebte
+die Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert &uuml;ber all
+diesen Menschen und ihrer Umgebung. Alles war verbla&szlig;t,
+was damals in Farben und Gef&uuml;hlen gejauchzt
+und geschwelgt hatte: die Rosenteppiche, &mdash; die gemalten
+Wangen, &mdash; die Liebe. Und die raschelnden bauschenden
+Gew&auml;nder, die Sch&ouml;npfl&auml;sterchen, die bunten Westen, die
+wei&szlig;en Per&uuml;cken und Galanteriedegen hatten die Damen
+und Herren abgelegt. Sie sahen darum oft recht d&uuml;rftig
+und ungeschickt aus. Nur wenn im Schlo&szlig; die L&uuml;ster
+brannten und das blanke Parkett und die hohen Spiegel
+ihr Licht tausendf&auml;ltig wiedergaben, schienen sie sich des
+alten Lebens bewu&szlig;t zu werden. Sie tanzten und lachten
+und neigten sich und nippten vom s&uuml;&szlig;en Weine, und
+ich selbst mitten darin kam mir vor wie ihresgleichen:
+ein Schatten der Vergangenheit.</p>
+
+<p>Auch in die B&uuml;rgerh&auml;user kam ich, wo Erinnerungen
+alter Zeiten in vergilbten Briefen, z&auml;rtlich-himmelblauen
+Stammb&uuml;chern, Ringen aus den Haaren der Liebsten,
+Prunktassen mit den Bildern der Unsterblichen verwahrt
+wurden. Der freundliche, ein wenig sentimentale,
+ein wenig enge Geist der drei&szlig;iger Jahre herrschte hier.
+Keine moderne Renaissance hatte die gradlinigen Biedermeierm&ouml;bel
+und die hellen Mullgardinen verdr&auml;ngt, und
+<a name="Page_485" id="Page_485"></a>trotzdem der Rausch der Farben und der T&ouml;ne eines
+B&ouml;cklin, eines Liszt und Wagner ihr Auge und ihr Ohr
+getroffen hatte, standen sie inmitten der weichen M&auml;rchentr&auml;ume
+Schwindscher W&auml;lder, und in ihrem Inneren
+klangen die Volksweisen Felix Mendelsohns.</p>
+
+<p>Ich arbeitete jeden Vormittag in den R&auml;umen des
+Goethe-Archivs, hoch oben im linken Schlo&szlig;fl&uuml;gel, durch
+dessen Fenster der Blick weit &uuml;ber den Park hinweg
+schweifen konnte und das Ohr nichts vernahm als das
+leise Geschw&auml;tz zwischen der pl&auml;tschernden Ilm und den
+gr&uuml;nen Baumbl&auml;ttern &uuml;ber ihr. Die gelehrten Herren,
+die mit mir arbeiteten, behandelten mich mit jener ausgesuchten
+H&ouml;flichkeit, die Mauern aufrichtet zwischen den
+Menschen. Sie beantworteten meine Fragen, sie brachten
+mir, was ich brauchte, sie verbeugten sich tiefer vor mir,
+als es n&ouml;tig gewesen w&auml;re, aber ich f&uuml;hlte trotzdem die
+Geringsch&auml;tzung des deutschen Gelehrten vor dem Weibe,
+das in seine Kreise dringt. Doch je l&auml;nger ich in
+Weimar war, desto dichter umh&uuml;llte mich eine Atmosph&auml;re
+des Weihrauchs, die mich nicht nur unempfindlich, sondern
+auch unnahbar hochm&uuml;tig machte. Nur einer, der Direktor,
+ein geistvoller Sonderling, begegnete mir wie ein Mensch
+dem Menschen. Zuweilen aber kam es vor, da&szlig; ich
+seine v&auml;terlichen Ermahnungen, seine klugen Ratschl&auml;ge,
+seine sarkastischen Kritiken nicht mehr vertrug. Nicht
+nur die Eitelkeit, die in der Treibhausluft der Salons
+so &uuml;ppig gedieh, auch die Ungeduld, die mich oft mitten
+in der Arbeit packte, trug daran die Schuld.</p>
+
+<p>&raquo;Man degradiert sich zum Lumpensammler bei dieser
+ewigen Papierkorbarbeit,&laquo; rief ich einmal emp&ouml;rt, als ich
+eine Notiz, die mir fehlte, durchaus nicht finden konnte.</p>
+
+<p><a name="Page_486" id="Page_486"></a>Der Direktor, der mir w&auml;hrend der letzten Stunden
+geholfen hatte, sah mich stirnrunzelnd an.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind sehr jung und sehr voreilig, gn&auml;diges
+Fr&auml;ulein,&laquo; sagte er scharf. &raquo;Wer zur Vollendung eines
+Mosaikbildes ein einziges Steinchen braucht und Kisten
+und Kasten, selbst Bergwerke darnach durchforscht, der
+leistet eine wertvollere Arbeit, als mancher, der ein
+ganzes Gem&auml;lde in zwei Stunden hinpatzt. &#8250;Beschr&auml;nkung
+ist &uuml;berall unser Loos,&#8249; sagt unser Meister, und mit
+vollem Bewu&szlig;tsein einseitig werden, ist der Ausgangspunkt
+t&uuml;chtiger Leistung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Beschr&auml;nkung ist &uuml;berall unser Loos&laquo;, &mdash; das bohrte
+sich in mein Gehirn &mdash; ich suchte von da an meine
+Steinchen und unterdr&uuml;ckte mein Murren.</p>
+
+<p>An einem Lenztag, der so reich war, als h&auml;tten alle
+Lieder der S&auml;nger Weimars sich in Duft und Glanz
+und Farben verwandelt, fuhren wir hinauf nach Belvedere.
+Der Gro&szlig;herzog hatte uns zum Fr&uuml;hlingsfest
+in sein Schl&ouml;&szlig;chen geladen. In eine Laube von Maigl&ouml;ckchen
+und Rosen war der runde Gartensaal verwandelt;
+durch die weit ge&ouml;ffneten T&uuml;rbogen lachte der
+blaue Himmel, auf dem blinkenden Silber und den geschliffenen
+Kristallen der Tafel gl&auml;nzte die Sonne, die
+Zahl der Tischg&auml;ste &uuml;berstieg nicht die der Musen, und
+ein heiteres Gespr&auml;ch, das wie der Wiesenbach alle Ecken
+und Kanten meidet und selbst die Steine streichelt, die ihm
+im Wege liegen, flutete hin und her. Warum nur meine Gedanken
+zuweilen den Faden verloren, und der M&auml;rchenwald
+am gr&uuml;nen Badersee mir wie eine Fatamorgana erschien
+und k&uuml;hler Bergwind mir die Stirn umstrich? &mdash; der Duft
+der Maigl&ouml;ckchen war es wohl, der den Zauber hervorrief.</p>
+
+<p><a name="Page_487" id="Page_487"></a>In den Park geleitete uns unser Gastgeber nach dem
+Diner. Er zeigte mir das Labyrinth und die Naturb&uuml;hne
+und wies mit liebevoller Bewunderung auf die
+sanften waldigen H&uuml;gelketten, die sich weit bis in die
+Ferne dehnten. &raquo;Das ist Sch&ouml;nheit,&laquo; sagte er, &raquo;ruhig-vornehme
+Sch&ouml;nheit, ein reiner Rahmen f&uuml;r echte Kunst,
+wie wir sie in Weimar gepflegt haben und pflegen
+werden. Ich freue mich, da&szlig; Sie uns helfen wollen. &mdash; Sie
+werden in Weimar bleiben, nicht wahr?&laquo; Ich
+antwortete ausweichend. Er verstand mich falsch: &raquo;Eine
+Stellung zu finden, die Ihnen entspricht, d&uuml;rfen Sie
+mir &uuml;berlassen,&laquo; und mit einem freundlichen H&auml;ndedruck
+wandte er sich anderen zu. Auf dem Heimweg
+gratulierten mir meine Verwandten. Graf Wendland,
+der hinter den All&uuml;ren eines tadellosen Hofmannes einen
+klugen, merkw&uuml;rdig freien Menschen verbarg, meinte mit
+einem feinen L&auml;cheln: &raquo;Der wei&szlig;e Falke wird der Hofhistoriographin
+nicht fehlen. Ein Ziel, aufs innigste
+zu w&uuml;nschen, nicht wahr?!&laquo;</p>
+
+<p>An demselben Abend war ich bei einer meiner vielen
+Tanten zum Souper. Aber es war eine, die nicht wie
+die vielen war, &mdash; ein Original, &uuml;ber das die Familie die
+Achseln zuckte und die K&ouml;pfe sch&uuml;ttelte. Sie hatte sich
+schon in ihrer fr&uuml;hen M&auml;dchenzeit Weimar zum Trotz
+ihr eigenes Leben geschaffen. Sie suchte sich ihre Hausfreunde
+unter den K&uuml;nstlern und Dichtern, die sonst in
+Goethes Stadt doch nur zu wirksamen Dekorationsst&uuml;cken
+der Hofgesellschaften verwendet wurden. So war sie
+allm&auml;hlich zur m&uuml;tterlichen Freundin all der jungen
+Menschen geworden, die hier auf der steilen Leiter zum
+Ruhm die ersten Schritte taten oder k&uuml;nstlerische Offenbarungen
+suchten. Und wem der Zwang des Hofes
+l&auml;stig wurde, wer frischere Luft brauchte, wem ein freies
+Wort auf der Zunge brannte, der kam zu ihr.</p>
+
+<p>Heute waren sie alle um ihren Teetisch versammelt, die
+Alten und Jungen: Lassens jovialer K&uuml;nstlerkopf tauchte
+neben dem sch&ouml;nen Schillerprofil Alexander von Gleichens
+auf; ein paar ausw&auml;rtige Freunde, Schriftsteller und
+Theaterdirektoren, die zum bevorstehenden Goethe-Gesellschaftstag
+schon angekommen waren, fanden sich ein;
+Richard Strau&szlig; stand sch&uuml;chtern in einer Ecke, der blasse
+junge Kapellmeister, den die meisten verlachten, und der
+hier bei der g&uuml;tigen Frau, die ihn eben in schwerer
+Krankheit gepflegt hatte, wie Kind im Hause war. Und
+schmal und bla&szlig; wie er, in altmodischem Sammetkleid
+und glattgescheiteltem Haar tauchte ein M&auml;dchen &mdash; nicht
+jung, nicht alt &mdash; in der T&uuml;re auf, das mir die Tante
+schon oft als gro&szlig;es dichterisches Talent gepriesen hatte:
+Gabriele Reuter. Und eine junge S&auml;ngerin kam,
+eine bayerische Oberstentochter, die trotz ihrer sch&ouml;nen
+Stimme auf der B&uuml;hne nicht heimisch werden konnte
+und &auml;ngstlich, wie ein verirrter Vogel, nach Menschen
+suchte, die sich ihrer annahmen. Die Hausfrau dirigierte
+wie ein Feldherr die bunte Gesellschaft und das
+Gespr&auml;ch, &mdash; und warf ein geistvolles Wort hinein,
+wenn es auf die Landstra&szlig;e allgemeinen Klatsches zu
+geraten drohte. Schlie&szlig;lich stritt man sich hitzig &uuml;ber
+Weimars Bedeutung f&uuml;r das geistige Leben der Gegenwart.</p>
+
+<p>&raquo;K&uuml;nstler bed&uuml;rfen der Ruhe,&laquo; sagte Gleichen, &raquo;aber
+sie verkommen und versauern, wenn sie nicht immer
+wieder mit einer Ladung von Ideen aus der Welt
+drau&szlig;en hierher zur&uuml;ckkehren.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_488" id="Page_488"></a></p>
+<p><a name="Page_489" id="Page_489"></a>Lebhaft widersprach Werner von Eberstein, ein junger
+Historiker, der im gro&szlig;herzoglichen Hausarchiv t&auml;tig war.
+&raquo;F&uuml;r den Mann der Wissenschaft gibt es nichts Besseres,
+als in diesen sicheren Port einzulaufen, wo nichts ihn
+von seinen Studien ablenkt.&laquo;</p>
+
+<p>Die Tante ergriff lebhaft Gleichens Partei. &raquo;Alten
+Leuten mag das entsprechen. Euch Jungen aber mu&szlig; der
+Sturm erst t&uuml;chtig um die Nase blasen,&laquo; sagte sie. &raquo;Ausgegangen
+sind viele von hier, mit Schaffenskraft ges&auml;ttigt,
+aber etwas geworden sind sie erst au&szlig;erhalb unserer milden
+Luft. So gern ich Euch habe, Kinder, &mdash; hinaustreiben m&ouml;cht
+ich Euch alle miteinander,&laquo; und damit nickte sie dem schmalbr&uuml;stigen
+Musiker und der sch&uuml;chternen kleinen Schriftstellerin
+zu, um sich gleich darauf an mich und an
+Eberstein zu wenden, der neben mir sa&szlig; und ihr Neffe war:</p>
+
+<p>&raquo;Ihr seid beide schon in Vorschu&szlig;lorbeeren eingewickelt
+bis an den Hals, aber trotzdem gebe ich euch noch
+nicht auf. Habt die Selbstverleugnung, sie abzurei&szlig;en!
+Hoflust erstickt Talente, genau so wie die der Hinterhausstuben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind ganz bla&szlig; und still geworden, liebes Fr&auml;ulein,&laquo;
+sagte Gleichen, als er mich sp&auml;t in der Nacht
+nach Hause begleitete. &raquo;Glauben Sie, ich h&auml;tte meine
+verr&uuml;ckten Krautg&auml;rten malen k&ouml;nnen, wenn ich die
+Blumen und die Sonne nicht anderswo gesehen h&auml;tte
+als hier?!&laquo;</p>
+
+<p>Er kam mir vor wie ein alter Freund, obwohl ich
+ihm zum erstenmal begegnet war.</p>
+
+<p>&raquo;Aber vielleicht bedeutet Weimar f&uuml;r mich, was f&uuml;r
+Sie die &uuml;brige Welt bedeutet: Leben &mdash; Befreiung?!&laquo;
+antwortete ich.</p>
+<p><a name="Page_490" id="Page_490"></a></p>
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte er energisch und dr&uuml;ckte mir die Hand.
+&raquo;Nein &mdash; Sie brauchen gr&ouml;&szlig;eren Spielraum f&uuml;r Ihre
+Freiheit.&laquo;</p>
+
+<p>Ich wurde m&uuml;der von Tag zu Tag. War es die
+t&auml;gliche stundenlange Morgenarbeit in den Archiven, war
+es die ununterbrochene Geselligkeit am Mittag und
+am Abend, die mich allm&auml;hlich erschlafften? Ich wurde
+mir nicht klar dar&uuml;ber. Aber ich sehnte mich in die
+Stille der Berge, wo ich mit Hilfe der aufgeh&auml;uften
+Materialien mein Buch zu beginnen die Absicht hatte.
+Nur die Goethe-Tage wollte ich noch abwarten. Sie
+fielen in diesem Jahre mit dem Jubil&auml;um des alten
+Theaters zusammen und zogen Ber&uuml;hmtheiten aus aller
+Herren L&auml;ndern nach Weimar. Auch meine Berliner
+Freunde fehlten nicht.</p>
+
+<p>&raquo;Habe ich ihnen nicht gut geraten?&laquo; meinte Professor
+Fiedler mit ehrlicher Freude, als er mich im
+Mittelpunkt der Gesellschaft, von Anerkennung und
+Schmeichelei umgeben, wiedersah.</p>
+
+<p>&raquo;Welch eine Ehre f&uuml;r mich, mein gn&auml;diges Fr&auml;ulein,&laquo;
+sagte der Mann mit dem Goethekopf, als er bei einem
+Diner neben mir sa&szlig;.</p>
+
+<p>Und ich sah mit wachsendem Mi&szlig;vergn&uuml;gen, wie tief
+all die M&auml;nner der Kunst und Wissenschaft die grauen
+K&ouml;pfe vor den F&uuml;rsten neigten, wie sie erwartungsvoll,
+stumm und aufgeregt in Reih und Glied standen und
+ein Ausdruck von Begl&uuml;ckung das Gesicht jedes Einzelnen
+belebte, wenn der Gro&szlig;herzog ein paar nichtssagende
+Worte an ihn richtete. Ich wurde mi&szlig;trauisch gegen
+jeden, der mich zuvorkommend behandelte. Selbst die
+Freude an den Versen, die der greise Bodenstedt an
+<a name="Page_491" id="Page_491"></a>mich richtete, verbitterte mir der Gedanke, da&szlig; nur der
+Glanz der Krone, in deren hellem Umkreis ich stand,
+mich dem Dichter als das erscheinen lie&szlig;, was er besang.</p>
+
+<p>Mit mir selbst zerfallen, sa&szlig; ich am Vorabend meiner
+Abreise im dunklen Hintergrund der kleinen Hofloge des
+Theaters und sah den Faust. Wie seltsam geschah mir:
+Acht Wochen hatte ich in Goethes Stadt gelebt, hatte
+t&auml;glich die Luft geatmet, die droben im Archiv sein Lebenswerk
+in seinen Schriften umgab, und nun pl&ouml;tzlich sprach
+er selbst, und &mdash; ich kannte ihn nicht! Als h&auml;tte ich
+sie niemals gelesen, niemals auswendig gewu&szlig;t, trafen
+seine Worte mein Ohr; lauter grelle Blitze, die das Dunkel
+erhellten, lauter Donnerschl&auml;ge, die mich erbeben lie&szlig;en.</p>
+
+<p>Das war des Menschen Schicksal, das an mir
+vor&uuml;ber rollte; mein eigen kleines Leben sah ich darin
+verflochten mit seinen K&auml;mpfen und Niederlagen. Und
+vor einer Niederlage stand ich wieder. &raquo;Nur der verdient
+sich Freiheit, wie das Leben, der t&auml;glich sie erobern
+mu&szlig;&laquo; dr&ouml;hnte es mir in den Ohren.</p>
+
+<p>Am Ausgang des Theaters traf ich Gleichen. Ich
+dr&uuml;ckte ihm die Hand. &raquo;Leben Sie wohl&laquo;, sagte ich.
+&raquo;Sie reisen?&laquo; Er sah mich forschend an. &raquo;Ja, &mdash; und
+ich werde nicht wiederkommen.&laquo;</p>
+
+<p>Auf dem Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch fand ich am n&auml;chsten Morgen
+zwei Briefe: vom Gro&szlig;herzog, der mich aufforderte, den
+Hof nach Wilhelmstal zu begleiten, von Tante Klotilde,
+die mir mitteilte, da&szlig; sie mich in diesem Sommer in
+Grainau nicht erwarten k&ouml;nne, weil sie, dem Rate meiner
+Mutter folgend, eine der Potsdamer Nichten zu sich gebeten
+habe. Ich zuckte unwillk&uuml;rlich zusammen, als habe
+mir jemand hinterr&uuml;cks einen Schlag ins Genick versetzt.<a name="Page_492" id="Page_492"></a>
+&raquo;Also werd' ich nach Pirgallen gehen,&laquo; sagte ich laut,
+wie zu mir selbst.</p>
+
+<p>&raquo;Nach Pirgallen?!&laquo; frug die kleine Rokokogr&auml;fin erstaunt.
+&raquo;Man rechnet doch auf dich f&uuml;r Wilhelmstal!&laquo;
+&raquo;Ich werde ablehnen m&uuml;ssen, &mdash; mein Buch soll zum
+Herbst fertig werden, &mdash; ich brauche den Sommer zur
+Arbeit,&laquo; antwortete ich ein wenig z&ouml;gernd. Es war ein
+paar Augenblicke still in dem wei&szlig;en, von der Morgensonne
+hell durchfluteten Speisesaal. Nur der Teekessel
+sang, und drau&szlig;en &uuml;ber das holprige Pflaster rasselte
+eine Hofequipage.</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;berlege es dir reiflich,&laquo; begann Graf Wendland
+langsam und sah mit gerunzelter Stirn auf seine blanken
+Fingern&auml;gel. &raquo;Es ist vielleicht eine Lebensentscheidung,
+die du triffst&laquo;, &mdash; ein langer pr&uuml;fender Blick traf mich, &mdash; &raquo;du
+wei&szlig;t wohl noch nicht &mdash; Prinz Hellmut hat
+am Mariental das Schlo&szlig; seiner eben verstorbenen Tante
+&uuml;bernommen ...&laquo;</p>
+
+<p>Wieder war es still. Ich h&ouml;rte das Summen einer
+Biene am Fenster und sah, wie schwarz und schwer das
+alte eichene Buffet sich von der wei&szlig;en Wand abhob.
+Mein Herzschlag setzte aus, um im n&auml;chsten Moment
+atemlos zu toben, wie eine rasende Maschine. Hellmut &mdash; &mdash;!
+Er hatte mich gehen hei&szlig;en, als ich mich
+ihm geben wollte &mdash; &mdash;! Aber hatte er nicht, wie ich,
+unter dem Zwang gro&szlig;er, selbstverleugnender Liebe gehandelt &mdash; &mdash;?
+Doch warum kam er nicht wieder &mdash; jetzt,
+da er ein freier Mann war? &mdash; Ich strich mir
+mit eiskalten, zitternden Fingern die Locken aus der
+Stirn:</p>
+
+<p>&raquo;Mein Entschlu&szlig; steht fest, &mdash; ich gehe nach Pirgallen!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_493" id="Page_493"></a>Und nun sa&szlig; ich in Gro&szlig;mamas stillem, gr&uuml;nem
+Zimmer unter dem wei&szlig;en Marmorbild ihres
+Vaters, und aus dem Garten gr&uuml;&szlig;ten die
+Jasminstr&auml;ucher mit gro&szlig;en, s&uuml;&szlig; duftenden Bl&uuml;ten.
+Niemand st&ouml;rte mich in dieser Einsamkeit. Onkel Walter
+f&uuml;rchtete die R&auml;ume der Toten, als ginge ihr Geist
+darin um. Mama glaubte mich bei der Arbeit, der
+Vater ritt mit dem Schwesterchen durch die W&auml;lder,
+wie einst mit mir. Ich hatte arbeiten wollen. B&uuml;cher
+und Notizen lagen in gro&szlig;en St&ouml;&szlig;en auf dem Tisch
+der Altane. Aber sobald ich sie aufschlug, schrumpften
+mir alle Gedanken ein. Tot und leer waren all die
+vielen Papiere, &mdash; wie sollte je etwas Lebendiges aus
+ihnen hervorgehen. Und was gingen mich im Grunde
+die fremden Dinge und Menschen an? Was w&uuml;rde die
+Welt davon haben, wenn ich des langen und breiten
+von denen erz&auml;hlte, die im Dunkel geblieben w&auml;ren,
+wenn nicht ein ganz Gro&szlig;er sie in seine N&auml;he gezogen
+h&auml;tte?</p>
+
+<p>In Gro&szlig;mamas B&uuml;cherschrank standen Goethes Werke
+in langer Reihe mit gr&uuml;nen Einb&auml;nden und wei&szlig;en
+runden Schildern auf dem R&uuml;cken. Ich begann zu lesen &mdash; stundenlang,
+tagelang, wochenlang &mdash;. Und je mehr
+ich las, desto mehr zog ich mich in die R&auml;ume zur&uuml;ck,
+die eine stille Insel waren mitten im Weltgetriebe.
+T&auml;glich schm&uuml;ckte ich sie mit frischen Blumen, wie Gro&szlig;mama
+es getan hatte, und zog des Nachts die dunkeln
+Sammetportieren vor T&uuml;ren und Fenster und steckte die
+Ampel an mit der gro&szlig;en Flamme unter dem sonnengoldnen
+Seidenschirm. Wenn ich dann halb die Augen
+<a name="Page_494" id="Page_494"></a>schlo&szlig;, sah ich das Zimmer erf&uuml;llt wie von einem flimmernden
+Nebel, aus dem die Statue Goethes immer
+gr&ouml;&szlig;er und lebendiger hervorwuchs.</p>
+
+<p>&raquo;Rede zu mir, Meister!&laquo; flehte meine Seele. Und er redete.</p>
+
+<p>&raquo;Dein Leben sieht einer Vorbereitung, nicht einem
+Werke gleich,&laquo; z&uuml;rnte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, welch ein Werk bleibt mir zu tun?!&laquo; schrie meine
+Seele.</p>
+
+<p>&raquo;Bleibe nicht am Boden haften &mdash; frisch gewagt und
+frisch hinaus,&laquo; h&ouml;rte ich die Stimme des Mahners, &raquo;dem
+T&uuml;chtigen ist diese Welt nicht stumm, &mdash; t&auml;tig zu sein,
+ist seine Bestimmung!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So zeige meiner Kraft eine Tat &mdash;&laquo;, und sehns&uuml;chtig
+streckte meine Seele die gefalteten H&auml;nde empor zu ihm.</p>
+
+<p>&raquo;Ein edler Held ists, der f&uuml;rs Vaterland, ein edlerer,
+der f&uuml;r des Landes Wohl, der edelste, der f&uuml;r die Menschheit
+k&auml;mpft....&laquo;</p>
+
+<p>Zu einem Tempel weitete sich das Zimmer, und von
+den Marmorw&auml;nden klangen dr&ouml;hnend die Worte seines
+Hohenpriesters wider.</p>
+
+<p>Der Boden leuchtete wie ein einziger Rubin, &mdash; tr&auml;nkte
+ihn der Menschheit ganzes, blutrotes Leiden?</p>
+
+<p>Hingestreckt lag meine Seele vor dem Altar.</p>
+
+<p>&raquo;Nenne mir Ziel und Ma&szlig;stab meines Strebens!&laquo;
+fl&uuml;sterte sie.</p>
+
+<p>&raquo;... Solch ein Gewimmel m&ouml;cht ich sehn &mdash; auf
+freiem Grund mit freiem Volke stehn....&laquo;</p>
+
+<p>Nicht mehr der eine war es, der also sprach, es war
+ein Chor von Millionen Stimmen, und alle Hoffnung
+der Verlassenen, alle Sehnsucht deren, die zu leben begehren,
+t&ouml;nte darin.</p>
+
+<p><a name="Page_495" id="Page_495"></a>Ein Brief von Egidy, erf&uuml;llt von den Ereignissen
+der Gegenwart und seinen Pl&auml;nen f&uuml;r die
+Zukunft, gab mich der Wirklichkeit zur&uuml;ck, und
+in unsicheren Umrissen sah auch ich ein Feld der Bet&auml;tigung
+vor mir. &raquo;Ihre &Uuml;bersiedelung nach Berlin
+freut mich au&szlig;erordentlich,&laquo; antwortete ich ihm, &raquo;und
+wenn ich Ihnen heute auch noch mit keinem Ja auf die
+Frage, ob ich Ihre Mitk&auml;mpferin werden kann, zu antworten
+vermag, so steht das Eine f&uuml;r mich fest: ich
+werde meine Kraft nicht im Durchst&ouml;bern alter Folianten
+verzehren und die Luft nicht durch Aufwirbeln ruhenden
+Staubes verdunkeln. Ich wei&szlig;, da&szlig; dem Christentum
+des Wortes das der Gesinnung und der Tat folgen
+mu&szlig;, &mdash; nur zweifle ich noch, ob wir dann auf den
+Namen Christentum noch ein Recht haben.</p>
+
+<p>Mein Entschlu&szlig;, Weimar endg&uuml;ltig aufzugeben, hat
+in meiner Familie viel Entr&uuml;stung hervorgerufen. Meine
+Mutter sieht darin einen neuen Beweis f&uuml;r meine
+Charakterschw&auml;che. &#8250;Alix ist noch niemals konsequent bei
+der Sache geblieben, &mdash; sie wechselt ihre Neigungen f&uuml;r
+Menschen und Dinge wie alte Handschuhe,&#8249; meinte sie.
+Ich selbst aber fange an zu glauben, da&szlig; in dieser
+Inkonsequenz die einzige Konsequenz meines Lebens liegt.
+Alles und Alle sind Stufen, und ich bin noch keine r&uuml;ckw&auml;rts
+gegangen. Papa war traurig &mdash;, was mir immer
+am meisten weh tut. Mein Onkel dagegen hat mir eine
+Rede gehalten, deren Quintessenz war, da&szlig; ich lieber
+heiraten solle, statt modernen Schwarmgeistern zu verfallen.</p>
+
+<p>Wir reisen n&auml;chste Woche nach Haus.</p>
+
+<p>Ich gehe noch einmal alle alten Wege, und oft steigen
+<a name="Page_496" id="Page_496"></a>mir pl&ouml;tzlich die Tr&auml;nen in die Augen, wenn ich den
+breiten efeuumsponnenen Turm von Pirgallen vor mir
+sehe. Er war etwas Lebendiges f&uuml;r mich; ein treuer,
+starker Freund, ein Wahrzeichen vieler Kinderjahre, die
+zu seinen F&uuml;&szlig;en wuchsen und in seinem Schutz. Nun
+hat er die Seele verloren, seit Gro&szlig;mama ihn verlie&szlig;.
+Es ist auch f&uuml;r mich Zeit, zu gehen. Aber soviel St&auml;rke
+auch die Erkenntnis verleiht und der Entschlu&szlig;, &mdash; der
+Abschied von den Toten tut weh. Und mir ist, als s&auml;he
+ich sie nie wieder ....&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_497" id="Page_497"></a></p>
+<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Septembersonne! In mattem Blaugr&uuml;n spannt
+sich der Himmel &uuml;ber Berlin; alles Licht ist
+ged&auml;mpft, und die Schatten haben einen silbernen
+Ton. Auf den Anlagen der gro&szlig;en Pl&auml;tze und
+in den Vorg&auml;rten der H&auml;user, die die Kultur m&uuml;hsam
+dem spr&ouml;den Sandboden abgerungen hat, feiert sie jetzt
+ihre gr&ouml;&szlig;ten Triumphe: vom hellen Gelb der Linden bis
+zum dunkeln Rot der Blutbuchen leuchten alle Farben
+des Herbstes; aus dem gr&uuml;nen Rasenteppich gl&auml;nzen
+Astern in sanftem Violett und m&uuml;dem Blau, w&auml;hrend
+sich in wehm&uuml;tigem Sterben blasse Rosen an die wei&szlig;en
+Steinstufen der Estraden schmiegen. Goldene Bl&auml;tter
+tanzen in lind bewegter Luft, und unter den B&auml;umen
+sitzen auf wei&szlig;en B&auml;nken jene modernen Frauen der
+Gro&szlig;stadt, die starke Farben scheuen wie starke Gef&uuml;hle
+und Kleider tragen, die aussehen, als w&auml;ren sie in der
+Sommersonne verblichen.</p>
+
+<p>T&auml;glich, am fr&uuml;hen Nachmittag, gingen wir vier in
+den nahen Zoologischen Garten, wo sich die Bewohner
+des Westens am Neptunteich unter den Musikkapellen
+ein Stelldichein gaben. Hier traf sich der beh&auml;bige
+Spie&szlig;b&uuml;rger mit Freunden und Verwandten, im stillen
+begl&uuml;ckt, nach der vorschriftsm&auml;&szlig;igen Sommerreise wieder
+<a name="Page_498" id="Page_498"></a>ruhig am rotgedeckten Tisch zu sitzen, statt schwitzend und
+prustend Ausfl&uuml;ge abzuklappern. Hier erschien in sch&auml;biger
+Eleganz die Offiziers- und Beamtenwitwe, um
+ihre schon stark angejahrten, interessant verschleierten
+T&ouml;chter vor M&auml;nneraugen spazieren zu f&uuml;hren. Hier
+lie&szlig;en sich mit der Stickerei und dem mitgebrachten
+Kuchen zu stundenlangem Klatsch all die &Uuml;berfl&uuml;ssigen
+nieder, an denen das weibliche Geschlecht so reich ist.
+Droben aber vor dem Restaurant, wo die wei&szlig;en Tischt&uuml;cher
+weithin sichtbar die Klassen schieden, tauchten
+elegante Toiletten und bunte Gardeuniformen auf, und
+R&uuml;cken an R&uuml;cken mit der vornehmen Frau der Hofgesellschaft
+sa&szlig; im Glanz ihrer Brillanten und schwarzen
+Augen die sch&ouml;ne Otero und ihresgleichen. Jenseits jedoch,
+auf dem H&uuml;gel hinter dem Neptun, fanden die
+Stillen sich ein, die Musik- und die Naturschw&auml;rmer,
+die Nebenabsichtslosen mit ihren B&uuml;chern und ihren
+Zeitungen. Sie alle sahen unten auf der L&auml;sterallee
+den bunten Strom kokettierender Jugend an sich vor&uuml;berfluten:
+bartlose Knaben mit erzwungener Blasiertheit,
+kurzr&ouml;ckige M&auml;dchen mit hei&szlig;en Augen; greisenhafte
+J&uuml;nglinge, l&uuml;stern nach Beute um sich schauend; korrekte
+junge Damen, glatt gescheitelt, mit k&uuml;hlen, bleichen
+Wangen.</p>
+
+<p>Nachdem die erste Neugierde gestillt war, ging ich
+nicht gern hierher; es kam mir wie Zeitverschwendung
+vor, und &uuml;berdies sah ich mit leiser Angst mein reizendes
+Schwesterchen im Kreise flirtender Backfische und Gymnasiasten.
+Aber mein Vater liebte den Verkehr mit
+alten Freunden, die hier immer zu finden waren, und
+meine Mutter am&uuml;sierte der gro&szlig;st&auml;dtische Trubel. Bald
+<a name="Page_499" id="Page_499"></a>hatten auch wir unseren Stammtisch unter der gro&szlig;en
+Kastanie bei der Musikkapelle, und Menschen verschiedenster
+Art gesellten sich zu uns, die nur ein gemeinsames
+Gef&uuml;hl aneinander zu fesseln schien: die Unzufriedenheit.
+Das Leben hatte ihnen allen nicht gehalten,
+was sie sich von ihm versprochen hatten, und
+sie gaben nicht sich die Schuld, und nicht den Verh&auml;ltnissen, &mdash; wodurch
+Unzufriedenheit zum Hebel der Tatkraft
+werden kann, &mdash; sondern den heimlichen Feinden
+im Milit&auml;r- und Zivilkabinett und den Intriganten am
+neuen Kaiserhof.</p>
+
+<p>Es waren M&auml;nner darunter, die, um die magere
+Pension zu erh&ouml;hen und ihren Frauen und T&ouml;chtern
+standesgem&auml;&szlig;e Toiletten, ihren S&ouml;hnen die Leutnantszulage
+zu sichern, halbe Tage als Agenten der verschiedensten
+Versicherungsgesellschaften Trepp auf, Trepp
+ab liefen, und nachmittags im Zoologischen den Junker
+spielten, der von seinen Renten lebt. Andere, die f&uuml;r
+ihre ungebrochene Kraft eine Besch&auml;ftigung, f&uuml;r ihre
+leere Zeit eine Ausf&uuml;llung brauchten, griffen zu den
+seltsamsten Hilfsmitteln. Der eine vergrub sich in
+heraldische Studien, ein zweiter sammelte Briefmarken,
+ein dritter widmete jede Stunde und jeden Gedanken
+dem Studium Dantes, ein vierter ging im Spiritismus
+auf und hatte t&auml;glich andere Geistererscheinungen. Aus
+Langerweile lie&szlig; ich mich mit diesem seltsamen Kauz,
+einem Obersten von Glyzcinski, dessen robuste Erscheinung
+mit dem breiten roten Gesicht wenig an einen Geisterseher
+erinnerte, oftmals in Gespr&auml;che ein und am&uuml;sierte
+mich im stillen dar&uuml;ber, auf welch vertrautem Fu&szlig; er mit
+dem lieben Gott stand, und wie gl&uuml;hend er zu gleicher<a name="Page_500" id="Page_500"></a>
+Zeit die Kirche und ihre Diener ha&szlig;te. Dankbar f&uuml;r
+mein vermeintliches Interesse brachte er mir t&auml;glich
+andere B&uuml;cher und Brosch&uuml;ren und lief geduldig die
+L&auml;sterallee mit mir auf und ab, wenn ich es in der von
+&Auml;rger und Mi&szlig;gunst geschw&auml;ngerten Atmosph&auml;re unserer
+Tafelrunde gar nicht mehr aushalten konnte.</p>
+
+<p>So gingen wir gerade einmal wieder von einer Musikkapelle
+zur anderen, als der Oberst pl&ouml;tzlich stehen blieb.</p>
+
+<p>&raquo;Wie gehts dir, Vetter?&laquo; h&ouml;rte ich ihn sagen; mein
+Blick fiel durch den Schwarm Vor&uuml;bergehender hindurch
+auf ein schmales Gesicht, von dichtem braunem Bart
+umrahmt, aus dem zwei tiefe, strahlende Kinderaugen
+herausleuchteten, wie von gro&szlig;er innerer Freude erhellt.
+&raquo;Gut &mdash; sehr gut,&laquo; antwortete eine Stimme, die wie ein
+voller Geigenton klang. Welch gl&uuml;cklicher Mensch mu&szlig;
+das sein, dachte ich mit stillem Neid. In dem Augenblick
+schoben sich die Menschen zwischen uns auseinander, &mdash; ich
+sah einen Rollstuhl, &mdash; eine dunkle Pelzdecke, &mdash; zwei
+ganz schmale, wei&szlig;e H&auml;nde, deren blaues Ge&auml;der
+wie mit einem feinen Pinsel gezogen war, &mdash; einen
+schm&auml;chtigen Oberk&ouml;rper &mdash; &mdash; unm&ouml;glich! &mdash; das konnte
+doch der Mann nicht sein mit den strahlenden Kinderaugen!
+Aber schon richteten sie sich auf mich &mdash; verwirrt
+sah ich zu Boden. &raquo;Entschuldigen Sie ...&laquo; sagte
+mein Begleiter im Weitergehen. &raquo;Wer war das?&laquo;
+frug ich hastig, noch im Bann tiefen Erstaunens.</p>
+
+<p>&raquo;Professor von Glyzcinski &mdash; mein Vetter,&laquo; lautete
+die lakonische Antwort.</p>
+
+<p>&raquo;K&ouml;nnen Sie mich mit ihm bekannt machen?&laquo; Mein
+rasch entstandener Wunsch formte sich ebenso rasch zur
+Bitte. Der Oberst runzelte die Brauen.</p>
+<p><a name="Page_501" id="Page_501"></a></p>
+<p>&raquo;Er ist Atheist und Sozialist,&laquo; kam es mit harter Betonung
+&uuml;ber seine Lippen.</p>
+
+<p>Ich zuckte zusammen und konnte dem Schauder nicht
+wehren, der mir zitternd &uuml;ber den R&uuml;cken lief. Aber
+mein Wunsch wurde nur noch st&auml;rker.</p>
+
+<p>&raquo;Stellen Sie mich vor,&laquo; bat ich dringend. Er sah
+mich von der Seite an: &raquo;Aber die Verantwortung
+tragen Sie allein!&laquo;</p>
+
+<p>Wir drehten um. Ein kurzes Zeremoniell: &raquo;Fr&auml;ulein
+von Kleve m&ouml;chte dich kennen lernen, Georg, &mdash; sie ist
+Schriftstellerin.&laquo;</p>
+
+<p>Des Professors Gesicht schien sich noch mehr zu erhellen.
+&raquo;Dann freue ich mich doppelt Ihrer Bekanntschaft,&laquo;
+sagte er, und seine Hand umfa&szlig;te die meine mit
+einer kr&auml;ftigen Herzlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut
+h&auml;tte. &raquo;Jede arbeitende Frau ist ein Gewinn f&uuml;r unsere
+Gesellschaft.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch ein Gewinn f&uuml;r die Kunst und die Wissenschaft?&laquo;
+meinte ich zweifelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;! Sobald alle Universit&auml;ten und Akademien
+ihnen offen stehen, wie den M&auml;nnern!&laquo; Ich sah ihn
+verwundert an. Nur aus Witzbl&auml;ttern hatte ich bisher
+vom Frauenstudium erfahren, und hie und da war mir
+eine russische Studentin mit ausgetretenen Stiefeln, zerfranstem
+Rock und kurz geschorenen Haaren begegnet, die
+meine tiefe Abneigung gegen die Verleugnung der Weiblichkeit
+nur steigerte. Z&ouml;gernd &auml;u&szlig;erte ich meine Ansicht.
+Der Professor l&auml;chelte. Die Witwe mit den angejahrten
+T&ouml;chtern ging gerade vor&uuml;ber.</p>
+
+<p>&raquo;Sind diese armen alten M&auml;dchen, die nun schon seit
+Jahren hier auf den Heiratsmarkt gef&uuml;hrt werden,
+<a name="Page_502" id="Page_502"></a>vielleicht w&uuml;rdigere Vertreter der Weiblichkeit?&laquo; sagte er,
+&raquo;die russische Studentin ziehe ich ihnen jedenfalls vor;
+und so arm sie sein mag, &mdash; sie selbst w&uuml;rde keinenfalls
+mit ihnen tauschen m&ouml;gen. Denn sie hat ihre Freiheit,
+ihre Arbeit und ist tausendmal reicher als jene.&laquo; Er
+schwieg, aber da ich nicht antwortete &mdash; das was er sagte
+war mir in seiner einfachen Selbstverst&auml;ndlichkeit doppelt
+&uuml;berraschend &mdash;, fuhr er nach einer Pause fort: &raquo;Stellen
+Sie sich eine Frau in meiner Lage vor, &mdash; wie ungl&uuml;cklich
+m&uuml;&szlig;te sie sich f&uuml;hlen, weil sie nicht nur von vielen
+Freuden des Lebens ausgeschlossen, sondern vor allem,
+weil sie nutzlos, weil sie &uuml;berfl&uuml;ssig ist. Ich aber bin
+vollkommen gl&uuml;cklich!&laquo;</p>
+
+<p>Der Professor lehnte sich tief in den Rollstuhl zur&uuml;ck,
+legte die H&auml;nde &uuml;bereinander auf die schwarze Pelzdecke
+und sah mit einem Ausdruck der Verkl&auml;rung &uuml;ber die
+Menschen hinweg in die gelben tanzenden Bl&auml;tter, in
+die rosigen Abendwolken hinein. Mein Herz klopfte zum
+Zerspringen. Ich war keines Wortes m&auml;chtig und
+dankbar, da&szlig; die Eltern, die mich suchten, mich jeder
+Antwort &uuml;berhoben.</p>
+
+<p>Von nun an war ich es, die die Nachmittage nicht
+erwarten konnte, die, als es immer herbstlicher wurde,
+und k&auml;lter und tr&uuml;ber, oft allein den gewohnten Weg
+ging, um in dem stiller und stiller werdenden Garten
+den Mann zu suchen, dessen durchsichtige Krankenhand
+mich auf steile H&ouml;hen mit endlosen Fernsichten und in
+dunkle Tiefen voll &uuml;berquellender Sch&auml;tze f&uuml;hrte. Ohne
+da&szlig; er eine Frage stellte, lockte der warme Strahl seiner
+Augen meine verborgensten Gedanken ans Tageslicht,
+und wo sie wirr auseinanderfielen, wie vom Sturm zer<a name="Page_503" id="Page_503"></a>rissene
+Telegraphendr&auml;hte, kn&uuml;pfte er sie wieder vorsichtig
+zusammen. Er brachte mir B&uuml;cher, Zeitungen
+und Zeitschriften mit und wenn ich damit beladen nach
+Hause kam, wurde es mir schwer, mich von ihnen zu
+trennen und zu meiner Arbeit zur&uuml;ckzukehren. Ich hatte
+mancherlei Versprochenes und Begonnenes zu vollenden
+und tat es widerwillig, nur von dem Gedanken erf&uuml;llt,
+mich auf eigene F&uuml;&szlig;e zu stellen.</p>
+
+<p>Aber der Professor verstand es, mir selbst diese Arbeit
+wieder wertvoll zu machen. &raquo;Wie viele gro&szlig;e, gute
+und gef&auml;hrlich umst&uuml;rzlerische Ideen k&ouml;nnen Sie einschmuggeln,
+wenn Sie nur Ihren Goethe t&uuml;chtig ausnutzen,&laquo;
+meinte er, &raquo;und die vielen kleinen Fl&auml;mmchen,
+die Sie entz&uuml;nden, schlagen schlie&szlig;lich zu einer gro&szlig;en
+Flamme zusammen.&laquo;</p>
+
+<p>Da&szlig; diese Arbeit nicht die meine bleiben d&uuml;rfe, &mdash; davon
+war er freilich auch &uuml;berzeugt, doch er lachte mich
+aus, &mdash; mit einem hellen frohen Gel&auml;chter, das von Spott
+nichts wei&szlig; &mdash;, als ich sagte, f&uuml;r mich gebe es nichts
+zu tun. &raquo;Die F&uuml;lle der Aufgaben m&uuml;&szlig;te Sie vielmehr
+erdr&uuml;cken, wenn Sie nicht so stark w&auml;ren, alle auf sich
+zu nehmen,&laquo; versicherte er mir.</p>
+
+<p>Ich vertiefte mich auf seinen Rat in die Literatur der
+amerikanischen und englischen Frauenbewegung. Ihre
+Ideen erschienen mir nur als die notwendige Konferenz
+meiner eigenen. Unter der Unfreiheit hatte ich gelitten,
+die Unm&ouml;glichkeit, meine geistigen F&auml;higkeiten auszubilden
+und zu bet&auml;tigen, hatte mich fast erdr&uuml;ckt. Ich las
+Condorcet und John Stuart Mill und lernte die Heldenk&auml;mpfe
+der Amerikanerinnen um die Befreiung der
+Sklaven kennen. &raquo;Sie alle haben ein Recht, sich den<a name="Page_504" id="Page_504"></a>
+M&auml;nnern gleich zu stellen,&laquo; sagte ich zum Professor, &raquo;denn
+wie sie opferten diese Frauen Gut und Blut f&uuml;r die
+Freiheit. Aber wir?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Verleihung politischer Rechte ist doch auch beim
+Mann nicht die Konsequenz heroischer Taten!&laquo; antwortete
+er. &raquo;Und wenn sie &uuml;berhaupt an irgend eine Bedingung
+gekn&uuml;pft w&auml;re, so w&uuml;rde mir nur eine gerecht erscheinen:
+das Ma&szlig; des Leidens. Wer am meisten leidet, sollte
+die weitestgehenden Rechte haben, um die Ursachen seiner
+Leiden zu beseitigen. Meinen Sie nicht, da&szlig; die Frauen
+in diesem Fall in erster Linie st&uuml;nden?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte an die Arbeiterinnen Augsburgs und konnte
+ihm nur zustimmen. Am n&auml;chsten Tage brachte er mir
+ein Paket Zeitungen mit. Rote und blaue Striche an
+den R&auml;ndern zeugten von der sorgf&auml;ltigen Lekt&uuml;re. Aber
+als ich sie auseinanderfaltete, erschrak ich: &raquo;Die Volkstrib&uuml;ne,
+Sozialistische Wochenschrift&laquo; stand als Titel gro&szlig;
+dar&uuml;ber. Jetzt zuckte es doch wie ein ganz leiser Spott
+um die Lippen des Professors:</p>
+
+<p>&raquo;Also auch Sie f&uuml;rchten sich vor den Sozis!&laquo; meinte
+er l&auml;chelnd. &raquo;Lesen Sie nur dies Blatt, &mdash; ich habe
+mehr daraus gelernt, als aus manch dickleibigem Buch
+gelehrter Kollegen!&laquo;</p>
+
+<p>Und ich nahm mir die Bl&auml;tter mit und las sie und
+war so vertieft, da&szlig; ich erst merkte, wie sp&auml;t es war,
+als mein Vater drau&szlig;en die Entreet&uuml;r aufschlo&szlig;. Er
+kam aus Brandenburg zur&uuml;ck, wo er an dem Jubil&auml;umsfest
+seines alten Regiments teilgenommen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Wie, du bist noch auf?&laquo; rief er. &raquo;Da kann ich dir
+ja noch Egidys Gr&uuml;&szlig;e bestellen!&laquo; Damit trat er ein.
+&raquo;Ich wu&szlig;te gar nicht, da&szlig; er F&uuml;nfunddrei&szlig;iger gewesen
+<a name="Page_505" id="Page_505"></a>ist, ehe er zur Kavallerie ging. &Uuml;brigens ein famoser
+Kerl, tapfer und ehrlich. Und, &mdash; stell dir vor! &mdash; die
+Rasselbande hat ihn geschnitten! Kannst dir denken,
+da&szlig; ich ihm um so deutlicher meine Anerkennung f&uuml;r seine
+&Uuml;berzeugungstreue aussprach. Er w&auml;re mir beinahe um
+den Hals gefallen vor Dankbarkeit.&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick entdeckte mein Vater die &raquo;Volkstrib&uuml;ne&laquo;,
+die offen vor mir lag. Die Ader schwoll ihm
+auf der Stirn, und blaurot f&auml;rbten sich seine Z&uuml;ge.
+&raquo;Was f&uuml;r ein Schuft hat dir diese Zeitung in die H&auml;nde
+geschmuggelt?&laquo; schrie er, &raquo;vor meine Pistole mit dem
+infamen Patron!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe sie mir gekauft,&laquo; log ich, &raquo;man mu&szlig; auch
+seine Gegner aus ihren eigenen Schriften kennen
+lernen.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Vater nahm w&uuml;tend die Bl&auml;tter vom Tisch und
+zerri&szlig; sie. &raquo;Bring mir solche Schweinereien nicht wieder
+ins Haus!&laquo; drohte er mit erhobener Faust. &raquo;Von Leuten,
+die das Vaterland verraten, den Meineid predigen und
+den F&uuml;rstenmord, darf meine Tochter nicht einmal einen
+Fetzen Papier in H&auml;nden haben!&laquo; Und w&uuml;tend warf er
+die T&uuml;r ins Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Vormittag besuchte uns Egidy. Den
+Zylinder in der Hand, in milit&auml;risch strammer Haltung
+wie zu einer dienstlichen Meldung stand er vor meinem
+Vater.</p>
+
+<p>&raquo;Die Wohltat, die Eure Exzellenz mir in Brandenburg
+erwiesen, rechne ich zu den h&ouml;chsten Empfindungen
+inneren Gl&uuml;cks, die mich bisher in meinem Leben beseelten.
+Euer Exzellenz Worte sind &mdash; ich sage nichts,
+als was ich f&uuml;hle, &mdash; die gr&ouml;&szlig;ten, die an mich heran<a name="Page_506" id="Page_506"></a>klangen,
+seit ich tat, was mir Pflicht schien.&laquo; Scharf
+und bestimmt sprach er, und dann erst wandte er sich zu
+meiner Mutter und mir.</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich Ihnen meine T&ouml;chter bringen?&laquo; frug er
+mich. &raquo;Es sind brave Kinder, die alles tapfer mit mir
+getragen haben und doch wehm&uuml;tig empfinden, wie sie
+aus ihrer Bahn gerissen wurden.&laquo; Ich reichte ihm die
+Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich, Herr von Egidy! Was ich
+den Ihren sein kann, will ich mit Freuden sein,&laquo; antwortete
+ich.</p>
+
+<p>&raquo;Und darf ich nicht nur auf Ihre Freundschaft, sondern
+auch auf Ihre Mitarbeit rechnen?&laquo; Er streckte mir noch
+einmal die Hand entgegen.</p>
+
+<p>Ich legte die meine z&ouml;gernd hinein: &raquo;Auf meine Freundschaft,
+ja! Meine Mitarbeit aber kann ich Ihnen noch
+nicht versprechen!&laquo;</p>
+
+<p>Sein Blick verfinsterte sich. &raquo;Ihr Herr Vater ehrt die
+&Uuml;berzeugungstreue ...&laquo; sagte er mit Betonung.</p>
+
+<p>&raquo;Und ich werde meiner &Uuml;berzeugung zu folgen wissen!&laquo;
+entgegnete ich gereizt.</p>
+
+<p>Am Nachmittag erz&auml;hlte ich dem Professor von Egidy
+und meinen Beziehungen zu ihm. Ich war noch ver&auml;rgert,
+und mein Urteil &uuml;ber die Halbheit, die ihn zwang,
+an dem Namen &raquo;Christentum&laquo; festzuhalten, mochte nicht
+gerade milde klingen. Der Professor sch&uuml;ttelte den Kopf, &mdash; ein
+deutliches Zeichen seines Mi&szlig;fallens. &raquo;Sie verlangen
+wirklich ein bi&szlig;chen viel, gn&auml;diges Fr&auml;ulein!
+Ist es nicht schon einzig und unerh&ouml;rt und h&ouml;chst erfreulich,
+da&szlig; ein Mann, wie er, in dieser Weise den
+Kampf gegen das traditionelle Christentum aufnimmt? &mdash; Zahllose<a name="Page_507" id="Page_507"></a>
+Menschen, die f&uuml;r die Worte ausgesprochener
+Freidenker nur taube Ohren haben, werden ihn h&ouml;ren,
+und ihr erster Schritt auf der schiefen Ebene wird dann
+nicht ihr letzter sein!&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte meiner eigenen Erfahrungen und gab ihm
+Recht. Hatte unser Gespr&auml;ch sich bisher wesentlich um
+die Frauenfrage gedreht, so kamen wir heute zum erstenmal
+auf religi&ouml;se Fragen zu sprechen. Ich erz&auml;hlte ihm
+von meiner Entwicklung. Er h&ouml;rte mit sichtlichem Interesse
+zu und sprach mir dann von der seinen.</p>
+
+<p>&raquo;Religi&ouml;se Gewissensk&auml;mpfe sind mir fremd geblieben,&laquo;
+begann er. &raquo;Bis ich in die Schule kam, wu&szlig;te ich nichts
+von Religion. Als meine Mutter mich zu meinem
+Klassenlehrer brachte und er mich frug, was ich vom
+lieben Heiland w&uuml;&szlig;te, gab ich erstaunt zur Antwort,
+da&szlig; ich von dem Land noch nie etwas geh&ouml;rt h&auml;tte.
+Der Schulreligionsunterricht bestand dann eigentlich nur
+im mechanischen Auswendiglernen, was ich ebenso gedankenlos
+absolvierte, wie irgend welche Tabellen oder
+grammatische Regeln. Was dem Gem&uuml;t vieler Kinder
+die Religion bieten mag, das bot mir die Natur; und
+da ich von klein an schw&auml;chlich war und meinen Altersgenossen
+und ihren Spielen infolgedessen ziemlich fern
+blieb, unterst&uuml;tzten meine Eltern meine Passionen. Mein
+Zimmer war immer ein wahres Aquarium, und das
+Leben der Tiere und der Pflanzen mit all seinen Wundern
+lernte ich mit steigendem Entz&uuml;cken zuerst aus eigenen
+Beobachtungen kennen. Jetzt habe ich nur noch ein
+paar V&ouml;gel und ein Blumenfenster,&laquo; &mdash; er l&auml;chelte wehm&uuml;tig,
+&raquo;seit meine Mutter im vorigen Jahre starb und
+ich bewegungslos bin, w&uuml;rde doch keiner f&uuml;r meinen<a name="Page_508" id="Page_508"></a>
+Privat-Zoo sorgen k&ouml;nnen!&laquo; Mit der ihm charakteristischen
+Geb&auml;rde reckte er den Oberk&ouml;rper, als wollte
+er eine peinliche Erinnerung energisch absto&szlig;en &mdash; &raquo;und
+allm&auml;hlich sind mir denn doch die Menschen interessanter
+geworden als die Tiere. Ich studierte Philosophie, weil
+es das einzige ist, was ein Mann wie ich zu seinem
+Lebensberuf machen kann. Aber meine ungl&uuml;ckliche Liebe
+zu den Naturwissenschaften ist doch gleich in meiner
+Doktordissertation zum Ausdruck gekommen, in der ich
+die philosophischen Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie
+behandelte. &mdash; Sie m&uuml;ssens mal lesen,
+gn&auml;diges Fr&auml;ulein, &mdash; ich habe noch heute meine Freude
+dran, obwohl der liebe Gott noch bedenklich zwischen
+den Zeilen spukt! Dann hab ich mich hier habilitiert. &mdash; Ich
+wohnte bei meiner guten Mutter, einer blitzgescheiten
+Frau &mdash; schade, da&szlig; Sie sie nicht mehr
+kannten! &mdash;, die mit dem lieben Gott auf besonders gespanntem
+Fu&szlig;e stand, weil er ihren Jungen zum Kr&uuml;ppel
+hatte werden lassen. Und ein bi&szlig;chen mag das auch bei
+mir dazu beigetragen haben, an seiner Existenz allm&auml;hlich
+zu zweifeln. Bei n&auml;herem Nachdenken konnte ich die
+geistigen Kapriolen der frommen Leute nicht mitmachen,
+die n&ouml;tig sind, wenn man das unverschuldete Elend in
+der Welt, wenn man Unrecht und Verbrechen mit dem
+allg&uuml;tigen und allm&auml;chtigen Himmelsvater in Einklang
+bringen will. W&auml;re er, so m&uuml;&szlig;te er entweder ein herzloses
+Scheusal oder das ungl&uuml;ckseligste aller Wesen sein,
+das gezwungen ist, unt&auml;tig zuzusehen, wie seine Gesch&ouml;pfe
+sich zerfleischen!&laquo; Die Stimme des Professors
+hatte sich gehoben, seine Augen funkelten, sein ganzer
+zarter K&ouml;rper schien von starker Energie gespannt.</p>
+<p><a name="Page_509" id="Page_509"></a></p>
+<p>&raquo;Und doch sind Sie ein gl&uuml;cklicher Mensch geworden!&laquo;
+sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.</p>
+
+<p>&raquo;Das habe ich wieder den Naturwissenschaften und
+meinen vielen lieben Freunden zu verdanken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihren Freunden?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Denen, die immer um mich sind und nur reden,
+wenn ich sie brauche: den B&uuml;chern. Darwins Entwicklungsgesetz
+war es, das mich zuerst mit einem unbeschreiblichen,
+unzerst&ouml;rbaren Gl&uuml;cksgef&uuml;hl erf&uuml;llte, denn
+es festigte meinen Glauben an die unendliche sittliche und
+intellektuelle Vervollkommnungsf&auml;higkeit der Menschennatur,
+und er trat an die Stelle des Glaubens an einen
+unbeweisbaren Gott.&laquo;</p>
+
+<p>Das Herz klopfte mir vor Freude; ich umfa&szlig;te unwillk&uuml;rlich
+mit meiner hei&szlig;en Hand seine k&uuml;hlen Finger:
+&raquo;Ich danke Ihnen &mdash; danke Ihnen tausendmal,&laquo; kam es
+vor Erregung bebend &uuml;ber meine Lippen, &raquo;so bin ich
+doch nicht mehr allein mit dem, was ich dachte und f&uuml;hlte,
+und was mir fast schon zu entschwinden drohte. Einmal,
+in einer gl&uuml;cklichen Stunde, schrieb ichs auf, &mdash; darf ich
+es Ihnen bringen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte Sie darum!&laquo; Ein warmer Blick traf mich, &mdash; er
+schien mich ganz und gar zu umfassen. &raquo;Sollte
+ich doch am Ende wieder an den lieben Gott glauben
+m&uuml;ssen &mdash; der mir eine Frau wie Sie in den Weg geschickt
+hat?!&laquo;</p>
+
+<p>Die Eltern kamen und holten mich ab. Mein Vater
+war merkm&uuml;rdig kurz angebunden. &raquo;Du wirst deinen
+Verkehr mit dem Professor beschr&auml;nken m&uuml;ssen,&laquo; sagte er
+auf dem Nachhausewege, &raquo;Walter sagte mir, da&szlig; er im
+Rufe steht, einer der gef&auml;hrlichen Kathedersozialisten zu
+<a name="Page_510" id="Page_510"></a>sein.&laquo; &mdash; &raquo;Da&szlig; er Gott verleugnet, hat er neulich mit
+zynischer Frivolit&auml;t selbst zugestanden,&laquo; f&uuml;gte Mama mit
+hochrotem Gesicht hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn er es tat, so ist es weder zynisch noch frivol,
+sondern ein Beweis derselben tapferen &Uuml;berzeugungstreue,
+die Ihr an Egidy zu r&uuml;hmen pflegt,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>&raquo;Ein Atheist ist ein Verbrecher,&laquo; stie&szlig; Mama aufgeregt
+hervor; dann schwiegen wir alle, in dem gemeinsamen
+Gef&uuml;hl, auf der Stra&szlig;e keine Szene provozieren
+zu wollen.</p>
+
+<p>Als am n&auml;chsten Tage der Herbst mit Sturm und
+Regen durch die Stra&szlig;en fegte und die B&auml;ume arm und
+kahl zur&uuml;cklie&szlig;, die eben noch im Glanz ihres bunten
+Kleides geprangt hatten, atmete Mama f&ouml;rmlich erleichtert
+auf: &raquo;Nun haben die Zoo-Nachmittage ein Ende!&laquo;</p>
+
+<p>Ich aber nahm mein altes Glaubensbekenntnis und
+mein kleines schwarzes Buch und verlie&szlig; das Haus zur
+gew&ouml;hnlichen Stunde.</p>
+
+<p>&Uuml;ber den &ouml;den Wittenbergplatz f&uuml;hrte mein Weg an
+einer Reihe von Neubauten vorbei, aus denen ein
+feuchter Kellergeruch mir entgegenstr&ouml;mte, der mich
+fr&ouml;steln machte. Die Kleiststra&szlig;e ging ich entlang, deren
+neue H&auml;user, wie lauter Parven&uuml;s, sich durch &uuml;berladenen
+Schmuck gegenseitig zu &uuml;berbieten suchten, und
+bog dann in die stille dunkle Nettelbeckstra&szlig;e ein. Sch&uuml;chterne
+Sonnenstrahlen, die gerade die Wolken durchbrachen,
+trafen nur noch die D&auml;cher der H&auml;user. In
+eins davon trat ich.</p>
+
+<p>&raquo;Professor von Glyzcinski?&laquo; Die Portierfrau musterte
+mich von oben bis unten. &raquo;Gartenhaus &mdash; parterre!<a name="Page_511" id="Page_511"></a>&laquo;
+Der Hof war noch enger und lichtloser als bei uns,
+und die Treppe war vollkommen finster. Auf mein
+Klingeln &ouml;ffnete der Diener. Im Flur konnte ich die
+Hand nicht vor Augen sehen. Im n&auml;chsten Moment
+aber schlo&szlig; ich sie geblendet. Aus der T&uuml;r, durch die
+ich ins Zimmer trat, str&ouml;mte ein Meer von rotgoldenem
+Licht.</p>
+
+<p>&raquo;Willkommen, mein liebes, gn&auml;diges Fr&auml;ulein!&laquo; h&ouml;rte
+ich des Professors weiche Stimme sagen.</p>
+
+<p>Und nun erst sah ich ihn: am Fenster sa&szlig; er, das dicht
+von wildem Wein umsponnen, den Blick in lauter G&auml;rten
+schweifen lie&szlig;. Auf die B&uuml;cher und Papiere, die den
+Schreibtisch vor ihm bedeckten, malte die Sonne lauter
+runde blinkende Silberflecken und streichelte an der Wand
+gegen&uuml;ber die vielen, sch&ouml;n aneinander gereihten B&uuml;cher.
+Zwei V&ouml;gel mit buntschillernden Fl&uuml;geln flatterten, durch
+meinen Eintritt aufgescheucht, durch den Raum und
+lie&szlig;en langgezogene Fl&ouml;tent&ouml;ne h&ouml;ren.</p>
+
+<p>Auf den breiten Lehnstuhl neben dem Schreibtisch
+deutete einladend die wei&szlig;e Hand Glyzcinskis, der mir
+mit seinen Kinderaugen und dem wesenlosen, unter
+Decken verborgenen K&ouml;rper wie ein Zauberer inmitten
+seines M&auml;rchenreichs erschien. Fl&uuml;chtig tauchte mein
+dunkles Zimmer vor meinem inneren Auge auf, &mdash; hatte
+meine Sehnsucht nicht dieses M&auml;rchenreich l&auml;ngst
+gesucht?</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, da&szlig; ich Sie mit Bestimmtheit erwartet
+habe?!&laquo; sagte er, &raquo;darum gibt es auch heute Kuchen
+zum Kaffee, wie an einem Festtag!&laquo; Er versuchte von
+dem Tischchen aus, das der Diener hereingetragen hatte
+mich zu bedienen. &raquo;Das ist Frauensache!&laquo; lachte ich
+<a name="Page_512" id="Page_512"></a>und nahm ihm die Kaffeekanne ab. Wie alte Freunde
+sa&szlig;en wir beieinander.</p>
+
+<p>Und dann las ich ihm &raquo;Wider die L&uuml;ge&laquo; vor.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; Sie mir nichts Gew&ouml;hnliches bringen w&uuml;rden,
+wu&szlig;te ich,&laquo; bemerkte er langsam nach einer kurzen Pause,
+die mich schon ganz &auml;ngstlich gemacht hatte. &raquo;Von keinem
+meiner Studenten d&uuml;rfte ich so viel Geist und Kraft
+und Selbst&auml;ndigkeit erwarten ... Ich habe lange &uuml;ber
+Sie nachgedacht, aber das Resultat dieses Nachdenkens
+h&auml;tte ich noch f&uuml;r mich behalten, wenn Sie mir nicht
+diesen Einblick in Ihr Geistesleben gew&auml;hrt haben
+w&uuml;rden. Nun m&ouml;chte ich Ihnen einen Vorschlag machen,
+dessen selbsts&uuml;chtige Beweggr&uuml;nde mein Gewissen freilich
+arg belasten: Sie haben keinen Bruder, ich keine
+Schwester, &mdash; lassen Sie mich Ihren Bruder sein, und
+gestatten Sie mir dann als solchem, mich Ihrer anzunehmen.
+All die guten Freunde dr&uuml;ben &mdash;&laquo; er zeigte
+auf den B&uuml;cherschrank &mdash; &raquo;will ich Ihnen vorstellen;
+Sie werden rasch nachholen, was Ihnen an philosophischen
+Kenntnissen fehlt, &mdash; und dann &mdash; &mdash;,&laquo; er stockte.</p>
+
+<p>&raquo;Dann?!&laquo; frug ich gespannt.</p>
+
+<p>&raquo;Dann werden Sie tun, was mir versagt ist: unsere
+Ideen unter die Massen tragen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Werde ich es k&ouml;nnen &mdash; &mdash; d&uuml;rfen?! Meine Eltern
+sind schon jetzt....&laquo;</p>
+
+<p>Er unterbrach mich. Ein harter Zug grub sich um
+seine Mundwinkel. &raquo;Wer den Pflug anfa&szlig;t und siehet
+zur&uuml;ck, der ist unserer Sache nicht wert ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So lehren Sie mich Ihre Sache kennen, &mdash; ich glaube
+freilich schon von vorn herein, da&szlig; es auch die meine
+sein wird!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_513" id="Page_513"></a></p>
+<p>&raquo;Sie sollen nichts glauben, woran Sie zu glauben
+noch gar kein Recht haben! Das ist die Lehre der neuen
+Tugend, der intellektuellen Redlichkeit! &mdash; nehmen Sie
+die B&uuml;cher dort mit dem dunkelblauen R&uuml;cken, &mdash; lesen
+Sie sie in aller Ruhe, und dann sagen Sie mir, was
+Sie dar&uuml;ber und was Sie &uuml;ber meinen Vorschlag denken.&laquo;</p>
+
+<p>Ich erhob mich. Es wurde mir sehr schwer, diesen
+stillen Raum zu verlassen, der von dem hellen Geist
+starker Freudigkeit erf&uuml;llt schien, wie von der gl&auml;nzenden
+Oktobersonne.</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie Dank, vielen Dank,&laquo; sagte ich noch und
+wandte mich zum Gehen. Ich stand schon an der T&uuml;r,
+als ich noch einmal seine Stimme h&ouml;rte:</p>
+
+<p>&raquo;Nicht wahr &mdash; Sie kommen bald, recht bald &mdash; &mdash; morgen
+schon?&laquo; Ich nickte. Und dann verschlang mich
+der dunkle Flur, der finstere Hof, die k&uuml;hle Stra&szlig;e.</p>
+
+<p>&raquo;Woher kommst du?&laquo; Mit dieser von einem mi&szlig;trauischen
+Blick begleiteten Frage, empfing mich zu Hause
+mein Vater. Sie sa&szlig;en alle drei beim Abendessen. Ich
+hatte schon irgend eine billige Ausrede auf der Zunge &mdash; aber
+pl&ouml;tzlich wurde mir klar, da&szlig; jede verlogene
+Heimlichkeit mein Erlebnis beschmutzen w&uuml;rde.</p>
+
+<p>&raquo;Von Herrn Professor von Glyzcinski ...&laquo; Mein
+Vater hieb mit der Faust auf den Tisch, da&szlig; die Gl&auml;ser
+klirrten.</p>
+
+<p>&raquo;Unerh&ouml;rt!&laquo; rief er &raquo;und das wagst du mir ins Gesicht
+zu sagen, nachdem du meine Meinung &uuml;ber diesen
+Verkehr erst gestern deutlich genug geh&ouml;rt hast?! &mdash; Und
+rennst wie ein Frauenzimmer einem unverheirateten
+Mann in die Wohnung?! &mdash; Willst du mich denn
+durchaus ins Grab bringen, mit all der Schande, die
+<a name="Page_514" id="Page_514"></a>du mir machst?&laquo; Er lief aufgeregt im Zimmer umher,
+w&auml;hrend helle Schwei&szlig;tropfen auf seiner Stirne standen.</p>
+
+<p>Ich zwang mich zur Ruhe: &raquo;Du wei&szlig;t wohl nicht,
+was du sagst, Papa! Herr von Glyzcinski ist ein
+Schwerkranker, meinen Besuch kann niemand mi&szlig;deuten!&laquo;</p>
+
+<p>Aber die Wut, in die er sich hineingeredet hatte,
+steigerte sich nur noch mehr. Ich versuchte das Zimmer
+zu verlassen, w&auml;hrend Mama und Klein-Ilschen, vor
+Schrecken stumm, sich nicht zu r&uuml;hren wagten.</p>
+
+<p>&raquo;Du bleibst!&laquo; schrie mein Vater und packte mein
+Handgelenk. &raquo;Versprich mir, da&szlig; dieser Besuch der erste
+und der letzte war, und ich will ihn vergessen!&laquo; Und
+gleich darauf ruhten seine Blicke mit einem Ausdruck
+liebevoll besorgter Bitte auf mir. Mein Herz krampfte
+sich zusammen: Sinnlosem Zorn konnte ich die Stirne
+bieten, &mdash; aber der Liebe?! Ich schlo&szlig; eine Sekunde
+lang die Augen: Wer den Pflug anfa&szlig;t ...!</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann dir diesen Wunsch nicht erf&uuml;llen, Papa!&laquo;
+Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Dann
+brach der Sturm von neuem los. Auch meine Mutter
+mischte sich hinein, &mdash; von den teuflischen Verf&uuml;hrungsk&uuml;nsten
+des Gottesleugners h&ouml;rte ich sie etwas sagen,
+auch von Weimar sprach sie und versuchte, mich zu bestimmen,
+meinen f&uuml;r das n&auml;chste Fr&uuml;hjahr beabsichtigten
+Besuch auf die allern&auml;chsten Tage festzusetzen. An meinen
+Ehrgeiz, an meine Eitelkeit appellierte sie, w&auml;hrend
+meines Vaters Stimmung, wie stets nach einem solchen
+Ausbruch der Leidenschaft, immer weicher wurde. &raquo;Wir
+sind an allem Schuld, wir allein,&laquo; sagte er, &raquo;wir haben
+dir keinen Verkehr verschafft, wie du ihn zu fordern ein
+Recht hast. Aber das soll anders &mdash; ganz anders
+<a name="Page_515" id="Page_515"></a>werden. Wir werden an den Hof gehen, wo wir hingeh&ouml;ren.
+Und du wirst nun auch mein gutes Kind sein
+und gehorchen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, Papa! &mdash; Ich bin sechsundzwanzig Jahre
+alt. W&auml;re ich Euer Sohn, statt Eure Tochter, ihr
+w&uuml;rdet es selbstverst&auml;ndlich finden, wenn ich meine eigenen
+Wege ginge. Ich kann nicht denken wie ihr, und ich bin
+au&szlig;erstande, nichts als eine Haustochter zu sein. Pa&szlig;t
+Euch der Verkehr nicht, der mir notwendig ist, wollt
+Ihr Euch nicht mit mir identifizieren, &mdash; so la&szlig;t mich in
+Frieden meiner Wege gehen, &mdash; gebt mir freiwillig die
+Freiheit!&laquo;</p>
+
+<p>Meine Worte wirkten verbl&uuml;ffend. Die Eltern waren
+pl&ouml;tzlich ganz ruhig geworden. Sie schienen auf das
+tiefste verletzt. &raquo;Da&szlig; wir &uuml;ber solchen Wahnwitz mit
+dir verhandeln, wirst du selbst nicht erwarten k&ouml;nnen,&laquo;
+sagte Papa kalt. &raquo;Geh in dein Zimmer. Bis morgen
+fr&uuml;h d&uuml;rftest du wohl zur Vernunft gekommen sein.&laquo;</p>
+
+<p>Aber der Morgen kam und fand mich entschlossen,
+eher das Haus zu verlassen, als auf meine Besuche bei
+Herrn von Glyzcinski zu verzichten. Und die Eltern,
+die zwischen dem Skandal einer davonlaufenden Tochter
+und dem Eingehen auf ihre W&uuml;nsche zu w&auml;hlen hatten,
+gaben mir nach. Eine dr&uuml;ckende Stimmung, wie geladen
+von Mi&szlig;trauen und Feindseligkeit, blieb zur&uuml;ck. Nur
+Papa gab sich alle M&uuml;he, meine Interessen auf andere
+Wege zu leiten. Meine Teilnahme an den Bestrebungen
+Egidys schien ihm sogar erw&uuml;nscht, um die Einfl&uuml;sse
+von der anderen Seite zu paralysieren. Er selbst hielt
+sich davon zur&uuml;ck. &raquo;Es widerstrebt mir, mich als preu&szlig;ischer
+General in irgendeine &ouml;ffentliche Bewegung zu
+<a name="Page_516" id="Page_516"></a>mischen. Ich bin Soldat, &mdash; nichts weiter,&laquo; sagte er
+zu Egidy bei unserem Gegenbesuch, der der erste und
+letzte war, den er bei ihm machte. Um so h&auml;ufiger geleitete
+mich meine Mutter in die Spenerstra&szlig;e, zuerst
+mit mi&szlig;mutig aufeinander gepre&szlig;ten Lippen, nur aus
+Pflichtgef&uuml;hl, &mdash; den Standesgenossen gegen&uuml;ber mu&szlig;te
+doch die Form gewahrt werden, die einem jungen
+M&auml;dchen nicht gestattete, allein in Gesellschaft zu gehen! &mdash; Dann
+mit steigender pers&ouml;nlicher Neigung. Diese
+bunte Welt, die sich jeden Dienstag Abend in dem gastfreien
+Hause zusammenfand, war eine v&ouml;llig neue f&uuml;r
+sie, und mit einer fast kindlichen Neugierde besch&auml;ftigte
+sie sich mit jedem Besucher, w&auml;hrend bei mir das Interesse
+an dem blo&szlig; Neuen und Fremdartigen um so
+mehr erlahmte, je leidenschaftlicher ich nach Gesinnungsgenossen
+suchte.</p>
+
+<p>Eigenbr&ouml;dler aller Art f&uuml;llten die Salons der Familie
+Egidy, bis zu solchen herab, deren armer enger Geist
+durch die unabl&auml;ssige Besch&auml;ftigung mit einem einzigen
+Gedanken mehr und mehr in Verwirrung geraten war.
+Da gab es Menschen, die von der R&uuml;ckkehr zur Natur
+das Heil der Welt erwarteten, barfu&szlig; gingen im Gewande
+des Nazareners, von K&ouml;rnern lebten, die sie in
+der Tasche trugen; andere mit fahlen, asketischen Z&uuml;gen,
+die mit der ganzen m&uuml;hselig zur&uuml;ckged&auml;mmten Leidenschaftlichkeit
+ihres Inneren die Selbstvernichtung der
+Menschheit predigten, und, als ihr Gegensatz, fanatische
+Anarchisten, die die Freiheit ihrer eigenen kleinen Gel&uuml;ste
+mit dem Schlagwort vom schrankenlosen Ausleben
+der Pers&ouml;nlichkeit zu rechtfertigen suchten. Studenten
+und Studentinnen aller Nationen fanden sich ein, deren
+<a name="Page_517" id="Page_517"></a>jugendlicher &Uuml;berschwang in Egidy einen neuen Heiland
+verehrte, und eine Menge &auml;ltliche Damen, die aus dem
+stillen Winkel ihres leeren Lebens hervorgekrochen schienen
+wie Maulw&uuml;rfe, die die Sonne suchen, und mit dem
+Rest ihrer unterdr&uuml;ckten Gef&uuml;hle verschw&auml;rmt zu Egidys
+F&uuml;&szlig;en sa&szlig;en; versch&auml;mte Arme, die hier nichts wollten
+als den reich gedeckten Tisch, an dem sie einmal in der
+Woche satt werden konnten; mitten darin Abenteurer
+aller Art, die den reichen, nur allzu vertrauensseligen
+Mann f&uuml;r ihre Zwecke zu gewinnen suchten, und dazwischen &mdash; vereinzelt &mdash; ernste
+aufrichtige Anh&auml;nger,
+junge Literaten und Theologen zumeist, die sich vergebens
+bem&uuml;hten, Egidy vor sich selbst zu sch&uuml;tzen. Er
+hatte f&uuml;r Alle Zeit, f&uuml;r jeden Herzenskummer, der ihm
+anvertraut wurde, ein freundliches Interesse; und warnte
+man ihn vor diesem und jenem seiner G&auml;ste, der ein
+notorischer Hochstapler war, so sagte er mit fester &Uuml;berzeugung:
+&raquo;Wer zu mir kommt, der beweist dadurch, da&szlig;
+er gewillt ist, ein Anderer zu werden. Und ich sollte
+ihm mein Haus verschlie&szlig;en?&laquo;</p>
+
+<p>Aber auch ernste, reife Menschen erschienen, M&auml;nner
+und Frauen mit ber&uuml;hmten Namen, die auf irgend
+einem reformbed&uuml;rftigen Gebiet des &ouml;ffentlichen Lebens
+t&auml;tig waren und alle versuchten, Egidy auf ihre Seite
+zu ziehen: Abstinenzler, Friedensfreunde und Bodenreformer,
+moderne P&auml;dagogen und Frauenrechtlerinnen.
+Warteten sie nicht alle, die ihre Kr&auml;fte in dramatischen
+Gesten oder in der Kleinarbeit winziger Ref&ouml;rmchen
+ersch&ouml;pften, ihrer selbst unbewu&szlig;t, auf irgend
+ein Zauberwort, das ihre eigenen Fesseln sprengen
+und sie zu gemeinsamer gro&szlig;er Leistung vereinigen
+<a name="Page_518" id="Page_518"></a>w&uuml;rde? War Egidy der Mann, der es aussprechen
+sollte?</p>
+
+<p>Ich hatte inzwischen die B&uuml;cher Glyzcinskis gelesen:
+seine eigene Moralphilosophie und die Schriften der
+Gr&uuml;nder und Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas
+und Englands. Sie vertraten die Einheit der Moral
+gegen&uuml;ber der Vielheit der Religionen, sie waren &uuml;berzeugt,
+da&szlig; alle Menschen, die ernstlich das Gute wollen,
+sich, unabh&auml;ngig von ihren verschiedenartigen transzendenten
+Anschauungen, auf dem Boden allgemein
+g&uuml;ltiger Ethik zu dem gro&szlig;en Werk sittlicher und
+sozialer Reform vereinigen k&ouml;nnten. &Uuml;ber Gott und
+den G&ouml;ttern stand f&uuml;r sie das Absolute, die Moral;
+denn nicht darum ist das Gute gut, sagten sie, weil
+Gott es seinen Gl&auml;ubigen zu tun befiehlt, er befiehlt
+es vielmehr, weil es gut ist, also mu&szlig; auch f&uuml;r
+die Gottgl&auml;ubigen das Gute das Allumfassende sein.
+Sie selbst stellten f&uuml;r das sittliche Handeln keine Einzelvorschriften
+auf, sie erkannten vielmehr als dessen
+Richtschnur und Pr&uuml;fstein das gr&ouml;&szlig;tm&ouml;gliche Gl&uuml;ck der
+gr&ouml;&szlig;ten Mehrzahl.</p>
+
+<p>Auf mich wirkten diese Werke wie eine Offenbarung:
+hier war das erl&ouml;sende Wort, das nicht nur all die
+auf Seitenwegen Umherirrenden zusammen rufen und
+dem gemeinsamen Ziel entgegenf&uuml;hren w&uuml;rde, hier war
+der Zauberstab, der aus den Felsenherzen der Menschen
+lebendige Brunnen tatkr&auml;ftigen Wirkens hervorlocken
+k&ouml;nnte; hier breitete sich vor meinen inneren Augen
+jungfr&auml;ulicher Boden aus, den ich mit zu roden und
+zu bebauen bestimmt schien. Eine Ethische Gesellschaft
+in Deutschland zu gr&uuml;nden, die das &ouml;ffentliche Gewissen
+<a name="Page_519" id="Page_519"></a>der Nation werden sollte, &mdash; darauf richteten sich alle
+meine Gedanken.</p>
+
+<p>Ich ging t&auml;glich zum Professor. Schon lange hegte
+er denselben Wunsch wie ich, ohne, seiner eigenen Gebrechlichkeit
+wegen, an die M&ouml;glichkeit naher Erf&uuml;llung
+zu glauben.</p>
+
+<p>&raquo;Hatte ich nicht recht,&laquo; sagte er einmal, &raquo;wenn ich
+meinte, ich m&uuml;sse eigentlich dem lieben Gott dankbar
+sein f&uuml;r die merkw&uuml;rdige Begegnung mit Ihnen? Durch
+Sie wird der Lieblingstraum meines Lebens in Erf&uuml;llung
+gehen!&laquo;</p>
+
+<p>Wir arbeiteten unseren Plan in allen Einzelheiten
+aus: Mitglieder der verschiedensten religi&ouml;sen und politischen
+Richtungen sollten den ersten Aufruf zur Gr&uuml;ndung
+der Ethischen Gesellschaft unterzeichnen. Ihr Zweck
+sollte sein, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem
+alle Menschen ihre Gedanken freim&uuml;tig &uuml;ber alle brennenden
+Fragen der Gegenwart auszutauschen verm&ouml;chten,
+von dem aus gemeinsam geschaffene Gesetzesvorschl&auml;ge
+den Regierungen unterbreitet und zu den Ereignissen des
+&ouml;ffentlichen Lebens Stellung genommen werden sollte.
+Niemand d&uuml;rfe um seines Glaubens oder seinen politischen
+Anschauungen wegen bek&auml;mpft oder ausgeschlossen
+werden, es sei denn, da&szlig; er dadurch gegen das Grundprinzip
+der Gesellschaft versto&szlig;e: das gr&ouml;&szlig;te Gl&uuml;ck der
+gr&ouml;&szlig;ten Anzahl zu f&ouml;rdern.</p>
+
+<p>Mein Gedankengang geriet bei diesem Punkt ins
+Stocken. &raquo;Wenn ichs mir recht &uuml;berlege,&laquo; sagte ich
+nachdenklich, &raquo;kann ein echter Christ sich unserem Bunde
+nicht anschlie&szlig;en. Toleranz gegen Andersgl&auml;ubige kann
+bei denjenigen kaum erwartet werden, die &uuml;berzeugt sind,
+<a name="Page_520" id="Page_520"></a>da&szlig; ihr Glaube der allein selig machende sei; und das
+gr&ouml;&szlig;te Gl&uuml;ck als Ziel unseres Strebens aufstellen, ist
+vollends ganz und gar unchristlich.&laquo;</p>
+
+<p>Glyzcinski lachte: &raquo;Sie haben einen hellen Kopf,
+liebe Freundin, darum lassen Sie mich ihnen noch eins
+verraten. Niemand, der von Herzen an einen lebendigen
+Gott glaubt, kann auf unsere Seite treten; oder d&uuml;rfte
+er zugeben, da&szlig; Gott selbst sich der Moral unterordnet?!
+Die Religion als vager metaphysischer Glaube, als
+fl&uuml;chtig berauschendes Genu&szlig;mittel schwacher Seelen
+kann innerhalb unserer Reihen Anh&auml;nger haben, nicht
+aber die Religion als Grundlage der Sittlichkeit, &mdash; und
+damit wird ihr Halt und Inhalt zugleich entzogen.
+Der Kaiser und die Junker haben von ihrem Standpunkt
+aus vollkommen recht, wenn sie dem Volke die
+Religion erhalten und die Schule der Kirche mit Haut
+und Haar ausliefern m&ouml;chten: nichts hindert die Verbreitung
+wahrer ethischer Kultur mehr als die Religion.
+Die Dankbarkeit f&uuml;r alles, was wir haben und sind,
+k&ouml;rperlich und geistig, wird in sentimentalen Gef&uuml;hlen
+auf Gott gelenkt, statt da&szlig; sie sich in Taten ausl&ouml;st f&uuml;r
+die Menschheit, der wir in Wirklichkeit alles verdanken.
+Aller Widerstand gegen das B&ouml;se, alle Kampfeslust gegen
+das Ungl&uuml;ck wird dadurch gel&auml;hmt, da&szlig; man den Menschen
+lehrt, sich dem&uuml;tig vor Gottes Willen zu neigen,
+und ihnen den Glauben an die ewige Seligkeit einfl&ouml;&szlig;t.
+Und alle Tapferkeit, alle Menschenliebe, alle Kraft zur
+Selbstbefreiung und zur Befreiung der Menschheit aus
+Elend und Knechtschaft wird im Keime erstickt, wenn
+die Verantwortlichkeit f&uuml;r das Leiden auf die Gottheit
+abgew&auml;lzt werden kann.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_521" id="Page_521"></a></p>
+<p>&raquo;Ich verstehe Sie nicht, &mdash; Sie scheinen gegen den
+eigenen Plan zu sprechen, &mdash; nach Ihnen m&uuml;&szlig;te keine
+ethische, sondern eine atheistische Gemeinschaft gegr&uuml;ndet
+werden,&laquo; wandte ich ein.</p>
+
+<p>&raquo;Sie irren, &mdash; atheistische Pfaffen, die wir in diesem
+Fall z&uuml;chten w&uuml;rden, schaden unserer Sache mindestens
+ebenso viel wie kirchliche. Ethik wollen wir verbreiten,
+und in dieser Ethik ruht die Kraft der Wahrhaftigkeit,
+die allm&auml;hlich alle alten Gespenster austreiben wird.
+F&uuml;r mich &mdash; wir beide sprechen offen miteinander! &mdash; ist
+die Hauptaufgabe der Ethischen Gesellschaft nicht die,
+f&uuml;r Gerade und Krumme ein gleichm&auml;&szlig;ig passendes
+moralisches M&auml;ntelchen zuzuschneiden, sondern im Dienst
+der sittlichen und sozialen Entwicklung dem Antichristentum
+und dem Sozialismus die Wege zu bereiten!&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg; ein tiefer Schrecken vor unbekannten
+Gefahren hatte mich erfa&szlig;t. Der Sozialismus! &mdash; M&auml;nner
+mit niedrigen Stirnen und schwieligen F&auml;usten
+sah ich, schwinds&uuml;chtige Frauen und Kinder mit Greisengesichtern,
+ein Zug von Gestalten, ha&szlig;erf&uuml;llt die Z&uuml;ge,
+die F&auml;uste drohend erhoben wider alles, was unser
+Leben sch&ouml;n und reich machte, eingeh&uuml;llt in einen Geruch
+von Schwei&szlig; und Blut. Helfen wollte ich ihnen, &mdash; einen
+Weg wollte ich hauen durch die Wildnis ihres
+Elends, ich f&uuml;rchtete nicht die Dornen, die mir die
+H&auml;nde zerrei&szlig;en, die fallenden &Auml;ste, die mich verwunden
+w&uuml;rden, &mdash; aber mich ihrem Zuge einreihen &mdash;, mich
+schauderte.</p>
+
+<p>&raquo;Wie sind Sie bla&szlig; und still geworden!&laquo; h&ouml;rte ich
+Glyzcinskis warme Stimme. &raquo;Verzeihen Sie mir &mdash; ich
+habe mich schon so daran gew&ouml;hnt, vor Ihnen laut
+<a name="Page_522" id="Page_522"></a>zu denken, da&szlig; mir nicht einfiel, wie sehr ich Sie dadurch
+erschrecken k&ouml;nnte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben nur, wie immer, zu gut von mir gedacht,
+und ich bedarf ihrer Verzeihung, &mdash; nicht umgekehrt,&laquo;
+antwortete ich. &raquo;Sie m&uuml;ssen Geduld mit mir haben, &mdash; ich
+mu&szlig; mich erst an die Neuheit des Gedankens gew&ouml;hnen.
+Ich wei&szlig; ja auch im Grunde gar nichts vom
+Wesen des Sozialismus. Vieles, was ich h&ouml;rte, stimmte
+wohl mit meinen eigenen Ansichten &uuml;berein, vieles aber
+hat mich immer abgesto&szlig;en &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde wieder meine stummen Freunde f&uuml;r mich
+sprechen lassen!&laquo; Und Glyzcinski bezeichnete mir die
+B&uuml;cher und Brosch&uuml;ren, die ich aus seinem B&uuml;cherschrank
+nehmen sollte. &raquo;Nur eins m&ouml;chte ich Ihnen
+gleich heute sagen: Auf dem Wege wissenschaftlichen
+Studiums bin ich zu meinen ethischen &Uuml;berzeugungen
+gelangt, auf demselben Wege habe ich
+erkannt, da&szlig; die Entwicklung zum Sozialismus eine
+gesetzm&auml;&szlig;ige, unab&auml;nderliche ist, gleichg&uuml;ltig, ob unser
+Gef&uuml;hl sich dagegen str&auml;ubt oder nicht. Nachdem ich
+das aber einmal erkannt habe, kann es f&uuml;r mich von
+meinem ethischen Standpunkt aus keine andere Wahl
+geben, als die, mich in den Dienst der Entwicklung zu
+stellen und mit allen Kr&auml;ften dahin zu wirken, da&szlig; sie
+eine m&ouml;glichst friedliche, das Gl&uuml;ck der Menschen m&ouml;glichst
+wenig gef&auml;hrdende sei. Andere denselben Weg
+der Erkenntnis zu f&uuml;hren, den ich gegangen bin, &mdash; das
+ist daher meine Aufgabe &mdash;, das ist die Aufgabe, die
+die Ethischen Gesellschaften haben sollten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und Sie glauben, da&szlig; die Menschen sich dahin
+f&uuml;hren lassen werden?!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_523" id="Page_523"></a>Des Professors Gesicht nahm jenen kindlich-strahlenden
+Ausdruck an, der mich immer an gotische Heiligenbilder
+erinnerte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube daran! Sonst m&uuml;&szlig;te ich mich selbst f&uuml;r
+eine Ausnahme aller Regel halten!&laquo;</p>
+
+<p>Auch Egidy, dachte ich auf dem Heimweg, ist solch
+ein Gl&auml;ubiger; bei ihm soll das Einige Christentum
+vollenden, was der Professor von der Ethischen Kultur
+erwartet.</p>
+
+<p>Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei
+jedem Umschlagen einer Seite erwartete ich das Gr&auml;&szlig;liche
+zu finden, das so vielen Menschen das Recht gab,
+den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln
+zu bek&auml;mpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte
+mich, und wenn ich &uuml;berrascht war, so nur &uuml;ber die
+Selbstverst&auml;ndlichkeit jeder Kritik am Bestehenden und
+jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im
+stillen vor Freude, wenn ich eigene, l&auml;ngst vertraute
+Ideen wiederfand; und wo meine Gedanken nicht Schritt
+halten konnten, sagte mein Gef&uuml;hl ja und tausendmal
+ja. Gleiche Rechte f&uuml;r alle: M&auml;nner und Frauen;
+Freiheit der &Uuml;berzeugung; Sicherung der Existenz;
+Frieden der V&ouml;lker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein
+Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht f&uuml;r Alle; freie
+Entwicklung der Pers&ouml;nlichkeit, ungehemmt durch Fesseln
+der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Verm&ouml;gens &mdash;:
+wie konnte irgend jemand, der auch nur
+&uuml;ber seine n&auml;chsten vier W&auml;nde hinausdachte, sich der
+Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschlie&szlig;en?!</p>
+
+<p>Eugen Richters famose Brosch&uuml;re, die ich im Sommer
+<a name="Page_524" id="Page_524"></a>gelesen hatte, und die Onkel Walter in Pirgallen gratis
+unter die Arbeiter verteilte, fiel mir ein. Sollte der
+Verfasser wissentlich gelogen haben? Und war es L&uuml;ge,
+nichts als L&uuml;ge, was die Gegner vom Sozialismus verbreiteten?
+Da&szlig; der Professor mir irgend etwas vorenthalten
+haben konnte, war doch unm&ouml;glich!</p>
+
+<p>Ich besprach alles mit ihm: meine freudige Zustimmung
+und meine Zweifel und Bedenken. Der erfurter Parteitag
+war eben geschlossen worden, das neue Programm lag
+vor, und Glyzcinski erkl&auml;rte es mir in allen seinen Einzelheiten.
+Ich sah, da&szlig; die vielverl&auml;sterte und mir immer
+l&auml;cherlich erschienene Forderung nach der Verteilung
+allen Besitzes in Wirklichkeit nicht vorhanden war, da&szlig;
+nur der Grund und Boden, der seine privaten Besitzer
+reich machte, ohne da&szlig; sie arbeiteten, und die Produktionsmittel
+der Industrie, durch die ihre Eigent&uuml;mer
+zu Million&auml;ren wurden und ihre Arbeiter zu abh&auml;ngigen
+Sklaven, in den Besitz der Allgemeinheit &uuml;bergehen
+sollten. Dabei konnten wir alle nur gewinnen, &mdash; wir
+vielen, die wir doch auch nichts als Besitzlose waren! &mdash; Warum
+str&auml;ubten wir uns dann?</p>
+
+<p>&raquo;Sie sehen selbst: Unwissenheit und Selbstsucht sind
+die Gegner der Sozialdemokratie, die L&uuml;ge ihre Waffe,&laquo;
+sagte der Professor, &raquo;und wir sollten sie zu besiegen
+nicht imstande sein?!&laquo;</p>
+
+<p>Die Zeit damals war geladen mit Elektrizit&auml;t. &Uuml;berall
+schien die alte Erde von unterirdischen Donnern ersch&uuml;ttert,
+und hie und da klaffte ein dunkelg&auml;hnender
+Abgrund, wo noch eben gr&uuml;ne Wiesen gelacht hatten.
+Schmutzige Geldgeschichten in preu&szlig;ischen Ministerhotels,
+Betrugsanklagen gegen Vertreter der deutschen Regierung
+<a name="Page_525" id="Page_525"></a>im Ausland; Unterschlagungen von Kirchengeldern und
+wohlt&auml;tigen Stiftungen durch christliche, vom Hof protegierte
+Bankh&auml;user ersch&uuml;tterten das noch vorhandene
+Vertrauen in die Unantastbarkeit preu&szlig;ischen Beamtentums
+und christlicher Tugenden. Und wer, wie ich, von
+den Tiefen menschlichen Elends und menschlicher Verworfenheit
+noch wenig wu&szlig;te, dem ri&szlig; der Proze&szlig; Heintze
+die letzten Schleier von den Augen. Diese gewaltsame
+Enth&uuml;llung der Wahrheit, die selbst die, die nicht sehen
+wollten, zum Sehen zwang, wirkte wie Wetterleuchten,
+das gro&szlig;en Umw&auml;lzungen vorhergeht.</p>
+
+<p>Im Egidyschen Kreise, den ich jetzt um so seltener
+fern blieb, als ich gerade hier die erfolgreichste Propaganda
+f&uuml;r die Ideen der Ethischen Kultur glaubte machen
+zu k&ouml;nnen, trat die durch die &ouml;ffentlichen Ereignisse hervorgerufene
+Erregung deutlich zutage. Egidy pflegte
+kurze Vortr&auml;ge zu halten, in denen Tagesfragen stets
+ber&uuml;hrt wurden; selten nur begegnete ihm ein Widerspruch,
+fast immer konnte er der jubelnden Zustimmung
+seiner G&auml;ste sicher sein, wenn er in seiner halb kindlichen,
+halb herrischen Weise alle Fragen spielend l&ouml;ste. &raquo;Wir
+brauchen nur Christen zu sein, ganz und gar Christen,
+und wir haben keine Rasse-, keine Geschlechts- und keine
+sozialen Probleme mehr,&laquo; erkl&auml;rte er, und mit unersch&uuml;tterlichem
+Optimismus hoffte er auf den Kaiser:
+&raquo;Nach einem F&uuml;hrer unserer Bewegung, die das ganze
+Volk ohne Ausnahme umfassen wird, braucht ein Land
+nicht zu suchen, dem F&uuml;rsten<em class="spaced"> geboren</em> werden.&laquo; Ich
+war fast die einzige, die nicht nur skeptisch blieb, sondern
+alles daran setzte, die gro&szlig;e Pers&ouml;nlichkeit dieses Mannes,
+die mir wie geschaffen zu sein schien, Hunderttausende
+<a name="Page_526" id="Page_526"></a>mit sich zu rei&szlig;en, den Ideen der Ethischen Bewegung
+zu gewinnen. Wir debattierten oft stundenlang und
+setzten dann noch brieflich unsere Diskussionen fort.</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen beide dasselbe,&laquo; sagte er einmal, &raquo;und
+auf diesen ernsten Willen kommt es an.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist unser Wille der gleiche, und sind unsere Gedanken
+dieselben, so haben Sie so wenig das Recht wie ich,
+sich f&uuml;r neuen Wein alter Schl&auml;uche zu bedienen!&laquo; antwortete
+ich.</p>
+
+<p>&raquo;Das Christentum &mdash; mein Christentum Jesu ist aber
+nicht der alte Schlauch, den die Kirche gemacht hat,
+mit der ich ganz und gar nichts zu tun habe,&laquo; beharrte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ich will &uuml;berhaupt nur, da&szlig; etwas wird,&laquo; schrieb
+er bald darauf: &raquo;Wir wollen die Religion<em class="spaced"> leben</em>; setzen
+Sie f&uuml;r das Wort: Religion &mdash; Ethik, so ist's mir
+recht, aber f&uuml;r das Wort: leben sollen Sie mir kein
+anderes setzen. &mdash; Wir m&uuml;ssen das Christentum ernst
+nehmen; setzen Sie f&uuml;r Christentum &mdash; Ethik, so ist's
+mir recht, das Ernstnehmen aber lasse ich mir nicht fortstreichen.
+Wir haben lange genug entwickelt, &mdash; ich will
+nun Entfaltung sehen. Wieder blo&szlig; reden, blo&szlig; predigen,
+blo&szlig; erziehen, derweilen die Menschen weiter
+hungern und die Welt aus Laune einzelner in Waffen
+starrt, &mdash; nein! Mein Streben geht darauf hin, Zust&auml;nde
+zu schaffen, die<em class="spaced"> verwirklichen</em>, was Sie predigen. Der
+Staat soll eine gro&szlig;e ethische Gesellschaft sein, jede
+Schule eine in Ihrem Sinne ethische, in meinem Sinne
+religi&ouml;se Gemeinschaft erziehen. Glauben Sie mir: ich
+marschiere ganz auf realem Boden. Da&szlig; auch Fr&auml;ulein
+von Kleve &mdash; traurig oder l&auml;chelnd? &mdash; den Kopf sch&uuml;ttelt,
+tut mir furchtbar weh. Entmutigen aber darf es mich
+<a name="Page_527" id="Page_527"></a>nicht. Sie waren ja vor mir auf dem Schlachtfelde, &mdash; ich
+wei&szlig; das recht gut. Die Frage wird schlie&szlig;lich
+einfach die sein: wer der Menschheit zumeist gen&uuml;tzt
+haben wird, &mdash; Ethische Gesellschaft oder Angewandtes
+Christentum. Sie beantwortet sich allenfalls heute schon
+daraus: womit begr&uuml;ndet jemand seine Anspr&uuml;che an
+die Gemeinsamkeit wirksamer: indem er auf Grund
+ethischer Prinzipien &mdash; &#8250;neuer Werte&#8249; &mdash; fordert, oder
+indem er auf Grund des &#8250;gerade von euch, ihr Herren&#8249;
+gepredigten Christentums, im Namen des Jesus von
+Nazareth verlangt? ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch ich will, da&szlig; etwas wird,&laquo; antwortete ich ihm,
+&raquo;aber ich sehe nicht, da&szlig; wir, die wir jede gewaltsame
+Durchsetzung neuer Zust&auml;nde ablehnen, dieses Werden
+anders f&ouml;rdern k&ouml;nnen, als durch &#8250;reden&#8249;, &#8250;erziehen&#8249;,
+&#8250;predigen&#8249;, das hei&szlig;t durch Verbreitung neuer Ideen. Sie
+tun doch auch nichts anderes! Und Sie werden mir
+gewi&szlig; zugeben, da&szlig; Reden &mdash; &#8250;blo&szlig; reden&#8249; (!) &mdash; eine
+mutigere und an Folgen reichere Tat sein kann, als
+Schlachten schlagen. Auf diese Folgen kommt es an,
+sagen Sie, und wieder finden Sie mich auf Ihrer Seite.
+Wenn ich aber wirklich zuweilen traurig &mdash; niemals
+l&auml;chelnd! &mdash; den Kopf sch&uuml;ttele, so nur deshalb, weil
+ich &uuml;berzeugt bin, da&szlig; die Folgen der von Ihnen ins
+Leben gerufenen Bewegung gr&ouml;&szlig;ere sein w&uuml;rden, wenn
+Sie sich anderer Mittel bedienten. Die urspr&uuml;ngliche
+Lehre Jesu mag mit Ihren Ansichten &uuml;bereinstimmen &mdash; das
+zu entscheiden w&auml;re Sache gelehrter theologischer
+Forschung &mdash;, aber das, was heute die ganze Welt unter
+Christentum versteht, ist etwas im Laufe der Jahrhunderte
+historisch Gewordenes, das umzusto&szlig;en viel mehr<a name="Page_528" id="Page_528"></a>
+Zeit, viel mehr Kraft erfordern w&uuml;rde, &mdash; falls es
+&uuml;berhaupt m&ouml;glich ist! &mdash;, als neue Werte unter neuem
+Namen in die K&ouml;pfe und Herzen zu pflanzen ...&laquo;</p>
+
+<p>Aber all unsere Auseinandersetzungen, in denen wir
+im Grunde mit gr&ouml;&szlig;erer Leidenschaft um einander, als um
+Ideen k&auml;mpften, blieben fruchtlos. &raquo;Also &mdash; ich reite
+allein!&laquo; schrieb mir Egidy in einem Augenblick, wo wir,
+wie ersch&ouml;pft vom Kampf, mit gesenktem Degen stumm
+voneinander gegangen waren, &raquo;aber &mdash; den Glauben
+d&uuml;rfen, richtiger: k&ouml;nnen Sie mir nicht rauben, da&szlig; Sie
+und ich im kleinsten Finger dasselbe meinen; ich habe
+Sie erfa&szlig;t, nur Sie mich nicht! Warum? ich werde es
+Ihnen einmal sagen, &mdash; nicht schreiben; ich habe ein
+ganz klares Bewu&szlig;tsein davon ...&laquo;</p>
+
+<p>Glyzcinski gegen&uuml;ber gab ich meinem Unmut &uuml;ber das
+Vergebliche meines Bem&uuml;hens lebhaften Ausdruck. Er
+selbst hatte urspr&uuml;nglich auf Egidy, als einen unserer
+k&uuml;nftigen Mitk&auml;mpfer, au&szlig;erordentlichen Wert gelegt.
+Allm&auml;hlich grub sich eine kleine Falte zwischen seine
+Brauen, wenn ich von ihm erz&auml;hlte. &raquo;Sie sollten Ihre
+Kr&auml;fte nicht l&auml;nger an eine verlorene Sache verschwenden,&laquo;
+meinte er dann. Aber ich konnte mich um so weniger
+beruhigen, als mir ein Zusammensto&szlig; zwischen den
+beiden Bewegungen unvermeidlich schien, je mehr sie an
+Bedeutung gewannen.</p>
+
+<p>Einer der Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas
+war auf Glyzcinskis Veranlagung nach Berlin gekommen,
+seine Vortr&auml;ge hatten gro&szlig;e Aufmerksamkeit
+erregt und im Kreise der Intellektuellen lebhafte
+Debatten hervorgerufen. Ich sah, wie schmerzlich
+Egidy und seine Anh&auml;nger das Auftreten des Ethikers
+<a name="Page_529" id="Page_529"></a>empfanden. An den folgenden Dienstagabenden dr&auml;ngten
+sich die Menschen mehr als sonst in den Salons der
+Spenerstra&szlig;e; die hektisch ger&ouml;teten Wangen vieler Besucher
+verrieten ihre krankhaft gesteigerte Aufregung; und
+welcher Gruppe ich mich auch n&auml;herte: die Plaudernden
+verstummten oder stoben scheu auseinander.</p>
+
+<p>&raquo;Man hat Sie als Spitzel der Ethischen Bewegung verd&auml;chtigt,&laquo;
+sagte lachend Wilhelm von Polenz, ein treuer
+Freund und st&auml;ndiger Gast des Egidyschen Hauses, den
+ich um Aufkl&auml;rung bat. &raquo;Bande!&laquo; &mdash; stie&szlig; ich zwischen
+den Z&auml;hnen hervor. &raquo;Sie haben mit Ihrer Bezeichnung,
+f&uuml;rcht' ich, mehr recht, als Sie ahnen,&laquo; &mdash; des jungen
+Dichters Z&uuml;ge waren ernst, fast traurig geworden &mdash; &raquo;es
+ist ein Jammer, da&szlig; unser Freund diese Umgebung
+hat und duldet. Aber es mu&szlig; anders werden!&laquo; f&uuml;gte
+er nach einer Pause hinzu. &raquo;Ich denke an solche, die
+f&auml;hig und w&uuml;rdig sind, Tr&auml;ger seiner Ideen zu sein,
+und die &mdash; vielleicht unbewu&szlig;t &mdash; nach Vertiefung und
+Bereicherung ihres Innenlebens lechzen: an unsere
+jungen K&uuml;nstler und Literaten.&laquo; Egidy begann zu
+reden und unterbrach unser Gespr&auml;ch. Meine Gedanken
+waren aber noch dabei; Polenz hatte recht, ganz recht:
+die Dichter der &raquo;Ehre&laquo;, der &raquo;Familie Selicke&laquo;, des &raquo;Vor
+Sonnenaufgang&laquo; waren unsere geborenen Mitk&auml;mpfer.
+Unsere?! &mdash; die der Ethischen Bewegung nat&uuml;rlich!</p>
+
+<p>&raquo;... Jetzt haben die Ethiker den Triumph, da&szlig; Orthodoxe
+und Liberale ihnen Beifall rauschen,&laquo; h&ouml;rte ich
+Egidys klare, scharfe Kommandostimme, &raquo;weil sie erkl&auml;ren,
+die allgemein menschliche Moral zu vertreten
+und den religi&ouml;sen Glauben des einzelnen nicht
+tasten. Ich aber mu&szlig; es &uuml;ber mich ergehen lassen, da&szlig;
+<a name="Page_530" id="Page_530"></a>man sich schaudernd von mir wendet, weil ich dem
+dogmatischen Christentum zu Leibe gehe. Ich sage Ihnen,
+da&szlig; ich jedem Dogma zu Leibe gehe, &mdash; aber mit
+offenem Visire, nicht so, da&szlig; man erst gar nichts B&ouml;ses
+hinter mir ahnt und ich mich dann erst als Erzketzer
+entpuppe, sondern: erst Ketzer &mdash; dann ganzer und wahrer
+und Nur-Mensch, &mdash; &mdash; so sind noch nicht viele in die
+Schranken des &ouml;ffentlichen Lebens eingeritten ...&laquo; Ein
+langer Blick traf mich, und irgend etwas Unbestimmtes &mdash; wars
+&Auml;rger, wars Besch&auml;mung? &mdash; lie&szlig; mich err&ouml;ten ... &raquo;Doch
+im Namen wahrer Religion tue ich es.
+Die Ethiker haben keinen Namen, der so alles in sich
+schlie&szlig;t, wie Religion. Hat man den Namen bisher
+mi&szlig;braucht, so soll man ihn jetzt zu Ehren bringen:
+Religion nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben
+selbst Religion! Und diese Religion bezeichne ich mit
+dem Worte Christentum. M&ouml;gen die Ethiker es doch
+versuchen, mit einem anderen Wort etwas zu erreichen!
+Aufs Erreichen kommt es an, nicht auf den Widerwillen,
+den man gegen Begriffe und Worte hat, die achtzehnhundert
+Jahre lang der Deckmantel schn&ouml;dester Frevel waren. Jetzt
+aber soll es anders werden. Wille wird! aber nicht,
+indem man das Banner fortwirft, und es der Menge
+&uuml;berl&auml;&szlig;t, kopfscheu auseinander zu rennen, sondern indem
+man es h&ouml;her denn je erhebt und mutig ausruft:
+Alle hierher! Eben entdecken wir erst, da&szlig; es noch nie
+richtig entrollt war &mdash; in den Falten, die man unseren
+Blicken entzog, steht ja ganz was anderes &mdash;, die ganze
+Menschheit soll dies Banner st&uuml;tzen, und nicht die Kirche!&laquo;</p>
+
+<p>Es war sekundenlang still. Egidy hatte sich ein f&uuml;r
+allemal jede Beifalls&auml;u&szlig;erung streng verboten. Die<a name="Page_531" id="Page_531"></a>
+Zun&auml;chststehenden sahen mich erwartungsvoll an. Das
+Herz klopfte mir bis zum Halse herauf &mdash; mir wurde
+hei&szlig; und kalt &mdash;, ich f&uuml;hlte, ich mu&szlig;te sprechen. Es
+dunkelte mir vor den Augen, die Angst schn&uuml;rte mir
+fast die Kehle zu, &mdash; wie sollt' ich die Worte finden,
+wie reden, wenn all die vielen feindseligen Blicke mir
+entgegenblitzten?! Und doch: durft' ich zum erstenmal,
+wo die Gelegenheit sich bot, die gro&szlig;e Sache zu verteidigen, &mdash; meine
+Sache! &mdash;, durfte ich feige schweigen?!</p>
+
+<p>&raquo;Herr von Egidy stellte die Lage so dar, als ob es
+hie&szlig;e: Hie Christentum &mdash; hie Ethik,&laquo; begann ich, die
+zitternden H&auml;nde krampfhaft auf die Stuhllehne vor mir
+st&uuml;tzend, &raquo;w&auml;hrend wir alle, deren gleiches Ziel die
+Wohlfahrt der Menschheit ist, nicht die Verschiedenheiten
+unserer Anschauungsweisen hervorsuchen, sondern die
+Einheit unserer Aufgaben betonen sollten ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Zerst&ouml;rung der Kirche ist unsere Aufgabe!&laquo; rief
+eine kr&auml;chzende Stimme dazwischen. Ich suchte einen
+Augenblick verwirrt nach dem zerrissenen Faden meiner
+Rede und fuhr dann fort. &raquo;Wir Vertreter der Ethischen
+Bewegung legen auf das gemeinsame Handeln den
+gr&ouml;&szlig;ten Wert und meinen, da&szlig; es weit richtiger ist,
+gegen Hunger und Not zu k&auml;mpfen, als gegen die
+Kirche ...&laquo;</p>
+
+<p>Eine lebhaft gestikulierende Dame, der das Haar in
+stumpfblonden Str&auml;hnen &uuml;ber die Stirne hing, reckte die
+d&uuml;rren H&auml;nde pl&ouml;tzlich hoch empor und schrie gellend: &raquo;Sie
+verleumdet Egidy, &mdash; duldet das nicht, duldet das nicht!&laquo;
+Egidy machte eine kurze, beruhigende Bewegung und
+stand dann wieder mit verschr&auml;nkten Armen, die Blicke
+starr auf mich gerichtet, unter dem T&uuml;rrahmen. Ich
+<a name="Page_532" id="Page_532"></a>wei&szlig;, da&szlig; ich in diesem Moment, wo die Aufregung um
+mich stieg, wie um Hilfe flehend zu ihm hin&uuml;bersah.</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind der &Uuml;berzeugung, da&szlig; das Gemeinsame der
+Menschen &mdash;&laquo; fast mechanisch sprach ich jetzt und ausdruckslos &mdash; &raquo;nicht
+die Religion, die im Gegenteil die Welt
+in feindselige Lager teilt, wohl aber eine allgemeine
+Moral sein kann, auf Grund deren wir handeln.&laquo; Mir
+wurde, angesichts der gr&ouml;&szlig;eren Ruhe um mich her, freier
+ums Herz. &raquo;Das gr&ouml;&szlig;te Gl&uuml;ck der gr&ouml;&szlig;ten Anzahl &mdash; diese
+sittliche Richtschnur kann von allen anerkannt werden,
+ohne da&szlig; der Glaube des einzelnen verletzt zu werden
+braucht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dazu sind Sie ja viel zu feige!&laquo; &mdash; wie ein
+gut gezielter Pfeilscho&szlig; flogen mir die Worte zu.</p>
+
+<p>Ich sah auf Egidy &mdash; noch r&uuml;hrte er sich nicht &mdash; das
+Herz tat mir weh, und zugleich kam mir blitzartig die
+Erkenntnis, da&szlig; er im Grunde in seiner Rede dasselbe
+gemeint hatte. Ich zwang mich zur Ruhe und w&uuml;rdigte
+den Zwischenrufer keiner Antwort. &raquo;Herr von Egidy
+r&uuml;hmte sich mit Recht, da&szlig; er mit offenem Visir k&auml;mpfe, &mdash; und
+wir und meine Freunde sind die letzten, die
+seinen Mut bezweifeln. Wir ehren jede &Uuml;berzeugung,
+indem wir sie nicht antasten und &uuml;ber ihre Schranken
+hinweg den anderen die H&auml;nde reichen ...&laquo;</p>
+
+<p>Ein sp&ouml;ttisches Gel&auml;chter neben mir reizte meinen
+kaum unterdr&uuml;ckten Zorn, und alle Selbstbeherrschung
+verlierend, st&uuml;rzten mir die Worte &uuml;ber die Lippen:
+&raquo;Sie sind feige, die Sie mich hinterr&uuml;cks angreifen, &mdash; nicht
+ich! Viel r&uuml;cksichtsloser als bei irgend
+einem unter Ihnen ist meine Gegnerschaft zur
+Kirche, zu den Dogmen, ja, zum Christentum selbst,
+<a name="Page_533" id="Page_533"></a>dessen Inhalt, dessen Tendenz volks- und kulturfeindlich
+ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Alix!&laquo; &mdash; meiner Mutter Stimme war's, &mdash; in ein
+fassungsloses Schluchzen brach sie aus. Meine harte
+Mutter, die Empfindungen kaum zu kennen schien, sie
+zum mindesten immer in eisernen Fesseln hielt, &mdash; meine
+Mutter weinte! Wir f&uuml;hrten sie hinaus, Egidy und ich.
+Er sprach ihr beruhigend zu, und ihre Augen wurden
+trocken, ihre Lippen bewegten sich zu m&uuml;hsamem L&auml;cheln.
+An der T&uuml;r streckte er mir die Hand entgegen, &mdash; ich
+&uuml;bersah sie. Wir fuhren wortlos nach Haus. Erst
+als ich vor meinem Schlafzimmer ein leises &raquo;Gute
+Nacht&laquo; fl&uuml;sterte, schien sie sich des Geschehenen wieder
+zu erinnern.</p>
+
+<p>&raquo;Du &mdash; du wagst es, mir eine gute Nacht zu
+w&uuml;nschen?!&laquo; kam es sto&szlig;weise &uuml;ber ihre Lippen. &raquo;Hast
+du mir nicht schon genug Kummer gemacht, und nun
+mu&szlig; ich noch das F&uuml;rchterliche erleben, da&szlig; du in aller
+&Ouml;ffentlichkeit unseren Herren und Heiland verleugnest?! ...
+Dazu also hast du die Freiheit benutzt, die wir t&ouml;richte,
+mehr als r&uuml;cksichtsvolle Eltern dir gew&auml;hrten, hast dir
+von dem Professor, der uns gegen&uuml;ber die Maske des
+duldsamen Ethikers tr&auml;gt, den Kopf verdrehen lassen!
+Ein sch&ouml;ner Dank f&uuml;r all unsere Liebe &mdash; &mdash; Aber das
+schw&ouml;r' ich dir zu: keinen Fu&szlig; setzt du mehr &uuml;ber die
+Schwelle dieses Elenden!&laquo; Ich wollte heftig erwidern,
+aber schon war sie fort und schob ger&auml;uschvoll den Riegel
+vor ihre T&uuml;re.</p>
+
+<p>Noch in der Nacht schrieb ich zwei Briefe, den
+einen an Egidy, worin ich mich bitter beklagte, da&szlig;
+er mich in seinem eigenen Hause den Angriffen seiner<a name="Page_534" id="Page_534"></a>
+Anh&auml;nger schutzlos preisgegeben habe, und da&szlig; ich daf&uuml;r
+nur eine Antwort h&auml;tte: ihm von nun an fern zu
+bleiben, und einen anderen an meine Kusine Mathilde,
+durch den ich sie bat, mich so rasch wie m&ouml;glich zu
+sich einzuladen, da ich Berlin auf einige Zeit verlassen
+m&uuml;sse. In aller Fr&uuml;he steckte ich beide in den Kasten
+und ging zu Glyzcinski. Als ich bei ihm eintrat,
+in dies stille, vertraute Zimmer voll Licht und Frieden
+und Vogelgezwitscher, &uuml;berfiel mich ein Schwindel, &mdash; sekundenlang
+lehnte ich mit fest auf das Herz gepre&szlig;ten
+H&auml;nden an der T&uuml;re. Er hatte sich krampfhaft aufgerichtet
+und starrte mich an, die Augen angstvoll aufgerissen,
+die Z&uuml;ge leichenfahl. Und dann hielt er meine
+Hand in der seinen und lie&szlig; sie nicht los, so lange
+ich erz&auml;hlte.</p>
+
+<p>&raquo;Meine liebes, armes Schwesterchen!&laquo; sagte er immer
+wieder. &raquo;Aber es mu&szlig;te einmal so kommen, &mdash; Sie
+werden sich mit dem Gedanken vertraut machen m&uuml;ssen,
+da&szlig; schlie&szlig;lich ein Bruch zwischen Ihnen und den Ihren
+unvermeidlich ist.&laquo; Ich lie&szlig; mutlos den Kopf sinken.
+&raquo;Dann erst werden Sie leisten k&ouml;nnen, was Sie zu
+leisten berufen sind.&laquo;</p>
+
+<p>Ich sprach von meiner Absicht, abzureisen. Es legte
+sich wie ein Schleier &uuml;ber seine Augen, und ein fast unmerkliches
+Zucken ging durch seinen K&ouml;rper. &raquo;Aber ich
+bleibe ohne Besinnen, wenn es Ihnen lieber ist,&laquo; f&uuml;gte
+ich rasch hinzu. Er l&auml;chelte gezwungen: &raquo;Mir scheint
+es freilich fast unm&ouml;glich, Sie zu missen, &mdash; aber gehen
+Sie &mdash; gehen Sie nur! Wie k&ouml;nnt' ich verlangen, da&szlig;
+Sie mir ein Opfer bringen?!&laquo; ...</p>
+
+<p>Ein Opfer?! scho&szlig; es mir durch den Kopf, &mdash; ist
+<a name="Page_535" id="Page_535"></a>nicht der Gedanke f&uuml;r mich selbst beinahe unertr&auml;glich,
+ihn zu verlassen?! &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Noch am Nachmittag kam ein Brief von Egidy. &raquo;Der
+Vorwurf, den Sie mir machen, bek&uuml;mmert mich sehr,&laquo; hie&szlig;
+es darin. &raquo;Ich habe nicht den Eindruck gehabt, da&szlig; mein
+Schutz Ihnen n&ouml;tig war. Ich fand, da&szlig; Sie sich selbst
+an besten verteidigen konnten. Am tiefsten aber betr&uuml;bt
+es mir, da&szlig; Sie jetzt von einem Wegbleiben reden.
+Der Gedanke, Sie missen zu m&uuml;ssen, ist mir schmerzlich.
+Ich habe Herz und Kopf noch so voll f&uuml;r Sie, &mdash; ich
+habe sie richtig lieb. Am schmerzlichsten aber ist der
+Stachel, den Ihre Worte mir ins Herz gesenkt: da&szlig;
+Ihnen dies Wegbleiben gar etwa so schwer nicht w&uuml;rde!
+Ich meine: andernfalls d&uuml;rften Ihnen Vorkommnisse
+solcher Art einen solchen Gedanken nicht eingeben, vielmehr
+m&uuml;&szlig;ten Sie eine Befriedigung im &Uuml;berwinden derartiger
+Dinge finden; dies um so mehr, als Sie meiner
+ritterlichen Verteidigung wohl &uuml;berzeugt sein d&uuml;rfen,
+sofern ich sehe, da&szlig; Sie derselben irgend ben&ouml;tigen. So
+wenigstens denke ich von der Aufrechterhaltung eines
+Bandes, das zu keinem anderen Zwecke besteht als zu
+dem: den Menschen zu dienen; &mdash; &mdash; ganz abgesehen
+von einem Gef&uuml;hl wohltuender Freundschaft: &#8250;oh rei&szlig;
+den Faden nicht der Freundschaft kurz entzwei &mdash; wird
+sie auch wieder fest &mdash; ein Knoten bleibt dabei &mdash;&#8249;
+Wir werden uns aussprechen, &mdash; ich bin in wenigen
+Stunden bei Ihnen ...&laquo;</p>
+
+<p>Und er kam. Ich wollte ihn nicht sehen, meine Mutter
+empfing ihn; er blieb lange bei ihr, und als er gegangen
+war, trat sie mir mit ganz ver&auml;ndertem Ausdruck entgegen.
+&raquo;Egidy l&auml;&szlig;t dich gr&uuml;&szlig;en,&laquo; sagte sie, &raquo;danke es
+<a name="Page_536" id="Page_536"></a>diesem prachtvollen Menschen, da&szlig; ich dir noch einmal
+verzeihe und deine Freiheit nicht antasten will.&laquo;</p>
+
+<p>Noch am Abend brachte der Diener Glyzcinskis mir ein
+paar Zeilen von ihm: &raquo;Eben verl&auml;&szlig;t mich Egidy. Sein
+Besuch war mir eine doppelte Freude: Ich erfuhr, da&szlig; er
+Ihre Mutter beruhigen konnte, und lernte einen Mann
+kennen, wie es &mdash; trotz all seiner Schrullen und Eigenheiten &mdash; wenige
+geben mag. Nicht wahr, nun darf
+ich auch hoffen, da&szlig; Sie bleiben werden und bei mir
+wieder jeden Nachmittag Sonntag ist?!&laquo;</p>
+
+<p>Egidy selbst schrieb mir nur vier Worte: &raquo;Hab ichs
+recht gemacht?!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein politisches Ereignis von weittragender Bedeutung
+sollte dem Einigen Christentum Egidys
+und der Ethischen Bewegung, die bisher
+beide einen verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig kleinen Kreis Getreuer
+umfa&szlig;ten, gewaltigen Vorschub leisten: der Zedlitzsche
+Volksschulgesetzentwurf. Wer die Wissenschaft vertrat,
+oder einen auch nur gem&auml;&szlig;igten Fortschritt, f&uuml;hlte
+sich in seinen Idealen pers&ouml;nlich verletzt und suchte
+nach Gleichgesinnten, um den Mut zu gemeinsamen Protesten
+zu finden, den er f&uuml;r sich allein nicht aufbrachte.
+Die sich Christen nannten, str&ouml;mten Egidy zu, die Juden
+und die Freidenker zeigten ein t&auml;glich wachsendes Interesse
+an der Ethischen Bewegung. Egidy selbst war zuerst
+so gedr&uuml;ckt durch die T&auml;uschung, die sein Vertrauen auf
+den Kaiser gefunden hatte, &mdash; denn da&szlig; der Entwurf
+dessen pers&ouml;nlichstes Werk war, daran zweifelte kaum
+einer &mdash;, da&szlig; die neue Anh&auml;ngerschaft ihn daf&uuml;r nicht
+<a name="Page_537" id="Page_537"></a>zu entsch&auml;digen vermochte. Vor der Menge zeigte er sich
+stark und hoffnungsfroh; sprach ich ihn allein, so schien
+mirs, als s&auml;nke dieser stramm aufgerichtete Soldat zum
+erstenmal m&uuml;de zusammen. Kam ich dagegen zu Glyzcinski,
+so fand ich den Gel&auml;hmten in einer Stimmung,
+die strahlend aus seinem Antlitz sprach und t&auml;glich zuversichtlicher
+wurde. &raquo;Denen, die das Gute wollen,
+m&uuml;ssen alle Dinge zum Besten dienen,&laquo; rief er mir zu,
+kaum da&szlig; ich eintrat. &raquo;Sehen Sie hier: &mdash;&laquo; und er
+schwenkte ein paar Briefbogen wie eine Fahne, &raquo;nichts
+als Beitritts- und Zustimmungserkl&auml;rungen. Mein alter
+Traum geht wirklich in Erf&uuml;llung: wir werden in Deutschland
+eine Ethische Gesellschaft haben!&laquo;</p>
+
+<p>Ich erz&auml;hlte es Egidy, &mdash; seit jenem b&ouml;sen Dienstagabend
+war die Ethische Bewegung zwischen uns nicht mehr
+erw&auml;hnt worden &mdash;, er sch&uuml;ttelte langsam den Kopf:
+&raquo;Wenn es doch bei der blo&szlig;en Bewegung geblieben
+w&auml;re!&laquo; sagte er, &raquo;wie ganz anders fl&ouml;ssen unsere Bestrebungen
+nicht nur neben- sondern ineinander, wenn
+Sie die Ihrigen nicht durch Satzungen zu einem k&uuml;nstlich
+gemauerten Kanal formen w&uuml;rden. Gedanken verbreiten, &mdash; das
+ist das einzig Not tuende! &mdash; Sie werden vor
+lauter Statutenberatungen und Vorstandssitzungen f&uuml;r
+diese Hauptsache gar keine Kraft und Zeit mehr &uuml;brig
+haben. Ein Verein &mdash; nun ja, &mdash; das ist ja ganz nett,
+aber &mdash; und nun glauben Sie mir einmal! &mdash; &uuml;ber
+kurz oder lang arten sie alle in Sport aus. Der Starke
+ist am m&auml;chtigsten allein!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das sagen Sie!&laquo; antwortete ich, ein wenig &auml;rgerlich,
+&raquo;und doch tun Sie nichts anderes als Anh&auml;nger werben,
+die sich zwar nicht auf Statuten, wohl aber auf Ihren<a name="Page_538" id="Page_538"></a>
+Namen verpflichten m&uuml;ssen. Sogar an Bebel hat sich
+Ihr Freund, der asketische Kandidat der Theologie,
+neulich gewandt &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; &mdash; und mit meiner Zustimmung,&laquo; unterbrach
+mich Egidy, &raquo;das Christentum schlie&szlig;t, wie alles andere
+Entwicklungsf&auml;hige, so auch den Sozialismus in seinen
+lebensf&auml;higen und w&uuml;rdigen Forderungen in sich. Und
+einem F&uuml;hrer, wie Bebel, h&auml;tte ich eine richtigere Einsicht
+zugetraut. Wollen Sie seine Antwort lesen?&laquo;</p>
+
+<p>Ich bejahte lebhaft und las den Brief nicht nur,
+sondern schrieb ihn auch ab, um ihn Glyzcinski zeigen
+zu k&ouml;nnen. Es hie&szlig; darin: &raquo; ... Das B&uuml;rgertum sieht
+die Religion heute als eins der wirksamsten Kampfmittel
+gegen die Sozialdemokratie an. Daher die Macht,
+die seit zw&ouml;lf bis f&uuml;nfzehn Jahren das Pfaffentum erlangte,
+und die Erscheinungen, die Herrn von Egidy zu seinem
+Kampfe gegen die herrschende Str&ouml;mung aufreizten. Die
+B&uuml;rgerklasse, obwohl meist freigeistig, wird sich daher in
+ihrer Masse den Bestrebungen des Herrn von Egidy fernhalten,
+andererseits kann sich auch die Sozialdemokratie
+nicht f&uuml;r diesen Kampf begeistern, weil seine Ziele ihrer
+Natur nach nur eine Halbheit sein k&ouml;nnen und an dem
+sozialen und politischen Zustande, der haupts&auml;chlich auf
+den Massen lastet, und dessen Beseitigung ihre Hauptaufgabe
+ist, nichts &auml;ndert. Sich f&uuml;r die Bestrebungen
+des Herrn von Egidy unsererseits zu engagieren, hie&szlig;e
+unsere Kr&auml;fte zersplittern, aber auch zugleich seine Bestrebungen
+als sozialdemokratische stigmatisteren und ihm
+die Mehrzahl seiner Anh&auml;nger vertreiben ... Voller
+Sympathie also f&uuml;r die Sache an sich, insofern uns
+jeder Kampf gegen bestehende &Uuml;bel willkommen ist und
+<a name="Page_539" id="Page_539"></a>den bestehenden Bau ersch&uuml;ttern hilft, k&ouml;nnen wir doch
+nicht gemeinsam wirken, weil unser Ziel weit &uuml;ber das
+von Herrn von Egidy gesteckte hinausf&uuml;hrt ... Da also
+der Berg nicht zu Mohammed kommen kann, mu&szlig;
+Mohammed eben zum Berge kommen! ...&laquo;</p>
+
+<p>Hier war kein Satz, dem ich h&auml;tte widersprechen k&ouml;nnen:
+gewi&szlig;, seine Partei konnte sicher und ruhig ihren Zielen
+entgegen gehen; sie bedurfte unser nicht. Aber eines,
+so schien mir, verga&szlig; Bebel: da&szlig; es neben dem Proletariat
+Millionen Menschen gibt, die nicht nur der endlichen
+Erl&ouml;sung ebenso w&uuml;rdig und bed&uuml;rftig sind, die
+sich vielmehr auch im Augenblick, wo die Arbeiterklasse
+schon die Fahne des Sieges aufzupflanzen imstande w&auml;re,
+ihr wie eine Barriere in den Weg stellen w&uuml;rden. Mich
+und meinen Glauben an unsere Sache entmutigte weder
+Egidy noch Bebel. Und der Professor &mdash; dessen war ich
+gewi&szlig; &mdash; w&uuml;rde nicht anders denken als ich.</p>
+
+<p>Mit Bebels Brief in der Hand, &uuml;berschritt ich wieder
+einmal den engen Hof, die dunkle Treppe, den lichtlosen
+Flur, und stand schon vor seiner T&uuml;re, als eine Stimme
+von innen meinen Fu&szlig; stocken lie&szlig;. Sie klang tief und
+warm und hatte jenen &ouml;sterreichischen Akzent, der uns
+Norddeutsche, wie alles, was vom S&uuml;den kommt, so seltsam
+anheimelt.</p>
+
+<p>&raquo;Alle Str&ouml;me flie&szlig;en in unser Meer ...&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin ganz Ihrer Meinung und w&uuml;nschte, da&szlig;
+Ihre Partei uns ebenso einsch&auml;tzt: als einen Nebenflu&szlig;,
+der ihr reiche Sch&auml;tze zuzutragen vermag,&laquo; antwortete
+der Professor. Noch ein St&uuml;hler&uuml;cken, ein
+paar H&ouml;flichkeitsphrasen, ein fester Tritt, &mdash; ich &ouml;ffnete
+rasch die T&uuml;re, um nicht als Horcherin ertappt zu
+<a name="Page_540" id="Page_540"></a>werden. Ein gro&szlig;er, blonder Mann stand mir gegen&uuml;ber,
+wir sahen einander einen Augenblick lang ins Gesicht,
+und mit einer stummen Verbeugung ging er an mir
+vorbei zum Zimmer hinaus.</p>
+
+<p>&raquo;Wer war das?&laquo; frug ich erstaunt und strich mir
+mechanisch mit der Hand &uuml;ber die Stirne, &mdash; ich mu&szlig;te
+diesen Menschen schon irgendwo gesehen haben.</p>
+
+<p>&raquo;<em class="antiqua">Dr.</em> Brandt, &mdash; der bekannte sozialdemokratische
+Schriftsteller,&laquo; sagte Glyzcinski, er strahlte noch vor
+Freude &uuml;ber den Besuch. &raquo;Was meinen Sie, sollen
+seine Worte der geheime Wahlspruch werden, den wir
+Beide an die Spitze unserer Satzungen stellen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Alle Str&ouml;me flie&szlig;en in unser Meer,&laquo; wiederholte ich
+und dr&uuml;ckte fest die Hand, die er mir entgegenstreckte &mdash; &raquo;hier
+haben Sie mich zum Bundesgenossen!&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_541" id="Page_541"></a></p>
+<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p style="text-align: right">
+Kranz, 15.&nbsp;6.&nbsp;92
+</p>
+
+<p>Verehrter Herr Professor!</p>
+
+<p>Wir sind wohlbehalten hier angekommen und ich
+benutze den herrlichen Morgen, um Ihnen
+gleich die erste Nachricht zu geben. Seit
+gestern Abend, wo Onkel Walter, kaum da&szlig; ich den Reisestaub
+abgesch&uuml;ttelt hatte, mich bereits ganz gegen seine
+Gewohnheit in ein politisches Gespr&auml;ch verwickelte, zweifle
+ich nicht mehr daran, da&szlig; nicht meiner Schwester Bleichsucht,
+sondern mein &#8250;gef&auml;hrlicher&#8249; Geisteszustand die Eltern
+veranla&szlig;te, uns Beide so unerwartet rasch auf Reisen
+zu schicken. Der Onkel erz&auml;hlte mir, da&szlig; die Regierung,
+d.&nbsp;h. heute kaum etwas anderes als S.&nbsp;M., Egidy,
+diesem &#8250;kompletten Narren&#8249;, nur aus R&uuml;cksicht auf seine
+Familienbeziehungen noch &#8250;keinen Maulkorb&#8249; vorgebunden
+habe, man werde daf&uuml;r bei Zeiten seinen Parteig&auml;ngern
+an den Kragen gehen, die im Polizeipr&auml;sidium als
+Anarchisten wohl bekannt seien. &#8250;Aber Dein Professor
+ist viel gef&auml;hrlicher&#8249;, f&uuml;gte er dann hinzu, &#8250;und er w&auml;re
+l&auml;ngst beseitigt worden, wenn er nicht ein kranker Mann
+w&auml;re.&#8249; Da mir die schlechte Gewohnheit des Schweigens
+inzwischen gl&uuml;cklich abhanden gekommen ist, gab es eine
+<a name="Page_542" id="Page_542"></a>erregte Aussprache. &#8250;Das kommt davon, wenn Frauen
+sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen,&#8249; sagte
+der Onkel, als ich Ihre Stellung zum seligen Volksschulgesetzentwurf
+und zur Arbeitslosenbewegung verteidigt
+und als die meinige bezeichnet hatte. Wir seien
+nichts anderes als Helfershelfer der Sozialdemokratie,
+erkl&auml;rte er mit der Hellsichtigkeit des Hasses. Und nun
+war es mir nicht nur h&ouml;chst interessant, ihn seinen
+eigenen Standpunkt auseinandersetzen zu h&ouml;ren, sondern &mdash; lachen
+Sie mich bitte nicht aus! &mdash; zum erstenmal,
+seit ich ihn kenne, fing ich an, ihn ernst zu nehmen und
+zu begreifen. Wer, auch ohne den Dogmenglauben zu
+besitzen, ges&auml;ttigt von dem ganzen Pessimismus des
+Christentums, alle Menschen f&uuml;r S&uuml;nder und die Welt
+f&uuml;r ein Jammertal, bestenfalls f&uuml;r eine fegefeuer&auml;hnliche
+Durchgangsstation h&auml;lt, daneben aber sich der ungeheuern
+Vorteile alter Kultur und angestammter Herrenrechte
+voll bewu&szlig;t ist, der kann den Sozialismus und alle seine
+Begleiterscheinungen nur f&uuml;r das Ende aller Dinge
+halten, gegen das er sich naturgem&auml;&szlig; wehren mu&szlig;. Offen
+gestanden, sind mir solch ehrliche Junker hundertmal
+lieber als die Richter und Konsorten, die wir ja eben
+zur Gen&uuml;ge kennen gelernt haben. &Uuml;brigens nahm ich
+die Gelegenheit wahr, um Onkel auf seinen Monarchismus
+hin festzunageln, &#8250;der mir angesichts der Haltung
+seiner Partei gegen&uuml;ber den Handelsvertr&auml;gen einigerma&szlig;en
+fadenscheinig vork&auml;me.&#8249; &mdash; &#8250;Unser Monarchismus
+besteht nicht in h&uuml;ndischer Treue gegen&uuml;ber dem einzelnen
+Monarchen,&#8249; antwortete er &#8250;sondern in der Hochhaltung
+und Verteidigung alles dessen, was die Monarchie st&uuml;tzt
+und kr&auml;ftigt, &mdash; auch gegen den Monarchen, wenn es
+<a name="Page_543" id="Page_543"></a>sein mu&szlig;!&#8249; Mich w&uuml;rde diese geistreiche Definition in
+seinem Munde verbl&uuml;fft haben, wenn mir nicht rechtzeitig
+eingefallen w&auml;re, da&szlig; in letzter Zeit seine ganze
+geistige Nahrung in den Apostata-Artikeln der &#8250;Gegenwart&#8249;
+bestanden hat.</p>
+
+<p>Hoffentlich h&ouml;re ich bald von Ihnen, von Ihrem pers&ouml;nlichen
+Ergehen, von der Entwicklung der Beratungen.
+Soll ich Ihnen gestehen, da&szlig; ich ohne Bedenken auf die
+Teilnahme an ihnen verzichtet h&auml;tte, wenn meine Eltern
+mir daf&uuml;r erlaubt haben w&uuml;rden jeden Nachmittag bei
+Ihnen allein meine Tasse Kaffee zu trinken?!</p>
+
+<p>Mit herzlichen Gr&uuml;&szlig;en</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 11.5em;">Ihre dankbar ergebene</span><br />
+<span style="margin-left: 14.5em;">Alix von Kleve.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+
+<p style="text-align: right">
+&raquo;Berlin, 18.&nbsp;6.&nbsp;92
+</p>
+
+<p>Gn&auml;digstes Fr&auml;ulein!</p>
+
+<p>So rasch eine Nachricht von Ihnen zu bekommen,
+war eine aufrichtige Freude, und Ihre Schilderung Ihres
+Gespr&auml;chs mit Ihrem Herrn Onkel interessierte mich
+nat&uuml;rlich lebhaft. Da&szlig; man die Ethische Bewegung
+&#8250;oben&#8249; nicht ohne Besorgnis betrachtet, wei&szlig; ich. Geheimrat
+Althoff lie&szlig; sich dieser Tage von mir alles auf
+sie bez&uuml;gliche Material kommen, und in der Universit&auml;t,
+wo der Gestrenge mich, wenn wir uns begegneten,
+h&ouml;chst liebensw&uuml;rdig zu begr&uuml;&szlig;en pflegte, ging er heute
+stirnrunzelnd an mir vor&uuml;ber.</p>
+
+<p>Ihr Urteil &uuml;ber die Junker teile ich nicht. Nur der
+krasseste Egoismus ist es, der sie, die Jahrhunderte lang
+alle Vorz&uuml;ge des Besitzes und der Kultur genossen haben,
+den Forderungen der neuen Zeit verschlie&szlig;t. Mit vollem<a name="Page_544" id="Page_544"></a>
+Recht kann von ihnen verlangt werden, da&szlig; sie auf
+dem Wege wissenschaftlicher &mdash; das hei&szlig;t in diesem Fall
+ethischer und sozialer &mdash; Einsicht zu denselben &Uuml;berzeugungen
+kommen, die sich die Armen und Entrechteten
+nur durch die Erkenntnis ihrer &ouml;konomischen Lage zu
+erwerben verm&ouml;gen. Adel verpflichtet! Und sind wir
+nicht auch &#8250;Junker&#8249;?!</p>
+
+<p>Die letzte Sitzung unserer Kommission verlief ziemlich
+st&uuml;rmisch, und mir kamen wieder arge Bedenken &uuml;ber
+deren Zusammensetzung. Die einen forderten in erregtester
+Weise, da&szlig; die Religion innerhalb der Ethischen
+Gesellschaft &uuml;berhaupt nicht ber&uuml;hrt werden d&uuml;rfte,
+die anderen, Professor Seefried an der Spitze, erkl&auml;rten
+das Hineinziehen der sozialen Frage f&uuml;r
+au&szlig;erordentlich bedenklich, worauf ich mich zu der Erkl&auml;rung
+gezwungen sah, da&szlig; eine Ethische Gesellschaft,
+die ihr aus dem Wege ginge, nicht wert sei, zu
+existieren. Die milde, vers&ouml;hnliche Art unseres Vorsitzenden
+go&szlig; &Ouml;l auf die Wogen unserer Erregung, aber
+was er zu berichten hatte, wirkte wieder wie ein Sturm.
+Eine hiesige Zeitung wollte aus &#8250;bester Quelle&#8249; erfahren
+haben, die Haupttendenz unserer Gesellschaft sei eine
+antisozialistische; im Anschlu&szlig; daran hielt Geheimrat
+Frommann eine h&ouml;chst charakteristische kleine Rede,
+deren Hauptpunkte ich Ihnen nicht vorenthalten will.
+&#8250;Ich kann nur insoweit mit der Sozialdemokratie mitgehen,
+als ich die Verstaatlichung des Grund und Bodens
+f&uuml;r notwendig und durchf&uuml;hrbar halte,&#8249; sagte er, wobei
+ich ihn mit dem Zitat &#8250;du wirst dich weiter noch entschlie&szlig;en
+m&uuml;ssen,&#8249; unterbrach. Die &#8250;irdische Zukunftspoesie&#8249;
+der Sozialdemokratie erkl&auml;rte er f&uuml;r utopischer
+<a name="Page_545" id="Page_545"></a>als den Himmel der Frommen, und den Glauben an
+die Verwirklichung solcher Tr&auml;ume f&uuml;r eine gef&auml;hrliche
+Ablenkung von ernster Arbeit. Ich lie&szlig; es bei meiner
+Erwiderung nat&uuml;rlich wieder an dem n&ouml;tigen ethischen Ma&szlig;
+fehlen. Was ich sagte, war etwa dies: da&szlig; ich das Emporkommen
+der Arbeiterklasse und einen sozialistischen Staat
+im Gegensatz zu dem so vielfach herrschenden anarchischen
+Individualismus f&uuml;r das erstrebenswerteste Ziel ans&auml;he,
+das sich auch ohne Zweifel verwirklichen werde, &mdash; in
+vern&uuml;nftiger Weise, wenn die leitenden Kreise vern&uuml;nftig,
+in unvern&uuml;nftiger, wenn sie einsichtslos bleiben; und
+ich habe hinzugef&uuml;gt, da&szlig; ich mich sofort von einer Bewegung
+lossagen w&uuml;rde, welche dem Sozialismus direkt
+oder indirekt entgegenwirken wolle. Damit war der Ansto&szlig;
+zu einer erregten Sozialistendebatte gegeben, und Helma
+Kurz, deren Wirken in der Frauenbewegung sie mir so
+ungemein sympatisch machte, entt&auml;uschte mich bitter, indem
+sie all ihre Waffen gegen die Sozis aus Eugen Richters
+R&uuml;stkammer holte: &#8250;Aufl&ouml;sung der Familie&#8249;, &mdash; als ob
+es nicht der Kapitalismus w&auml;re, der V&auml;ter, M&uuml;tter und
+Kinder in die Fabriken hetzt! &mdash; &#8250;Weibergemeinschaft&#8249;, &mdash; als
+ob nicht die heutige Gesellschaftsordnung die
+armen Frauen zur k&auml;uflichen Waare machte!</p>
+
+<p>Da ich mich etwas besch&auml;mt als den eigentlichen Ruhest&ouml;rer
+empfand, bin ich nachher still gewesen, und das
+endliche praktische Resultat unserer Sitzung waren der
+beifolgende Aufruf und Statutenentwurf. Sie werden
+selbst empfinden, wie wenig mir deren Farblosigkeit gefallen
+kann. Da&szlig; unsere Aufgabe sein soll, &#8250;der Feindseligkeit
+und dem Unma&szlig; in der Menschenwelt Schranken
+zu ziehen und eine entsprechende Gestaltung der Er<a name="Page_546" id="Page_546"></a>ziehung
+und der Lebensf&uuml;hrung zu f&ouml;rdern&#8249;, hei&szlig;t, f&uuml;rchte
+ich, Egidys Vers&ouml;hnung noch &uuml;bertrumpfen, und da&szlig; aus
+dem &sect; 2 der Statuten die Worte &#8250;Besitzlose&#8249; und &#8250;Schutz vor
+Ausbeutung&#8249; gestrichen wurden, gab mir ordentlich einen
+Stich ins Herz. F&uuml;r die Zukunft brauche ich dringend
+Ihre Unterst&uuml;tzung, wenn anders unsere Idee sich nicht
+allm&auml;hlich in ihr Gegenteil verwandeln soll. Ich habe
+Sie darum als Kommissions-Mitglied vorgeschlagen und
+bin beauftragt, Sie um Annahme der erfolgten Wahl
+zu bitten. Ich hoffe bestimmt, da&szlig; Sie sich nicht auch
+jetzt noch durch falsche Bescheidenheit und ebenso falsche
+R&uuml;cksicht auf Ihre Eltern abhalten lassen, in den Dienst
+unserer Sache zu treten.</p>
+
+<p>&Uuml;brigens hatte ich gestern die Ehre des Besuchs Ihrer
+Frau Mutter. Sie suchte mich zu bestimmen, meinen
+&#8250;gro&szlig;en Einflu&szlig;&#8249; auf Sie geltend zu machen, um Sie
+wieder in den Scho&szlig; Weimars und unter den Schutz
+des wei&szlig;en Falken zur&uuml;ckzuf&uuml;hren. Ich lehnte entschieden
+ab und betonte, da&szlig; Sie zu Gr&ouml;&szlig;erem berufen seien, und
+da&szlig; es Pflicht der Eltern w&auml;re, Ihnen vollkommen freie
+Bahn zu lassen. Daraufhin empfahl sich Ihre Exzellenz
+recht k&uuml;hl und, wie es schien, verletzt.</p>
+
+<p>Auch Egidy war vor ein paar Tagen bei mir. Ich
+f&uuml;rchte, da&szlig; er mehr und mehr alle Distanz zu sich selbst
+und der Welt verliert. So sieht er uns &mdash; ernstlich! &mdash; als
+ein Konkurrenzunternehmen an und vermag
+in seiner ungeheuern Selbst&uuml;bersch&auml;tzung nicht einzusehen,
+da&szlig; er doch nur, wie wir, einer der vielen Arbeiter
+ist, die von den Ruinen der Vergangenheit Stein um
+Stein abtragen, um dem Bau der Zukunft Platz zu
+machen.</p>
+
+<p><a name="Page_547" id="Page_547"></a>Ich habe meine einsamen Zoo-Fahrten wieder aufgekommen.
+Auch zu Pfingsten war ich dort und lie&szlig; die
+Menschen an mir vor&uuml;berfluten. Diese Physiognomien
+k&ouml;nnten selbst mich beinahe glauben machen, da&szlig; wir
+vom Zukunftsstaat noch grenzenlos weit entfernt sind! &mdash; Alle
+alten Bekannten fanden sich um den Stammtisch
+ein, &mdash; wie schrecklich gleichg&uuml;ltig und langweilig
+sie mir doch inzwischen geworden sind! Wie gern ich
+auf sie und den ganzen Zoo verzichtete, wenn Sie auch
+nur einen einzigen Nachmittag wieder neben mir s&auml;&szlig;en!</p>
+
+<p>Sie herzlichst gr&uuml;&szlig;end, verbleibe ich</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 10em;">Ihr treuergebenster</span><br />
+<span style="margin-left: 13.5em;">Georg von Glyzcinski.</span><br />
+</p>
+
+<p>Allerlei Lekt&uuml;re, auch der &#8250;Vorw&auml;rts&#8249;, folgt anbei!&laquo;</p>
+
+
+<p style="text-align: right">
+&raquo;Kranz, 29.&nbsp;6.&nbsp;92
+</p>
+
+<p>Verehrter Herr Professor!</p>
+
+<p>Haben Sie vielen Dank f&uuml;r Ihren Brief, den ich erst
+heute beantworte, weil wir inzwischen von einem sogenannten
+Vergn&uuml;gen zum anderen hetzten und Ilschen
+den Rest meiner Zeit mit ihrer Kur in Anspruch nahm.
+Die Gesellschaft, in der ich mich st&auml;ndig befunden habe
+und die doch eigentlich die meine ist, wird mir bis zur
+Verst&auml;ndnislosigkeit fremd. Ihre Atmosph&auml;re legt sich
+mir beklemmend aufs Herz, wie die eines &uuml;berf&uuml;llten
+Saales; und wenn ich versuche ein Fenster zu &ouml;ffnen, so
+schreit alles, aus Angst vor Erk&auml;ltung.</p>
+
+<p>Nach Ihrem letzten Bericht &uuml;ber die Kommissionsverhandlungen
+und nach dem Empfang des Programms
+und der Statuten ist das gl&uuml;hende Feuer meiner Hoffnung
+freilich durch einen recht abk&uuml;hlenden Wasserstrahl
+<a name="Page_548" id="Page_548"></a>getroffen worden. Ich finde &mdash; verzeihen Sie mir meine
+Ehrlichkeit! &mdash;, da&szlig; beide stark nach Phrase schmecken.
+Der Ausdruck &#8250;Unma&szlig; in der Menschenwelt&#8249; st&ouml;rt mich
+besonders. Zu sehr Ma&szlig; halten, zu &auml;ngstlich darauf
+sehen, es mit keinem zu verderben, mag an sich ethisch
+sein, kann aber zu sehr unethischen Konsequenzen f&uuml;hren.
+Und zu der Stellung von Professor Seefried und Helma
+Kurz kann ich nur sagen: wer nicht f&uuml;r uns ist, der ist
+wider uns.</p>
+
+<p>Nach alledem ist es f&uuml;r mich selbstverst&auml;ndlich, da&szlig;
+ich die Wahl in die Kommission annehmen mu&szlig;. Wenn
+ich nur nicht auch zu einer Entt&auml;uschung f&uuml;r Sie werde!
+Es mu&szlig; wohl doch nicht allein ein Ergebnis meiner Erziehung,
+sondern ein Teil meines Wesens sein, da&szlig; es
+mir so schrecklich schwer wird, vor Fremden meine
+innersten Gedanken zu entwickeln, &mdash; als ob ich mich
+vor allem Volk nackt zeigen m&uuml;&szlig;te! Da ich aber einsehe,
+da&szlig; die geistige Nacktheit das gro&szlig;e Opfer ist, das
+die Menschheit von denen verlangt, die sich in ihre
+Dienste stellen, so will ich versuchen, mich dazu zu
+erziehen.</p>
+
+<p>Bei den Ausfl&uuml;gen, die wir in die Umgegend gemacht
+haben, bin ich durch das, was ich sah, in meinem Vorsatz
+best&auml;rkt worden: wie viel Jammer und Elend auf
+dem Hintergrund des blauen Himmelsgew&ouml;lbes und des
+unendlichen brandenden Meeres! Fast m&ouml;chte man,
+wie die Menschen bisher, verzweifelt dar&uuml;ber die H&auml;nde
+unt&auml;tig in den Scho&szlig; legen, oder, wie die Anarchisten,
+Vernichtung predigen, weil anders eine Rettung nicht
+m&ouml;glich erscheint. Je mehr ich offenen Auges um mich
+sehe, desto mehr entwickelt sich bei mir ein Zug zum<a name="Page_549" id="Page_549"></a>
+Fanatismus, und ich mu&szlig; mir immerfort das Gebot der
+Toleranz und die Pflicht, leidenschaftslos zu urteilen,
+vorhalten. Von dem Augenblick an, da&szlig; man sich klar
+wird, &mdash; es mag vielleicht paradox klingen, aber die
+meisten werden sich wirklich niemals klar dar&uuml;ber! &mdash;,
+da&szlig; jenes in Schmutz, Hunger und Stumpfheit aufgewachsene
+Fischerkind auch ein Mensch ist, genau wie
+man selber, kein fremdartiges Gesch&ouml;pf, &mdash; von dem
+Augenblick an beginnt man &uuml;berhaupt erst zu sehen.
+Und wenn mir jetzt vorgehalten wird: die Leute empfinden
+ihr Elend nicht, &mdash; so kann ich mich nicht mehr
+dabei beruhigen. Ich f&uuml;hle vielmehr, &mdash; und f&uuml;hls mit
+allen Schmerzen peinigenden Selbstvorwurfs, &mdash; da&szlig;
+gerade dies, was ein Trost sein soll, das gr&ouml;&szlig;te Ungl&uuml;ck
+ist und jeder einzelne von uns die Verantwortung
+daf&uuml;r tr&auml;gt.</p>
+
+<p>Das Erwecken der Menschen zu dem Bewu&szlig;tsein ihres
+Elends ist sicher der erste Schritt zu ihrer Erhebung,
+und wenn ich jetzt den &#8250;Vorw&auml;rts&#8249;, dank Ihrer G&uuml;te,
+regelm&auml;&szlig;ig lese, so scheint mir das Hauptverdienst der
+Sozialdemokratie darin zu bestehen, da&szlig; sie &uuml;berall die
+Sturmglocke l&auml;utet. Womit ich mich aber nicht befreunden
+kann, &mdash; das ist die unterschiedslose Verdammung
+aller Bestrebungen, die nicht von vornherein rot abgestempelt
+sind. Warum entdeckt der Vorw&auml;rts nicht, wie
+<em class="antiqua">Dr.</em> Brandt, die &#8250;Str&ouml;me, die in sein Meer flie&szlig;en'? So
+ist sein Angriff auf die Ethische Bewegung ebenso t&ouml;richt
+wie ungerecht. Er m&uuml;&szlig;te uns wahrhaftig von Bildungsanstalten
+Richterscher und St&ouml;ckerscher Art unterscheiden
+k&ouml;nnen! Und warum Ha&szlig; und h&auml;mischen Neid gegen
+die einzelnen Mitglieder anderer Klassen gro&szlig; ziehen, &mdash; der
+<a name="Page_550" id="Page_550"></a>nichts zur Folge hat, als l&auml;hmende Bitterkeit &mdash;,
+statt nur den Ha&szlig; gegen die Zust&auml;nde, der Mut und
+Kampflust ausl&ouml;st? Gerade der Sozialismus lehrt doch,
+da&szlig; die Menschen Ergebnisse der sozialen und wirtschaftlichen
+Verh&auml;ltnisse sind; man setzt sich also in Widerspruch
+zu den eigenen Grundprinzipien, wenn man den
+Ha&szlig; gegen Personen verbreitet, die doch so werden
+mu&szlig;ten, wie sie wurden.</p>
+
+<p>Damit komme ich noch mit einem Wort auf unseren
+alten Streitpunkt, die Junker betreffend, zur&uuml;ck. Sie
+erinnern mich daran und werden es vielleicht jetzt wieder
+tun, da&szlig; wir beide doch auch Junker w&auml;ren und uns
+trotzdem, lediglich auf Grund unserer ethischen Einsicht,
+zum Sozialismus bekennen. Nun denn &mdash; lachen Sie
+mich nur ruhig aus, ich h&ouml;re Sie so gerne lachen! &mdash;,
+ich bestreite Ihre Behauptung! Sind wir nicht von
+Jugend an Abh&auml;ngige gewesen, &mdash; wir und unsere Eltern, &mdash; von
+unserem Brotgeber, dem Staat? H&auml;tten meine
+Eltern sich frei bewegen k&ouml;nnen, ohne sich den Kopf an
+der Mauer einzurennen, die der Staat um sie gezogen
+hat? K&ouml;nnen Sie es? Und diese Abh&auml;ngigkeit &mdash; macht
+sie nicht den Proletarier? Ich aber, die ich ein
+Weib bin, geh&ouml;re von Rechts wegen noch tausendmal
+mehr als Sie zu der gro&szlig;en, dunkeln, darbenden Masse
+der Enterbten!</p>
+
+<p>Mich hat diese Erkenntnis mit neuer Freudigkeit
+erf&uuml;llt und mit neuer Hoffnung; gilt doch dann dasselbe
+f&uuml;r unseresgleichen wie f&uuml;r das arme Fischerkind: es
+bedarf nur der Erweckung, und Tausende neuer K&auml;mpfer
+gesellen sich br&uuml;derlich zu denen, die vorangingen! Wie
+viele gibt es, deren ganzes Wesen nach Befreiung und<a name="Page_551" id="Page_551"></a>
+Bet&auml;tigung verlangt, deren geistige Kr&auml;fte, ihnen selbst
+vielleicht oft kaum bewu&szlig;t, schon im Dienst der gro&szlig;en
+Menschheitssache stehen, &mdash; denken Sie nur an all unsere
+jungen K&uuml;nstler und Schriftsteller!</p>
+
+<p>Wenn der Kaiser jetzt gegen die moderne Kunst redet,
+Burgen mit Schie&szlig;scharten baut und Wildenbruch und
+Lauff zu Hofpoeten macht, so spricht das nicht nur f&uuml;r
+seinen Scharfsinn, der die Revolution wittert, wo andere
+nur die blaue Blume neuer Dichtung sehen, sondern er
+zeigt sich abermals als unser bester Agitator, der nun
+auch die geistigen Arbeiter in die Schranken ruft. Wir
+sollten jetzt zur Stelle sein und das Eisen ihrer Entr&uuml;stung
+schmieden, solange es warm ist.</p>
+
+<p>Vielleicht, da&szlig; ich demn&auml;chst nach dieser Richtung einen
+ersten Versuch machen kann. Eine alte Freundin von
+mir, einstiges Mitglied des Schweriner Hoftheaters, die
+mit einem K&ouml;nigsberger Professor verheiratet ist, lud
+mich ein. Zuerst z&ouml;gerte ich, hinzugehen: sie konnte,
+solange sie Schauspielerin war, das gutb&uuml;rgerliche Milieu,
+aus dem sie stammte, nicht vergessen; und nun, da sie
+dorthin zur&uuml;ckkehrte, klebt ihrem Wesen die Erinnerung
+an die B&uuml;hne an. Aber die Aussicht, Sindermann,
+einen jungen Schriftsteller, bei ihr kennen zu lernen,
+war entscheidend, und ich warte nur noch auf die Bestimmung
+des Tages, um hinzufahren. Ein Mann,
+der durch seine Werke der b&uuml;rgerlichen Welt das
+Verdammungsurteil ins Gesicht schleudern konnte, geh&ouml;rt
+von vornherein zu uns und m&uuml;&szlig;te der Bannertr&auml;ger
+des Emanzipationskampfs der geistigen Arbeiter
+werden.</p>
+
+<p>Verzeihen Sie den langen Brief. Ich habe hier
+<a name="Page_552" id="Page_552"></a>niemanden, mit dem ich mich auszusprechen verm&ouml;chte,
+und Sie haben mich so sehr verw&ouml;hnt!</p>
+
+<p>Meine Eltern sind seit gestern hier; vergebens bat ich
+sie, nach Berlin zur&uuml;ckkehren zu d&uuml;rfen. Allein in unserer
+Wohnung zu sein, halten sie f&uuml;r unpassend, und zu
+Egidys zu gehen, die mich in freundlichster Weise einluden,
+ist ihnen auch bedenklich! Bin ich notwendig, so
+komme ich ohne ihre Erlaubnis.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 11.5em;">Mit herzlichsten Gr&uuml;&szlig;en</span><br />
+<span style="margin-left: 14.5em;">Ihre dankbar ergebene</span><br />
+<span style="margin-left: 20.5em;">Alix von Kleve.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+
+<p style="text-align: right">
+&raquo;Berlin, den 1. Juli 1892
+</p>
+
+<p>Mein liebes gn&auml;diges Fr&auml;ulein!</p>
+
+<p>Wundern Sie sich nicht &uuml;ber meine rasche Antwort:
+jeden Tag h&auml;uft sich so viel an, was ich Ihnen sagen
+m&ouml;chte, und Ihr Brief weckt &uuml;berdies solch eine Menge
+Empfindungen und Gedanken, da&szlig; ich nicht anders kann,
+als schreiben, sobald ich Ihre Schrift vor mir sehe.
+Entschuldigen Sie nur meine h&auml;&szlig;lichen zitternden Krakelf&uuml;&szlig;e, &mdash; ich
+bin nicht ganz auf dem Posten und mu&szlig;
+ausgestreckt liegen.</p>
+
+<p>F&uuml;r die Annahme Ihrer Wahl danke ich Ihnen ganz
+pers&ouml;nlich: Sie werden unserer Sache von gr&ouml;&szlig;tem
+Nutzen sein und &mdash; was mich besonders befriedigt! &mdash; das
+weibliche Geschlecht allein zu vertreten haben. Helma
+Kurz und Frau Schaper haben &mdash; infolge &#8250;starker Arbeitslast&#8249;! &mdash; ihre
+&Auml;mter niedergelegt. Ich habe nun die Wahl
+von zwei Sozialdemokraten vorgeschlagen, so da&szlig; wir uns
+m&ouml;glicherweise sehr verbessern werden. Sie werden dann
+auch Gelegenheit haben, sich mit diesen &uuml;ber Ihre Er<a name="Page_553" id="Page_553"></a>weiterung
+des Begriffs Proletarier auseinandersetzen,
+der, wie ich glaube, durchaus im Rahmen marxistischer
+Entwicklungslehre liegt: der Arbeiter, der &#8250;mit dem
+Hirne pfl&uuml;gt&#8249; wird als Gleichberechtigter und Gleichentrechteter
+neben den Handarbeiter gestellt.</p>
+
+<p>Mit Ihrer Kritik des Vorw&auml;rts freilich w&uuml;rden Sie
+sich weniger in &Uuml;bereinstimmung mit den &#8250;Genossen&#8249;
+befinden, &mdash; auch mit Ihrem getreuen &#8250;Genossen&#8249; Glyzcinski
+nicht! Ich kann seine Haltung uns gegen&uuml;ber nicht
+verurteilen: ohne Zweifel werden in der Ethischen Gesellschaft
+alsbald viele sein, welche von dessen Urteil
+getroffen werden und nichts als &#8250;Harmonieduselei&#8249;
+treiben wollen. Wer aber b&uuml;rgt daf&uuml;r, da&szlig; sie nicht
+schlie&szlig;lich herrschen und &#8250;gef&auml;hrliche&#8249; Elemente
+hinausdr&auml;ngen?!</p>
+
+<p>Suchen Sie Sindermann f&uuml;r uns zu gewinnen. Mein
+Vetter Paul, den Sie einmal bei mir sahen, und der
+dem Friedrichshagener Kreis angeh&ouml;rt, h&auml;lt zwar
+nichts von ihm und meint, Eitelkeit und Ehrgeiz
+w&uuml;rden ihn eher immer weiter von uns entfernen, als
+ihn uns n&auml;her bringen. Er r&uuml;hmte mir dagegen den
+jungen Dichter des Dramas &#8250;Vor Sonnenaufgang&#8249;, den
+er f&uuml;r den &#8250;Kommenden&#8249; h&auml;lt; aber bei der Manier
+dieser Art junger Leute, aus jedem bunten K&auml;lbchen
+einen G&ouml;tzen zu machen, vor dem sie anbetend auf
+dem Bauche liegen, bin ich vorl&auml;ufig noch sehr
+skeptisch.</p>
+
+<p>Unsere Kommissionssitzungen sind einstweilen eingestellt
+worden. Alles denkt ans Reisen, und es wird im Zoo
+immer stiller. Wie sch&ouml;n und ungest&ouml;rt lie&szlig;e sichs jetzt
+dort plaudern! Nicht wahr, Sie g&ouml;nnen mir die Vor<a name="Page_554" id="Page_554"></a>freude
+und teilen mir zeitlich mit, wann ich Sie
+erwarten darf?</p>
+
+<p>Mit herzlichsten Gr&uuml;&szlig;en</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 13em;">Ihr treuergebener</span><br />
+<span style="margin-left: 16.5em;">Georg von Glyzcinski.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Ich vermochte den Brief kaum zu Ende zu lesen,
+nichts als leere Worte tanzten mir vor den Augen; denn
+nur ein Satz hatte sich mir schreckhaft eingepr&auml;gt: &raquo;ich
+bin nicht auf dem Posten &mdash; mu&szlig; ausgestreckt liegen.&laquo;
+Und ich sah ihn deutlich vor mir, den kranken Mann
+mit dem Apostelkopf und dem wesenlosen K&ouml;rper, wie
+er allein, von einem ungeschickten Diener kaum bedient,
+geschweige denn gepflegt, in seinem stillen Zimmer lag,
+die wei&szlig;en schmalen H&auml;nde auf der schwarzen Pelzdecke,
+die Kinderaugen sehns&uuml;chtig ins Weite gerichtet. Mein
+Herz klopfte zum Zerspringen, und ich wu&szlig;te auf einmal,
+wohin ich geh&ouml;rte.</p>
+
+<p>Mechanisch faltete ich einen zweiten Brief auseinander:
+von Lisbeth; &mdash; noch heute sollte ich zu ihr kommen,
+Sindermann habe sich zum Abend angesagt, schrieb sie.
+Ich ging in mein Zimmer, raffte das Notwendigste eilig
+zusammen und hinterlie&szlig; meiner Mutter, die mit allen
+anderen auf ein Nachbargut gefahren war, zwei Zeilen:
+&raquo;Frau Professor Landmann l&auml;dt mich soeben ein, noch
+heute nach K&ouml;nigsberg zu kommen. Da ich Eurer Erlaubnis
+sicher zu sein glaube, fahre ich mit dem n&auml;chsten
+Zug.&laquo;</p>
+
+<p>Unterwegs erst wurde ich Herr einer Erregung, die
+mich den fernen Freund schon mit geschlossenen Augen
+und erbla&szlig;ten Lippen auf dem Totenbette sehen lie&szlig;.
+Ich hatte beschlossen, den Nachtzug nach Berlin zu be<a name="Page_555" id="Page_555"></a>nutzen, &mdash; aber
+konnte &mdash; durfte ich den Kranken durch
+meine &uuml;berraschende Ankunft erschrecken? Sah das nicht
+doch vielleicht nach einem unw&uuml;rdigen Sichaufdr&auml;ngen aus?
+Ich err&ouml;tete unwillk&uuml;rlich. Auf dem Bahnhof bat ich
+ihn telegraphisch um Nachricht &uuml;ber sein Befinden und
+k&uuml;ndigte meine R&uuml;ckkehr an. Dann erst fuhr ich hinauf
+in die stille Tragheimer Kirchenstra&szlig;e mit ihrem
+ausgefahrenen Pflaster und ihren altersgrauen H&auml;usern.
+Welch eine strenge, ernste Stadt ist doch dies K&ouml;nigsberg,
+dachte ich; eine Stadt, die in jedem Winkel an
+den Ernst des Lebens erinnert und ihre B&uuml;rger zwingt,
+still in sich selbst Einkehr zu halten. W&auml;re ich hier
+aufgewachsen, vielleicht h&auml;tte meine Sehnsucht nie &uuml;ber
+ihre W&auml;lle und Gr&auml;ben hinaus verlangt!</p>
+
+<p>Im phantastischen Kost&uuml;m einer Zarewna, Augen und
+Wangen gl&uuml;hend vor Eifer, empfing mich Lisbeth. So &mdash; gerade
+so hatte ich sie einmal in Schwerin auf der
+B&uuml;hne gesehen. Was sie spielte, verga&szlig; ich oder wu&szlig;te
+es nie. &raquo;Wie sch&ouml;n sie ist!&laquo; hatte ich damals bewundernd
+gefl&uuml;stert &raquo;Du &mdash; du bist viel tausendmal sch&ouml;ner &mdash;&laquo;
+war mir aus dem Dunkel der Loge hei&szlig; ins Ohr
+geklungen ...</p>
+
+<p>Ein Wortschwall z&auml;rtlicher Begr&uuml;&szlig;ung entri&szlig; mich
+dem Taumel der Erinnerung. Still &mdash; ein bi&szlig;chen
+verlegen, die Augen in offenbarer Bewunderung auf
+seine Frau gerichtet, stand ihr Mann daneben, der typische
+deutsche Professor, mit kurzsichtig zwinkernden &Auml;uglein
+und linkischen Bewegungen. Ich wurde hineingezogen.
+In eine Laube von bl&uuml;henden Sommerblumen war das
+Wohnzimmer verwandelt, gr&uuml;ne Girlanden hingen von
+der Decke herab, bunte Lampions schaukelten dazwischen.<a name="Page_556" id="Page_556"></a>
+Und pl&ouml;tzlich trat hinter dem Epheugerank am Fenster
+ein wei&szlig;es, goldhaariges Gesch&ouml;pfchen l&auml;chelnd auf mich
+zu. Lisbeths sprudelndes Plaudern brach ab, ihr erhitztes
+Gesicht nahm einen Ausdruck still-seliger Verkl&auml;rung
+an; &mdash; &raquo;mein Kind!&laquo; sagte sie leise und legte die Hand
+auf das schimmernde Haar des Kleinen. Mir stiegen
+Tr&auml;nen, brennendhei&szlig;e, in die Augen: Ihr Kind! &mdash; Wie
+reich mu&szlig;te sie sein!</p>
+
+<p>Wir brachten ihn gemeinsam zu Bett, den herzigen
+Buben; seine rosigen F&uuml;&szlig;chen, seine runden &Auml;rmchen,
+die Gr&uuml;bchen in den H&auml;nden und in den Knieen mu&szlig;te
+ich bewundern. Dann trat ich still beiseite: Mutter und
+Kind, die einander Gute Nacht sagen, sind wie inbr&uuml;nstig-fromme
+Beter, die selbst der Ungl&auml;ubigste nicht zu
+st&ouml;ren wagt. In diesem Augenblick lag es um mich
+wie ungeheure Einsamkeit.</p>
+
+<p>Noch war ich zerstreut und bedr&uuml;ckt, als Sindermann
+kam.</p>
+
+<p>Wir ertragen angesichts eines tiefen inneren
+Erlebens nur die Allern&auml;chsten, und seine Erscheinung wirkte
+v&ouml;llig fremd. Ein &raquo;<em class="antiqua">bel homme</em>&laquo; &mdash; es gibt keinen
+deutschen Ausdruck, der denselben Sinn h&auml;tte &mdash; mit
+liebevoll gepflegtem schwarzem Vollbart, erzwungen aristokratischen
+All&uuml;ren, gro&szlig;en breiten H&auml;nden und runden
+fleischigen Fingern daran.</p>
+
+<p>Es herrschte jene spezifisch norddeutsche Stimmung
+reservierter Verschlossenheit, die zu der phantastischen
+Umgebung und dem romantischen Kost&uuml;m der Hausfrau
+in demselben peinlich-komischen Gegensatz stand
+wie die N&uuml;chternheit aller Ostelbier zum Karnevalstrubel.
+Nur einem Gegner pflegt sie allm&auml;hlich zu
+<a name="Page_557" id="Page_557"></a>weichen: dem Wein. Als in Lisbeths von dem ged&auml;mpften
+Kerzenlicht bunter Lampions erhellten k&uuml;nstlichen
+Garten die Erdbeerbowle auf dem Tische stand und
+die Ketten und die Rheinkiesel auf Kopf und Hals und
+Armen der falschen Zarewna leuchteten und gl&auml;nzten
+wie Perlen und Brillanten, verschwand nach und nach
+jener erste Eindruck der Fremdheit.</p>
+
+<p>Wir sprachen von allem, was die Zeit bewegte: von
+der Kunst der Moderne, von der Frauenfrage, von der
+Sozialdemokratie. &raquo;Ich bin Sozialist,&laquo; sagte Sindermann,
+&raquo;weil ein denkender Mensch heute nichts andres
+sein kann, &mdash;&laquo; schon klopfte mir das Herz h&ouml;her vor
+Freude &mdash; &raquo;aber ich glaube nicht, da&szlig; die Ideen des
+Sozialismus sich in absehbarer Zeit erf&uuml;llen werden.&laquo;
+Und nun entwickelte ich die Prinzipien und die Zukunftshoffnungen
+der Ethischen Bewegung und f&uuml;hrte all meine
+Gr&uuml;nde ins Feuer, um ihn zu einem der unseren zu
+machen. Er l&auml;chelte; in dem r&ouml;tlichen D&auml;mmer des
+Raums vermochte ich nicht zu unterscheiden, ob es das
+L&auml;cheln des Sp&ouml;tters oder das tragisch-resignierte des
+Pessimisten war. &raquo;Wir Deutschen sind vorl&auml;ufig unf&auml;hig,
+uns zu w&uuml;rdigeren inneren und &auml;u&szlig;eren Zust&auml;nden aufzuschwingen,&laquo;
+meinte er dann, &raquo;und so sehr ich alle Ihre
+Ideen anerkenne, so wenig glaube ich, da&szlig; Sie unter
+den K&uuml;nstlern Proselyten machen werden. Nicht viele
+fassen ihre Aufgabe auf wie ich &mdash;&laquo; er schwieg und
+betrachtete nachdenklich seine Fingerspitzen. Dann warf
+er einen kurzen, erwartungsvollen Blick auf mich.</p>
+
+<p>&raquo;Und Ihre Auffassung w&auml;re?!&laquo; frug ich gespannt.</p>
+
+<p>&raquo;Der Dichter mu&szlig; das Leben wiedergeben, wie es sich
+ihm darstellt; das vermag er nur dann, wenn sein Herz
+<a name="Page_558" id="Page_558"></a>weit genug ist, um das ganze Leid der Gegenwart mit
+zu f&uuml;hlen. W&auml;hrend die Dichter der Vergangenheit
+Tugend und Laster auf die B&uuml;hne brachten und den
+Zuschauer dadurch befriedigten, da&szlig; eine vergeltende Gerechtigkeit
+den Schlu&szlig; herbeif&uuml;hrte, zeichnet der moderne
+Dichter das wahre Bild des Lebens und ruft den Zuschauern
+zu: so ist es, geht hin und helft! Ich will
+mein Publikum nicht am&uuml;sieren, ich will ihm nicht die
+Zeit tot schlagen helfen, ich will es aufr&uuml;tteln, will es
+zur Erkenntnis von Wahrheiten f&uuml;hren, denen es im
+Leben aus dem Wege geht. Hei&szlig;t das nicht auch ethisch
+handeln?&laquo;</p>
+
+<p>Ich war entz&uuml;ckt. So hatte ich mir das Wirken des
+K&uuml;nstlers vorgestellt! Er wurde w&auml;rmer und lebhafter.</p>
+
+<p>&raquo;Glauben Sie mir,&laquo; sagte er mit einer gro&szlig;en Geste,
+&raquo;wenn ich k&ouml;nnte, w&uuml;rde ich nur vor Arbeitern meine
+St&uuml;cke auff&uuml;hren lassen, &mdash; die verstehen, die w&uuml;rdigen
+mich!&laquo; Und dann erz&auml;hlte er von der berliner Gesellschaft
+der Kunstkenner, &Auml;stheten und M&auml;cene, die wahl- und
+kritiklos jeder neu auftauchenden Gr&ouml;&szlig;e nachliefen.
+&raquo;Bewundert haben mich alle als den ber&uuml;hmten Mann,&laquo;
+und wieder zeigte sich jenes unbestimmte tragisch-<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'resignerte'">resignierte</ins>
+L&auml;cheln, &mdash; ich erinnerte mich fl&uuml;chtig eines Schauspielers,
+dem meine Altersgenossinnen in Posen um solch
+eines L&auml;chelns willen zu F&uuml;&szlig;en lagen &mdash; &raquo;aber die
+meisten wu&szlig;ten nicht, ob dieses notwendige Salonrequisit
+ein Bildhauer oder sonst was w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>Es mochte Mitternacht geworden sein, als auf sein
+neuestes Werk die Rede kam, das im n&auml;chsten Winter
+das Licht der Rampen erblicken sollte. Ich horchte um
+so gespannter auf, je mehr ich von seinem Inhalt erfuhr.<a name="Page_559" id="Page_559"></a>
+Ein Weib sollte die Heldin sein, deren K&uuml;nstlernatur
+sie aus dem engen Zuhause einer Offiziersfamilie hinaustrieb
+in die Welt.</p>
+
+<p>Und meine Phantasie arbeitete noch rascher, als der
+Dichter zu erz&auml;hlen vermochte: Ich selbst war dies Weib,
+das sich endlich losri&szlig;, um die Heimat seines Wesens
+zu finden, &mdash; war nicht am Ende auch der alte Oberst,
+der in der Verzweiflung zur Pistole griff, &mdash; mein
+Vater?! Die Heimat, &mdash; das ist das Schicksal, es vernichtet
+uns, wenn wir die Schw&auml;cheren sind, und es ist
+wie die antike Trag&ouml;die, die immer Tote auf der Wahlstatt
+l&auml;&szlig;t.</p>
+
+<p>Ich war ganz still geworden, versunken in die Gedanken,
+die des Gastes Werk in mir ausgel&ouml;st hatte.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en d&auml;mmerte der Tag. Die Blumen im Zimmer
+hingen erschlafft die K&ouml;pfchen; ein feiner Zigarettenrauch
+zog seine Kreise um die verglimmenden Kerzen.
+Und pl&ouml;tzlich &uuml;bermannte uns bleierne M&uuml;digkeit. Sindermann
+erhob sich. Verwirrt sah ich auf: da war er ja
+wieder, vom ersten Fr&uuml;hlicht beleuchtet, der <em class="antiqua">&raquo;bel homme&laquo;</em>,
+der Mann mit dem liebevoll gepflegten Bart, den gro&szlig;en
+H&auml;nden und den runden fleischigen Fingern daran. Seltsam,
+wie fremd, wie st&ouml;rend er wirkte. War er es wirklich
+gewesen, der mir eben mein Schicksal gedeutet hatte?</p>
+
+<p>Zwei Stunden schlief ich den unruhigen Schlaf der
+Ersch&ouml;pfung. Das rasche Klingeln des Telegraphenboten
+weckte mich: &raquo;Befinden wechselnd. Freue mich
+unbeschreiblich auf Ihre R&uuml;ckkehr. Glyzcinski.&laquo; Ich
+hatte noch gerade Zeit, die Eltern schriftlich meines
+raschen Entschlusses wegen um Entschuldigung zu bitten.
+&raquo;Der Professor ist krank; Ihr wi&szlig;t, sein Leben h&auml;ngt
+<a name="Page_560" id="Page_560"></a>nur an einem Faden; ich w&uuml;rde es mir nie verzeihen,
+wenn er einsam und ohne Pflege leiden und sterben
+m&uuml;&szlig;te,&laquo; schrieb ich.</p>
+
+<p>Am Abend war ich bei ihm. Er sa&szlig; vor dem Schreibtisch
+am Fenster wie immer, und schon wollt' ich
+freudig &uuml;berrascht auf ihn zueilen, als seine Augen mir
+entgegensahen: flackernde Fieberlichter brannten darin;
+auf seinen schmalen Wangen gl&uuml;hten rote Flecken, und
+die Hand bebte, die er mir bot. &raquo;Sie haben sich meinetwegen
+aus dem Bett gewagt!&laquo; rief ich erschrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich denn dies gl&uuml;ckliche Ereignis nicht auf meine
+Art feiern?!&laquo; &mdash; sein ganzes Antlitz strahlte &mdash; &raquo;es
+geht mir ja besser, viel besser &mdash; und ich glaubte schon&laquo; &mdash; seine
+Stimme senkte sich &mdash; &raquo;ich glaubte, ich w&uuml;rde
+Sie niemals wiedersehen!&laquo;</p>
+
+<p>Minutenlang blieb es still zwischen uns. Er lehnte
+den Kopf zur&uuml;ck, mit halb geschlossenen Augen, ich sah
+nichts als sein Gesicht, das ein Ausdruck seligen Friedens
+verkl&auml;rte. Und dann hatten wir einander so viel zu
+sagen, da&szlig; selbst die schlagende Uhr uns an die vorr&uuml;ckende
+Stunde nicht zu erinnern vermochte.</p>
+
+<p>Der Diener trat ein. &raquo;Es ist zehn Uhr, Herr Professor,&laquo;
+sagte er und sah mich halb verwundert, halb mi&szlig;billigend
+an. Erschrocken sprang ich auf. &raquo;Wie komm' ich nun
+ins Haus &mdash; und wie in die Wohnung!&laquo; Ich hatte
+vergessen, mich dem M&auml;dchen anzuk&uuml;ndigen.</p>
+
+<p>&raquo;So bleiben Sie eben hier,&laquo; entschied Glyzcinski,
+&raquo;nebenan auf dem Sofa hat mein Bruder oft geschlafen, &mdash; Friedrich
+braucht Ihnen nur die Betten aus dem
+Schrank zu geben.&laquo;</p>
+
+<p>War das eine stille Nacht! Nur aus der Ferne drang
+<a name="Page_561" id="Page_561"></a>das Ger&auml;usch der Gro&szlig;stadt durch die offenen Fenster.
+Wie geborgen kam ich mir vor! Am n&auml;chsten Morgen
+beeilte ich mich, auf dem gr&uuml;numbuschten Balkon den
+Fr&uuml;hst&uuml;ckstisch zu decken und achtete wenig auf das
+m&uuml;rrische Gebahren des Dieners. Erst als er seinen
+Herrn im Rollstuhl hinausfuhr, traf mich aus zwinkerndem
+Augenwinkel ein h&auml;misch-vielsagender Blick, vor dem
+mir fast der Morgengru&szlig; im Munde erstickte. Gott
+Lob &mdash; Glyzcinski bemerkte nichts. Seine Augen hatten
+den alten, klaren Schein, seine Wangen die gleichm&auml;&szlig;ige
+F&auml;rbung.</p>
+
+<p>&raquo;So gut habe ich es in meinem Leben nicht gehabt!&laquo;
+sagte er und behielt meine Hand in der seinen.</p>
+
+<p>Zu Hause fand ich ein Telegramm von der Mutter:
+&raquo;Papa &uuml;ber deine Abreise &auml;u&szlig;erst emp&ouml;rt, verlangt sofortige
+R&uuml;ckkehr oder &Uuml;bersiedlung zu Egidys.&laquo; Noch
+am gleichen Tage zog ich auf Glyzcinskis Rat in die
+Spenerstra&szlig;e. Egidy selbst war verreist, und so konnte
+ich, ohne zu verletzen, den Tag &uuml;ber abwesend sein. Fast
+immer war ich bei Glyzcinski. Wenn er es auch niemals
+zulie&szlig;, da&szlig; ich ihn pflegte, so konnte ich doch &uuml;berwachen,
+ob die Vorschriften des Arztes befolgt, die verschiedenen
+Umschl&auml;ge und Kompressen zur rechten Zeit gewechselt
+wurden. Meiner alten Kochk&uuml;nste erinnerte ich mich
+wieder und freute mich wie ein Kind, wenn ich zusah,
+mit welch wachsendem Behagen der liebe Kranke meine
+Suppen a&szlig;. Einmal gelang es mir, den Arzt allein zu
+sprechen: &raquo;Nur der Geist h&auml;lt diesen K&ouml;rper aufrecht,&laquo;
+sagte er ernst. &raquo;Leidet er?&laquo; frug ich und lehnte mich,
+um meine Angst zu verbergen, tief in den dunkelsten
+Schatten der Treppe.</p>
+<p><a name="Page_562" id="Page_562"></a></p>
+<p>&raquo;Ein gew&ouml;hnlicher Mensch w&uuml;rde dies Dasein kaum
+ertragen, aber er, &mdash; wir Gesunden k&ouml;nnten ihn fast um
+das Gl&uuml;cksgef&uuml;hl beneiden, das ihm unver&auml;nderlich aus
+den Augen strahlt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wird er genesen und &mdash; leben?&laquo; brachte ich m&uuml;hsam
+hervor.</p>
+
+<p>Mit einem pr&uuml;fenden, langen Blick sah mir der Arzt
+ins Auge und reichte mir die Hand zum Abschied:</p>
+
+<p>&raquo;Genesen, &mdash; niemals! Leben?! Gl&uuml;ck und Liebe sind
+Elixire, die schon Sterbende ins Dasein zur&uuml;ckriefen.
+Verordnen k&ouml;nnen wir sie leider nicht!&laquo;</p>
+
+<p>Glyzcinski wurde von Tag zu Tag frischer und froher.
+Morgens, wenn ich kam, begr&uuml;&szlig;te er mich, als w&auml;re ich
+Jahre fort gewesen, und des Abends, wenn ich ging,
+zuckten seine Lippen, wie die kleiner Kinder, die weinen
+wollen. Unsere Tage verliefen in ruhigem Gleichma&szlig;.
+Der Philosophie war der Vormittag gewidmet &mdash; &raquo;in
+einem Jahr m&uuml;ssen Sie Ihr Doktorexamen machen
+k&ouml;nnen,&laquo; hatte Glyzcinski mir versichert, und es war
+ein f&ouml;rmlicher systematischer Unterricht, den er mir erteilte.
+Er wollte dabei niemals zugeben, was ich immer
+deutlicher empfand: da&szlig; mir f&uuml;r gro&szlig;e Gebiete des
+Wissens die sprachlichen und &mdash; noch mehr &mdash; die
+mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse
+fehlten. Oft w&uuml;nschte ich, mich noch auf irgendeine
+gymnasiale Schulbank setzen zu k&ouml;nnen, aber dann lachte
+er mich aus: &raquo;Sie kennen das Leben, &mdash; das ist mehr
+wert, als aller Wissenskram; und Sie sollen handeln, &mdash; das
+ist besser, als mathematische Aufgaben l&ouml;sen und
+den Plato im Urtext verstehen k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend der Nachmittagstunden besch&auml;ftigten wir
+<a name="Page_563" id="Page_563"></a>uns mit der Tagespolitik und der modernen Literatur.
+Die Milit&auml;rvorlage warf damals ihre Schatten
+voraus; die sozialdemokratische Presse entfaltete eine
+lebhafte Agitation dagegen und kritisierte auf das
+sch&auml;rfste das Verhalten der Regierung, die, statt alte
+feierliche Versprechungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik
+einzul&ouml;sen, die Lebenshaltung des Volkes nur
+durch neue, ungeheure Lasten herabdr&uuml;cke. Ich lernte
+durch d&uuml;rre Zahlen belegte Tatsachen &uuml;ber L&ouml;hne,
+Lebensmittelpreise, Arbeits- und Existenzbedingungen
+kennen, durch die die graue Nebelwelt des Elends, wie
+ich sie hie und da vor mir hatte aufsteigen sehen, eine
+immer deutlichere, fest umrissenere Gestalt annahm.
+Meine philosophischen Interessen traten mehr und mehr
+zur&uuml;ck: hier war ein Gebiet, das empfand ich instinktiv,
+das zu ersch&ouml;pfen die ganze Kraft erforderte. Und die
+Zeit, die mich trug, kam mir auch darin entgegen: von
+allen Seiten str&ouml;mten mir in Form von B&uuml;chern, Brosch&uuml;ren
+und Zeitungsartikeln Aufkl&auml;rungen aller Art zu.
+Wir vertieften uns mit brennendem Eifer in den ersten
+Band von Marx Kapital und in die Schriften von
+Friedrich Engels, wir lasen Paul G&ouml;hres &raquo;Drei Monate
+Fabrikarbeiter,&laquo; dessen ungewollte agitatorische Kraft
+uns mit sich fortri&szlig;; und als <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt dem Professor
+eines Tages die Probenummer einer von ihm ins Leben
+gerufenen Zeitschrift zuschickte, die ausschlie&szlig;lich Fragen
+der Sozialpolitik behandeln sollte, las ich sie mit brennendem
+Eifer und sah von da an jeder Nummer mit einer
+Spannung entgegen, wie der Backfisch einer Romanfortsetzung.
+Auch Egidy, der inzwischen heimgekehrt war,
+erblickte nicht mehr in der &Uuml;berwindung der Dogmen
+<a name="Page_564" id="Page_564"></a>den Ausgangspunkt allen Heils, sondern im Kampf
+gegen Not und Unterdr&uuml;ckung.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist eine Lust, zu leben, wo alles sich r&uuml;hrt,
+und alles w&auml;chst, &mdash; dem gleichen Himmel zu, ob
+auch die Wurzeln im verschiedensten Erdboden stehen,&laquo;
+pflegte Glyzcinski zu sagen. Und wenn ich ungeduldig
+seufzte: &raquo;K&ouml;nnten wir nur den Anfang der k&uuml;nftigen
+Ordnung der Dinge noch erleben,&laquo; so antwortete er:
+&raquo;Aber wir sind ja schon mitten darin!&laquo;</p>
+
+<p>Tats&auml;chlich schien diese eine Bewegung mit einer ungeheuern
+magnetischen Kraft alles an sich zu ziehen.
+Die Wissenschaft trat in ihre Dienste, die Kunst schmiedete
+Waffen f&uuml;r sie. Was waren Hauptmanns &raquo;Weber&laquo; andres,
+als ihr dr&ouml;hnender Schlachtgesang?! Jener Fanatismus,
+der nichts sieht als sein Ziel, der ihm entgegenst&uuml;rmt
+mit blutenden F&uuml;&szlig;en und keuchendem Atem, die stillen
+Stege nicht kennt, die abseits von seinem Wege auf
+duftende Blumenwiesen, in d&auml;mmernde W&auml;lder und
+hoch auf die Berge der weiten Ausblicke f&uuml;hren, den kein
+Ausruhen lockt im Schatten der Dorflinde und der
+Kirchenpforten, &mdash; derselbe Fanatismus, der die ersten
+Christen zwang, die wei&szlig;en Marmorleiber heidnischer
+G&ouml;tter in die pontinischen S&uuml;mpfe zu werfen, hatte von
+mir Besitz ergriffen.</p>
+
+<p>Und meine Seele schlo&szlig; leise, da&szlig; keiner es merkte,
+die Pforte der Kammer zu, hinter der lebte, was zu
+tiefst mein Eigen war.</p>
+
+<p>Fast wie eine St&ouml;rung empfand ichs, als Sindermann
+mich zur Vorlesung seines nunmehr vollendeten Dramas
+einlud. Aber war er nicht auch einer, der mit uns
+k&auml;mpfte?</p>
+
+<p><a name="Page_565" id="Page_565"></a>Wir fuhren miteinander hinaus nach Chorin, einem
+jener stillen melancholischen Waldwinkel der Mark, wo
+schwarze Kiefern sich in kleinen tiefen Seeen spiegeln und
+in zerbr&ouml;ckelnde Klosterruinen der mattblaue Himmel
+hineinscheint. Freunde des Dichters erwarteten ihn hier,
+und ein fremder &raquo;Kollege&laquo;, wie er sich mit einem seltsam
+feinen L&auml;cheln nannte, war dabei: Detlev von
+Liliencron.</p>
+
+<p>Niemand ist in seiner Wahrhaftigkeit so unbarmherzig
+wie die Natur. Sie scheidet grausam Echtes vom Unechten,
+ihr Licht, das durch keine Schleier und keine Papierlaternen
+ged&auml;mpft wird, beleuchtet grell, was am Menschen
+ihr entspricht, und was ihn von ihr trennt. Frauen
+mit kunstvollen Lockengeb&auml;nden auf zarten K&ouml;pfchen, in
+modischen Kleidern und zierlichen Hackenschuhen, die in
+der Stadt sch&ouml;n sind und im Salon blenden, wirken,
+wo die Natur herrscht, pl&ouml;tzlich halb l&auml;cherlich, halb
+gespensterhaft. Und moderne M&auml;nner mit l&uuml;stern-blasiertem
+L&auml;cheln und der &raquo;interessanten&laquo; Bl&auml;sse endloser
+Kaffeehausn&auml;chte auf den Z&uuml;gen, richtet sie ohne
+Nachsicht, als das, was sie sind. Werfen sich diese Damen
+und Herren in dem instinktiven, unbehaglichen Gef&uuml;hl,
+zu sein, wo sie nicht hingeh&ouml;ren, aber gar in Dirndlkost&uuml;me
+und Lodenjoppen und setzen naiv gr&uuml;ne H&uuml;tchen
+auf ihre gebrannten Haare und m&uuml;den Glatzen, so tritt
+ihre gr&auml;&szlig;liche Disharmonie zur Natur in tragischer
+Deutlichkeit hervor, und von den geistreichen Helden
+und Heldinnen gro&szlig;st&auml;dtischen Lebens bleibt nichts
+&uuml;brig als die armselige Maske kleiner Vorstadtkom&ouml;dianten.</p>
+
+<p>Aber auch gro&szlig;e Menschen verm&ouml;gen der Natur nicht
+<a name="Page_566" id="Page_566"></a>immer Stand zu halten. Wer zu sehen gelernt hat,
+dem enth&uuml;llen sie ihre Bl&ouml;&szlig;en, da&szlig; es einem beinahe
+wehe tut.</p>
+
+<p>Wir gingen vom Bahnhof durch den Wald bis
+zu dem kleinen Wirtshaus am See. Warum hatte
+nur unser Dichter solch gl&auml;nzend-schwarzen Bart und
+so geistreiche Augen &mdash; so fleischige Finger und eine
+so starke M&auml;nnerhand? Auch hier war eine Disharmonie,
+die schmerzte. Wie ein St&uuml;ck dieser m&auml;rkischen
+Natur selbst schritt dagegen der andere, mir noch
+v&ouml;llig fremde, neben uns, ein Mann aus einem Gu&szlig;,
+bei dem alles zueinander pa&szlig;te.</p>
+
+<p>Ein Gewitter stand drohend am Himmel, als Sindermann
+zu lesen begann, und Blitz und Donner begleiteten
+die sich entwickelnde Katastrophe. Rasch war ich wieder
+im Bann des Werkes. Das war ja alles mein eigenes
+Erleben: wie dieser Maria die Heimat zur Fremde
+wurde, in der die Menschen eine unverst&auml;ndliche Sprache
+sprechen, wie sie sich selbst retten mu&szlig; vor den Schlingen,
+die die Heimat wieder nach ihrer Freiheit auswirft. Und
+ich war es selbst, die sprach: &raquo;Es mu&szlig; klar werden zwischen
+der Heimat und mir!&laquo;</p>
+
+<p>Der Beifall in dem kleinen Kreis der Zuh&ouml;rer war
+gro&szlig;. Da&szlig; man jede Szene stundenlang unter dem
+Gesichtspunkt der B&uuml;hnenwirksamkeit besprach, verletzte
+mich freilich. Erst auf dem R&uuml;ckweg zur Bahn fing man
+an, die Tendenz des St&uuml;ckes zu er&ouml;rtern.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; das individualistische Prinzip darin zu so starkem
+Ausdruck kommt, befriedigt mich ganz besonders,&laquo; sagte
+einer.</p>
+
+<p>&raquo;Diese Maria ist die Personifizierung der Idee<a name="Page_567" id="Page_567"></a>
+Nietzsches!&laquo; f&uuml;gte enthusiastisch ein anderer hinzu, &raquo;sie
+hat die Umwertung aller Werte f&uuml;r sich vollzogen, sie steht
+jenseits von gut und b&ouml;se, sie ist der &Uuml;bermensch, obwohl
+sie ein Weib ist!&laquo;</p>
+
+<p>Der &Uuml;bermensch, &mdash; diese Maria, die sich von einem
+Elenden hatte verf&uuml;hren lassen?! dachte ich. Und die
+Umwertung aller Werte sollte sie vollzogen haben, weil
+sie die Heimat &uuml;berwand?! W&auml;re es m&ouml;glich, da&szlig; ich
+meinen Nietzsche so gar nicht verstanden hatte? &mdash; Die
+Unterhaltung wurde lebhafter. Man sprach &uuml;ber die
+Notwendigkeit, den Sozialismus durch den Individualismus
+zu &uuml;berwinden, die Sklavenmoral durch die
+Herrenmoral.</p>
+
+<p>&raquo;Wir K&uuml;nstler haben inmitten der gef&auml;hrlichen Nivellierungsbestrebungen
+unserer Zeit die Aufgabe, das
+Recht der Adelsmenschen zu vertreten,&laquo; rief ein kleiner
+Mann mit einem Spitzbauch, w&auml;hrend ihm die hellen
+Schwei&szlig;tropfen &uuml;ber das runde Gesicht liefen.</p>
+
+<p>&raquo;Und worin besteht dieses Recht?&laquo; frug ich neugierig,
+das Lachen m&uuml;hsam verbei&szlig;end.</p>
+
+<p>Verbl&uuml;fft sah er mich an. &raquo;In dem Recht, sich zu
+behaupten, seine Pers&ouml;nlichkeit auszuleben,&laquo; sagte er
+schlie&szlig;lich und hieb sich mit der flachen Hand auf den
+breiten Sportg&uuml;rtel, da&szlig; die dicke Goldkette klirrte, die
+weithin leuchtend dar&uuml;ber hing.</p>
+
+<p>&raquo;Sofern man eine hat,&laquo; meinte Liliencron lakonisch,
+der bisher fast immer geschwiegen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; &mdash; gewi&szlig;,&laquo; echote der erhitzte Individualist,
+sichtlich froh, da&szlig; der einfahrende Zug ihn einer weiteren
+Er&ouml;rterung &uuml;berhob.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tag fiel mein philosophischer Unterricht
+<a name="Page_568" id="Page_568"></a>aus: wir stritten uns &uuml;ber Nietzsche, und zum erstenmal
+seit unserer Bekanntschaft verteidigte Glyzcinski seine
+Ansichten mit offenbarer Heftigkeit. &raquo;Wie im Anarchismus
+die gro&szlig;e Gefahr f&uuml;r die Verbreitung des Sozialismus
+in der Arbeiterklasse zu suchen ist,&laquo; sagte er,
+&raquo;so kann die Ausbreitung der Ideen Nietzsches die
+Wirksamkeit der Ethischen Bewegung in den oberen
+Klassen v&ouml;llig untergraben. Die Ausbildung der Pers&ouml;nlichkeit
+als Selbstzweck steht zu unserem Ziel &mdash; dem
+gr&ouml;&szlig;ten Gl&uuml;ck der gr&ouml;&szlig;ten Mehrheit &mdash; in direktem
+Gegensatz.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihen Sie mir, wenn ich das bestreite,&laquo;
+antwortete ich sch&uuml;chtern, aber doch im Augenblick
+meiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher. &raquo;Mir scheint
+n&auml;mlich, als ob gerade sie unser Ziel w&auml;re. H&ouml;chstes
+Gl&uuml;ck der Erdenkinder ist nur die Pers&ouml;nlichkeit, &mdash; so
+&auml;hnlich hei&szlig;t es schon bei Goethe. Und der Sozialismus
+soll eben die M&ouml;glichkeit f&uuml;r alle schaffen, ein
+Gl&uuml;ck sich zu erringen, das heute nur wenige genie&szlig;en
+k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn der arme Nietzsche geistig nicht tot w&auml;re,&laquo;
+lachte Glyzcinski, &raquo;so w&uuml;rde ihn diese Ihre Auslegung
+daran mahnen, zum Weibe nicht ohne Peitsche zu kommen! &mdash; Sehen
+Sie doch um sich: sind seine lautesten
+Anh&auml;nger nicht unsere &auml;rgsten Feinde?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weil sie es sind, die ihn mi&szlig;verstehen, nicht ich!
+Sich ausleben, bedeutet doch nichts anderes, als alle
+Fesseln zerrei&szlig;en und zersprengen, die uns hindern k&ouml;nnen,
+die Glieder im Dienst der Menschheit zu regen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das, mein liebes Schwesterchen, ist aber kein Originalgedanke
+Nietzsches, sondern eine Forderung, die schon<a name="Page_569" id="Page_569"></a>
+Fichte und Kant und viele andere mehr ausgesprochen
+haben,&laquo; antwortete der Professor. &raquo;Ich f&uuml;rchtete schon,
+wir beide k&ouml;nnten uneins werden, und nun sehe ich, da&szlig;
+selbst Ihre Verteidigung Nietzsches nur ein neuer Beweis
+unserer Einigkeit ist.&laquo;</p>
+
+<p>Ein unbestimmter Widerspruch, &uuml;ber dessen Inhalt ich
+mir nicht klar zu werden vermochte, regte sich zwar noch
+in mir, aber ich war viel zu gl&uuml;cklich &uuml;ber die Br&uuml;cke
+des Verst&auml;ndnisses, die wir betreten hatten, als da&szlig; ich
+weiter dar&uuml;ber h&auml;tte nachdenken m&ouml;gen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Eltern kehrten zur&uuml;ck. Die Stimmung des
+Vaters mir gegen&uuml;ber wechselte t&auml;glich: er
+konnte z&auml;rtlich sein und voller Interesse f&uuml;r
+mich, meine Studien, meinen Verkehr; und in der
+n&auml;chsten Stunde schon wandelte sich seine Liebe in
+rauhen Zorn, seine Teilnahme in ungerechte Verdammungsurteile,
+wenn irgendein politisches Ereignis,
+eine sozialdemokratische Demonstration, eine Darstellung
+der Ethischen Bewegung in der konservativen
+Presse, den Aristokraten, den General, den Monarchisten
+in ihm &uuml;ber den Vater siegen lie&szlig;en. Die Mutter dagegen
+blieb fast immer k&uuml;hl, zur&uuml;ckhaltend, beobachtend.
+Klein-Ilschen ging mir scheu aus dem Wege. Und
+als ich sie nach der Ursache frug, gestand sie, da&szlig; der
+Konfirmandenunterricht ihr eine n&auml;here Beziehung zu
+mir unm&ouml;glich mache.</p>
+
+<p>Bisher hatte ich es stumm ertragen, die Rolle der
+ungern Geduldeten zu spielen, &mdash; an dem Tage aber, wo
+dies blonde Kind sich von mir wandte, weinte ich.</p>
+
+<p><a name="Page_570" id="Page_570"></a>Die konstituierende Versammlung der Ethischen Gesellschaft
+stand vor der T&uuml;r. Aus allen Teilen Deutschlands
+str&ouml;mten uns Begr&uuml;&szlig;ungsschreiben, Beitrittserkl&auml;rungen,
+Zustimmungskundgebungen zu, &mdash; es schien
+wirklich, als h&auml;tten sich viele im stillen nach einer
+geistigen Vereinigung auf dieser Basis gesehnt. Selten
+nur traf ich Glyzcinski nachmittags allein: Gelehrte und
+Ungelehrte, Leute mit ber&uuml;hmten Namen und mit W&uuml;rden
+beladen erschienen neben armen Handwerkern, und
+Frauen aus allen Kreisen fanden sich ein. Es war ein
+anderes Publikum, als das bei Egidy gewesen war:
+entschiedener in seiner antireligi&ouml;sen Gesinnung, von
+sozialem Pflichtbewu&szlig;tsein st&auml;rker durchdrungen. Und
+die nahende Vollendung des lange vorbereiteten Werks
+gestaltete auch die letzten Kommissionssitzungen harmonischer.
+Wir waren alle voll Zuversicht und voll
+guten Willens, uns auf dem Boden &raquo;allgemein menschlicher
+Ethik&laquo; zusammenzufinden.</p>
+
+<p>Von jener Begeisterung getragen, die die Geburtsstunde
+jeder neuen humanit&auml;ren Sch&ouml;pfung begleitet und
+die Teilnehmer glauben l&auml;&szlig;t, der Beginn sei schon die
+Vollendung, verliefen die offiziellen Gr&uuml;ndungstage unserer
+Gesellschaft. Es tat f&ouml;rmlich weh, zu der N&uuml;chternheit
+der Alltagsaufgaben zur&uuml;ckzukehren, und die meisten
+Menschen, die uns eben noch zugejubelt hatten, ergriffen
+vor ihnen die Flucht. Mir, die ich von der Welterl&ouml;sung
+getr&auml;umt hatte, wurde es besonders schwer, an
+all den internen Beratungen und Zusammenk&uuml;nften teil
+zu nehmen, wo &uuml;ber Fragen, wie die der Versammlungslokale,
+der Einkassierung der Beitr&auml;ge, und dergleichen
+mehr oft stundenlang verhandelt wurde. Ich ging
+<a name="Page_571" id="Page_571"></a>regelm&auml;&szlig;ig hin, um Glyzcinski dar&uuml;ber zu berichten, der
+nur ausnahmsweise an den Sitzungen teilnehmen konnte,
+und daher auch oft den Grad meiner Ern&uuml;chterung nicht
+verstand. In R&uuml;cksicht auf ihn, dessen Freundschaft mit
+mir kein Geheimnis war, mehr als in Anerkennung
+meiner sehr geringen Verdienste um die Gesellschaft,
+wurde mir, statt seiner &mdash; der jede Wahl von vornherein
+abgelehnt hatte &mdash; der Schriftf&uuml;hrerposten im
+Hauptvorstand angeboten. Ich z&ouml;gerte keinen Augenblick,
+ihn anzunehmen, da ich mir wohl bewu&szlig;t war,
+gerade durch ihn den gr&ouml;&szlig;ten Einflu&szlig; gewinnen zu
+k&ouml;nnen. Zu Hause erz&auml;hlte ich nicht ohne Stolz von
+der mir widerfahrenen Ehre. Der Vater kam gerade
+aus seinem Klub, und ich hatte in meiner Freude auf
+seine Mienen nicht geachtet und Mamas heimliche Zeichen
+nicht bemerkt.</p>
+
+<p>&raquo;Wie &mdash;&laquo;, fuhr er los, &raquo;ein Mensch, der meinen ehrlichen
+Namen tr&auml;gt, offizieller Vertreter dieser Gesellschaft
+internationaler Schwindler?!&laquo; Ich wollte ihn
+unterbrechen, aber er lie&szlig; mich nicht zu Worte kommen.
+&raquo;Habt ihr vielleicht nicht soeben, wie ich nat&uuml;rlich von
+Fremden erfahren mu&szlig;te, f&uuml;r die wahnwitzige Utopie
+ewigen Friedens demonstriert, was nichts anderes bedeutet,
+als diesen Schuften, den Sozialdemokraten, Wasser
+auf ihre M&uuml;hle treiben!&laquo; Seine Stimme schwoll an,
+als st&uuml;nde er auf dem Kasernenhof, &raquo;und die Religion
+wollt ihr schon den Kindern durch euren sogenannten
+Moralunterricht austreiben. Eine nette Moral das &mdash; wahrhaftig!&laquo;
+Er trat auf mich zu: &raquo;Ich verbiete dir
+ein- f&uuml;r allemal, mit diesen Gottesleugnern und Vaterlandsverr&auml;tern
+gemeinsame Sache zu machen &mdash; sonst &mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_572" id="Page_572"></a></p>
+<p>&raquo;Du erlaubst, da&szlig; ich mich entferne &mdash;&laquo; unterbrach
+ich den Tobenden und ging hinaus.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen kam er mir entgegen: ganz bla&szlig;,
+mit &uuml;berwachten, m&uuml;den Augen. &raquo;H&ouml;re auf deinen
+alten Vater, mein Kind, der es gut mit dir meint, &mdash; du
+bist auf falschem Wege, &mdash; schneide dir nicht die R&uuml;ckkehr
+ab, indem du dich &ouml;ffentlich engagierst!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; mir Zeit zum &Uuml;berlegen, lieber Vater,&laquo; bat ich
+stockend, innerlich fast schon &uuml;berwunden; nur bei Glyzcinski
+wollte ich mir noch Rats erholen.</p>
+
+<p>&raquo;Geben Sie nach, &mdash; f&uuml;r diesmal noch!&laquo; sagte er,
+&raquo;das geringste Ma&szlig; von Schmerz sollen wir anderen
+zuf&uuml;gen. Und am sch&ouml;nsten ists, wenn der Gegner sich
+uns aus &Uuml;berzeugung schlie&szlig;lich selbst ergibt.&laquo;</p>
+
+<p>Meinen Vater &uuml;berw&auml;ltigte fast die R&uuml;hrung, als ich
+ihm sagte, da&szlig; ich mich seinem Wunsche f&uuml;gen wolle.
+Er ging selbst zum Professor und unterhielt sich ruhig
+und eingehend mit ihm, &raquo;wie ein vollendeter Ethiker.&laquo;
+Dann mu&szlig;t ich mit ihm in die Stadt, um mir ein Kleid
+auszusuchen: &raquo;Ich will nicht, da&szlig; du durch die ewige
+N&auml;herei in der Arbeit gest&ouml;rt wirst, die dir am Herzen
+liegt!&laquo;</p>
+
+<p>Es dauerte jedoch nicht lange, und ich f&uuml;hlte, da&szlig; es
+nur eines geringf&uuml;gigen Anlasses bedurfte, um einen
+neuen Sturm heraufzubeschw&ouml;ren.</p>
+
+<p>Ich schwebte in st&auml;ndiger Angst. Schon der Tritt
+meines Vaters auf der Treppe machte mich zittern, und
+m&ouml;glichst leise verlie&szlig; ich nachmittags das Haus, um erst
+dann erleichtert aufzuatmen, wenn die T&uuml;r von Glyzcinskis
+Studierstube sich hinter mir schlo&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt m&uuml;&szlig;t' ich Sie pflegen k&ouml;nnen, wie Sie mich,<a name="Page_573" id="Page_573"></a>&laquo;
+sagte er dann wohl, und sein warmer Blick voll Liebe
+und Mitleid ruhte auf mir.</p>
+
+<p>Eines Novemberabends &mdash; ich hatte infolge eines
+heftigen Erk&auml;ltungsfiebers ein paar Tage das Bett h&uuml;ten
+m&uuml;ssen &mdash; kam ein Brief vom Professor:</p>
+
+<p>&raquo;Mein gn&auml;digstes Fr&auml;ulein!</p>
+
+<p>Wir haben schon oft miteinander besprochen, da&szlig; die
+Schaffung eines Ethischen Journals sich angesichts der
+Entwicklung der Gesellschaft als eine immer st&auml;rkere
+Notwendigkeit erweist. Dieser Tage habe ich innerhalb
+unserer literarischen Gruppe die Frage er&ouml;rtert, und
+der Verleger unserer Flugbl&auml;tter hat sich bereit erkl&auml;rt,
+eine Zeitschrift, wie wir sie brauchen, in Gemeinschaft
+mit mir ins Leben zu rufen; da ich jedoch au&szlig;erstande
+bin, sie allein zu leiten, &mdash; der Redakteur eines solchen
+Blattes mu&szlig; pers&ouml;nlich bei wichtigen Vorkommnissen zugegen
+sein k&ouml;nnen &mdash;, liegt die letzte Entscheidung der
+Sache in Ihrer Hand. Die Stellung als mein Mitredakteur
+wird Ihre Arbeitskraft stark in Anspruch nehmen,
+und im Anfang ist der Verlag leider au&szlig;erstande, Ihnen
+ein h&ouml;heres Honorar, als etwa f&uuml;nfzehnhundert bis zweitausend
+Mark j&auml;hrlich zu bieten. Aber ich hoffe und
+glaube, da&szlig; Ihre Liebe zur Sache gro&szlig; genug ist, um
+&uuml;ber diese Schwierigkeiten hinwegzusehen.</p>
+
+<p>Mit verbindlichen Empfehlungen den Exzellenzen und
+herzlichen Gr&uuml;&szlig;en an Sie</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 13.5em;">Ihr treuergebenster</span><br />
+<span style="margin-left: 13em;">Georg von Glyzcinski.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Das ist die Befreiung! jubelte ich &mdash; und zitterte doch
+vor Angst, als ich den Brief meinen Eltern gab. Die<a name="Page_574" id="Page_574"></a>
+Szene, die folgte, war schlimmer als je vorher. &raquo;Solange
+du meinen Namen tr&auml;gst, niemals &mdash; niemals!&laquo;
+Dabei blieb der Vater. Ich lief in die Nettelbeckstra&szlig;e
+und brach, aufschluchzend, neben dem Stuhl
+des Freundes zusammen. Minutenlang vermochte ich
+nicht zu sprechen und f&uuml;hlte nur, wie der schmalen
+Hand, die mir leise &uuml;ber die Stirne strich, wohlt&auml;tige
+Ruhe entstr&ouml;mte. Und dann erz&auml;hlte ich &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;&#8250;Solange du meinen Namen tr&auml;gst&#8249; &mdash; das sagte Ihr
+Vater?&laquo; Glyzcinski wandte den Kopf und sah zum
+Fenster hinaus, wo die roten und gelben Bl&auml;tter im
+Herbststurm tanzten. Es dunkelte schon, &mdash; eine Mahnung
+zum Aufbruch.</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;rchte mich so &mdash;&laquo; murmelte ich mit neu hervorst&uuml;rzenden
+Tr&auml;nen. Und aus dem Zwielicht und der
+Stille h&ouml;rte ich seine leise Stimme sagen: &raquo;M&ouml;chtest du
+bei mir bleiben, mein Schwesterchen?&laquo; &mdash; &raquo;Immer &mdash; immer &mdash;&laquo;
+st&ouml;hnte ich und pre&szlig;te meine Lippen, ehe ers
+hindern konnte, auf die Hand, die wei&szlig; und unirdisch
+im D&auml;mmer leuchtete.</p>
+
+<p>Am fr&uuml;hen Morgen des n&auml;chsten Tages erhielt ich
+diesen Brief:</p>
+
+<p>&raquo;Mein liebes, gn&auml;diges Fr&auml;ulein!</p>
+
+<p>Schon vor Monaten habe ich mir oft gedacht: wenn
+Sie eine Anzahl Jahre &auml;lter geworden w&auml;ren, ohne das
+Gl&uuml;ck gefunden zu haben, das Sie in so reichem Ma&szlig;e
+verdienen, &mdash; wenn Sie sich mit dem Gedanken, auf
+Liebe und Gl&uuml;ck verzichten zu m&uuml;ssen, vertraut gemacht
+h&auml;tten, dann wollte ich fragen: Liebe Freundin, wollen
+wir zueinander ziehen, Mann und Frau werden, dabei
+<a name="Page_575" id="Page_575"></a>aber &mdash; wie es mir beschieden w&auml;re &mdash; als Bruder und
+Schwester weiterleben?!</p>
+
+<p>Der Umstand nun, da&szlig; sich jetzt ein Arbeitsplan f&uuml;r
+uns meldet, dessen Verwirklichung, nach dem Standpunkt,
+den Ihr Herr Vater einnimmt, zu schlie&szlig;en, durch
+jene Lebensvereinigung sehr erleichtert werden w&uuml;rde,
+ist der Grund, da&szlig; ich schon heut mit dieser Frage an
+Sie herantrete.</p>
+
+<p>Wir w&uuml;rden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und
+Arbeitsehe f&uuml;hren; sie w&uuml;rde f&uuml;r Sie alles andere
+eher als eine &#8250;Versorgung&#8249; sein; wir w&uuml;rden wie die
+Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch
+eigene Arbeit erh&auml;lt. Ich bin ohne Verm&ouml;gen und habe
+nur ein geringes Einkommen. Im &uuml;brigen wissen Sie,
+da&szlig; mein Leben jeden Tag zu Ende sein kann.</p>
+
+<p>Und nun d&uuml;rfen Sie rasch &#8250;nein&#8249; sagen. Meine
+Freundschaft zu Ihnen w&uuml;rde auch dann immer dieselbe
+bleiben. Das &#8250;ja&#8249; w&uuml;rde jedenfalls eine lange &Uuml;berlegung
+notwendig machen. Handelt es sich doch um
+etwas &Auml;hnliches, als wenn ein M&auml;dchen den Nonnenschleier
+nimmt. Sollten Sie trotz alledem einmal &#8250;ja&#8249;
+sagen, so k&ouml;nnte es doch eine in ihrer Art sch&ouml;ne Ehe
+werden.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 20em;">Ewig</span><br />
+<span style="margin-left: 21.5em;">Ihr treuer Freund</span><br />
+<span style="margin-left: 20em;">Georg von Glyzcinski.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Ich hatte kaum zu Ende gelesen &mdash; mit klopfendem
+Herzen und tiefen Atemz&uuml;gen &mdash;, als ich schon am Schreibtisch
+sa&szlig; und meine Feder &uuml;ber das Papier flog:</p>
+<p><a name="Page_576" id="Page_576"></a></p>
+<p>&raquo;Mein lieber Freund!</p>
+
+<p>Es bedarf f&uuml;r mich keiner &Uuml;berlegung, um meine
+Hand mit einem freudig-dankbaren Ja in die Ihre zu
+legen. Und es geschieht nicht im Gef&uuml;hl, auf Gl&uuml;ck
+und Liebe verzichten zu m&uuml;ssen: f&uuml;r mich gibt es nur
+ein Gl&uuml;ck, und das ist bei Ihnen; und alles was an
+Liebe in mir ist, geh&ouml;rt Ihnen. Auch ich habe, wie die
+Kinder, einmal von einem Paradies getr&auml;umt, das dem
+Himmel der Frommen &auml;hnlich sah. Jetzt k&ouml;nnte es mir fast
+wie die H&ouml;lle erscheinen, &mdash; w&auml;hrend Sie mir bieten, was
+die Erf&uuml;llung meiner hei&szlig;esten W&uuml;nsche in sich schlie&szlig;t.</p>
+
+<p>Ich sehe einen Urwald, bewohnt von allerhand Raubzeug,
+oft undurchdringlich dicht, da&szlig; die Sonne nicht
+bis auf den Boden dringen kann. Und mitten darin
+wir beide, eng verbunden, mit den Beilen bewaffnet,
+die Du uns schmiedetest. Und aus der N&auml;he und aus
+der Ferne t&ouml;nen die Axtschl&auml;ge vieler anderer Arbeiter
+zu uns her&uuml;ber. Das ist Musik f&uuml;r unser Ohr.
+Freilich fehlt es nicht an niederfallenden &Auml;sten, die uns
+verwunden, an giftigen Schlangen, die uns umdrohen.
+Aber solange wir uns selber haben, solange uns das
+Werkzeug nicht entf&auml;llt, solange wir offnen Auges das
+Licht immer m&auml;chtiger in die Tiefen des Waldes fluten
+sehen, &mdash; solange ist er uns das Paradies unseres
+Lebens ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich schickte meine Antwort voran und folgte ihr auf
+dem Fu&szlig;e. Leise trat ich ins Zimmer &mdash; Georg bemerkte
+mich nicht. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag
+mein Brief, die H&auml;nde hatte er dar&uuml;ber gefaltet und
+die Stirn wie versunken darauf gepre&szlig;t.</p>
+
+<p>&raquo;Georg &mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_577" id="Page_577"></a></p>
+<p>&raquo;Alix &mdash;&laquo;, er fuhr zusammen, ein Antlitz wandte sich
+mir zu, &uuml;berstr&ouml;mt von Tr&auml;nen. Und er nahm meine
+H&auml;nde und k&uuml;&szlig;te sie und zog meinen Kopf zu sich hernieder,
+und ich f&uuml;hlte, wie sein Mund sanft meine Augen
+ber&uuml;hrte.</p>
+
+<p>Mit ruhiger Fassung sah ich den Ereignissen entgegen,
+die nun folgen mu&szlig;ten, &mdash; da&szlig; meine Eltern gegen
+meine Heirat wesentliche Einw&auml;nde erheben w&uuml;rden,
+nahm ich nicht an: Georg war von gutem, alten Adel &mdash; und
+im &uuml;brigen konnte es von ihnen nur als Erleichterung
+empfunden werden, mich endlich aus dem
+Hause zu haben. Ich war wie versteinert vor Schreck,
+als Georgs offizieller Brief an meinen Vater gekommen
+war und ich in seinem Zimmer vor ihm stand. Schwer
+atmend, mit dunkel gef&auml;rbtem Gesicht, die Augen rot
+unterlaufen, sa&szlig; er auf seinem Stuhl, den Rock ge&ouml;ffnet,
+mit den Fingern ungeduldig an seinem Kragen zerrend,
+als f&uuml;rchte er, zu ersticken. Heiser, ruckweise, mit einer
+Stimme, die die seine nicht war, begann er zu reden,
+w&auml;hrend die Mutter, im Sofa zusammengekauert, leise
+vor sich hin weinte.</p>
+
+<p>&raquo;Das mir &mdash; das mir! &mdash; hat Gott mich nicht
+schon genug gestraft?! &mdash; Dich &mdash; dich &mdash; auf die ich
+so stolz gewesen bin! &mdash; Die du mein &mdash; mein Kind
+warst vor allem! &mdash; Dich, um die ein K&ouml;nig noch h&auml;tte
+betteln m&uuml;ssen! &mdash; Dich will dieser &mdash; dieser &mdash; den
+Gott selbst als einen Ausgesto&szlig;enen brandmarkte &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Papa &mdash;!&laquo; schrie ich und taumelte bis an die T&uuml;r
+zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Er sprang auf, um sich im n&auml;chsten Augenblick, wie
+von einem Schwindel erfa&szlig;t, mit beiden F&auml;usten schwer
+<a name="Page_578" id="Page_578"></a>auf den Tisch zu st&uuml;tzen. Den Kopf weit vorgestreckt,
+die Augen stier auf mich gerichtet, fuhr er
+mich an:</p>
+
+<p>&raquo;Du l&auml;ufst mir nicht wieder davon, &mdash; und wenn
+ich dich mit Gewalt festhalten m&uuml;&szlig;te! Und deinen
+sauberen Galan &mdash;&laquo; er lachte grell auf &mdash; &raquo;ein
+Kerl, der nicht einmal ein Mann ist, &mdash; niederschie&szlig;en
+tu ich ihn, wie einen tollen Hund &mdash; &mdash;.&laquo; Mit einem
+unartikulierten Laut fiel er in den Stuhl zur&uuml;ck. Ich
+lief nach Wasser, &mdash; benetzte ihm die Lippen, &mdash; rieb
+ihm die Stirn, &mdash; es war ja ein Kranker, den ich vor
+mir hatte! Aber kaum war er zu sich gekommen, stie&szlig;
+er mich auch schon von sich.</p>
+
+<p>Mama, Ilse und der Diener brachten ihn zu Bett.
+Fast die ganze Nacht sa&szlig; ich horchend vor seiner Schlafzimmert&uuml;r.
+Wie eine M&ouml;rderin kam ich mir vor. Als
+der Morgen graute, schrieb ich ein paar Zeilen an
+Glyzcinski, und kaum da&szlig; der graue Novembertag mit
+schwerf&auml;llig-langsamen Schritten durch die Stra&szlig;en geschlichen
+kam, h&ouml;rte ich den Vater schon wieder in seinem
+Zimmer auf und nieder gehen. Er rief nach mir, &mdash; die
+Angst schn&uuml;rte mir die Kehle zu, aber ich folgte.
+Wie entsetzlich sah er aus! In einer einzigen Nacht, &mdash; wie
+furchtbar gealtert!</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;rchte dich nicht, &mdash; ich tue dir nichts &mdash;&laquo; sagte
+er und verzog den Mund mit den gesprungenen Lippen
+zu einer Grimasse, die ein L&auml;cheln sein sollte. &raquo;Ich will
+nur mit dir reden, will dir klar machen, &mdash; was du
+nicht wei&szlig;t &mdash; nicht wissen kannst, und was der Professor &mdash;&laquo;
+es war ihm offenbar unm&ouml;glich, den verha&szlig;ten
+Namen zu nennen &mdash; &raquo;vielleicht auch nicht
+<a name="Page_579" id="Page_579"></a>wei&szlig;. Die einzige Entschuldigung, die ich ihm zubilligen
+kann!&laquo; Ich mu&szlig;te mich neben ihn setzen, wie
+in fr&uuml;heren Jahren, und er behielt, w&auml;hrend er sprach,
+meine Hand in der seinen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich sagte dir schon, &mdash; du bist mein Kind! Du
+hast meine Leidenschaften, mein hei&szlig;es Herz, mein wildes
+Blut. Bist du die &mdash; die Frau dieses Mannes, so wird &mdash; ich
+wei&szlig; es genau, ganz genau! &mdash; eine Zeit kommen,
+fr&uuml;her oder sp&auml;ter, wo dein Herz sich vor Qualen zusammenkrampft,
+wo dein Blut nach Liebe schreit &mdash; schreit!! &mdash; h&ouml;rst
+du? &mdash; Nach einer Liebe, die dieser
+Mann dir nie wird geben k&ouml;nnen! &mdash; Dann wirst du
+ungl&uuml;cklich werden, totungl&uuml;cklich &mdash; oder &mdash;,&laquo; er brachte
+nur mit &auml;u&szlig;erster Anstrengung die letzten Worte hervor &mdash; &raquo;eine
+Ehrlose, &mdash; eine &mdash; eine Dirne!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Papa, lieber Papa!&laquo; ich streichelte ihm die H&auml;nde,
+&raquo;du k&ouml;nntest so nicht sprechen, wenn du mich besser
+kennen w&uuml;rdest! &mdash; Ich bin kein Kind mehr &mdash; ich habe
+viel erlebt, &mdash; sehr, sehr viel gelitten, mein Blut hat
+endg&uuml;ltig ausgetobt, mein Herz wei&szlig; von keiner anderen
+Liebe als von der, die Georg mir bietet!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du irrst, &mdash; und dieser Irrtum wird dein Ungl&uuml;ck
+werden. Ich kenne dich besser, als du dich in diesem
+Augenblick kennst &mdash;.&laquo; Seine &uuml;berwachten Augen sahen
+ins Weite, er schien immer mehr zu vergessen, da&szlig; ich
+neben ihm sa&szlig;. &raquo;Auch ich liebte &mdash; und verzehrte mich
+nach Liebe! Und warb ein viertel Jahrhundert lang um
+sie, die mein Weib war. Ich wollte nicht begreifen,
+da&szlig; all meine Leidenschaft sie nicht erw&auml;rmen konnte &mdash;!
+Bis ich ein alter Mann geworden bin, bis ich einsehen
+lernte, da&szlig; nichts &mdash; nichts im Leben mir Wort hielt, &mdash; auch
+<a name="Page_580" id="Page_580"></a>meine Liebeshoffnung nicht! &mdash;&laquo; Er schwieg,
+&uuml;berw&auml;ltigt von der Erinnerung.</p>
+
+<p>&raquo;Verstehst du nun, da&szlig; ich den Gedanken nicht ertragen
+kann, dich ebenso &mdash; nein &mdash; noch viel ungl&uuml;cklicher
+werden zu sehen als mich? &mdash; Du wirst ja nicht
+einmal Kinder haben!&laquo;</p>
+
+<p>Ich zuckte zusammen, &mdash; aber rasch und gewaltsam
+hatte ich die Empfindung auch schon niedergek&auml;mpft, die
+ihm Recht h&auml;tte geben k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Alle armen, alle verlassenen Kinder in der Welt
+werden meine Kinder sein &mdash;&laquo; antwortete ich, &raquo;f&uuml;r sie
+werde ich denken und arbeiten!&laquo;</p>
+
+<p>Papa stand auf: &raquo;So habe ich dir nichts mehr zu
+sagen. Du bist majorenn, du bedarfst meiner Erlaubnis
+nicht. Nur um eins bitte ich dich, und deine Mutter
+wird dieselbe Bitte dem &mdash; dem Professor vortragen &mdash; ich
+selbst f&uuml;hle mich nicht stark genug, ihn zu sehen &mdash;:
+Warte nur noch ein halbes Jahr, &mdash; pr&uuml;fe dich w&auml;hrenddessen.
+Du kannst, ungehindert durch mich, deinen Verkehr
+in derselben Weise fortsetzen wie bisher, &mdash; bist du
+dann noch entschlossen, &mdash; so strecke ich die Waffen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich wollte danken, &mdash; war doch dies Zugest&auml;ndnis
+weit mehr, als ich nach dem gestrigen Auftritt noch
+glaubte erwarten zu d&uuml;rfen, &mdash; aber er entzog mir seine
+Hand und verlie&szlig; hastig das Zimmer.</p>
+
+<p>Noch am Abend schrieb mir Georg, den meine Mutter
+inzwischen aufgesucht hatte:</p>
+
+<p>&raquo;... Wir hatten eine lange ernste Unterredung miteinander,
+die mir um so gr&ouml;&szlig;eren Eindruck machte, als
+kurz vorher der Oberst Glyzcinski hier gewesen war,
+dem ich mich in meiner Aufregung verriet, und der mir
+<a name="Page_581" id="Page_581"></a>aus meinem Vorgehen die heftigsten Vorw&uuml;rfe machte.
+&#8250;Geschieht, was du in deiner Unkenntnis der Welt und
+der Menschen als dein Gl&uuml;ck ansiehst, so geht Ihr zugrunde,&#8249;
+sagte er. Meine geliebte Alix, &mdash; sind wir
+nicht in einer Hinsicht wirklich unwissende Kinder? Es
+sollte doch keiner von uns zugrunde gehen! Wir haben
+doch beide eine Mission! Es gibt so gar wenige, die
+unseren Enthusiasmus f&uuml;r unsere Sache haben! Sollten
+wir uns beide nicht dieser Sache erhalten? Vielleicht
+ist es ein Verh&auml;ngnis, das der sch&ouml;nen Tochter der
+Exzellenz den alten Professor zurseite schob und in
+ein stilles, beschauliches, von allen irdischen Freuden
+abgeschlossenes Gelehrtenleben pl&ouml;tzlich eine Fee hineinversetzte.
+Sollten wir dies Verh&auml;ngnis nicht in ein
+segensreiches Schicksal verwandeln k&ouml;nnen, wenn wir,
+wenn vor allem ich mich selbst bezwinge? ...</p>
+
+<p>Drei Stunden t&auml;glich Liebe und Sonnenschein? Ist
+das nicht viel? Die armen Millionen, denen sie nimmer
+scheint, die liebe Sonne! Ich freilich d&uuml;rste nach mehr,
+aber dann geht einer von uns zugrunde!! &mdash; Und lieber
+lebe ich dauernd in tiefster Nacht, als da&szlig; ich &uuml;ber das
+Haupt des liebsten Menschen solch Schicksal heraufbeschw&ouml;re!</p>
+
+<p>Machen wir also den ernsten Versuch, geliebte Freundin,
+uns mit ein wenig Gl&uuml;ck &mdash; f&uuml;r mich ist das schon
+&uuml;berschwenglich viel! &mdash; und viel Arbeit zu begn&uuml;gen,
+und bitte Deine Eltern, da&szlig; sie es Dir leicht machen
+sollen ...&laquo;</p>
+
+<p>Aber seine Blicke straften die scheinbare Ruhe dieser
+Verzichtleistung L&uuml;gen. Das strahlende Licht war aus
+seinen Augen verschwunden, wie das sonnige L&auml;cheln
+<a name="Page_582" id="Page_582"></a>um seine Lippen. Und verlie&szlig; ich ihn des Abends, so
+hielt er mich oft mit einem Ausdruck fest, als litte er
+alle Qualen eines Abschieds auf immer. Wir sahen
+uns t&auml;glich. Bald aber merkte ich, wie mein Vater
+durch Einladungen und Verabredungen aller Art meine
+Besuche bei Georg zu hindern suchte. Erinnerte ich ihn
+an sein Versprechen, so wurde er heftig, setzte ich seinen
+W&uuml;nschen Widerstand entgegen, so konnte ich sicher sein,
+bei der Heimkehr die Mutter verweint, die Schwester
+versch&uuml;chtert, den Vater stumm und finster wieder zu
+finden. Blieb ich des Abends fort &mdash; Versammlungen
+und Kommissionssitzungen, &uuml;ber die ich in unserer Zeitschrift
+berichten mu&szlig;te, machten es h&auml;ufig genug notwendig &mdash;, so
+schlich ich mich in zitternder Furcht nach
+Hause, weil der Vater mich schon oft mit den ungerechtfertigsten
+Vorw&uuml;rfen empfangen hatte. Jeder Artikel,
+den ich in unserem Blatt unter meinem Namen
+schrieb &mdash; die Anonymit&auml;t war mir als eine Feigheit
+verha&szlig;t &mdash;, gab Anla&szlig; zu den peinlichsten Auseinandersetzungen,
+und die politischen Ereignisse der Zeit benutzte
+er, um das, was mir heilig war, ma&szlig;los zu verunglimpfen.
+Ich wurde schlie&szlig;lich von einem so dauernden,
+Angstgef&uuml;hl gefoltert, da&szlig; ich oft meinte, vom Verfolgungswahn
+gepackt zu sein. Der t&auml;glich wiederholte
+Versuch, vor Georg heiter zu sein, mi&szlig;lang immer vollst&auml;ndiger,
+und eines Tages gestanden wir einander das
+Unertr&auml;gliche unseres Zustands.</p>
+
+<p>&raquo;So willst du wirklich &mdash; wirklich diesen Kr&uuml;ppel
+heiraten, den man im Mittelalter der Zauberei angeklagt,
+und ganz gewi&szlig; verbrannt haben w&uuml;rde?&laquo; sagte er mit
+ungl&auml;ubigem L&auml;cheln.</p>
+<p><a name="Page_583" id="Page_583"></a></p>
+<p>&raquo;Ich will!&laquo; antwortete ich fest &raquo;und wenn es sein
+mu&szlig;, ohne den Segen der Eltern.&laquo; Da ich wu&szlig;te, da&szlig;
+meines Vaters Heftigkeit mich nicht w&uuml;rde zu Worte
+kommen lassen, so schrieb ich ihm einen langen, liebevollen
+Brief, in dem ich ihm klar zu machen versuchte,
+da&szlig; ich alt genug sei, um nach eigener &Uuml;berzeugung mein
+Leben zu gestalten, da&szlig; es im h&ouml;heren Sinne gewissenlos
+und pflichtwidrig w&auml;re, statt der eigenen Einsicht
+und dem eigenen Gef&uuml;hl sklavisch dem Machtgebot
+anderer zu gehorchen, da&szlig; es schlimmer sei als t&ouml;ten,
+wenn ein Mensch den anderen zeitlebens zur Unm&uuml;ndigkeit
+und Unfreiheit verdamme.</p>
+
+<p>Einen ganzen Vormittag lang schien mein Vater
+meinen Brief zu ignorieren, erst als ich das Haus verlassen
+wollte, trat er mir im Flur entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Du bleibst!&laquo; rief er und umklammerte mein Handgelenk.
+&raquo;Die sechs Monate Frist, die ich dir gestellt
+habe, sind noch nicht um, &mdash; aber du zwingst mich, meine
+Bedingungen zu &auml;ndern. Du wirst von heute ab deine
+Besuche einstellen. Dieser sittenstrenge Ethiker soll mir
+nicht ganz und gar deine Seele vergiften.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du brichst dein Versprechen, Papa &mdash;&laquo; stie&szlig; ich
+hervor und ri&szlig; mich gewaltsam los. In demselben Augenblick
+griff er nach der alten Reiterpistole auf seinem
+Schreibtisch &mdash;.</p>
+
+<p>&raquo;Ein Schritt noch und ich schie&szlig;e &mdash;.&laquo; Aber schon
+lief ich die Treppe hinunter &mdash; &uuml;ber die Stra&szlig;e &mdash; &uuml;ber
+den Platz, &mdash; Menschen und Wagen und H&auml;user
+sah ich wie Schatten an mir vor&uuml;berfliegen.</p>
+
+<p>Wie ich zu Georg kam, &mdash; ich wei&szlig; es nicht, &mdash; der
+gelle Angstschrei, den er ausstie&szlig;, als ich mitten in seinem<a name="Page_584" id="Page_584"></a>
+Zimmer niederfiel, brachte mich zur Besinnung. Noch
+an demselben Abend fuhr ich zu Freunden von ihm, die
+mir auf alle F&auml;lle ihr Haus schon zur Verf&uuml;gung gestellt
+hatten. Ohne Angabe meiner Adresse teilte ich
+den Eltern mit, da&szlig; ich nicht mehr zu ihnen zur&uuml;ckkehren
+werde. Aber noch ehe mein Brief sie erreicht
+haben konnte, benachrichtigte mich Georg, da&szlig; Onkel
+Walter mich zu sprechen w&uuml;nsche. Er erwarte mich im
+Reichstag. Ich ging hin. Und w&auml;hrend im Plenarsaal
+die Redeschlacht um die Milit&auml;rvorlage tobte, gingen
+wir ruhig und gemessen in der Wandelhalle auf und
+ab, und niemand konnte ahnen, da&szlig; sich hier ein Schicksal
+entschied.</p>
+
+<p>&raquo;Hans war bei mir, &mdash; gleich nach jener Szene. Er
+sprach, dramatisch wie immer, von Versto&szlig;en, Verfluchen
+und dergleichen,&laquo; begann Onkel Walter in gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;igem
+Ton. &raquo;Ich habe ihm erkl&auml;rt, da&szlig; es unser
+aller Pflicht sei, einen Familienskandal zu vermeiden,
+und da&szlig; ich &mdash; wenn er auf seinem Standpunkt beharren
+wolle &mdash; meine Nichte, die Tochter meiner
+Schwester, in mein Haus nehmen, und da&szlig; sie dort unter
+meinem Schutz heiraten w&uuml;rde. Ilse ist, Gott Lob, ganz
+meiner Meinung. Ein Zustand, wie der bisherige, ist
+f&uuml;r alle Teile auf die Dauer unhaltbar. Von mir aus
+ist Hans bei Geheimrat Frommann gewesen, der ihm
+zugeredet hat, nachzugeben, und dich und deinen Verlobten
+in den h&ouml;chsten T&ouml;nen pries. Infolgedessen hat dein
+Vater sich wesentlich beruhigt. Er wird morgen meine
+Frau nach Pirgallen begleiten und erlaubte deiner
+Mutter, alle Vorbereitungen zu deiner Hochzeit zu treffen,
+an der er nat&uuml;rlich selbst nicht teilnehmen wird.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_585" id="Page_585"></a>Mir traten die Tr&auml;nen in die Augen, &mdash; die Ersch&uuml;tterung
+dieses neuen pl&ouml;tzlichen Umschwungs war zu
+gro&szlig; f&uuml;r mich!</p>
+
+<p>&raquo;Du hast keine Ursache, mir zu danken,&laquo; schnitt Onkel
+Walter schroff jede Antwort ab, &raquo;ich tat nur meine
+Pflicht im Interesse der Ehre unserer Familie. Im
+&uuml;brigen ist es hohe Zeit, da&szlig; wir Ruhe vor dir haben.&laquo;
+Damit war ich entlassen.</p>
+
+<p>Ich kehrte nach Hause zur&uuml;ck, nachdem mein Vater
+abgereist war.</p>
+
+<p>Mit ihrem k&uuml;hlsten Gesichtsausdruck empfing mich die
+Mutter. &raquo;Deiner Heirat steht nichts mehr im Wege,&laquo;
+sagte sie, &raquo;au&szlig;er einer Kleinigkeit, die du nat&uuml;rlich vergessen
+hast: der Ausstattung. Wir sind, wie du wei&szlig;t,
+nicht in der Lage, sie dir zu beschaffen, du wirst dich
+also mit der kleinen Summe aus der Kleveschen Familienstiftung
+begn&uuml;gen m&uuml;ssen. Und was die Wohnung
+betrifft, so &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich mu&szlig;te wider Willen lachen: &raquo;Das sind aber doch
+wirklich nichts als Kleinigkeiten, Mama!&laquo; unterbrach
+ich sie. &raquo;Wir haben, was wir brauchen, &mdash; und Georgs
+Wohnung ist viel zu h&uuml;bsch, als da&szlig; ich sie aufgeben
+m&ouml;chte!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine Hofwohnung &mdash; und nur drei Zimmer!&laquo; Mama
+kr&auml;uselte ver&auml;chtlich die Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;bergenug f&uuml;r uns! &mdash; du siehst: wenn das Aufgebot
+morgen erfolgt, k&ouml;nnen wir in vierzehn Tagen getraut
+werden &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich! &mdash; Ich werde heute noch mit
+Euren Papieren auf das Standesamt und wom&ouml;glich
+auch gleich zum Geistlichen gehen.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_586" id="Page_586"></a></p>
+<p>&raquo;Zum &mdash; Geistlichen?!&laquo; Ich starrte sie verst&auml;ndnislos
+an. Wir &raquo;dezidierten Nichtchristen&laquo; sollten uns geistlich
+trauen lassen?!</p>
+
+<p>&raquo;Georg ist Atheist &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schlimm genug!&laquo; rief die Mutter, &raquo;aber du heiratest
+unter dem Schutz deiner gl&auml;ubigen Eltern und wirst
+es nach unserem Glauben tun &mdash; oder gar nicht.&laquo;</p>
+
+<p>All meine Erkl&auml;rungen und Bitten prallten an ihrem
+unbeugsamen Willen ab. Ich sah aufs neue die schwer
+erk&auml;mpfte Zukunft gef&auml;hrdet. Aber als ich Georg mit
+vor Aufregung zitternder Stimme von der m&uuml;tterlichen
+Entscheidung erz&auml;hlte, zog nur ein leichter Schatten &uuml;ber
+seine Z&uuml;ge.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn deiner Mutter Herz an dieser Zeremonie h&auml;ngt,
+so lassen wir ihr die Freude,&laquo; meinte er nach kurzem
+&Uuml;berlegen. &raquo;D&uuml;rfen wir unser Leben und seine Aufgabe
+von einer blo&szlig;en Formel abh&auml;ngig machen?!&laquo; Ich senkte
+stumm den Kopf, so recht aufrichtig h&auml;tte ich seiner Ansicht
+doch nicht zustimmen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Den n&auml;chsten Verwandten war meine bevorstehende
+Heirat mitgeteilt worden. Mit einer gewissen Genugtuung
+zeigte mir die Mutter, um deren Mundwinkel
+sich die Falten der Bitterkeit t&auml;glich tiefer gruben,
+ihre teils entsetzten, teils mitleidigen Briefe. An Tante
+Klotilde hatte ich selbst geschrieben; ein paar Tage vor
+der Hochzeit antwortete sie mir: &raquo;Was du tust, ist
+Wahnsinn, ja, schlimmer noch: ein widernat&uuml;rliches
+Verbrechen. Auf welch traurigen Abwegen du dich befindest,
+habe ich schon durch deine potsdamer Kusinen
+erfahren. Da&szlig; es aber soweit mit dir kommen w&uuml;rde,
+h&auml;tte ich nimmer gedacht. Wolle Gott, da&szlig; meine
+<a name="Page_587" id="Page_587"></a>schlimmsten Bef&uuml;rchtungen f&uuml;r die Zukunft nicht in Erf&uuml;llung
+gehen! Das ist der einzige Wunsch, mit dem
+ich deine Heirat begleite...&laquo;</p>
+
+<p>Aber je n&auml;her ich meinem Ziele war, desto gleichg&uuml;ltiger
+lie&szlig;en mich all die Nadelstiche des t&auml;glichen
+Lebens.</p>
+
+<p>Als ich jedoch am Abend vor der Trauung zum
+letztenmal in die elterliche Wohnung zur&uuml;ckkehrte, stockte
+mir schon vor der T&uuml;re der Atem, und in den dunkeln
+R&auml;umen legte sich mir die Luft zentnerschwer auf das Herz.
+In dem verlassenen Zimmer des Vaters war es totenstill,
+selbst die Uhr tickte nicht mehr; &mdash; hatte ich &mdash; ich, die
+Tochter, die er am meisten liebte, ihn nicht hinaus getrieben?!
+Stumm und in sich gekehrt sa&szlig;en Mutter
+und Schwester und ich um den gedeckten Tisch und zerbr&ouml;ckelten
+das Brot zwischen den Fingern. Die Lampe
+wollte heute nicht leuchten, und der Teekessel summte
+schwerm&uuml;tig, &mdash; gro&szlig; und vorwurfsvoll sah mir zuweilen
+das blaue Augenpaar der Schwester entgegen, &mdash; die
+Mutter vermied meinen Blick; und was sie sagte, kam
+ihr rauh und hart aus der Kehle. In mein Zimmer
+trieb es mich fr&uuml;her als sonst. Ich legte mechanisch
+meine letzten zur&uuml;ckgebliebenen Sachen in den Koffer.
+Da klopfte es leise &mdash; und in den unruhigen Schein
+der Kerze trat Klein-Ilse mit hei&szlig;-geweinten Wangen,
+einen Kranz von Orangenbl&uuml;ten in der Hand und einen
+wei&szlig;en Schleier. Sie wollte sprechen, &mdash; sie konnte es
+nicht, &mdash; unaufhaltsam flossen ihr die Tr&auml;nen aus den
+Augen; &mdash; mit einer Bewegung, die Schmerz, Ha&szlig; und
+Liebe zugleich zu diktieren schienen, warf sie ihre Gabe
+auf den Tisch und war im n&auml;chsten Augenblick wieder
+<a name="Page_588" id="Page_588"></a>verschwunden. Ich l&auml;chelte m&uuml;de, &mdash; einen anderen
+Kranz hatte ich mir wohl vor langen Jahren ertr&auml;umt; &mdash; fort
+mit allem blassen Erinnern, &mdash; drau&szlig;en stand die
+Arbeit, stand das Leben und begehrte meiner!</p>
+
+<p>Noch einmal klopfte es: ein Brief von Georg:</p>
+
+<p>&raquo;Mein Liebling! Zum letztenmal sag ich Dir aus der
+Ferne Gute Nacht. Von morgen ab wirst Du bei mir
+sein und bleiben. Eine heilige Lebensaufgabe liegt vor
+uns, die wir zum Wohle der Menschheit erf&uuml;llen wollen,
+und eine, die unsere br&auml;utliche Ehe uns pers&ouml;nlich auferlegt.</p>
+
+<p>Nach meinem Tode kannst Du &mdash; aber ganz aufrichtig,
+meine tapfere Alix! &mdash; der Welt erz&auml;hlen, wie
+ihre L&ouml;sung gelang, &mdash; anderen zur Warnung, oder zur
+Nachahmung. Nur ein Versprechen verlange ich heute
+von Dir: sollte jene Liebe Dich jemals gefangen nehmen,
+vor der die Menschen uns warnen, und die sich auf
+mich, Deinen Gatten, nicht richten kann, &mdash; so denke,
+ich sei Dein Vater, und schenke mir Dein Vertrauen.
+Ich werde mich seiner w&uuml;rdig erweisen, und nie soll ein
+St&uuml;ck Papier f&uuml;r Dich eine Fessel werden. In keiner
+Lebenslage w&uuml;rdest Du mich verlieren.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 11em;">Dein in Zeit und Ewigkeit!</span><br />
+<span style="margin-left: 23.5em;">Georg.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Und die Schatten der Vergangenheit zerstoben; ruhig
+und gl&uuml;cklich schlief ich dem Morgen entgegen.</p>
+
+<p>Meine Kusine Mathilde war gekommen, &mdash; auch sie
+mit einem Gesicht, als sollte sie an einer Beerdigung
+und nicht an einer Hochzeit teilnehmen. Zu Fu&szlig; gingen
+wir vier in die Nettelbeckstra&szlig;e. Wir gingen rascher &mdash; immer
+rascher, als wollte einer dem anderen ent<a name="Page_589" id="Page_589"></a>laufen.
+Kein Wort der Liebe war meiner Mutter bisher
+&uuml;ber die Lippen gekommen. Vor der Haust&uuml;r blieb
+sie aufatmend stehen. &raquo;Nun hast du deinen Willen
+durchgesetzt,&laquo; stie&szlig; sie zwischen den Z&auml;hnen hervor.</p>
+
+<p>In meinem k&uuml;nftigen Schlafzimmer, einem gro&szlig;en
+Raum, dessen einziges Fenster auf den dunklen Hof
+hinaussah, zog ich mein Brautkleid an. Kranz und
+Schleier lagen bereit; niemand kam, mir zu helfen. Sie
+waren alle vorn und schm&uuml;ckten den Altar! Da h&ouml;rt'
+ich eine zaghafte Stimme an der T&uuml;r: &raquo;Darf ich?&laquo;, und
+eine kleine Frau schl&uuml;pfte herein, verlegen und l&auml;chelnd
+an der gro&szlig;en wei&szlig;en Sch&uuml;rze zupfend, in den roten
+H&auml;nden einen bunten Nelkenstrau&szlig;. Ich kannte sie
+fl&uuml;chtig: die Frau vom Tischler nebenan war's, dem
+Georg aus dem Elend geholfen hatte, und der jetzt
+t&auml;glich kam, um sich den &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; zu holen. &raquo;Ich
+konnt' doch heut nicht fehlen,&laquo; stotterte sie, &raquo;ich mu&szlig;t'
+doch dem gn&auml;digen Fr&auml;ulein zeigen, wie m&auml;chtig wir
+uns freuen, mein Karl und ich! So sch&ouml;n ist's, da&szlig; der
+gute Herr Professor nu nich mehr so alleinich is, &mdash; so
+heilig sch&ouml;n, da&szlig; Sie seine Frau werden!&laquo; Dabei faltete
+sie die H&auml;nde und sah mich aus ihren hellen runden
+Augen an, wie der gute Katholik ein wundert&auml;tiges
+Heiligenbild. Und dann nahm sie vorsichtig den Schleier
+und steckte ihn mir auf die Locken und legte mit ihren
+groben Arbeitsh&auml;nden ganz leicht und zart den Kranz
+darauf: &raquo;Der liebe Gott segne Sie! &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>War es, weil ich aus dem Dunkel kam, oder weil
+helle Freudentr&auml;nen mir in den Augen standen, &mdash; ich
+sah, als ich in Georgs Zimmer trat, nichts als Wogen
+goldschimmernden Glanzes. Wie Schattenbilder, die uns
+<a name="Page_590" id="Page_590"></a>nichts angingen, bewegten sich die Menschen darin. Ich
+h&ouml;rte Worte, mit denen sich mir kein Sinn verband,
+und leises Schluchzen, das von weit her kam. Um den
+Tisch hinter der schwarzen Gestalt des Pfarrers schwebte
+eine Woge weichen Blumendufts zu mir her&uuml;ber, ein
+wei&szlig;es Kreuz leuchtete auf gr&uuml;nem Grund, &mdash; es hatte
+einst auf Gro&szlig;mamas Schreibtisch gestanden &mdash; und die
+schwarze Schrift darauf war die Traupredigt, die ich
+allein vernahm: &raquo;Die Liebe h&ouml;ret nimmer auf.&laquo; Ein
+paar H&auml;ndedr&uuml;cke f&uuml;hlt' ich noch, eine paar zeremonielle
+K&uuml;sse auf der Stirn &mdash; Kleiderrauschen &mdash; halblautes
+Schwatzen &mdash; T&uuml;ren schlagen &mdash; und noch einmal den
+grellen Ton der Glocke: Ein Telegramm. &raquo;In z&auml;rtlichster
+Liebe bin ich bei dir und Georg. Dein Vater.&laquo;</p>
+
+<p>Dann ward es still, ganz still bei uns. Wir waren
+allein.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_591" id="Page_591"></a></p>
+<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>In einem Tal des Friedens lebte ich. Sanfte
+H&ouml;henz&uuml;ge h&uuml;teten es vor der Welt, wie freundliche
+W&auml;chter. Meine Wege kannten keine j&auml;hen
+Abh&auml;nge mehr, an denen der Fu&szlig; &auml;ngstlich strauchelt,
+nirgends drohte ein Fels, kein Habicht lauerte auf meine
+singenden V&ouml;gel. Die B&auml;che d&auml;mpften ihr Geschw&auml;tz,
+der Wind streichelte leise Bl&auml;tter und Blumen, der
+Sonne Licht war wie ein m&uuml;tterliches L&auml;cheln.</p>
+
+<p>Wie kam es nur, da&szlig; die Tage vor&uuml;berflossen ohne
+Angst &mdash; ohne Streit, da&szlig; die Stunden nicht mehr erf&uuml;llt
+waren von der lastenden Luft heimlichen Zornes?
+Und da&szlig; ich sagen durfte, was ich dachte?! Wie war
+es m&ouml;glich, da&szlig; ich kein Kettenklirren h&ouml;rte, wenn mein
+Fu&szlig; neue Pfade betrat, da&szlig; ich nicht allein war und
+mich doch niemand scheltend zur&uuml;ckri&szlig;, wenn ich vom
+Berge weit &mdash; weit in die Ferne sah? Einer war neben
+mir und h&uuml;tete jeden meiner Schritte und ging mir
+zugleich voran, ein Pfadfinder.</p>
+
+<p>Der P&ouml;bel str&ouml;mte herzu mit seiner Neugierde und
+seiner Niedrigkeit, aber unsichtbare Kr&auml;fte verschlossen
+ihm unser Tal des Friedens. Wir allein gingen ungehindert
+ein und aus. Aber ob wir gleich in der
+Welt wandelten und unsere Schwerter kreuzten mit<a name="Page_592" id="Page_592"></a>
+Kr&auml;mern und Philistern, so war doch unsere Seele
+immer in ihm. Und seine Quellen heilten alle unsere
+Wunden ...</p>
+
+<p>Fieberhaft rasch klopfte damals das Herz der Zeit.
+Sie war, wie ein geniales Kind, das &uuml;ber dem Reichtum
+seines Innern unruhig von einem der goldenen
+Sch&auml;tze zum anderen springt.</p>
+
+<p>Der Kaiser hatte den Reichstag aufgel&ouml;st. Wieder
+einmal war der Monarch, der unter dem nivellierenden
+Rock des Europ&auml;ers stets den mystisch-schimmernden
+Herrschermantel des Gottesgnadentums trug, mit dem
+Volk aufeinandergesto&szlig;en. Da&szlig; er es nicht begriff, nicht
+begreifen konnte, war weniger seine Schuld als die des
+unl&ouml;sbar-tragischen Widerspruchs zwischen der uralten
+Tradition der K&ouml;nige und der zum Bewu&szlig;tsein ihrer selbst
+erwachten Menschheit. V&auml;ter pflegen selten zu begreifen,
+da&szlig; ihre Kinder Menschen werden. F&uuml;r ihn blieb das
+Volk &mdash; &raquo;mein&laquo; Volk!, &mdash; das Kind, das willenlose,
+und immer nur waren es &raquo;Hetzer&laquo; und &raquo;Unberufene&laquo;,
+die sich als seine Wortf&uuml;hrer aufspielten. Darum galt
+ihm das Heer, &mdash; ein durch die Macht der Disziplin
+in das Stadium der Kindheit zur&uuml;ckgedr&auml;ngtes Volk &mdash;,
+stets als &raquo;die einzige S&auml;ule, auf der unser Reich besteht,&laquo;
+und ein Volksverr&auml;ter war, wer seine Entwicklung
+hemmte. Im festen Glauben an die ihm von Gott
+selbst gegebene Macht, &mdash; <em class="antiqua">&raquo;suprema lex regis voluntas,&laquo;</em>
+hatte er ein Jahr vorher in das goldene Buch M&uuml;nchens
+geschrieben &mdash;, verk&uuml;ndete er seinen Willen allen h&ouml;rbar,
+und nahm die stummen Verbeugungen deren, die um
+ihn standen, als Zeichen f&uuml;r die allgemeine Ergebenheit.</p>
+
+<p>Um die Milit&auml;rvorlage tobte der Wahlkampf, der alte<a name="Page_593" id="Page_593"></a>
+Parteien auseinanderri&szlig; und wie Scheidewasser die Geister
+voneinander trennte. In atemloser Spannung sah ich
+zu. Auch Egidy, der tapfere Tr&auml;umer, der &raquo;Edel-Anarchist&laquo;,
+der keine Partei anerkannte und doch, getrieben
+von der unbestechlichen Wahrhaftigkeit seines
+Wesens, die Wahlparole der Sozialdemokratie nur in
+seine Sprache &uuml;bersetzte, stand auf der Wahlstatt.</p>
+
+<p>&raquo;Was sagen Sie dazu, da&szlig; unser gemeinsamer Freund
+sich zum Reichstag aufgestellt hat?&laquo; schrieb mir Wilhelm
+von Polenz. &raquo;&Uuml;berrascht er nicht immer wieder
+durch seinen Mut und die Konsequenz seiner Entwicklung?
+Ich komme dieser Tage nach Berlin und
+m&ouml;chte Sie gern in eine seiner Wahlversammlungen
+begleiten.&laquo;</p>
+
+<p>Wenigen Ereignissen stand ich erwartungsvoller gegen&uuml;ber
+als diesem ersten Besuch einer Volksversammlung!</p>
+
+<p>Es war ein halbdunkler Raum, niedrig und verr&auml;uchert,
+in den wir eintraten. Er f&uuml;llte sich nur langsam. Zuerst
+kam der Kreis der engeren Gemeinde Egidys, die
+seit seinem entschiedenen Eintritt in das praktisch-politische
+Leben sehr zusammengeschmolzen war; dann erschienen
+die vielen, die &uuml;berall dabei sein m&uuml;ssen: sensationsl&uuml;sterne
+Weiber, k&uuml;hl-neugierige Skribenten; ganz nach
+vorn dr&auml;ngten sich die russischen Studenten und Studentinnen,
+die stets mit sicherem Instinkt die Luft
+geistiger Revolutionen wittern, und schlie&szlig;lich str&ouml;mte
+es herein von M&auml;nnern und Frauen, von denen ich nicht
+recht wu&szlig;te, wohin sie geh&ouml;rten. &raquo;Arbeiter!&laquo; sagte
+Polenz. Arbeiter?! Diese ernsten, ruhigen Menschen,
+deren b&uuml;rgerliche Kleidung in nichts an den Kittel und
+das Schurzfell erinnerte?! Sie waren die stillsten, als<a name="Page_594" id="Page_594"></a>
+Egidy sprach. Nur zuweilen warf einer eine ironische
+Bemerkung, einen derben Witz dazwischen, und die feinen
+Damen vorn entr&uuml;steten sich und klatschten barbarischen
+Beifall, den der Redner vergebens zu beschwichtigen
+suchte.</p>
+
+<p>&raquo;Kurage hat er!&laquo; fl&uuml;sterte ein blasses M&auml;dchen
+mit wund gestichelten Fingern am Tisch neben mir.
+&raquo;Wat ick mir dafor koofe!&laquo; brummte ihr Begleiter.
+&raquo;Jetzt red' er uns zum Mund, weil er in 'n Reichstag
+will &mdash; un nachher is er doch man blo&szlig; ein Junker
+mehr!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bahn frei! Den neuen M&auml;nnern und den neuen
+Zeiten!&laquo; &mdash; t&ouml;nte es von der Rednertrib&uuml;ne, &raquo;aus dem
+Wege r&auml;umen, was eine kulturentsprechende, Gott gewollte
+Entwicklung hemmt&laquo; &mdash; irgendwo pfiff einer
+durch die Finger &mdash;, &raquo;wir Deutschen wollen das Christentum
+verwirklichen&laquo; &mdash; &raquo;Quatsch!&laquo; schrie jemand &mdash; &raquo;Sst &mdash; sst!&laquo;
+antwortete einm&uuml;tig die Menge, &mdash; &raquo;ein
+Reich des Friedens gr&uuml;nden, wo jeder &mdash; M&auml;nner
+und Frauen &mdash; ein Recht an das Leben hat, wo niemand
+hungernd daneben steht, wenn die andern schwelgen.&laquo; &mdash; Die
+Studenten schrieen, und ihre Gef&auml;hrtinnen
+winkten mit H&uuml;ten und Taschent&uuml;chern. &mdash; &raquo;Wir
+sind ein m&uuml;ndiges Volk und werden uns aus eigener
+Kraft andere Zust&auml;nde schaffen. Die n&auml;chsten Wochen
+sollen uns einen t&uuml;chtigen Schritt vorw&auml;rts bringen.
+Das Alte st&uuml;rzt, und neues Leben bl&uuml;ht aus den Ruinen, &mdash; damit
+an die Arbeit!&laquo; Ein kurzer Beifall, wie ein
+pl&ouml;tzlich ausbrechendes Gewitter, dann Stille, &mdash; die
+Damen r&uuml;ckten an den St&uuml;hlen, die kleine Gemeinde
+bildete erwartungsvoll an der T&uuml;re Spalier. Da pl&ouml;tzlich
+<a name="Page_595" id="Page_595"></a>stand das blasse M&auml;dchen mit den zerstochenen Fingern
+auf der Trib&uuml;ne; sie war sehr klein, ein echtes Proletarierkind,
+dem die Not von je her die schwere Hand
+auf den Kopf gedr&uuml;ckt hatte, so da&szlig; es nicht wachsen
+konnte, und die Z&uuml;ge formte, so da&szlig; sie zeitlos blieben.
+Sie wechselte ein paar Worte mit Egidy, strich sich &uuml;ber
+den glatten, stumpfblonden Scheitel und begann mit einer
+Stimme zu reden, deren Ton etwas rauhes, knarrendes
+an sich hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Der Herr Referent sagte mir, da&szlig; es in seinen Versammlungen
+nicht &uuml;blich ist, sich zur Diskussion zu melden.
+Er hat mir aber erlaubt, ihm eine Frage zu stellen, die
+mir und manchen meiner Parteigenossen&laquo; &mdash; ein paar
+Journalisten riefen h&ouml;hnend &raquo;Aha&laquo;, reckten die K&ouml;pfe,
+und klemmten sich den Zwicker auf die Nase, um die
+Rednerin genauer ins Auge fassen zu k&ouml;nnen &mdash; &raquo;w&auml;hrend
+seiner Ausf&uuml;hrungen auf den Lippen schwebte. Was er
+sagte, ist f&uuml;r uns nichts Neues gewesen. Es geh&ouml;rt seit
+Jahrzehnten zum eisernen Bestand der Sozialdemokratie,
+die daf&uuml;r von seiten der herrschenden Klassen unterdr&uuml;ckt,
+verfolgt und mi&szlig;achtet wird,&laquo; &mdash; ein paar Damen
+steckten tuschelnd die K&ouml;pfe zusammen &mdash;, &raquo;die Gleichheit
+vor dem Gesetz, die allgemeine Einheitsschule, die Abschaffung
+der stehenden Heere, &mdash; das alles sind Forderungen
+des Erfurter Programms. Und f&uuml;r die Befreiung
+des weiblichen Geschlechts aus politischer und
+sozialer Versklavung k&auml;mpft eine Partei von anderthalb
+Millionen deutschen Arbeitern, w&auml;hrend die b&uuml;rgerlichen
+Damen in ihren Wohlt&auml;tigkeitskr&auml;nzchen so was nicht
+einmal unter vier Augen zu fl&uuml;stern wagen.&laquo; &mdash; &raquo;Aber &mdash; aber!&laquo;
+rief eine Frauenrechtlerin kopfsch&uuml;ttelnd und
+<a name="Page_596" id="Page_596"></a>hob die schweren Lider wie eine gut geschulte Trag&ouml;din.
+Ich jedoch zuckte zusammen, als m&uuml;&szlig;t' ich mich pers&ouml;nlich
+getroffen f&uuml;hlen. &mdash; &raquo;Und wenn der Herr Referent mit
+so viel dankenswertem Eifer f&uuml;r den gesetzlichen Arbeiterschutz
+eintritt, so h&auml;tte er &mdash; zur Aufkl&auml;rung f&uuml;r all die
+Herrschaften, die in unsere Versammlungen doch nicht
+kommen &mdash; wohl ein W&ouml;rtchen dar&uuml;ber sagen k&ouml;nnen,
+da&szlig; wir es waren und sind, deren rastloser Arbeit, nach
+F&uuml;rst Bismarcks eigenem Ausspruch, das bi&szlig;chen Arbeiterschutz
+zu verdanken ist, das wir haben. Den Herren da
+oben ist das schon zu viel, sie schreien nach Flinten und
+Kanonen gegen den inneren Feind und winseln nach
+Liebesgaben f&uuml;r ihre Taschen ...&laquo; Sie brach ab, ihre
+Stimme war kreischend geworden. Egidy stand ruhig
+mit verschr&auml;nkten Armen und einer tiefen Falte auf der
+Stirn neben ihr.</p>
+
+<p>&raquo;Und Ihre Frage, mein Fr&auml;ulein?&laquo; frug er.</p>
+
+<p>&raquo;Ach so &mdash; meine Frage &mdash;&laquo; ein verlegenes L&auml;cheln
+lie&szlig; sie pl&ouml;tzlich ganz jung erscheinen, dann reckte sie sich,
+stemmte die Arme fest auf das Pult vor ihr, sah Egidy
+gerade ins Gesicht und sagte. &raquo;Wenn Sie dasselbe wollen,
+wie wir, &mdash; warum sind Sie nicht Sozialdemokrat?&laquo;</p>
+
+<p>Ein spannender Moment: tausend Augenpaare bohrten
+sich in das blasse, erregte Gesicht Egidys. &raquo;Das hab'
+ich gef&uuml;rchtet &mdash;&laquo; fl&uuml;sterte Polenz neben mir.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe den Soldatenrock ausgezogen um meiner
+&Uuml;berzeugung willen, &mdash; darnach gibt es f&uuml;r mich kein
+Opfer mehr, das ich ihr nicht leichten Herzens bringen
+k&ouml;nnte. Ich bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei
+das tiefste Bed&uuml;rfnis der Menschenseele, das religi&ouml;se,
+niederh&ouml;hnt und niedertrampelt &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_597" id="Page_597"></a></p>
+<p>&raquo;Das ist gelogen!&laquo; schrie eine Stimme ihm entgegen;
+er wurde noch um einen Schein blasser.</p>
+
+<p>&raquo;Ich l&uuml;ge nie,&laquo; dr&ouml;hnte es in den Saal. &raquo;Und ich
+bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei f&uuml;r eine
+gute Sache mit schlechten Waffen k&auml;mpft &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ein allgemeiner Tumult verschlang, was er noch sagte.
+&raquo;Bravo&laquo; &mdash; &raquo;sehr richtig&laquo; klangs von der einen Seite &mdash; &raquo;Pfui&laquo; &mdash; dr&ouml;hnte
+es langgedehnt aus dem Hintergrunde.
+Der Polizeileutnant griff nach dem Helm, Egidy
+stand regungslos wie eine Mauer und starrte auf die
+sich erschrocken hinausdr&auml;ngende Menge, die kleine N&auml;herin
+suchte sich vergebens Geh&ouml;r zu schaffen.</p>
+
+<p>Ein Mann, auf eine Kr&uuml;cke gest&uuml;tzt, wirre schwarze
+Haarstr&auml;hnen um gelbe, eingefallene Z&uuml;ge, brach sich in
+diesem Augenblick Bahn bis zur Trib&uuml;ne. &raquo;Genosse
+Reinhard, &mdash; Gott Lob&laquo;, die kleine N&auml;herin streckte ihm
+von oben die Hand entgegen, ein paar andere sprangen
+helfend herzu, und neben ihr stand er.</p>
+
+<p>&raquo;Genossen &mdash;&laquo; wie unter einen Zauberschlag schwieg
+alles, &mdash; der Polizeileutnant legte den Helm auf den
+Tisch, die sich ins Freie Schiebenden wandten sich um,
+und blieben stehen, in Egidys steinerne Ruhe kehrte das
+Leben zur&uuml;ck; &mdash; &raquo;es ist unser unw&uuml;rdig, eine Versammlung
+durch L&auml;rm zu st&ouml;ren, in der wir nichts als
+G&auml;ste sind. Noch weniger haben wir einen Grund, uns
+dar&uuml;ber aufzuregen, da&szlig; Herr von Egidy die Frage der
+Genossin Bartels ehrlich beantwortet hat. Mir war seine
+Antwort vielmehr h&ouml;chst interessant. Alle jene b&uuml;rgerlichen
+Ideologen, von den Ethikern an, die die Welt
+durch die Moral erobern wollen, bis zu den Christlichsozialen
+um Naumann w&uuml;rden uns eine &auml;hnliche haben
+<a name="Page_598" id="Page_598"></a>geben k&ouml;nnen. Und weil Sie so ehrlich sind, Herr von
+Egidy, &mdash;&laquo; er wandte sich mit einer kleinen Kopfneigung
+zu dem neben ihm stehenden, &raquo;darum lassen Sie sich auch
+unsere ehrliche Antwort gefallen: rechnen Sie nicht
+auf unsere Stimmen. Sie sind ein braver Mann &mdash; Sie
+m&ouml;gen allerlei brave Leute hinter sich haben, &mdash; aber
+unsere Sache bedarf solcher Kerle, wie wir sind &mdash; die
+den Dreschflegel und den Hammer &mdash; &#8250;die schlechten
+Waffen!&#8249; &mdash; zu f&uuml;hren gelernt haben, denen die Maschine
+die Glieder zerri&szlig;, &mdash;&laquo; er hob die Kr&uuml;cke wie ein Troph&auml;e &mdash; &raquo;an
+deren Leibern die Tuberkelbazillen fressen&laquo; &mdash; er
+reckte den mageren Arm in die H&ouml;he. &raquo;Neunzehnhundert
+Jahre haben wir gewartet, da&szlig; Eure christlichen
+Liebes- und Barmherzigkeitspredigten uns helfen m&ouml;chten, &mdash; jetzt
+ist unsere Geduld ersch&ouml;pft. Und wenn Euch
+unsere Waffen nicht ritterlich genug sind, &mdash; Ihr selbst
+seid daran schuld, da&szlig; wir sie brauchen m&uuml;ssen!&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>Die Augen des Redners weiteten sich, sie sahen ekstatisch
+in die Ferne, hinweg &uuml;ber die Menschen unter ihm, die
+Kr&uuml;cke fiel krachend zu Boden, und die Arme streckten
+sich aus. Still war's sekundenlang, man h&ouml;rte nur die
+eigenen Atemz&uuml;ge, &mdash; dann brach es los: &raquo;Hoch Genosse
+Reinhard&laquo; &mdash;, &raquo;Hoch die Sozialdemokratie&laquo; &mdash; &raquo;Nieder
+der Militarismus&laquo;, &mdash; und pl&ouml;tzlich vereinigten
+sich die durcheinanderschreienden Stimmen zu einem
+einzigen vollen Gesang: der Schritt heranr&uuml;ckender
+Massen, die &uuml;berw&auml;ltigende Einheit eines beherrschenden
+Gef&uuml;hls, die r&uuml;cksichtslose Kraft der Jugend lag
+darin.</p>
+
+<p>&raquo;Kommen Sie &mdash;&laquo; sagte Polenz leise. Wie aus
+einem Traume sah ich auf. Der Saal war schon halb leer.<a name="Page_599" id="Page_599"></a>
+Nur droben auf der Trib&uuml;ne stand Egidy noch mit der
+kleinen N&auml;herin.</p>
+
+<p>&raquo;Lassen Sie mich &mdash;&laquo; antwortete ich hastig und trat
+rasch auf die beiden zu. &raquo;Darf ich einmal zu Ihnen
+kommen?&laquo; &mdash; ganz zaghaft nur sprach ich dem jungen
+M&auml;dchen meine Bitte aus. Sie sah mich an, noch mit
+dem Glanz strahlender Freude auf den Z&uuml;gen: &raquo;Sicherlich!&laquo; &mdash; Und
+ich notierte ihre Adresse.</p>
+
+<p>Nicht schnell genug konnte ich zu Hause sein und lie&szlig;
+mir nicht die Zeit, Hut und Mantel abzulegen, um Georg
+zu erz&auml;hlen, was ich erlebt hatte. Er h&ouml;rte mich l&auml;chelnd
+an. &raquo;Was ist mein Liebling f&uuml;r ein feuriger Redner,&laquo;
+sagte er, als ich endlich schwieg.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wollte, ich w&auml;re es! Auf alle Trib&uuml;nen der
+Welt w&uuml;rde ich steigen und die steinernen Herzen warm
+machen und die Schlafenden aufr&uuml;tteln ...&laquo; Mit einem
+tiefen Seufzer warf ich mich in den Stuhl.</p>
+
+<p>&raquo;So versuch es doch einmal ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich sprang auf: &raquo;Meinst du?!&laquo;</p>
+
+<p>Schon am n&auml;chsten Morgen ging ich zu Martha
+Bartels. Weit drau&szlig;en im Osten wohnte sie. Durch
+zwei schmutzige Fabrikh&ouml;fe mu&szlig;te ich hindurch bis zu
+dem niedrigen H&auml;uschen mit der wackligen Holztreppe,
+die an einem Stall vorbei hinauf in ihre Wohnung
+f&uuml;hrte. Das Rattern der N&auml;hmaschine wies mir den
+Weg; eine laute gleichm&auml;&szlig;ig lesende M&auml;nnerstimme begleitete
+es. &raquo;... die Befreiung der Arbeiterklasse kann
+also nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein,&laquo; h&ouml;rte
+ich durch die T&uuml;re. Ein graub&auml;rtiger Alter &ouml;ffnete mir.
+&raquo;La&szlig; die Dame nur herein, Vater,&laquo; rief Martha
+Bartels aus dem Zimmer, &raquo;das ist sicher die Frau<a name="Page_600" id="Page_600"></a>
+Professor &mdash;&laquo; Mit ausgestreckter Hand kam sie mir
+entgegen.</p>
+
+<p>Ein freundlicher Raum wars, in den ich eintrat: auf
+den beiden Betten lagen rotgew&uuml;rfelt und glattgestrichen
+die Kissen, vor dem alten braunen Sofa mit dem sorgf&auml;ltig
+geflickten Bezug stand auf drei geschwungenen
+Beinen ein runder Tisch, auf dem nicht ein St&auml;ubchen
+sich zeigte. Nur um die Maschine am Fenster bauschte
+sich wei&szlig;e Leinwand, sonst herrschte peinlichste Ordnung
+&uuml;berall. Als einziger Schmuck prangten die Bilder von
+Marx und Lassalle an den W&auml;nden.</p>
+
+<p>Mit Fragen begann ich das Gespr&auml;ch; Vater und
+Tochter erg&auml;nzten einander im Erz&auml;hlen: wie er einst,
+als kleiner Schuhmachermeister, lange und hartn&auml;ckig
+den Kampf gegen die &uuml;berm&auml;chtige Fabrik gef&uuml;hrt habe,
+wie sie &mdash; fr&uuml;h mutterlos &mdash; schon als Schulkind mit
+verdienen mu&szlig;te und der kleine Haushalt &uuml;berdies auf
+sie allein angewiesen war.</p>
+
+<p>&raquo;Damals haderte ich mit dem Geschick,&laquo; sagte der
+Alte, &raquo;an den lieben Gott zu glauben hatte ich l&auml;ngst
+aufgeh&ouml;rt, und oft wu&szlig;t ich nicht, sollt ich den Fabrikanten
+erschlagen, oder lieber mit dem Kinde zusammen
+dem elenden Leben ein Ende machen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;In der Werkstatt, wo ich mit immer m&uuml;den Augen
+und einem Stumpfsinn, der mir bald alles gleichg&uuml;ltig
+machte, Knopfl&ouml;cher n&auml;hte, &mdash; Tag aus, Tag ein, vom
+grauen Morgen bis tief in die Nacht immer blo&szlig; Knopfl&ouml;cher! &mdash;&laquo;
+fuhr die Tochter fort &raquo;lernte ich einen
+B&uuml;gler kennen, der nahm mich zuerst in Versammlungen
+mit und steckte mir heimlich Zeitungen und Flugbl&auml;tter
+zu. Wie mir da die Augen aufgingen!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_601" id="Page_601"></a>Der Alte streichelte mit der runzligen Hand die Wange
+der Tochter. &raquo;Sehen Sie, und damit hat mir die Kleine
+das Leben gerettet! Wir waren auf einmal nicht mehr
+allein, und der M&uuml;he wert wars auch f&uuml;r uns arme
+Leute, zu leben! Hier in diesem Zimmer sind wir
+w&auml;hrend des Sozialistengesetzes oft genug mit den Genossen
+zusammen gekommen, und drau&szlig;en in der Fabrik,
+wo ich arbeitete &mdash; der Meisterhochmut war mir gl&uuml;cklich
+vergangen! &mdash;, und in der Werkstatt, wohin die
+Martha ging, haben wir ganz im stillen immer neue
+Freunde geworben.&laquo;</p>
+
+<p>Die Tochter lachte: &raquo;Jetzt gehts dem Vater eigentlich
+viel zu friedlich zu! Sie h&auml;tten ihn sehen sollen, wie
+er mit seinem ehrlichen Gesicht den Spitzeln eine Nase
+drehte und unsere Zeitungen &uuml;berall einzuschmuggeln verstand! &mdash; Na,
+lange dauerts nicht mehr, und er wird sich
+seiner alten K&uuml;nste erinnern m&uuml;ssen!&laquo;</p>
+
+<p>Und dann erfuhr ich von ihrer jetzigen T&auml;tigkeit: wie
+sie f&uuml;r ihre Gewerkschaft auf Agitationsreisen ging, wie
+sie in t&auml;glicher Kleinarbeit f&uuml;r die Partei die Kollegen
+und Kolleginnen zu gewinnen suchte, wie sie im Arbeiterinnenverein
+die Proletarierfrauen durch Vorlesen
+aus B&uuml;chern und Zeitschriften zu geistigen Interessen
+erzog.</p>
+
+<p>&raquo;Wo aber nehmen Sie blo&szlig; die Zeit und die Kenntnisse
+her?&laquo; frug ich mit steigendem Erstaunen. &raquo;Sie
+m&uuml;ssen doch wohl verdienen, wie ich sehe!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; mu&szlig; sie das und f&uuml;r Zwei sogar!&laquo; antwortete
+der Vater, &raquo;mich will sie durchaus nicht mehr in die
+Fabrik gehen lassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er ist mir zu n&ouml;tig!&laquo; unterbrach sie ihn. &raquo;Er liest
+<a name="Page_602" id="Page_602"></a>mir vor, wenn ich n&auml;he, und wenn wir Feierabend
+machen, brauch' ich ihn wieder. Er hat eine bessere
+Schulbildung als ich und erkl&auml;rt mir, was ich in
+unseren B&uuml;chern nicht verstehe.&laquo; Sie sah nach der
+Uhr: &raquo;Seien Sie nicht b&ouml;se &mdash; aber jetzt mu&szlig; ich fort, &mdash; wir
+tragen heut in unserem Bezirk Wahlflugbl&auml;tter
+aus &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen zusammen. Unterwegs erz&auml;hlte sie mir
+von ihrem Frauenverein, von den polizeilichen Verfolgungen,
+denen er ausgesetzt w&auml;re. &raquo;Sie sollten mal hinkommen,
+Frau Professor!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Freuden, wenn ich darf! Aber &mdash; bitte &mdash; nennen
+Sie mich nicht &#8250;Frau Professor&#8249;, Frauentitel sind mir zuwider,
+wenn sie nicht selbst erworben sind.&laquo;</p>
+
+<p>Sie blinzelte mich von der Seite an: &raquo;Ja &mdash; wie soll
+ich Sie sonst anreden &mdash; ich verschnappe mich am Ende
+noch mal und sage: Genossin!&laquo;</p>
+
+<p>Sie hatte ihr Ziel erreicht. Vor einer kleinen Kneipe
+str&ouml;mten die Menschen zusammen, Frauen und M&auml;nner,
+junge und alte Leute. Sie gr&uuml;&szlig;ten einander, wie lauter
+Freunde. Still trat ich beiseite. Wie sie alle fr&ouml;hlich
+waren und siegesbewu&szlig;t! Ein paar mi&szlig;trauische
+Blicke streiften mich, mit sp&ouml;ttischem Augenzwinkern
+gingen Arm in Arm ein paar M&auml;dchen an mir vor&uuml;ber.
+Und mit j&auml;hem Schmerzgef&uuml;hl empfand ich: da&szlig; ich hier
+eine Fremde war.</p>
+
+<p>Acht Tage sp&auml;ter begleitete ich Georg zum Wahllokal.
+W&auml;hrend er im Rollstuhl vor der T&uuml;r stand, streckten
+sich ihm von allen Seiten die H&auml;nde mit den Wahlzetteln
+entgegen. &raquo;Wir w&auml;hlen den Sozi,&laquo; sagte er
+laut und lustig, &raquo;meine Frau und ich!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_603" id="Page_603"></a>Aber der Rollstuhl ging nicht &uuml;ber die Stufen. Der
+Diener, der ihn schob, mu&szlig;te den Gel&auml;hmten hineintragen.
+Ein Auflauf Neugieriger entstand. Ich deckte
+rasch die schwarze Pelzdecke &uuml;ber den armen, schmalen
+K&ouml;rper &mdash; &raquo;Frauen raus!&laquo; sauste mich eine rauhe
+Stimme an, kaum da&szlig; ich den Fu&szlig; auf die Schwelle
+setzte. Ich ballte unwillk&uuml;rlich die F&auml;uste und schritt
+mit zur&uuml;ckgeworfenem Kopf an dem Schreier vorbei in
+den Saal, wo ich vor dem Tisch des Bureaus stehen
+blieb, bis Georg seinen Zettel in die Urne geworfen
+hatte.</p>
+
+<p>Da&szlig; wir uns innerlich mit wachsender Sicherheit zum
+Sozialismus bekannten, spiegelte sich in jeder Nummer
+unserer Zeitschrift wieder. Wir hatten des alten Bartels
+Selbstbiographie ver&ouml;ffentlicht und, dadurch angeregt,
+durch die sozialdemokratische Presse Aufforderungen zur
+Einsendung solcher Lebensbilder verbreiten lassen. Von
+allen Seiten kamen sie uns zu, und wir erwarteten
+Wunder von den Folgen der in ihrer Einfachheit doppelt
+ersch&uuml;tternden Bekenntnisse. Aber statt dessen liefen aus
+den Mitgliederkreisen der Ethischen Gesellschaft Klagen
+um Klagen ein &uuml;ber den &raquo;aufreizenden, unethischen Ton&laquo;,
+den wir anschl&uuml;gen, und Professor Seefried, Georgs
+alter Gegner, erschien in Berlin, um durch einen &ouml;ffentlichen
+Vortrag die politische Neutralit&auml;t der Gesellschaft
+aufs neue scharf zu betonen und sich in ihrem Namen
+gegen die &raquo;einer h&ouml;heren ethischen Welt- und Lebensauffassung
+widerstreitenden Ideen des Kollektivismus&laquo;
+zu erkl&auml;ren. Eine heftige Debatte in unserer Zeitschrift
+schlo&szlig; sich daran; und in den Sitzungen und Versammlungen
+der Gesellschaft traten die tiefen geistigen Gegen<a name="Page_604" id="Page_604"></a>s&auml;tze
+zwischen Sozialisten und Antisozialisten trotz aller
+Aufrechterhaltung ethischer Formen immer deutlicher
+hervor. Ich beteiligte mich bald genug nur aus R&uuml;cksicht
+auf Georgs W&uuml;nsche an den Vereinsversammlungen.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen uns vor dem zweisamen Egoismus h&uuml;ten,
+Kindchen,&laquo; mahnte er oft; &raquo;das hie&szlig;e den Frieden und
+die geistige Eintracht unseres pers&ouml;nlichen Lebens h&ouml;her
+stellen, als unsere Sache.&laquo;</p>
+
+<p>Und so mu&szlig;t ich denn so manchen Abend opfern und
+kam doch fast immer mit einem Gef&uuml;hl peinlicher Leere
+nach Hause. Gearbeitet wurde, &mdash; zweifellos. Da war
+eine kluge, warmherzige Frau, die eine Auskunftsstelle f&uuml;r
+Bed&uuml;rftige und Verlassene gegr&uuml;ndet hatte und der Sorge
+f&uuml;r die vielen Fragenden all ihre Zeit opferte; da war
+eine andere, die voll tiefen Erbarmens Tag aus, Tag ein
+denen nachging, die eigene Leidenschaft und m&auml;nnliche
+L&uuml;sternheit in des Lebens tiefste Abgr&uuml;nde ri&szlig;; eine Gruppe
+gab es, die zu einer k&uuml;nftigen Volksbibliothek die B&uuml;cher
+St&uuml;ck f&uuml;r St&uuml;ck m&uuml;hselig zusammentrug. Und Reden
+wurden gehalten, zu Tagesfragen Stellung genommen,
+und manch ein Schwankender sicherlich auf neue Wege
+gef&uuml;hrt.</p>
+
+<p>Aber was galt das alles mir? Entsprach dieser Verein
+mit seinen paar hundert Mitgliedern jener gro&szlig;en Bewegung,
+wie ich sie erwartet hatte? Vergebens erinnerte
+mich Georg daran, da&szlig; wir im ersten Anfang unserer
+Entwickelung st&uuml;nden. Mir kam es vor, als ob die mit
+vielem Eifer ergriffene praktische Arbeit innerhalb der
+Gesellschaft den gro&szlig;en starken Strom der Idee in
+hundert kl&auml;gliche Wasserleitungen teile, deren jede grade
+nur ausreichte, ein paar d&uuml;nne S&uuml;ppchen zu kochen.</p>
+
+<p><a name="Page_605" id="Page_605"></a>Oder fehlte es unserer Sache nur an den richtigen
+Menschen? Unsere Zeitschrift und unser Haus wurden
+allm&auml;hlich der Mittelpunkt, um den sich scharte, was
+unseres Geistes war. &raquo;Eine gef&auml;hrliche Nebenregierung!&laquo;
+hatte <em class="antiqua">Dr.</em> Jacob mir einmal mit sauers&uuml;&szlig;em L&auml;cheln gesagt, &mdash; derselbe
+<em class="antiqua">Dr.</em> Jacob, der, wie mir dienstfertige
+Freunde berichteten, jedem anvertraute, da&szlig;
+Fr&auml;ulein von Kleve den Professor von Glyzcinski nur
+geheiratet h&auml;tte, um eine Rolle zu spielen.</p>
+
+<p>Selten nur waren wir nachmittags an unserem Teetisch
+allein. Georgs Beziehungen zu den Gelehrten des
+Auslands zogen uns G&auml;ste aus aller Herren L&auml;ndern zu;
+Amerikaner und Engl&auml;nder fehlten nie; aber auch
+Russen, Rum&auml;nen und Japaner fanden sich ein: Studenten
+und Studentinnen, die hei&szlig;hungrig in wenigen
+Monden Deutschlands ganze Kultur in sich aufzunehmen
+verlangten, Professoren, die dem alten Witzblattypus in
+nichts mehr glichen, f&uuml;r die das Leben Wissenschaft und
+die Wissenschaft Leben war.</p>
+
+<p>Ein geistvoller Kopf, mit den Spuren mancher S&auml;belmensur
+auf den Z&uuml;gen, tauchte h&auml;ufig zwischen ihnen
+auf: der des Sozialdemokraten Sch&ouml;nlank. Niemand
+verstand wie er, die Ideen der Partei darzustellen und
+zu verteidigen, und stets umgab ihn eine aufmerksame
+Zuh&ouml;rerschaft. Auch Egidy kam, und Martha Bartels
+und ihr Vater. Eines Tages brachte sie sogar den
+lahmen Reinhard mit, den Professor Tondern, unser
+sozialpolitisch am meisten links stehendes Vorstandsmitglied,
+sofort mit Beschlag belegte, um mit der Gewerkschaftsbewegung
+F&uuml;hlung zu gewinnen. Auch der
+Leiter der Neuen Freien Volksb&uuml;hne war ein h&auml;ufiger<a name="Page_606" id="Page_606"></a>
+Gast, und manch ein junger Theologe, voll ehrlicher
+Begeisterung f&uuml;r die neuen Aufgaben, die der christlich-soziale
+Kongre&szlig; den Vertretern der Kirche stellte, fand
+den Weg zu uns. Bertha von Suttner erschien, sobald
+sie in Berlin war, beseelt von jenem strahlenden Glauben
+an die Sache, der das Kennzeichen geborener Reformatoren
+ist, und &uuml;ber den nur engherzige Alltagsleute
+l&auml;cheln. Denselben heiteren Optimismus, der
+die ganze Atmosph&auml;re in starke Schwingungen zu versetzen
+scheint, brachte Frances Willard in unseren Kreis,
+die tapfere Amerikanerin, die auf dem Feldzug gegen
+Laster und Not entdeckt hatte, da&szlig; ihrem Geschlecht zu
+seiner Durchf&uuml;hrung die Waffen fehlten, und die nun
+mit einer Energie ohne Gleichen den Gedanken des
+Frauenstimmrechts von einem Ende der Welt zum anderen
+trug.</p>
+
+<p>So verschiedenartig die Menschen waren, die &uuml;ber den
+dunkeln Hof und die finstere Treppe den Weg in unsere
+hellen Zimmer fanden, &mdash; zweierlei war ihnen allen
+gemeinsam: die &Uuml;berzeugung, da&szlig; unsere Welt sich das
+Lebensrecht verscherzt habe, und die Kraft, die Welt
+der Zukunft mit der Hingabe des ganzen Lebens aufzubauen.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das nicht recht eigentlich unsere Ethische Gesellschaft?&laquo;
+sagte Georg eines Tages, als unsere G&auml;ste all
+ihre Reformpl&auml;ne und Umsturzideen miteinander ausgetauscht
+hatten und im Rausch der eigenen Begeisterung
+bis zum sp&auml;ten Abend bei uns geblieben waren.
+&raquo;Von allen Seiten bohren sie schon den Felsen an, der
+unser Nordland vom Zukunftss&uuml;den trennt!&laquo; Er strahlte
+wieder wie ein Kind.</p>
+<p><a name="Page_607" id="Page_607"></a></p>
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte auch bohren, Georg!&laquo; meinte ich &mdash; eine
+tiefe Unzufriedenheit mit mir selbst hatte mich innerhalb
+dieses Kreises selbst&auml;ndig schaffender Menschen ergriffen &mdash;,
+&raquo;nicht immer blo&szlig; nachschleichen, wo die anderen schon
+den ersten Schritt getan haben.&laquo; Schon l&auml;ngst besch&auml;ftigte
+mich der Gedanke, da&szlig; die Frauen vor allem
+berufen seien, Tr&auml;gerinnen der sozialen Bewegung zu
+werden, die notwendig zum Sozialismus f&uuml;hren m&uuml;sse.</p>
+
+<p>&raquo;Unsere politische Rechtlosigkeit, unsere wirtschaftliche
+Abh&auml;ngigkeit, unsere soziale Unterdr&uuml;ckung stellt uns auch
+ohne unser Wissen und Wollen auf die Seite aller Entrechteten.
+Unsere m&uuml;tterlichen Empfindungen machen
+uns &uuml;berdies hellsichtiger f&uuml;r Not und Elend. H&auml;tten
+wir die Frauen, &mdash; wir h&auml;tten die Welt!&laquo; Ich lief
+aufgeregt im Zimmer umher &mdash; &raquo;das ist eine Aufgabe,
+die sich der M&uuml;he lohnt &mdash; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und die meine Alix erf&uuml;llen kann,&laquo; unterbrach mich
+Georg, mir beide H&auml;nde entgegenstreckend.</p>
+
+<p>Gleich am n&auml;chsten Tage lie&szlig; ich mich in die Vortragsliste
+der Ethischen Gesellschaft einzeichnen. Da es immer
+an Rednern fehlte, wurde meine Anmeldung mit Freuden
+begr&uuml;&szlig;t. Und nun ging ich an die Vorbereitung. Durch
+amerikanische und englische Frauenzeitschriften war ich
+&uuml;ber den Stand der Bewegung im Ausland vollkommen
+orientiert; der &raquo;Vorw&auml;rts,&laquo; die Arbeiterinnenzeitung, die
+Versammlungen des Arbeiterinnenvereins, die ich mit
+Martha Bartels besuchte, hatten mir ein Bild von der
+Lage der Proletarierinnen, ihren W&uuml;nschen und ihren
+Bestrebungen gegeben; nur von der deutschen Frauenbewegung
+wu&szlig;te ich noch nicht viel.</p>
+
+<p>Seit einem halben Jahrhundert k&auml;mpfte sie um die<a name="Page_608" id="Page_608"></a>
+Er&ouml;ffnung b&uuml;rgerlicher Berufe, um h&ouml;here Bildung.
+Sie k&auml;mpfte?! Ach nein; sie hatte in Vereinen und
+Vereinchen Resolutionen und Petitionen verfa&szlig;t, &mdash; aber
+die Welt au&szlig;erhalb ihrer Kreise wu&szlig;te nichts von ihr.
+Ich las die Brosch&uuml;ren von Helma Kurz; ich besuchte
+Frau Vanselow, die ich bei Egidy kennen gelernt
+hatte, und deren Ruf, von allen Frauenrechtlerinnen
+die radikalste zu sein, sie mir sympathisch machte. Aber
+die Tendenzen ihres Vereins und seines kleinen Organs
+waren keine anderen als die der Kurz.</p>
+
+<p>&raquo;Ich begreife nicht, wie Sie bei solchen Forderungen
+stehen bleiben k&ouml;nnen!&laquo; rief ich, als Frau Vanselow mir
+ihre Prinzipien auseinandersetzte. &raquo;Und wenn wir schon
+Pastoren, Professoren und Advokaten werden k&ouml;nnen,
+was haben wir dann besonderes, als einige Berufsphilister
+und Bildungsproleten mehr! Damit ist die
+Frauenfrage ebenso wenig gel&ouml;st, wie sie etwa bei den
+Arbeiterinnen gel&ouml;st ist, die l&auml;ngst das Recht haben, zu
+schuften wie die M&auml;nner.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin ganz Ihrer Meinung &mdash; ganz und gar &mdash;&laquo;
+nickte Frau Vanselow eifrig und hob die schweren Lider
+von den ber&uuml;hmt sch&ouml;nen Augen &mdash; &raquo;aber wir m&uuml;ssen vorsichtig &mdash; sehr
+vorsichtig sein, um zun&auml;chst nur einzelne Konzessionen
+zu erringen. Sie sind jung, &mdash; k&auml;mpfen Sie erst
+so lange Jahre wie ich, meine liebe Freundin, und Sie
+werden einsehen, da&szlig; wir Frauen nur Schritt f&uuml;r Schritt
+vorgehen d&uuml;rfen. Ich besonders habe schwer zu ringen &mdash; niemand
+versteht mich &mdash; meine Vereinsdamen sind die
+&Auml;ngstlichkeit selbst &mdash;&laquo;, sie griff nach meiner Hand und behielt
+sie in der ihren &mdash; &raquo;wie froh w&auml;re ich, in Ihnen eine
+frische Hilfskraft gewinnen zu k&ouml;nnen!&laquo; Ich err&ouml;tete
+<a name="Page_609" id="Page_609"></a>erfreut; hier bot sich mir eine neue Gelegenheit, um zu
+wirken. &raquo;Ich danke Ihnen f&uuml;r Ihr Vertrauen,&laquo; antwortete
+ich, &raquo;aber ehe ich mich Ihnen verpflichte, sollten
+Sie erst abwarten, was ich leisten kann.&laquo;</p>
+
+<p>Mit steigendem Eifer arbeitete ich an meinem Vortrag.
+Ich lernte ihn Satz f&uuml;r Satz auswendig. Am
+Abend vor der Versammlung war &raquo;Generalprobe&laquo; vor
+Georg als meinem einzigen Zuh&ouml;rer. &raquo;Wenn ich mich
+schon vor dir so f&uuml;rchte, wie soll das blo&szlig; morgen
+werden!&laquo; sagte ich, und das Papier zitterte in meinen
+H&auml;nden. Da klingelte es, &mdash; ich h&ouml;rte eine Stimme,
+die mir in diesem Augenblick gespannter Erregung die
+Tr&auml;nen in die Augen trieb: mein Vater! Ich hatte
+seine R&uuml;ckkehr noch nicht erwartet und nun stand er
+vor mir &mdash; sehr gealtert, ganz bla&szlig;, die H&auml;nde schwer
+auf den Stock st&uuml;tzend &mdash;, wie an den Boden gewurzelt.</p>
+
+<p>&raquo;Papa!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein liebes Herzenskind!&laquo; Ich lag in seinen Armen.
+Und dann nahm er meinen Kopf zwischen seine H&auml;nde
+und sah mich an. &raquo;Wie rosig du aussiehst &mdash; und wie &mdash; wie
+gl&uuml;cklich!&laquo; Mit einer raschen Bewegung n&auml;herte er sich
+Georg und reichte ihm die Hand. &raquo;Verzeiht mir, Kinder,
+verzeiht! &mdash; Und du, hab Dank, tausend Dank, da&szlig; ich
+meine Alix so wiederfinde!&laquo; Er konnte sich nicht trennen;
+jedes Bild an der Wand, jeder Zimmerwinkel mu&szlig;te
+einmal und noch einmal besichtigt werden. &raquo;Wie h&uuml;bsch
+und friedlich es bei Euch ist!&laquo; Er legte mit einem
+Seufzer die Hand &uuml;ber die Augen. &raquo;Da werdet Ihr
+mich so leicht nicht mehr los werden!&laquo;</p>
+
+<p>Von allem erz&auml;hlte er, was ihn in den Monaten seit
+unserer Trennung besch&auml;ftigt hatte, und verga&szlig; in der<a name="Page_610" id="Page_610"></a>
+Lebhaftigkeit rasch, wen er vor sich sah: &raquo;Diese Rasselbande,
+die die Milit&auml;rvorlage ablehnte, &mdash; und dann
+diese infamen Wahlen &mdash; &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>Wir schwiegen, aber ein harter Zug trat auf Georgs
+Gesicht. Er r&auml;usperte sich vernehmbar. Der Vater stockte.
+&raquo;Ach soo &mdash;&laquo; sagte er gedehnt, bi&szlig; sich heftig auf die
+Lippen und stand auf. Ich begleitete ihn hinaus. An
+der T&uuml;re hielt er meine Hand noch einmal fest: &raquo;Auf allen
+Litfa&szlig;s&auml;ulen steht dein Name &mdash; mich hat das nicht
+wenig entsetzt &mdash; du wirst kaum auf mich rechnen in der
+Versammlung &mdash; Mama wird mir berichten. &mdash; Gute
+Nacht, mein Kind.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Abend darauf trat ich in den hellen, dicht gef&uuml;llten
+Saal des Langenbeck-Hauses. Einen
+Augenblick lang schien die Erde zu schwanken,
+die Lichter tanzten einen wahnsinnigen Ringelreihen, und
+mir war, als m&uuml;&szlig;ten die vielen Menschen auf den amphitheatralisch
+hoch aufsteigenden B&auml;nken wie eine Lawine
+auf mich niederst&uuml;rzen. Da fiel mein Blick auf Georg:
+seine strahlenden Augen ruhten fest auf mir, und ein
+Gef&uuml;hl sicherer Ruhe &uuml;berkam mich. Ich sprach zuerst
+nur f&uuml;r ihn. Allm&auml;hlich aber str&ouml;mte etwas mir entgegen
+wie ein lebendig gewordenes Verstehen, &mdash; ich
+f&uuml;hlte die Menschen, die unter meinen Worten<em class="spaced"> ein</em>
+Mensch geworden waren, &mdash; mit<em class="spaced"> einem</em> klopfenden
+Herzen,<em class="spaced"> einem</em> horchenden Verstand.</p>
+
+<p>&raquo;Jedes St&uuml;ck unserer Kleidung, von der Leinwand an
+bis zu dem Seidenkleid, von den N&auml;geln unserer Stiefel
+bis zu dem feinen Leder unserer Handschuhe k&ouml;nnte von
+<a name="Page_611" id="Page_611"></a>hohl&auml;ugigen, m&uuml;den Frauen, von blassen um ihre Jugend
+betrogenen M&auml;dchen qualvolle Leidensgeschichten erz&auml;hlen.
+Der hohe Spiegel, der das Bild der sch&ouml;nen, gl&uuml;cklichen
+Frau wiederstrahlt, hat vielleicht ein keimendes Leben
+vernichtet ... Und der Damast, der unsere Tafeln deckt, &mdash; Leopold
+Jakoby singt von ihm: &#8250;Daraus hervor
+grauenhaft &mdash; das Gespenst des Hungers grinst mich
+an &mdash; &uuml;ber den Tisch ...&laquo;</p>
+
+<p>Ein Aufseufzen ging durch den Saal wie eine schwere
+Woge, die mich trug &mdash; mich empor hob &mdash; hoch &mdash; immer
+h&ouml;her, so da&szlig; meine Stimme &uuml;ber alle hinweg
+in die Ferne drang.</p>
+
+<p>&raquo;... die Prostitution ist das einzige Privilegium der
+Frau ... Ein M&auml;dchen darf, solange es minorenn ist,
+ohne die Einwilligung ihres Vaters nicht heiraten, aber
+es darf sich preisgeben, ohne da&szlig; sein Vater es daran
+hindern kann. Die Frau darf &mdash; bei uns in Deutschland! &mdash; nicht
+Medizin studieren, weil man f&uuml;r ihre Weiblichkeit
+so z&auml;rtlich besorgt ist und ihre Sittlichkeit h&uuml;ten
+will, aber sie darf sich einen Gewerbeschein verschaffen,
+der sie berechtigt, sich und andere physisch und moralisch
+zugrunde zu richten. Sie darf &mdash; bei uns in Deutschland! &mdash; an
+keiner &ouml;ffentlichen Wahl sich beteiligen,
+aber sie darf von ihrem durch den Verkauf ihres K&ouml;rpers
+schm&auml;hlich erworbenen Geld dem Staate Abgaben
+zahlen ...&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt war es der Sturm, der von dr&uuml;ben mir entgegenschlug, &mdash; der
+Sturm der Emp&ouml;rung, und mein war die
+Macht, ihn zu lenken, wo es Ruinen einzurei&szlig;en, d&uuml;rre
+B&auml;ume zu st&uuml;rzen galt!</p>
+
+<p>&raquo;... Was tun? fragen wir mit dem gro&szlig;en russi<a name="Page_612" id="Page_612"></a>schen
+Dichter, dessen Werk nur ein Ausdruck des Gef&uuml;hls
+von Hunderttausenden ist. Wir werden nicht mehr petitionieren,
+sondern fordern, uns nicht mehr hinter den verschlossenen
+T&uuml;ren unserer Vereine &uuml;ber unsere frommen
+W&uuml;nsche unterhalten, sondern auf den offenen Markt
+hinaustreten und f&uuml;r ihre Erf&uuml;llung k&auml;mpfen, gleichg&uuml;ltig,
+ob man mit Steinen nach uns wirft ...&laquo;</p>
+
+<p>Brausender Beifall unterbrach mich, &mdash; ich sah nur
+Georg, der weit vorgebeugt in seinem Rollstuhl sa&szlig; und
+die Augen nicht von mir lie&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;... Aber was wir auch fordern m&ouml;gen zugunsten
+unseres Geschlechts, das die wirtschaftliche Entwicklung
+aus dem Frieden des Hauses hinaus in den
+Kampf ums Dasein trieb, &mdash; man wird uns mit Phrasen
+und kl&auml;glichen Pflastern f&uuml;r unsere Wunden abspeisen,
+solange die politische Macht uns fehlt ...&laquo;</p>
+
+<p>Erneuter, dr&ouml;hnender Beifall, &mdash; aber von irgendwo
+her mischte sich ein giftiger, zischender Laut hinein.</p>
+
+<p>&raquo;... Von der geistigen Inferiorit&auml;t der Frau
+h&ouml;re ich gro&szlig;e und kleine Leute sprechen, die, darauf
+gest&uuml;tzt, unsere Forderung der politischen Gleichberechtigung
+glauben ablehnen zu d&uuml;rfen. Aber erst wenn die
+Frauen ebenso viele Jahrhunderte lang wie die M&auml;nner
+die Hilfe der Wissenschaften, die Schulung des Lebens
+und den Sporn des Ruhmes genossen haben werden,
+wird es an der Zeit sein, zu fragen, wie es mit ihrem
+Verstande steht. Das weibliche Geschlecht &mdash; so wirft
+man weiter ein &mdash; habe noch kein Genie hervorgebracht.
+Hat man bei den Negern Amerikas auf das Genie gewartet,
+ehe man ihnen politische Rechte gab? Hat man
+ihre Gew&auml;hrung beim Mann von einer Pr&uuml;fung seiner<a name="Page_613" id="Page_613"></a>
+Geisteskr&auml;fte abh&auml;ngig gemacht?... Sie k&ouml;nnen der
+Wehrpflicht nicht gen&uuml;gen, darum kommt den Frauen
+das Stimmrecht nicht zu, lautet das letzte Argument der
+in die Enge getriebenen Gegner. Ich aber frage: der
+Mann, der sein Leben vor dem Feinde in die Schanze
+schl&auml;gt, und die Frau, die mit Gefahr ihres Lebens dem
+Staate die B&uuml;rger gebiert &mdash; haben sie nicht die gleiche
+Berechtigung &uuml;ber das Wohl und Wehe des Vaterlands zu
+entscheiden? Jede drei&szlig;igste Frau stirbt an diesem ihrem
+nat&uuml;rlichen Beruf, und sie wird trotz aller Fortschritte
+der Wissenschaft auch dann noch in Lebensgefahr schweben,
+wenn der V&ouml;lkermord l&auml;ngst der Erinnerung angeh&ouml;ren
+wird ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte geendet &mdash; mir war, als vers&auml;nke ich in
+einem vom Orkan gepeitschten Ozean. Es dunkelte mir
+vor den Augen &mdash; ich f&uuml;hlte H&auml;ndedr&uuml;cke &mdash; sah in
+hundert unbekannte Gesichter, &mdash; &mdash; vor all diesen fremden
+Menschen hatte ich eben gesprochen?! Wie war das nur
+m&ouml;glich gewesen?! &mdash; Meine Mutter stand auf einmal
+vor mir, mit hei&szlig;em, erregten Gesicht &mdash; meine Schwester
+umarmte mich st&uuml;rmisch. &mdash; An der T&uuml;r dr&auml;ngte sich
+Martha Bartels durch die Menge, &mdash; ich f&uuml;hlte nur,
+wie sich ihre hei&szlig;en Finger schmerzhaft fest um die
+meinen pre&szlig;ten. Endlich &mdash; endlich sah ich Georg!
+Was galten mir die anderen alle, &mdash; von ihm allein
+erwartete ich die Wahrheit: seine Augen waren feucht, &mdash; er
+beugte den Kopf &uuml;ber meine Hand und k&uuml;&szlig;te sie.</p>
+
+<p>Die Menschen hatten sich verlaufen. Fast unbemerkt
+traten wir in die stille, dunkle Ziegelstra&szlig;e, und leise
+rollten die R&auml;der des Fahrstuhls &uuml;ber das Pflaster.
+An einer Stra&szlig;enecke legte sich mir eine Hand auf die<a name="Page_614" id="Page_614"></a>
+Schulter. Erschrocken wandte ich den Kopf: Mein
+Vater stand vor uns. &raquo;Ich habs zu Hause nicht ausgehalten, &mdash; und
+nun lie&szlig; ich all deine Zuh&ouml;rer Revue
+passieren. Wie stolz bin ich auf deinen Erfolg!&laquo; Und
+er ging den ganzen langen Weg durch die Karlstra&szlig;e
+und den nachtdunkeln Tiergarten mit uns.</p>
+
+<p>Diese Nacht schlief ich nicht: die alten wachen
+Kindertr&auml;ume umgaukelten mich. Strahlte nicht auf
+meiner Fahne, wie auf der Johannas von Orleans, das
+Bild der Mutter des Menschen? Heute hatte ich sie
+entfaltet, &mdash; im Sturme w&uuml;rde ich sie zum Siege f&uuml;hren!</p>
+
+<p>Als mir Professor Tondern am n&auml;chsten Tage sp&ouml;ttisch
+von der &raquo;Premieren-Publikums-Begeisterung&laquo; sprach, &raquo;an
+deren Feuer sich kaum ein Nachtlicht anz&uuml;nden l&auml;&szlig;t&laquo;,
+empfand ich seine Bemerkung nur als Ausflu&szlig; seiner
+pessimistischen Weltanschauung. Georg best&auml;rkte mich
+darin.</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Unglauben an die Menschennatur l&auml;hmt Ihre
+Tatkraft,&laquo; sagte er ihm.</p>
+
+<p>&raquo;Und Ihr weltfremder Idealismus wird zwar nicht
+Sie, wohl aber Ihre Frau in einem Meer von Entt&auml;uschung
+untergehen lassen,&laquo; antwortete er &auml;rgerlich und
+fuhr sich nerv&ouml;s mit allen zehn Fingern durch die langen,
+roten Haare.</p>
+
+<p>&raquo;Warum halten Sie mich allein f&uuml;r gefeit?&laquo; frug
+Georg l&auml;chelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Weil Sie vom Frieden Ihres Zimmers aus die Welt
+betrachten &mdash; und Ihre Frau mit beiden F&uuml;&szlig;en zugleich
+mitten in den Strudel springt &mdash;&laquo;, Professor Tondern
+ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. &raquo;Weil Ihnen
+gegen&uuml;ber alle b&ouml;sen Triebe der lieben N&auml;chsten sich in
+<a name="Page_615" id="Page_615"></a>den dunkelsten Winkel verkriechen &mdash; Verleumdungssucht,
+Ehrgeiz, Neid &mdash; und sie Ihrer Frau um so z&auml;hnefletschender
+an die Gurgel springen ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah ihm fest in die Augen: &raquo;Sie w&uuml;rden so nicht
+sprechen, wenn Sie nicht gewichtige Gr&uuml;nde h&auml;tten. &mdash; Trotzdem:
+ich will &mdash; ich darf nicht Ihrer Ansicht sein!
+Auf meinem Glauben an die Menschen beruht meine
+Kraft.&laquo;</p>
+
+<p>Er nagte nerv&ouml;s an der Unterlippe. &raquo;Glauben Sie
+an die Sache, &mdash; das w&auml;re besser f&uuml;r Sie und uns!&laquo;</p>
+
+<p>Frau Vanselows Besuch unterbrach unser Gespr&auml;ch.
+Sie hatte nicht Worte genug, um die Gr&ouml;&szlig;e meines Erfolgs
+zu schildern. &raquo;Und nun d&uuml;rfen Sie sich uns nicht mehr
+entziehen,&laquo; sie richtete ihre feucht gewordenen Augen mit
+einem Ausdruck z&auml;rtlichen Flehens auf mich, &raquo;sie m&uuml;ssen
+ihren Vortrag in unserem Verein wiederholen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, verehrte Frau!&laquo; Meine Energie lie&szlig; mich
+fast erschrecken. &raquo;Ich wiederhole weder diesen Vortrag,
+noch spreche ich vor Vereinsmitgliedern. Veranstalten Sie
+eine Volksversammlung! Wir m&uuml;ssen die gewinnen, die
+noch nicht die unseren sind, &mdash; wir m&uuml;ssen vor der
+breitesten &Ouml;ffentlichkeit die Forderung des Frauenstimmrechts
+erheben!&laquo;</p>
+
+<p>Sie starrte mich entgeistert an: &raquo;Eine Volksversammlung?!
+Aber das ist ja &mdash; das ist ja &mdash; sozialdemokratisch!&laquo;
+Es bedurfte jedoch nur eines kurzen Zuredens,
+an dem Georg sich lebhaft beteiligte, um sie zu gewinnen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben ganz und gar meine Ansicht ausgesprochen,
+mein teuerster Herr Professor, und der Verein Frauenrecht
+wird es sich nicht entgehen lassen, auch in diesem
+Fall an der Spitze zu schreiten! &mdash; Aber nicht wahr &mdash; meine
+<a name="Page_616" id="Page_616"></a>liebe junge Freundin &mdash;, Sie werden ihre
+W&uuml;nsche vor unserem Vorstand selbst vertreten?&laquo;</p>
+
+<p>Ich versprach ihr, was sie wollte, und wandte mich,
+als sie fort war, mit einem triumphierenden &raquo;Nun?!&laquo; an
+Tondern. Er fuhr, wie erschrocken, aus seiner Schweigsamkeit
+auf: &raquo;Erlassen Sie mir die Antwort! Sonst
+entdecken Sie am Ende noch Ihre Seelenverwandtschaft
+mit S.&nbsp;M., und verlangen von dem N&ouml;rgler, da&szlig; er
+den Staub von seinen Pantoffeln sch&uuml;ttele!&laquo; Und mit
+&uuml;berst&uuml;rzter Hast empfahl er sich.</p>
+
+<p>Frau Vanselow f&uuml;hrte mich im Vorstand des Vereins
+Frauenrecht ein: &raquo;Sie werden sich mit mir freuen, meine
+Damen, da&szlig; es mir gelungen ist, diese junge vielversprechende
+Kraft gerade unserem Verein gewonnen zu
+haben.&laquo; Die Damen begr&uuml;&szlig;ten mich mit neugierig-k&uuml;hler
+Reserviertheit. Ich war doch wieder in recht
+beklommener Stimmung. All diese Frauen, die seit
+Jahrzehnten in der Bewegung standen, die an Wissen,
+an Erfahrungen, an Verdiensten reich waren, sollte ich &mdash; ein
+Neuling auf allen Gebieten &mdash; meinem Willen
+gef&uuml;gig machen!</p>
+
+<p>Aber je &ouml;fter ich mit ihnen zusammenkam &mdash; und
+es bedurfte zahlreicher Sitzungen, um nur um
+kleine Schritte vorw&auml;rts zu kommen &mdash;, desto mehr
+erstaunte ich. Es war, als ob der Verein um ihr
+Denken und Streben eine Mauer gezogen h&auml;tte. Von
+dem, was jenseits lag, wu&szlig;ten sie nichts, und nur widerstrebend
+lie&szlig;en sie sich von mir an einen Ausguck ziehen,
+von wo aus sie den Feminismus im Ausland, seine gro&szlig;en
+K&auml;mpfe und Siege und den Stand der Stimmrechtsbewegung
+&uuml;berschauen konnten.</p>
+<p><a name="Page_617" id="Page_617"></a></p>
+<p>&raquo;Das ist alles ganz sch&ouml;n und gut, aber nichts f&uuml;r
+uns deutsche Frauen,&laquo; meinte kopfsch&uuml;ttelnd ein rundliches,
+bebrilltes Pers&ouml;nchen, dessen Doktortitel sie mir
+&auml;u&szlig;erst interessant erscheinen lie&szlig;; &raquo;wir w&uuml;rden das
+Wichtigste gef&auml;hrden: die endliche Zulassung der deutschen
+Frauen zum Medizinstudium, wenn wir so bedenkliche
+Fragen wie die politischer Rechte ber&uuml;hren wollten!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und unser Verein, der sowieso schwer genug k&auml;mpfen
+mu&szlig;, w&uuml;rde zweifellos seine einflu&szlig;reichen und opferwilligsten
+Mitglieder verlieren,&laquo; jammerte ein d&uuml;rre
+alte Jungfer.</p>
+
+<p>&raquo;An das Gef&auml;hrlichste denken Sie nat&uuml;rlich zuletzt,
+meine Damen,&laquo; f&uuml;gte eine Dritte hinzu und setzte eine
+geheimnisvoll-wissende Miene auf. &raquo;Angesichts der
+jetzigen Str&ouml;mung innerhalb der Regierungskreise w&uuml;rde
+es unseren Verein politisch anr&uuml;chig machen und der
+Gefahr der Aufl&ouml;sung aussetzen, wenn wir &ouml;ffentlich eine
+sozialdemokratische Forderung aufstellen w&uuml;rden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So lassen Sie doch den Verein zugrunde gehen; sein
+M&auml;rtyrertum wird nur der gro&szlig;en Sache n&uuml;tzen!&laquo; rief
+ich ungeduldig. Mitleidiges L&auml;cheln, mi&szlig;billigendes
+Kopfsch&uuml;tteln waren die Antwort. Es blieb bei der
+Ablehnung, das letzte Argument war ausschlaggebend
+gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;So werde ich versuchen, Helma Kurz und ihren
+Verein zu gewinnen.&laquo; Ohne jeden Nebengedanken hatte
+ich ausgesprochen, was mir eben durch den Kopf gegangen
+war.</p>
+
+<p>Frau Vanselow, die mir bisher nur vielsagend-melancholische
+Blicke zugeworfen hatte, war aufgesprungen.
+&raquo;Helma Kurz?! &mdash; Niemals!&laquo; rief sie. &raquo;Das, meine<a name="Page_618" id="Page_618"></a>
+Damen, werden Sie nicht zugeben!&laquo; Eine erregte, von
+allen zugleich gef&uuml;hrte Debatte entspann sich. Ihr Resultat
+war, da&szlig; der Verein als solcher sich statutengem&auml;&szlig;
+f&uuml;r die Stimmrechtsfrage nicht engagieren k&ouml;nne,
+da&szlig; er jedoch unter der Hand das Arrangement und
+die Kosten einer &ouml;ffentlichen Versammlung und seine
+Vorsitzende ihre Leitung &uuml;bernehmen wolle.</p>
+
+<p>Ich mu&szlig;te mich nur noch verpflichten, meinen Vortrag
+vorher <em class="antiqua">in extenso</em> der Zensur des Vorstandes zu unterwerfen.</p>
+
+<p>Nicht wie eine Siegerin kam ich nach Hause. Vergebens
+suchte Georg mich zu tr&ouml;sten: &raquo;Das Wichtigste
+ist doch, da&szlig; du die Sache durchgesetzt hast!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meinst du? &mdash; Wenn aber der Sache die Tr&auml;ger,
+die Menschen, fehlen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bist du nicht da? &mdash; Und bin ich nicht bei dir?&laquo;
+Er streichelte mir leise den herabh&auml;ngenden Arm, eine
+Bewegung, bei der mich immer ein Gef&uuml;hl tiefer Ruhe
+&uuml;berkam.</p>
+
+<p>Dankbar k&uuml;&szlig;te ich seine Stirn, &mdash; unter meinen Lippen
+stieg es auf wie eine Flamme.</p>
+
+<p>&raquo;Sag, Georg &mdash; lieber Georg &mdash; sag es mir ganz
+ehrlich &mdash;&laquo; fl&uuml;sterte ich und trat besch&auml;mt von ihm zur&uuml;ck,
+&raquo;hast dus nicht gern, wenn ich dich k&uuml;sse?&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem langen, tiefen Blick aus dunkel erweiterten
+Pupillen sah er zu mir auf. Und ich sank vor ihm in
+die Kniee, pre&szlig;te das ergl&uuml;hende Gesicht in die schwarze
+Pelzdecke und f&uuml;hlte, wie seine zitternden Finger mir
+z&auml;rtlich die Locken von den Schl&auml;fen strichen ...</p>
+
+<p><a name="Page_619" id="Page_619"></a>Meinen neuen Vortrag schrieb ich wie im Fluge,
+kaum da&szlig; die Feder den einst&uuml;rmenden Gedanken
+zu folgen vermochte. Und die Stimme
+zitterte mir vor Erregung, als ich ihn das erste Mal
+vorlas. Meine gestrengen Zuh&ouml;rerinnen aber blieben
+merkw&uuml;rdig k&uuml;hl. Nur Frau Vanselow nahm meine
+beiden H&auml;nde mit einem verst&auml;ndnisinnigen Druck zwischen
+die ihren.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe mir die Punkte notiert, die Sie &auml;ndern,
+respektive fortlassen m&uuml;ssen,&laquo; sagte das rundliche Fr&auml;ulein
+Doktor und r&uuml;ckte die Brille fester auf ihr viel zu
+kurz geratenes N&auml;schen. &raquo;Zun&auml;chst d&uuml;rfen Sie nicht
+sagen, da&szlig; die Existenz von Wohlt&auml;tigkeitsvereinen ein
+Armutszeugnis f&uuml;r den Staat sei und die Gebenden
+sich ihrer Wohlt&auml;tigkeitsakte ebenso sch&auml;men m&uuml;&szlig;ten, wie
+die Empfangenden. Sie schlagen damit die Besten vor
+den Kopf &mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>Ich verteidigte meine Anschauung, aber die Abstimmung
+entschied gegen mich.</p>
+
+<p>&raquo;Auch Ihre Elendsschilderungen sind viel zu &uuml;bertrieben
+und wirken in h&ouml;chstem Ma&szlig;e aufreizend,&laquo;
+meinte die Hagere.</p>
+
+<p>&raquo;So sollen sie wirken!&laquo; entgegnete ich, &raquo;und &uuml;berdies
+stammen all meine Angaben aus amtlichen Quellen.&laquo;
+Nach einer kurzen, scharfen Auseinandersetzung gab
+meine Kritikerin seufzend nach.</p>
+
+<p>&raquo;Unbedingt notwendig aber ist es, da&szlig; Sie den Satz
+&uuml;ber die Sozialdemokratie streichen,&laquo; erkl&auml;rte eine andere
+Vorstandsdame, deren verwandtschaftliche Beziehung zu
+<a name="Page_620" id="Page_620"></a>einem freisinnigen Abgeordneten ihr eine Art Respektstellung
+geschaffen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist im Rahmen meines Vortrags einfach unm&ouml;glich;&laquo;
+widersprach ich. &raquo;Die Sozialdemokratie ist
+die einzige Partei, die f&uuml;r die Gleichberechtigung des
+weiblichen Geschlechts eintritt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schlimm genug! Wir werden darum immer verd&auml;chtig
+erscheinen, wenn wir ihre W&uuml;nsche zu den
+unseren machen, &mdash; das habe ich ja schon oft betont,
+ohne Geh&ouml;r zu finden.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hielt hartn&auml;ckig an dem beanstandeten Satze fest
+und war nahe daran, den ganzen Vortrag zur&uuml;ckzuziehen.
+Aber mu&szlig;te ich nicht Konzessionen machen, um nur &uuml;berhaupt
+etwas durchzusetzen?! Ich wurde wieder &uuml;berstimmt, &mdash; Frau
+Vanselow allein enthielt sich mit einem
+bedauernden Achselzucken der Abstimmung.</p>
+
+<p>In dem gro&szlig;en Saal des Konzerthauses in der
+Leipzigerstra&szlig;e fand an einem Sonntag Vormittag die
+Versammlung statt. Bis in die Gallerien hinauf dr&auml;ngten
+sich die Menschen. An langen Tischen unter der Rednertrib&uuml;ne
+sa&szlig;en mit blasierten Gesichtern und gespitzten
+Bleistiften die Journalisten. Mit triumphierendem
+L&auml;cheln, den Kopf von einem Spitzenschleier malerisch
+bedeckt, die ebenm&auml;&szlig;ige Gestalt eng von schwarzer Seide
+umschlossen, stand Frau <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Vansalow'">Vanselow</ins> neben mir. &raquo;Helma
+Kurz, &mdash; sehen Sie nur! Ganz gr&uuml;n ist sie vor &Auml;rger &mdash;&laquo;
+hatte sie mir noch hastig zugezischelt. Ein Polizeileutnant
+sa&szlig; an meiner anderen Seite, ein wei&szlig;es Papier
+breit vor sich auf dem Tisch, an dessen Kopf zun&auml;chst
+nichts weiter als mein Name stand.</p>
+
+<p>Und dann sprach ich, und wieder trug mich die<a name="Page_621" id="Page_621"></a>
+Woge, und ich empfand die dunkle Menge vor mir
+wie Ton, der sich nach meinem Willen formte.
+Achtlos zerknitterte ich mein Manuskript zwischen
+den H&auml;nden. Ich bedurfte seiner nicht. Vor dem
+Rednerpult fielen mir kr&auml;ftigere Worte und st&auml;rkere
+Beweisf&uuml;hrungen ein als am Schreibtisch. Gestern erst
+hatte Martha Bartels mir von der polizeilichen Aufl&ouml;sung
+eines Arbeiterinnenvereins berichtet. Gab es
+ein besseres Beispiel als dies, um die Rechtlosigkeit der
+Frauen zu beleuchten? &raquo;Die R&uuml;cksicht auf die Weiblichkeit
+gebietet solch ein Vorgehen, sagen die M&auml;nner,&laquo;
+rief ich aus, &raquo;aber die R&uuml;cksicht auf dieselbe Weiblichkeit
+hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die
+Steinbr&uuml;che und Bergwerke zu schicken, und werdende
+M&uuml;tter in die Giftluft der Fabrik!&laquo; Frenetischer Beifall
+von den Galerien herunter lie&szlig; mich minutenlang
+nicht zu Worte kommen. Der Polizeileutnant stenographierte, &mdash; entgeistert
+sah Frau Vanselow mich an:
+&raquo;Das ist gegen die Abmachung!&laquo; fl&uuml;sterte sie erregt.
+Ich l&auml;chelte.</p>
+
+<p>&raquo;Und nun frage ich euch, meine Schwestern, habt ihr
+wirklich nichts zu tun f&uuml;r euer Geschlecht? &mdash; Denkt an
+die j&uuml;ngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majest&auml;t
+des Kaisers, der Kanzler Leist, Frauen sch&auml;ndete, aber
+dessen ungeachtet f&uuml;r einen &#8250;t&uuml;chtigen und pflichttreuen
+Beamten&#8249; erkl&auml;rt wurde, &mdash; und dann wagt es noch, zu
+sagen: wir haben keine B&uuml;rgerpflicht!... Von Ort zu
+Ort will ich wandern und jene heilsame Unzufriedenheit,
+die die Mutter aller Reformen ist, in die Herzen der
+Frauen pflanzen!...&laquo; Der Polizeileutnant wurde rot
+vor Eifer, ich h&ouml;rte das Kritzeln seines Stifts durch
+<a name="Page_622" id="Page_622"></a>alles Klatschen hindurch. Und ich verga&szlig; mein Versprechen
+und sprach von der Sozialdemokratie, von &raquo;den
+Rittern der Arbeit, die heute die einzigen Ritter der
+Frauen sind.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt brauste der Beifall wie der Fr&uuml;hlingssturm, der
+die d&uuml;rren Bl&auml;tter jauchzend niedersch&uuml;ttelt, um den
+jungen Knospen Licht und Luft zu schaffen ...</p>
+
+<p>Die folgenden Tage waren ein einziger Ikarussturz, &mdash; nur
+da&szlig; die Arme der Liebe mich auffingen, ehe ich
+den harten Boden ber&uuml;hrte. Im Verein Frauenrecht
+kam es fast zu einem Staatsstreich, um den Vorstand
+aus dem Sattel zu heben; mit Vorw&uuml;rfen wurde ich
+&uuml;bersch&uuml;ttet. Die Zeitungen berichteten halb h&ouml;hnisch,
+halb wegwerfend &uuml;ber die &raquo;verkappte Genossin&laquo;, konservative
+Bl&auml;tter unterlie&szlig;en nicht, den &raquo;unerh&ouml;rten Seitensprung
+der Frau eines preu&szlig;ischen Universit&auml;tsprofessors&laquo;
+an die gro&szlig;e Glocke zu h&auml;ngen, und Georg kam eines
+Morgens ernst und versonnen aus seiner Vorlesung
+zur&uuml;ck: &raquo;Althoff hat mir einen wohlmeinenden Wink
+gegeben!&laquo; sagte er. Auch mein Vater erschien und
+machte mir eine Szene, als w&auml;re ich noch zu Haus.</p>
+
+<p>&raquo;... Mit Fingern weisen die Leute auf mich ... Im
+Reichstag &mdash; im Klub kann ich mich nicht mehr sehen
+lassen ...&laquo; schrie er. Georg hatte sich, auf beide H&auml;nde
+gest&uuml;tzt, hoch aufgerichtet.</p>
+
+<p>&raquo;Exzellenz vergessen,&laquo; sagte er kalt und scharf, &raquo;da&szlig;
+Sie sich bei mir befinden!&laquo; Einen Moment lang ma&szlig;en
+sich die beiden M&auml;nner mit einem Blick angriffsbereiter
+Feindschaft, dann verlie&szlig; mein Vater wortlos das Zimmer,
+und ersch&ouml;pft sank Georg in den Stuhl zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Von Mama erhielt ich einen langen Brief: &raquo;Ich bin
+<a name="Page_623" id="Page_623"></a>viel zu erregt, um Dich sehen zu k&ouml;nnen. Wie k&ouml;nnt
+Ihr Ethiker es vor Eurem Gewissen verantworten, dem
+eigenen Vater die T&uuml;re zu weisen! In welche Abgr&uuml;nde
+die Gottlosigkeit Euch treibt, das hast Du freilich durch
+Deinen Vortrag schon bewiesen: Was ist es anders als
+eine teuflische Eingebung, in einer Zeit, wo dem Volke
+nichts so nottut als christliche Ergebenheit und Demut,
+die Unzufriedenheit zu predigen!...&laquo;</p>
+
+<p>So schwer es mir wurde, Georg allein zu lassen, dessen
+fahle Bl&auml;sse mich jetzt oft entsetzte, so empfand ichs
+pers&ouml;nlich doch wie eine Erleichterung, da&szlig; meine Delegation
+zur Generalversammlung der Ethischen Gesellschaft
+mich f&uuml;r einige Tage von Berlin fortf&uuml;hrte. Wir
+fuhren zusammen: Geheimrat Frommann, Frau Schwabach,
+die Leiterin der Auskunftsstelle, Professor Tondern
+und ich. Schon unsere Eisenbahnunterhaltungen gaben
+einen Vorgeschmack der kommenden Diskussionen. Mit
+einer Sch&auml;rfe, die von der milden, vers&ouml;hnlichen Form
+kaum abgeschw&auml;cht wurde, gab unser Vorsitzender mir
+zu verstehen, wie wenig unsere Zeitschrift der Aufgabe,
+allgemein menschliche Ethik zu verbreiten, entspr&auml;che,
+und Frau Schwabach hielt mir ernstlich vor, wie unethisch
+meine Angriffe auf die b&uuml;rgerliche Gesellschaft in
+meiner letzten Rede und in jedem meiner Artikel w&auml;ren.</p>
+
+<p>&raquo;Sie w&uuml;rden unendlich viel st&auml;rker wirken, wenn Sie
+alle Negation beiseite lie&szlig;en &mdash;&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Und die guten Leute streichelten, damit sie im besten
+Fall schnurren wie die Katzen,&laquo; f&uuml;gte Tondern h&ouml;hnisch
+hinzu. &raquo;Wer keine Kritik vertr&auml;gt und dem Spiegel
+nicht dankbar ist, der alle Flecken und Falten wiedergibt, &mdash; der
+soll sich nur gleich begraben lassen!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_624" id="Page_624"></a>Noch am Abend in Leipzig zeigte er mir den Antrag,
+den er stellen wollte: &raquo;Die Ethische Gesellschaft nimmt
+mit Genugtuung davon Kenntnis, da&szlig; der Kongre&szlig;
+f&uuml;r Hygiene sich f&uuml;r den Achtstundentag ausgesprochen
+hat, und erkl&auml;rt, von ethischen Gesichtspunkten ausgehend,
+sich dieser Forderung anzuschlie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wird uns vorw&auml;rts bringen!&laquo; sagte ich und
+gab ihm freudig meine Unterschrift.</p>
+
+<p>Er verzog die Mundwinkel zu einem sp&ouml;ttischen L&auml;cheln:
+&raquo;Vorw&auml;rts bringen?! Gewi&szlig;, die reinliche Scheidung
+der Geister ist allemal ein Fortschritt!&laquo;</p>
+
+<p>Zwei Tage sp&auml;ter sa&szlig;en wir einander an demselben Tisch
+gegen&uuml;ber: seine Augenwinkel zuckten nerv&ouml;s, unruhig
+trommelten seine Finger auf der Tischplatte, w&auml;hrend
+ich, totm&uuml;de von den langen Verhandlungen, gedankenlos
+in einer Zeitung bl&auml;tterte.</p>
+
+<p>&raquo;Was sagen Sie nun?!&laquo; unterbrach er unser langes
+Schweigen. &raquo;Ich &mdash; ich bin noch ein Optimist gewesen!
+Eine Ethische Gesellschaft, die geschlossen gegen uns
+beide den Achtstundentag ablehnt! &mdash; Weil er ein
+&#8250;Schlagwort&#8249; ist! &mdash; Weil seine Annahme den Verein
+sprengen w&uuml;rde! &mdash; Weil es &#8250;unethisch&#8249; ist, andere zu
+&#8250;verletzen&#8249;! &mdash; Was meinen Sie: ist es vom Standpunkt
+unserer Privatethik aus zu rechtfertigen, wenn wir immer
+noch nichts als heimliche Sozis sind?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich senkte den Kopf tiefer. Ich dachte an Georg, an
+seine strahlenden, hoffnungsvollen Kinderaugen, an seine
+zarten, schmalen H&auml;nde, seinen armen gel&auml;hmten K&ouml;rper.
+&raquo;Nur eine Aufgabe kann ich erf&uuml;llen,&laquo; hatte er einmal
+gesagt, &raquo;von meinem Katheder aus die Jugend &#8250;vergiften&#8249;!&laquo;
+Und dann fiel mein Blick auf den breiten<a name="Page_625" id="Page_625"></a>
+Trauring an der Hand meines Gef&auml;hrten, &mdash; er hatte
+ein Weib daheim und vier kleine Kinder.</p>
+
+<p>&raquo;Sind wir so frei, um tun zu k&ouml;nnen, was wir
+wollen?&laquo; kam es mir leise, wie im Selbstgespr&auml;ch &uuml;ber
+die Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben recht &mdash; wir m&uuml;ssen uns abfinden &mdash; so
+oder so!&laquo; ...</p>
+
+<p>Fr&uuml;her, als Georg mich erwartet hatte, kam ich nach
+Haus. Ganz leise schlo&szlig; ich die Wohnungst&uuml;r auf, &mdash; um
+die Zeit war er immer in seine Studien vertieft,
+dann h&ouml;rte und sah er nichts. Aber kaum hatte ich
+den Fu&szlig; &uuml;ber die Schwelle gesetzt, klang mir schon seine
+Stimme entgegen &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Alix!!&laquo; &mdash; Ein einziger Laut, &mdash; und der Jubel,
+die Sehnsucht, die Liebe eines ganzen Herzens darin!
+Ach, und wie seine Lippen bebten und brannten, &mdash; zum
+erstenmal hatte er mich auf den Mund gek&uuml;&szlig;t.</p>
+
+<p>&raquo;Das Leben ist kurz, Alix, viel &mdash; viel zu kurz! Du
+mu&szlig;t mich nie mehr verlassen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nie mehr, Georg &mdash; nie mehr!&laquo; &mdash; Angstvoll forschte
+ich in seinen Z&uuml;gen. &mdash; &raquo;Hast du gelitten, &mdash; mehr als
+sonst?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sprechen wir nicht davon, &mdash; jetzt ist es ja gut &mdash; alles
+gut!&laquo; Und er l&auml;chelte mit seinem strahlendsten
+L&auml;cheln.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_626" id="Page_626"></a></p>
+<h2><a name="Zwanzigstes_Kapitel" id="Zwanzigstes_Kapitel"></a>Zwanzigstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>An einem sch&ouml;nen Sommersonntag besuchten uns
+die Eltern wieder. Sie ber&uuml;hrten das Vergangene
+nicht mehr. Und von da an kamen
+sie oft, aber meist jeder allein. &raquo;Bei Euch ist's so sch&ouml;n
+ruhig!&laquo; pflegte Mama zu sagen, wenn sie sich tief in
+den Lehnstuhl gleiten lie&szlig;. &raquo;So viel Sonne habt Ihr!&laquo;
+bemerkte der Vater und stellte sich mit dem R&uuml;cken ans
+Fenster in die hellsten Strahlen, als fr&ouml;stle ihn. Auch
+das Schwesterchen lief oft her&uuml;ber. Sie war ein bildh&uuml;bscher
+Backfisch geworden, mit einem suchenden Glanz
+in den Augen. &raquo;Papa brummt immer, &mdash; wir gehen
+ihm so viel als m&ouml;glich aus dem Wege!&laquo; erz&auml;hlte sie.</p>
+
+<p>Sonntags mu&szlig;te ich zu Tisch zu den Eltern kommen,
+oder zu Onkel Walters. Es war jedes Mal eine
+Qu&auml;lerei, denn um zwecklosen Auseinandersetzungen aus
+dem Wege zu gehen, blieb mir nichts &uuml;brig, als zu
+schweigen, w&auml;hrend mir das Blut oft vor Zorn in den
+Schl&auml;fen klopfte. Man vermied zwar von der Ethischen
+Bewegung zu sprechen, schimpfte aber um so mehr auf
+Juden, Kathedersozialisten und Egidyaner, als den
+&raquo;Hilfstruppen&laquo; der Sozialdemokratie, und die Tante
+besonders fand ein Vergn&uuml;gen darin, mich durch ihre
+schw&auml;rmerische Kaiser-Verehrung zu reizen.</p>
+
+<p><a name="Page_627" id="Page_627"></a>Einmal nahm mich der Onkel beiseite, und ich erwartete
+schon <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'ein'">eine</ins> wohlgemeinte politische Belehrung, als er von
+Egidy zu sprechen begann. &raquo;Er ist ein Phantast, aber trotz
+alledem ein Edelmann und dein Freund,&laquo; sagte er, &raquo;da
+geh&ouml;rt sich's, da&szlig; du ihn vor Schaden bewahrst. Er hat
+sich droben bei uns mit einem meiner Nachbarn, einem
+notorischen Schwindler &mdash; Wohlfahrt hei&szlig;t der Kerl
+zum &Uuml;berflu&szlig;! &mdash;, wie ich h&ouml;re, das N&auml;heren eingelassen.
+Warne ihn, ehe es zu sp&auml;t ist.&laquo; Ich lie&szlig; mir die n&ouml;tigen
+Details geben und bat Egidy um seinen Besuch.</p>
+
+<p>Wir hatten einander ein paar Monate lang nicht gesehen.
+Er aber sah um Jahre gealtert aus. Kaum
+hatte ich den Mut, diesem m&uuml;den Gesicht gegen&uuml;ber zu
+sagen, was ich wu&szlig;te. Er starrte mich an, die Finger
+ineinandergekrampft, die Augen weit aufgerissen. Und
+pl&ouml;tzlich sank sein Kopf auf die gefalteten H&auml;nde, und
+seine breiten Schultern bebten, von lautlosem Schluchzen
+ersch&uuml;ttert. Fassungslos stand ich vor ihm: er, der dem
+Spott und Ha&szlig; einer ganzen Welt getrotzt hatte, dessen
+sieghafter Glaube an die Menschen ihn un&uuml;berwindlich
+zu machen schien, &mdash; er sa&szlig; hier vor mir, zusammengebrochen,
+als w&auml;re ein Fels ihm auf den starken Nacken
+gest&uuml;rzt, &mdash; und weinte!</p>
+
+<p>&raquo;Meine Kinder &mdash; meine armen Kinder!&laquo; stie&szlig; er abgebrochen
+hervor &mdash; &raquo;alles habe ich diesem Menschen
+geopfert, &mdash; mein Letztes!&laquo;</p>
+
+<p>Georg kam nach Hause. Egidy raffte sich auf, um
+ihn zu begr&uuml;&szlig;en, aber die Kniee wankten ihm. Und
+dann war's, als m&uuml;&szlig;te er sein Herz aussch&uuml;tten, aussprechen,
+was er vielleicht vor sich selbst noch verhehlt
+hatte: Wie seine Hoffnungen ihn betrogen, die Scharen
+<a name="Page_628" id="Page_628"></a>seiner Gefolgschaft ihn verlassen hatten, sein Haus leer
+geworden war, seitdem er nicht mehr Wein und Braten
+aufzutischen vermochte.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt erst, wo die Menschen Sie nicht mehr als
+einen M&auml;rtyrer bewundern, werden Sie zeigen k&ouml;nnen,
+da&szlig; Sie ein Mann sind!&laquo; sagte Georg, als er schwieg.</p>
+
+<p>Mit einer raschen Bewegung, als wolle er jeden Rest
+von Schw&auml;che verscheuchen, strich sich Egidy &uuml;ber die
+Stirn und reichte Georg die Hand: &raquo;Wei&szlig; Gott, &mdash; ich
+werde es beweisen!&laquo; Und sich zu mir sich wendend, fuhr
+er fort: &raquo;Erinnern Sie sich, was ich Ihnen in Hannover
+sagte: &#8250;Im schlimmsten Fall reite ich allein &mdash; langsamen
+Schritt vorw&auml;rts &mdash; nach Z&auml;hlen &mdash; im Kugelregen.&#8249; &mdash; Leben
+Sie wohl.&laquo;</p>
+
+<p>Mich lie&szlig; er schweren Herzens zur&uuml;ck. &raquo;Allein &mdash; im
+Kugelregen!&laquo; wiederholte ich leise und kreuzte
+fr&ouml;stelnd die Arme unter der Brust.</p>
+
+<p>&raquo;Meine Alix f&uuml;rchtet sich?! &mdash; Vergi&szlig; niemals, was
+der gro&szlig;e Sklavenbefreier William Lloyd Garrison sagte:
+Einer mit der Wahrheit im Bunde ist m&auml;chtiger als alle.
+In diesem Glauben siegte er!&laquo; Georgs blasse Haut
+leuchtete im Abendd&auml;mmer.</p>
+
+<p>War ich so schwach, da&szlig; ich immer Menschen suchte &mdash; Gleichgesinnte? &mdash; und
+mich freute wie ein Kind,
+das hinter den Felsen hundert Gespielen w&auml;hnt, wenn
+irgendwo ein Echo meiner Stimme mir entgegenklang?...</p>
+
+<p><a name="Page_629" id="Page_629"></a>Der Verein Frauenrecht hatte mich trotz meiner
+S&uuml;nden in seinen Vorstand gew&auml;hlt: Ich war
+ein &raquo;Name&laquo;, &mdash; damit hatte Frau Vanselow die
+Mitglieder f&uuml;r ihren Plan gewonnen. Und ich hatte trotz
+meiner inneren Abneigung die Wahl angenommen: der
+Verein war am Ende doch ein wirksames Mittel zum
+Zweck. Vor allem galt es eins durchzusetzen: die
+deutsche Frauenbewegung aus ihrem Veilchen-Dasein zu
+befreien. F&uuml;nfundzwanzig Jahre hatte ich selbst gelebt,
+ehe ich von ihrer Existenz etwas erfuhr. Die deutsche
+Presse nahm noch jetzt kaum je irgendwelche Notiz von ihr.</p>
+
+<p>Es gelang mir zun&auml;chst &mdash; nachdem ich von vornherein
+die Arbeit daf&uuml;r auf mich genommen hatte &mdash;, eine
+Zeitungs-Korrespondenz durchzusetzen, und ich hatte die
+Genugtuung, da&szlig; meine Notizen in zahlreichen Bl&auml;ttern
+Aufnahme fanden. Nun mu&szlig;te ein Organ geschaffen
+werden, &mdash; eine weithin sichtbare Fahne f&uuml;r unsere Sache.
+Ich gewann den Verleger der Ethischen Bl&auml;tter f&uuml;r die
+Idee und kam strahlend &uuml;ber diesen Erfolg in die Vorstandssitzung
+des Vereins. Aber statt allgemeiner Freude
+begegnete ich allgemeinem Widerstand. &Uuml;ber die Verantwortung,
+die wir damit auf uns nehmen m&uuml;&szlig;ten,
+jammerte die eine, &uuml;ber die &raquo;seit Jahren liebgewordenen&laquo;
+Vereinsmitteilungen, an deren Stelle die Zeitschrift treten
+sollte, die andere.</p>
+
+<p>&raquo;Und die Frage der Redaktion ist doch vor allem eine
+schwer zu entscheidende,&laquo; meinte mit bedenklich hoch gezogenen
+Augenbrauen Frau Vanselow und sah mich
+pr&uuml;fend an. Ich begriff.</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich wird sie unserer verehrten Vor<a name="Page_630" id="Page_630"></a>sitzenden
+anvertraut werden,&laquo; sagte ich rasch. &raquo;Und
+meine liebe Frau von Glyzcinski wird mir hilfreich
+wie immer zur Seite stehen,&laquo; erg&auml;nzte Frau Vanselow
+und streckte mir &uuml;ber den Tisch hinweg die Hand entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich halte dies Vorgehen f&uuml;r unethisch,&laquo; t&ouml;nte Frau
+Schwabachs scharfe Stimme dazwischen. Erstaunt sah
+ich auf: &raquo;Das begreife, wer kann!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unser liebes, heute leider fehlendes Fr&auml;ulein Georgi
+hat die Mitteilungen bisher als Schriftf&uuml;hrerin zu unser
+aller Zufriedenheit und &mdash; unentgeltlich &mdash;&laquo; ein vielsagender
+Blick traf mich &mdash; &raquo;in selbstloser Hingabe an
+die Sache geleitet. Ich gebe meine Zustimmung nicht,
+wenn man sie beiseite schiebt!&laquo;</p>
+
+<p>Emp&ouml;rt fuhr ich auf: &raquo;Es handelt sich hier um die
+Sache und nicht um die Personen, um ein &ouml;ffentliches
+Unternehmen und nicht um ein Vereinsbl&auml;ttchen! Jeder
+Fortschritt verletzt irgendwen, &mdash; und wenn Ihre Ethik
+im Gegensatz zum Fortschritt steht, so gebe ich sie preis
+und w&auml;hle diesen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich erhob mich rasch und &uuml;berlie&szlig; den Vorstand sich
+selber.</p>
+
+<p>Vier Wochen sp&auml;ter erschien die erste Nummer der
+&raquo;Frauenfrage&laquo; unter Frau Vanselows und meiner
+Redaktion. Georg er&ouml;ffnete sie mit einem Artikel f&uuml;r
+das Frauenstimmrecht. Etwa zu gleicher Zeit versandte
+Helma Kurz ein Zirkular an die deutschen Frauenvereine,
+durch das sie zur Gr&uuml;ndung eines nationalen
+Frauenbundes aufforderte, der sich dem bereits bestehenden
+in Amerika ins Leben gerufenen internationalen Verbande
+anschlie&szlig;en sollte.</p>
+
+<p><a name="Page_631" id="Page_631"></a>Mit einem harten &raquo;Niemals&laquo; begegnete Frau Vanselow
+meiner Begeisterung f&uuml;r diesen Zusammenschlu&szlig;.
+&raquo;Aufspielen will sich die Kurz, von sich reden machen,
+nachdem ihr angesichts unserer Erfolge l&auml;ngst schon die
+Galle &uuml;berl&auml;uft ...&laquo; Nur schwer gelang es mir, sie zu
+beruhigen und zur Teilnahme an den vorbereitenden
+Sitzungen zu bewegen. Ein Heer von Frauen, in der
+ganzen Welt zu einer Organisation zusammengeschlossen, &mdash; war
+das nicht die welterobernde Macht der Zukunft?!
+Hier w&uuml;rde die Arbeiterin neben der Bourgeoisdame,
+die Sozialdemokratin neben der Frau des Ostelbiers zu
+Worte kommen; im friedlichen Austausch der Ideen
+w&uuml;rde schlie&szlig;lich die lebenskr&auml;ftigste siegen, &mdash; durch die
+M&uuml;tter der kommenden Generation w&uuml;rde leise und
+nat&uuml;rlich die Quelle in die Menschheit gelenkt werden,
+die bestimmt war, als Strom die Schiffe der Zukunft
+zu tragen!</p>
+
+<p>&raquo;Also eine Ethische Gesellschaft der Frauen, &mdash; nach
+unserem Plan!&laquo; meinte Georg. Ich benutzte den n&auml;chsten
+freien Augenblick, um mit Martha Bartels die Sache
+zu besprechen. Seltsam: sie wu&szlig;te von nichts, das Zirkular
+war ihr nicht zugegangen. &raquo;Und wenn ich es
+schon erhalten h&auml;tte,&laquo; sagte sie, &raquo;es ist mir zweifelhaft,
+ob meine Genossinnen eine Beteiligung f&uuml;r n&uuml;tzlich gehalten
+haben w&uuml;rden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber bedenken Sie doch, welch ein Agitationsgebiet
+sich Ihnen er&ouml;ffnen w&uuml;rde&laquo; &mdash; eiferte ich, auf das
+schmerzlichste &uuml;berrascht durch ihre ablehnende Haltung, &mdash; denn
+da&szlig; die Aufforderung sie nur durch irgend
+einen Zufall nicht erreicht hatte, davon war ich &uuml;berzeugt, &mdash; es
+war ja im Zirkular die Rede von &raquo;allen Frauen&laquo;.</p>
+<p><a name="Page_632" id="Page_632"></a></p>
+<p>&raquo;Unser Agitationsgebiet ist das gesamte Proletariat, &mdash; gro&szlig;
+genug f&uuml;r die gewaltigsten Arbeitskr&auml;fte! Eine
+Vereinigung mit der b&uuml;rgerlichen Frauenbewegung w&uuml;rde
+zersplitternd und verwirrend wirken. Die gro&szlig;e Masse
+unserer Arbeiterinnen ist noch nicht so selbstbewu&szlig;t, um
+sich den Damen gegen&uuml;ber als Gleichberechtigte zu f&uuml;hlen.&laquo;</p>
+
+<p>Mir schien, als ob aus ihren Worten mehr Gekr&auml;nktheit
+&uuml;ber die Zur&uuml;cksetzung als &Uuml;berzeugung sprach.</p>
+
+<p>&raquo;Wir reden noch dar&uuml;ber,&laquo; sagte ich, innerlich ordentlich
+froh &uuml;ber die Aufgabe, die sich mir er&ouml;ffnete: Ich
+sah sie schon erf&uuml;llt, sah in Gedanken Martha Bartels
+auf der Trib&uuml;ne stehen und durch ihre schlichte
+Wahrhaftigkeit die Frauen <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'gewinnnen'">gewinnen</ins>. Ich schrieb an Helma
+Kurz, um sie auf das Vers&auml;umte aufmerksam zu machen, &mdash; ich
+erhielt keine Antwort. Bei dem Begr&uuml;&szlig;ungsabend
+der deutschen Delegierten erwartete ich mit Ungeduld
+das Ende des Diners, um sie pers&ouml;nlich zu sprechen.
+Ich fand es zum mindesten geschmacklos, solch ein Werk
+bei Wein und Rehbraten in gro&szlig;er Toilette zu beginnen
+und einander durch Toaste anzuhimmeln, noch ehe irgend
+etwas geschehen war. Endlich erreichte ich Helma
+Kurz; sie wurde dunkelrot, als sie mich sah. &raquo;Hier ist
+nicht der Ort, prinzipielle Fragen zu er&ouml;rtern,&laquo; sagte
+sie heftig und drehte mir den breiten R&uuml;cken zu.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen in der Sitzung meldete ich mich
+als eine der ersten zur Debatte. Es wurden endlose
+Reden gehalten: &uuml;ber die Einigkeit aller Frauen, &uuml;ber
+die gemeinsamen gro&szlig;en Ziele, &mdash; vergebens wartete ich
+Stunde um Stunde, da&szlig; mir das Wort erteilt werden
+w&uuml;rde. Ich meldete mich noch einmal. &raquo;Sie m&uuml;ssen
+Ihren Antrag schriftlich formulieren!&laquo; schrie Helma<a name="Page_633" id="Page_633"></a>
+Kurz mich bitterb&ouml;se an. Ich tat es. Ein erregtes
+Tuscheln um den Vorstandstisch &mdash; &raquo;Ihr Antrag steht
+au&szlig;erhalb der Tagesordnung&laquo; &mdash; verk&uuml;ndete die Vorsitzende.
+Ich versuchte mir gewaltsam Geh&ouml;r zu verschaffen.
+Um mich kreischten erregte Stimmen: &raquo;Schweigen Sie!&laquo; &mdash; &raquo;Hinaus!&laquo; &mdash; &raquo;Wie
+unethisch!&laquo;</p>
+
+<p>Majest&auml;tisch richtete sich die schwere Gestalt der Kurz
+hinter dem Vorstandstisch auf: &raquo;An dieser St&ouml;rung
+unserer sch&ouml;nen Harmonie sehen Sie, meine Damen,
+wes Geistes Kind diejenige sein mu&szlig;, die sie hervorrief!&laquo;
+erkl&auml;rte sie mit feierlicher W&uuml;rde, jedes Wort betonend.
+&raquo;Ich werde trotzdem, nicht aus R&uuml;cksicht auf die Delegierte
+des Vereins Frauenrecht&laquo; &mdash; sie l&auml;chelte sp&ouml;ttisch &mdash; &raquo;sondern
+auf unsere hier anwesenden bew&auml;hrten
+Mitk&auml;mpferinnen die Erkl&auml;rung abgeben, die in einer
+Weise gefordert wird, wie sie bis dato nur in sozialdemokratischen
+Radauversammlungen &uuml;blich war. S&auml;mtliche
+deutsche Frauenvereine sind zu dieser Zusammenkunft
+aufgefordert worden, mit Ausnahme derjenigen nat&uuml;rlich,
+die nicht auf dem Boden unserer Staats- und Gesellschaftsordnung
+stehen.&laquo; &mdash; Ein langanhaltendes Bravo-Rufen
+unterbrach sie &mdash; &raquo;Ihre Teilnahme w&uuml;rde die Aufl&ouml;sung
+des Verbandes zur notwendigen Folge gehabt
+haben ...&laquo; Ich sprang auf und warf noch einmal
+meine Karte auf den Vorstandstisch. &raquo;Im Interesse der
+ruhigen Fortf&uuml;hrung unserer Verhandlungen haben wir
+beschlossen, Frau von Glyzcinski das Wort zu verweigern.&laquo;
+Erneuter allgemeiner Beifall &mdash;</p>
+
+<p>Ich hatte rasch einen Protest gegen den Ausschlu&szlig; der
+Arbeiterinnenvereine zu Papier gebracht und benutzte
+die Pause zum Sammeln von Unterschriften. Aber
+<a name="Page_634" id="Page_634"></a>wem ich auch in die N&auml;he trat, &mdash; schon vor meiner
+Person zog man sich scheu zur&uuml;ck. Entr&uuml;stet blitzte mich
+Frau Schwabach mit ihren klugen dunkeln Augen an:
+&raquo;Und Sie sind eine Ethikerin, die das allen Gemeinsame
+pflegen und betonen soll!&laquo; Ich fand in der gro&szlig;en Versammlung
+nur zwei Stimmen, die sich mir anschlossen,
+unter ihnen die Frau Vanselows. &raquo;Sie schicken das an die
+Presse? &mdash; Famos! Ein empfindlicher Schlag f&uuml;r Helma
+Kurz!&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden,&laquo; tr&ouml;stete
+mich Georg, als ich verstimmt und entt&auml;uscht nach Hause
+kam. Es dauerte lange, ehe der heilende Trank seines
+Menschenglaubens mir die tiefe Verbitterung aus dem
+Herzen trieb. Aber den letzten Keim der Krankheit
+t&ouml;tete er nicht. Was ich in unserer Zeitschrift und in
+der &raquo;Frauenfrage&laquo; ver&ouml;ffentlichte, wurde immer sch&auml;rfer
+im Ton. Die Menschen, denen ich begegnete, die B&uuml;cher,
+die ich las, die dramatischen Werke, die ich sah, &mdash; ich
+beurteilte sie alle nur von dem einen Gesichtspunkt aus:
+ihrer Stellung zur sozialen Frage, zum Sozialismus.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Aus der Dichtung und aus der bildenden Kunst verschwand
+damals allm&auml;hlich die Elendsschilderung,
+die in Hauptmanns Webern noch die Peitsche
+gewesen war, die r&uuml;cksichtslos blutige Striemen zog, und
+in seinem &raquo;Hannele&laquo; das Bettlerkind schon in M&auml;rchenkleidern
+zeigte. K&uuml;nstlerische Begeisterung entz&uuml;ndet sich an
+jungen Ideen, solange sie flackernde Flammen sind und
+die Gefahr des Erl&ouml;schens ihnen phantastisch-spannenden<a name="Page_635" id="Page_635"></a>
+Reiz verleiht. Mit ihrer Reife erstarren sie zu Schwertern,
+die der K&auml;mpferarme bed&uuml;rfen, w&auml;hrend das Seherauge
+des K&uuml;nstlers schon sehns&uuml;chtig nach neu auftauchenden
+Lichtern im fernen Dunkel Ausschau h&auml;lt. Aber was
+Notwendigkeit ist, erschien mir wie Treulosigkeit und
+Schw&auml;che, und der Ich-Kultus, der an Stelle des Kultus
+der Menschheit trat, wie ein frevelhafter R&uuml;ckschritt.</p>
+
+<p>Gegen eine Welt von Widersachern hatten die Ibsen
+und Nietzsche die Freiheit der Pers&ouml;nlichkeit verk&uuml;ndet,
+in jahrelangem, schmerzvollem Ringen hatten wir sie
+erobert; ein Heiligtum war sie uns, dessen ewige Lampe
+sich von unserem Herzblut tr&auml;nkte. Und nun kamen die
+vielen l&auml;rmenden Leute und griffen nach ihr ohne Ehrfurcht,
+und nichts als ein neues Spielzeug war sie ihnen.
+Dem gebildeten P&ouml;bel galt jeder als ein Freier, der
+schrankenlos seinen Begierden folgte. Die entg&ouml;tterte
+Menschheit suchte nach G&ouml;tzen, und jeder fand eine anbetende
+Gemeinde, der alte Werte mit F&uuml;&szlig;en trat.</p>
+
+<p>&raquo;Die sexuelle Freiheit ist doch nicht die Freiheit an
+sich!&laquo; sagte ich einmal voller Emp&ouml;rung zu Polenz, der
+mir Hartlebens &raquo;Hanna Jagert&laquo; gebracht hatte. &raquo;Gewi&szlig;
+gibt es Frauen mit denselben sinnlichen Leidenschaften,
+wie M&auml;nner sie haben, aber in ihnen den &#8250;gro&szlig;en freien
+Weibtypus der Zukunft&#8249; zu suchen, ist ebenso frevelhaft,
+als wenn man den modernen Lebemann f&uuml;r das Ideal
+der M&auml;nnlichkeit erkl&auml;ren w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie kennen eben unsere jungen Dichter nicht, die
+zumeist aus dem engsten Kleinb&uuml;rgertum stammen und
+von da aus direkt der Gro&szlig;stadtboh&ecirc;me in die Arme
+laufen. Eine andere Welt ist ihnen fast allen fremd
+und bleibt ihnen fast immer verschlossen. Gerade Sie
+<a name="Page_636" id="Page_636"></a>sollten es wagen, in die H&ouml;hle der L&ouml;wen zu kommen,&laquo;
+antwortete Polenz.</p>
+
+<p>Ich z&ouml;gerte noch, aber Georg, dem jedes Mittel willkommen
+war, das ihm geeignet schien, mich heiterer zu
+stimmen, redete zu, und so folgte ich eines Abends Polenz'
+Einladung. Er hatte eine heterogene Gesellschaft zusammen
+gebeten: alte Regimentskameraden und anarchistelnde
+Schriftsteller, s&auml;chsische Gesandschaftsattach&eacute;s
+und die Bl&uuml;te der berliner Kaffeehaus-Literaten. Eine
+unbehagliche Stimmung herrschte; die Herren von der
+Feder f&uuml;hlten sich sichtlich nicht wohl in ihren Fr&auml;cken,
+und die Damen, die sich von ihnen etwas ungeheuer
+Interessantes erwartet hatten, vermochten trotz aller
+M&uuml;he die genierte Steifheit der fremden G&auml;ste nicht zu
+&uuml;berwinden. Erst bei Tisch und beim Wein wurde es
+ein wenig lebendiger. Einer der modernsten und beliebtesten
+Schriftsteller, der mit einer gewissen Grazie
+die gewagtesten Dinge zu schildern pflegte, sa&szlig; neben
+mir, ein anderer, der die Hoffnung der Moderne war,
+mit dunkler Brille &uuml;ber den lebhaften Augen, mir gegen&uuml;ber.
+Ich lie&szlig; alle meine oft erprobten, geselligen
+K&uuml;nste spielen, schlug alle Saiten an, von denen ich
+einen Ton erwarten konnte, &mdash; vergebens. Wie Backfische,
+die zuerst in Gesellschaft kommen, antworteten sie
+mit einem Ja, einem Nein und einem verlegenen
+L&auml;cheln, wenn ich glaubte, gerade ihre Interessen ber&uuml;hrt
+zu haben. Ich sah forschend die lange Tafel herauf
+und herunter: &uuml;berall dasselbe Bild, &mdash; und langsam
+legte sich eine bleierne Langeweile &uuml;ber die zu krampfhaftem
+H&ouml;flichkeitsgrinsen verzerrten Z&uuml;ge. Man atmete
+schlie&szlig;lich erleichtert auf, als das Essen zu Ende war;
+<a name="Page_637" id="Page_637"></a>und so rasch sie konnten, verschwanden die Herren im
+Nebenzimmer, von wo bei Kognak und Zigarrren bald
+dr&ouml;hnendes Lachen herr&uuml;berscholl.</p>
+
+<p>Als ich, die Elektrische erwartend, auf der Stra&szlig;e stand,
+trat eine kleine Frau mit blitzenden Saphiraugen, ein
+Spitzentuch l&auml;ssig &uuml;ber den dicken, blonden Schopf geworfen,
+auf mich zu. &raquo;Er ist wohl noch immer da drin, der
+Franzl,&laquo; sagte sie und wies mit dem Daumen zu der erleuchteten
+Etage herauf, die ich eben verlassen hatte. &Uuml;berrascht
+sah ich sie an &mdash; &raquo;Juliane D&eacute;ry! Was machen Sie
+denn hier?&laquo; &mdash; &raquo;Ich warte! &mdash; mit dem letzten Bissen im
+Munde wollte er diesem Menschenragout entlaufen. Aber es
+mu&szlig; doch pikanter ausgefallen sein, als ich prophezeite ...&laquo;
+Ich lachte hellauf und gab ihr eine Schilderung der letzten
+drei Stunden. &raquo;Und Sie dachten wirklich an gedeckten
+Tischen, zwischen Grafen und Baroninnen, unsere jungen
+Genies kennen zu lernen?!&laquo; Sie konnte sich vor Vergn&uuml;gen
+nicht lassen, am&uuml;siert blieben die Vor&uuml;bergehenden
+bereits neben uns stehen. &raquo;Kommen Sie!&laquo; mahnte ich
+leise und schob meinen Arm in den ihren.</p>
+
+<p>&raquo;Richtig! &mdash; Wir haben ja schon einmal eine n&auml;chtliche
+Promenade gemacht! Seitdem sind Sie ethisch geworden
+und haben &mdash;&laquo; sie stockte ein wenig &mdash; &raquo;geheiratet!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und Sie?&laquo; Ich frug ohne Interesse, im Grunde nur,
+um irgend etwas zu sagen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich? &mdash; Gott &mdash; Sie sehen: ich lebe! Was sollte
+unsereins auch sonst noch tun!&laquo; Ein d&uuml;sterer Schatten
+verdunkelte einen Augenblick lang ihre Augen, dann
+l&auml;chelte sie wieder: &raquo;Wissen Sie was? Kommen Sie
+heute mit mir, &mdash; ich bin ein besserer Cicerone der
+Boh&egrave;me als Ihre Gastgeber eben! &Uuml;berdies &mdash;&laquo; sie
+<a name="Page_638" id="Page_638"></a>musterte mich unter der n&auml;chsten Laterne von oben bis
+unten &mdash; &raquo;werde ich mit Ihnen Furore machen.&laquo;</p>
+
+<p>Bis zu unserem Ziel, einer kleinen Weinstube in der
+Friedrichstadt, erz&auml;hlte sie mir mit der ihr eigenen
+spr&uuml;henden Lebhaftigkeit von all den freien Geistern,
+die ich finden w&uuml;rde. &raquo;Der gro&szlig;e...&laquo;, &raquo;der geniale...&laquo;,
+&raquo;der einzige...&laquo;, &mdash; mit diesen Adjektiven begleitete
+sie Namen, die mir kaum bekannt waren.</p>
+
+<p>Als wir eintraten, schlug ein Wolke dicken Rauches
+uns entgegen; ein paar Lampen, ein paar Lichtp&uuml;nktchen
+brennender Zigaretten leuchteten hindurch. Ein Chor
+schwatzender Stimmen machte jedes Wort unverst&auml;ndlich.
+Erst als wir im Lichtkreis der Gasflammen standen,
+verstummte die Gesellschaft. Die Herren erhoben sich
+und umringten uns. Sie rochen nach Kognak, &mdash; unwillk&uuml;rlich
+trat ich einen Schritt zur&uuml;ck. Man h&ouml;rte
+meinen Namen. &raquo;Bist wohl verr&uuml;ckt geworden, Juliane!&laquo;
+brummte eine M&auml;nnerstimme, und ein Arm legte sich
+um ihre Taille. Ich setzte mich abseits in eine Ecke.
+Nach einer Weile schien ich vergessen und f&uuml;hlte mich
+wie eine Zuschauerin vor der B&uuml;hne. Es war zweifellos
+ein interessantes Spektakelst&uuml;ck, das ich sah, und
+Menschen eigener Art, die darin spielten.</p>
+
+<p>Zu F&uuml;&szlig;en eines gro&szlig;en, tiefbr&uuml;netten Mannes, um
+den sich allm&auml;hlich die leeren Flaschen h&auml;uften, sa&szlig; eine
+blasse Frau mit blonder Haarkrone auf dem vornehmen
+K&ouml;pfchen. Das mu&szlig;te die d&auml;nische Gr&auml;fin sein, die
+der &raquo;satanische&laquo; Dichter, wie die D&eacute;ry ihn nannte,
+entf&uuml;hrt hatte. Wenn er redete, sah sie and&auml;chtig zu
+ihm auf, und die N&auml;chststehenden schwiegen.</p>
+
+<p>&raquo;Ja &mdash; was ich sagen wollte &mdash; &mdash;&laquo; er sprach mit
+<a name="Page_639" id="Page_639"></a>einem scharfen slawischen Akzent &mdash; &raquo;was &mdash; was
+war es doch?&laquo; Er go&szlig; sich roten Wein in das Glas, &mdash; ein
+paar Tropfen spritzten der Frau zu seinen
+F&uuml;&szlig;en auf die wei&szlig;e Stirn, &mdash; er verga&szlig; zu trinken
+und starrte sie an: &raquo;wie sch&ouml;n das ist: die Dornen
+deines unsichtbaren Kranzes haben dich verwundet, &mdash; wie
+ein Rubin leuchtet dein k&ouml;nigliches Blut ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zum Donnerwetter, was schweigt ihr,&laquo; br&uuml;llte er im
+n&auml;chsten Augenblick und st&uuml;rzte den Wein hinunter,
+&raquo;was geht das Euch Kanaillen an?!&laquo; Die anderen
+lachten.</p>
+
+<p>&raquo;Du hast uns deinen Helden schildern wollen!&laquo; sagte
+jemand.</p>
+
+<p>&raquo;Meinen Helden!&laquo; begann er wieder, &raquo;das wird ein
+Kerl sein! Kein waschlappiger Schmachtfetzen, der die
+Weiber anhimmelt, sondern einer, der zupackt, wie ich!&laquo; &mdash; seine
+Riesenfaust umklammerte den Arm der blonden
+Frau, die schmerzhaft zusammenfuhr, &mdash; &raquo;keiner, der den
+Lahmen Kr&uuml;cken schenkt und den Blinden Brillen, sondern
+einer, der beiseite st&ouml;&szlig;t, was ihm im Wege steht. Oder
+meint ihr, das Gesindel um uns sei was besseres wert?!
+Glaubt mir, wenn wir nicht empor kommen, die Starken,
+die Hartherzigen, dann wird das Gew&uuml;rm, das Junge
+wirft wie die Kaninchen, uns auffressen. Den Schwachen
+helfen, winselt ihr mit dem verw&auml;sserten Christenblut in
+den Adern? Nein, sage ich: den Schwachen den Gnadensto&szlig;
+geben, damit die Starken Platz haben!&laquo;</p>
+
+<p>Ich hielt mich nicht l&auml;nger. &raquo;Es mu&szlig; sich aber erst
+erweisen, wer die Starken sind,&laquo; rief ich.</p>
+
+<p>&raquo;Erweisen? Nein, sch&ouml;nste Frau, &mdash; wenn wirs nur
+von uns selber wissen,&laquo; antwortete er, stand auf und
+<a name="Page_640" id="Page_640"></a>trat auf mich zu, &mdash; er schwankte ein wenig &mdash; &raquo;Sie
+sind ja so Eine, die sich opfert &mdash; der Menschheit &mdash; der
+Ethik &mdash; pfui Teufel! Mit so einem Gesicht und
+solcher Gestalt &mdash;&laquo; seine gro&szlig;e Hand streckte sich, ich
+wich ihr erschrocken aus &mdash; &raquo;sich behaupten sollten Sie, &mdash; Gl&uuml;ck
+schenken und Liebe, &mdash; das ist mehr als Trakt&auml;tchen &mdash; und &mdash; und &mdash; Kinder
+kriegen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er fiel wie ein gef&auml;llter Baum der L&auml;nge nach zu
+Boden. Ich strebte hastig der T&uuml;re zu. Juliane D&eacute;ry
+kam mir nach und dr&auml;ngte ihr gl&uuml;hendes Gesicht dicht
+an das meine.</p>
+
+<p>&raquo;So bleiben Sie doch &mdash; Sch&ouml;nste &mdash; Beste,&laquo; schmeichelte
+sie &mdash; ich f&uuml;hlte ihre Hand auf meiner H&uuml;fte. &raquo;Ist er
+nicht gro&szlig;? &mdash; herrlich? Und jetzt wird es erst sch&ouml;n &mdash; komm!
+komm! &mdash; la&szlig; uns Freundinnen sein &mdash;&laquo;
+Sie versuchte mich zu k&uuml;ssen. Ich sch&uuml;ttelte sie ab.
+&raquo;Hochm&uuml;tige N&auml;rrin &mdash;&laquo; knirschte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Sie &mdash; sie hat kein Herz &mdash; kein Herz &mdash; wie all
+die &mdash; die Trib&uuml;nenweiber!&laquo; lallte der Betrunkene, der
+sich halb aufgerichtet hatte.</p>
+
+<p>Ich lief hinaus wie gejagt und sprang in den n&auml;chsten
+Wagen. Warum nur brach ich schluchzend in den
+Kissen zusammen, &mdash; warum?!</p>
+
+<p>Leise schlich ich in die Wohnung, in mein Zimmer.
+Zum erstenmal verschwieg ich Georg, was ich erlebt
+hatte; nur von dem Abend bei Polenz erz&auml;hlte ich und
+von den Menschen dort, die &raquo;auch nicht die unseren
+sind&laquo;.</p>
+
+<p>Er h&ouml;rte kaum zu, seine Gedanken waren bei dem
+Brief, den er zwischen den Fingern rollte und mir
+l&auml;chelnd reichte.</p>
+<p><a name="Page_641" id="Page_641"></a></p>
+<p>&raquo;Hier werden wir die unseren finden!&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Es war eine Einladung zu einem Festkommers &raquo;unserem
+verehrten Genossen Friedrich Engels zu Ehren&laquo;, von
+den Mitgliedern des Parteivorstands unterschrieben.
+&raquo;Du willst hingehen?&laquo; frug ich erstaunt, &raquo;als preu&szlig;ischer
+Universit&auml;tsprofessor?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Freude will ich mir nicht entgehen lassen,
+einmal im Leben dazu zu geh&ouml;ren! &mdash; und den Kragen
+wird es nicht kosten!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein gro&szlig;er Saal. Gr&uuml;ne Girlanden, mit roten
+Blumen besteckt, schwebten in runden Bogen um
+die Galerien, von einer S&auml;ule zur anderen. &raquo;Proletarier
+aller L&auml;nder, vereinigt euch!&laquo; leuchtete es in riesigen
+Goldbuchstaben auf rotem Grund von der Trib&uuml;nenwand
+herab den Eintretenden entgegen. Unter Lorbeerb&uuml;schen
+gl&auml;nzten die wei&szlig;en B&uuml;sten von Marx und
+Lassalle. Als wir kamen, war der Riesenraum schon
+dicht gef&uuml;llt: M&auml;nner im Festtagsrock, Frauen und
+M&auml;dchen in bunten Blusen und hellen Kleidern, die
+Gesichter verkl&auml;rt, wie die der Kinder von Weihnachtsvorfreude.
+Ein Glanz der Jugend strahlte aus
+allen Augen und verwischte die Furchen, die Leidensz&uuml;ge,
+die Kummerfalten, und gab den fr&uuml;h gebleichten
+Wangen die R&ouml;te der Kinder des Gl&uuml;cks.</p>
+
+<p>Neugierig richteten sich alle Blicke auf uns: den
+bleichen Mann im Rollstuhl und die junge Frau
+ihm zur Seite. Der alte Bartels f&uuml;hrte uns bis nach
+vorn, wo an gedeckten Tischen die Pl&auml;tze f&uuml;r die G&auml;ste
+reserviert waren.</p>
+<p><a name="Page_642" id="Page_642"></a></p>
+<p>&raquo;Da&szlig; ich das noch erlebe &mdash; Herr Professor &mdash; das
+noch erlebe,&laquo; wiederholte er immer wieder, mit dicken
+Freudentr&auml;nen in den kleinen, zwinkernden &Auml;uglein.</p>
+
+<p>Brausende Hochrufe ersch&uuml;tterten die Luft. &mdash; Alles
+erhob sich &mdash; schwenkte die H&uuml;te und wehte mit den
+Taschent&uuml;chern &mdash; auf die Tische und auf die Schultern
+wurden die Kinder gehoben, so da&szlig; ihre K&ouml;pfchen
+wie Blumen aus dichtem Wiesengrund &uuml;ber die Massen
+emporragten. Und durch den breiten Mittelgang, an
+dem sich rechts und links, eine undurchdringliche Mauer,
+die Menge staute, kamen sie alle, die alten K&auml;mpfer,
+deren Namen ein blutiger Schrecken f&uuml;r die einen, ein
+Symbol k&uuml;nftiger Gl&uuml;ckseligkeit f&uuml;r die anderen war.</p>
+
+<p>Mein Blick blieb nur auf den vier Voranschreitenden
+haften, die ich um mich herum immer wieder fl&uuml;sternd
+nennen h&ouml;rte: Liebknecht &mdash; Bebel &mdash; Auer &mdash; Engels.
+Gro&szlig; war der eine, mit grauem Vollbart, hoher Stirn,
+geistvoll spr&uuml;henden Augen, einen feinen Zug von Sarkasmus
+um den Mund, klein der andere, mit widerspenstiger
+voller Haarstr&auml;hne, die ihm immer wieder
+nach vorne fiel, so da&szlig; sein Blick sich noch mehr verschleierte, &mdash; jener
+merkw&uuml;rdige Blick, wie ihn nur
+Dichter und Tr&auml;umer haben. Einen breiten, hellen
+Germanenkopf trug der Dritte stolz auf den starken
+Schultern, ein paar Augen, die gewi&szlig; kampflustig zu
+blitzen verstanden wie die alter H&auml;uptlinge, sahen &uuml;ber
+die Menge hinweg. Vorne aber ging der alte gefeierte
+Gast mit einem L&auml;cheln so voll ger&uuml;hrter G&uuml;te und
+freudiger Menschenliebe, als w&auml;ren das alles seine
+Kinder, die ihm entgegenjauchzten.</p>
+
+<p>Gesang, Musik, Begr&uuml;&szlig;ungsreden wechselten miteinander
+<a name="Page_643" id="Page_643"></a>ab, wie bei einem gro&szlig;en Familienfest. Nichts Pathetisches,
+aber auch nichts, das an Aufruhr und revolution&auml;re
+Schrecken erinnerte, st&ouml;rte die Stimmung.
+Das Rot der vielen Schleifen und Fahnen im Saal
+schien heute nur die Farbe der Freude zu sein, nicht
+die des Bluts. Auch die &#8250;Freiheit&#8249;, die auftrat, mit der
+phrygischen M&uuml;tze auf dem schwarzen Krauskopf, ihre
+Verse skandierend wie ein Schulkind, glich mehr einem
+Boten des Fr&uuml;hlings als der Revolution.</p>
+
+<p>Drunten im Saal, wie oben auf der Trib&uuml;ne herrschte
+eitel Fr&ouml;hlichkeit.</p>
+
+<p>Von einem Tisch zum anderen begr&uuml;&szlig;ten sich die Bekannten,
+und er, der Held des Tages, dr&auml;ngte sich mit
+den Freunden immer wieder durch die Reihen und
+sch&uuml;ttelte die H&auml;nde alter Kampfgenossen aus den
+schweren Zeiten der Verfolgung. Sie kamen auch zu
+uns und setzten sich um Georgs Rollstuhl, und seine
+Lippen zuckten, und seine Augen wurden feucht vor Bewegung.
+Mit einer altv&auml;terisch-chevaleresken Verbeugung
+schenkte mir Engels ein paar Blumen aus der F&uuml;lle,
+die ihm gegeben worden war. &raquo;Ein gef&auml;hrliches Zeichen,&laquo;
+lachte Liebknecht und wies auf die rote Nelke darunter.
+&raquo;Eins des Sieges, wie ich hoffe,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>Wir gingen still nach Haus. Eine gro&szlig;e Freudigkeit
+erf&uuml;llte uns.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>An einem grauen, na&szlig;kalten Dezembertag war
+es. Das Reichshaus sollte eingeweiht werden.
+Am Brandenburger Tor stand ich, Eindr&uuml;cke
+zu sammeln f&uuml;r das, was ich schreiben wollte. Man
+<a name="Page_644" id="Page_644"></a>lachte &mdash; schwatzte &mdash; h&ouml;hnte rings um mich her: vom
+&raquo;Gipfel der Geschmacklosigkeit&laquo; sprach der Eine, &mdash; so
+hatte S.&nbsp;M. j&uuml;ngst in Italien den Bau Wallots bezeichnet &mdash;,
+von der leeren Tafel &uuml;ber den Toren erz&auml;hlte
+der andere, die auf die Inschrift &raquo;Dem deutschen
+Volke&laquo; vermutlich vergebens warten w&uuml;rde; &mdash; &raquo;den
+Junkern und Pfaffen, &mdash; wirds statt dessen hei&szlig;en,&laquo;
+f&uuml;gte bissig ein Dritter hinzu. &raquo;Wenn man die Umsturzvorlage
+det janze Dings nich umst&uuml;rzen wird,&laquo; zischelte
+es dicht neben mir. Der stramme Polizeileutnant, der
+hier Wache hielt, wandte stirnrunzelnd den Kopf. In
+offenem Wagen fuhren die Abgeordneten vor&uuml;ber: Zivilisten
+mit gl&auml;nzenden Zylindern auf dem Kopf und
+bunten B&auml;ndchen im Knopfloch, auf den Z&uuml;gen den
+Ausdruck ernsthafter Wichtigkeit, Geistliche in der schwarzen
+Soutane mit runden gl&auml;nzenden Gesichtern; Reserveoffiziere,
+denen der enge Kragen das Blut blaurot in
+die Stirne trieb, und deren bunter Rock sich in Falten
+&uuml;ber Brust und Leib spannte. &raquo;Drum m&uuml;ssen sie doch
+alle stramm stehen vor dem obersten Kriegsherrn, &mdash; die
+M.&nbsp;d.&nbsp;R.s &mdash;&laquo; zischelte dieselbe Stimme wie vorhin.</p>
+
+<p>Aufgeregt sprengten die Polizisten noch einmal hin
+und her, &mdash; ihre Pferde dr&auml;ngten die angstvoll aufkreischenden
+Zuschauer zur Seite.</p>
+
+<p>Vom Schlo&szlig; die Linden hinunter trabte eine Schwadron
+Garde du Korps in gl&auml;nzender Uniform mit
+wehenden F&auml;hnlein. Da pl&ouml;tzlich ein klirrender Sto&szlig; &mdash; ein
+Schrei, &mdash; und zwei Reiter w&auml;lzten sich unter
+ihren Pferden.</p>
+
+<p>Im gleichen Augenblick nahte ein Wagen: der Kaiser!
+Schweigend &mdash; erwartungsvoll &mdash; kaum, da&szlig; ein paar<a name="Page_645" id="Page_645"></a>
+H&uuml;te von den K&ouml;pfen flogen &mdash; harrte die Menge, &mdash; schwankend,
+mit totblassem Gesicht richtete der eine der
+gefallenen Soldaten sich auf die Kniee, &mdash; dicht vor
+ihm schlugen die Hufe des Viergespanns schon auf das
+Pflaster.</p>
+
+<p>Das Bronzegesicht des Monarchen tauchte sekundenlang
+auf &mdash; ein einziger kalter Blick streifte den Garde
+du Korps &mdash; die feindselig-stumme Menge hinter ihm, &mdash; und
+vor&uuml;ber raste der Wagen.</p>
+
+<p>Erregt, mit verbissenem Grimm stoben die Menschen
+auseinander. Das war, so schien mir, der rechte Auftakt
+f&uuml;r das kommende Schauspiel: den Kampf um die
+Umsturzvorlage, die als erster Gesetzentwurf den Volksvertretern
+im neuen Hause zur Entscheidung vorlag.</p>
+
+<p>Unter kriegerischem Gepr&auml;nge war es heute geweiht
+worden, &mdash; Kriegszeiten standen bevor.</p>
+
+<p>Auf dem Wege durch den feuchtdunstigen Tiergarten
+war mein Plan gefa&szlig;t, und noch ehe Georg aus der
+Universit&auml;t zur&uuml;ckkam, lag meine &raquo;Erkl&auml;rung&laquo; schon auf
+dem Schreibtisch. &raquo;Im Namen des weiblichen Geschlechts
+protestieren wir unterzeichneten Frauen gegen die Umsturzvorlage,&laquo;
+begann sie, und weiter hie&szlig; es darin:
+&raquo;&#8250;Beschimpfende &Auml;u&szlig;erungen gegen Ehe und Familie&#8249;
+gef&auml;hrden das sittliche Leben des Volkes nicht so sehr
+wie die gesetzliche Sanktionierung der Unsittlichkeit; und
+nicht durch &#8250;Kundgebungen&#8249; werden &#8250;weite Bev&ouml;lkerungkreise&#8249;
+zu dem Glauben verf&uuml;hrt, da&szlig; die Grundlagen
+unseres Lebens auf &#8250;Unwahrheit und Ungerechtigkeit&#8249;
+beruhen, sondern durch eine Gesetzgebung, die die H&auml;lfte
+des Menschengeschlechts, die M&uuml;tter der Staatsb&uuml;rger,
+mit Unm&uuml;ndigen, Wahnsinnigen und Verbrechern auf
+<a name="Page_646" id="Page_646"></a>eine Stufe stellt und durch wirtschaftliche Zust&auml;nde, die
+Millionen von Frauen in den Kampf ums Dasein treiben,
+das Familienleben zerst&ouml;ren, die Ehe ersch&uuml;ttern ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich versandte noch an demselben Abend meine Erkl&auml;rung
+mit der Bitte um Unterschriften an die Presse. Kaum
+war sie ver&ouml;ffentlicht, als Onkel Walter mich mit seinem
+Besuch &uuml;berraschte. &raquo;Ich komme, dich zu warnen,&laquo; sagte
+er, &raquo;man hat ein Auge auf dich, man kennt im Polizeipr&auml;sidium
+deine geheimen Beziehungen zur sozialdemokratischen
+Partei, und heute im Reichstag hat der
+Minister des Innern mir im Vertrauen gesagt, da&szlig;,
+wenn die Umsturzvorlage oder ein dem Sinne nach ihr
+&auml;hnliches Gesetz in Kraft treten sollte, du zu den Ersten
+geh&ouml;ren wirst, die davon getroffen werden; &mdash; vorausgesetzt
+nat&uuml;rlich &mdash;,&laquo; er sprach langsam und betonte
+jede Silbe &mdash; &raquo;da&szlig; du nicht klug genug bist, vorher
+andere Wege einzuschlagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke dir f&uuml;r deine Freundschaft, lieber Onkel, &mdash; aber
+da&szlig; ich deinem Rat folgen werde, wirst du
+von mir kaum erwarten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So sind wir geschiedene Leute!&laquo; rief er, und krachend
+fiel hinter ihm die T&uuml;r ins Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>Seltsam, &mdash; er hatte mir niemals nahe gestanden, und
+doch: in diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz
+zusammen, &mdash; ein St&uuml;ck der Kindheitsheimat nahm er
+mit sich fort. Was wird der Vater sagen, dachte ich
+furchtsam. Aber er kam nicht, er schrieb mir nur zwei
+Zeilen ohne Anrede und Unterschrift: &raquo;Nach Deinem
+letzten Benehmen wirst Du Dich nicht wundern, wenn
+wir Dir eine Zeitlang fern bleiben. Wir hoffen zu Gott,
+da&szlig; er Dich wieder auf den rechten Weg leiten m&ouml;ge! ...&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_647" id="Page_647"></a></p>
+
+<p>Eisig fegte der Ostwind durch die Stra&szlig;en, feine,
+schimmernde Eiskristalle tanzten in der Luft,
+und der Rauhreif wandelte den Tiergarten in
+ein Winterm&auml;rchen. Jeden Morgen begleitete ich jetzt
+Georg in die Universit&auml;t. Seine Vorlesungen &uuml;ber
+soziale Ethik f&uuml;llten das Auditorium bis in den fernsten
+Winkel und leidenschaftlich erregte Menschen &mdash; alte
+und junge &mdash; M&auml;nner und Frauen &mdash; begr&uuml;&szlig;ten
+ihn mit heftigem Beifallsgetrampel. Hinter
+dem Pult war nichts von ihm zu sehen als der bleiche,
+dunkel umrahmte Kopf mit den strahlenden Kinderaugen.
+Er sprach, wie er noch nie gesprochen hatte, er gei&szlig;elte
+die S&uuml;nden des Kapitalismus mit einer Sch&auml;rfe, wie
+sie in diesen R&auml;umen noch nie geh&ouml;rt worden war, und
+verteidigte die Rechte der Frauen und die der Arbeiter
+mit einer Begeisterung, die alles mit sich fort ri&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Der Glaube, da&szlig; wir jetzt vor tief gehenden Wandlungen,
+vor einer Weltwende stehen, wie die Menschheit
+noch keine erlebt hat, ist eine &Uuml;berzeugung, die immer
+weitere Kreise ergreift ... Jetzt ist keine Zeit mehr zu
+beschaulichem Tr&auml;umen ...&laquo; &mdash; Seine Stimme hob
+sich in ungewohnter Kraft und bekam einen Klang wie
+eine tiefe Glocke. &raquo;... Wir m&uuml;ssen uns klar werden
+&uuml;ber die Lage der Dinge und wach sein f&uuml;r die N&ouml;te
+des Tages ... Wir m&uuml;ssen uns bewu&szlig;t werden, wohin
+wir geh&ouml;ren ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er spricht sein Todesurteil ...&laquo; h&ouml;rte ich leise
+fl&uuml;stern. Kirchenstill war es. Er wurde vom Katheder
+heruntergehoben, sein Rollstuhl setzte sich in Bewegung,
+mit scheuer Ehrfurcht gr&uuml;&szlig;ten ihn die Studenten.</p>
+
+<p><a name="Page_648" id="Page_648"></a>Fauchend schlug ihm der Wind in das hei&szlig;e Gesicht,
+als wir ins Freie traten, und fr&ouml;stelnd zog er sich den
+Pelzkragen h&ouml;her. Vergebens bat ich ihn, sich aus seinem
+offenen Rollstuhl in einen geschlossenen Wagen heben
+zu lassen. Den ganzen langen Weg &uuml;ber die Linden,
+durch den Tiergarten, &uuml;ber den L&uuml;tzowplatz k&auml;mpften
+wir m&uuml;hsam wider den Schneesturm.</p>
+
+<p>Vor unserem Hause ging ein Herr auf und ab: gro&szlig;
+und schlank, den feingeschnittenen Kopf zur&uuml;ckgeworfen,
+den Bart keck in die H&ouml;he gewirbelt, &mdash; &raquo;Hessenstein!&laquo;
+rief ich &uuml;berrascht.</p>
+
+<p>&raquo;Kein anderer, gn&auml;dige Frau!&laquo; sagte er und k&uuml;&szlig;te
+mir die Hand &mdash; &raquo;ich warte auf Sie &mdash; ich konnte
+Europa nicht verlassen, ohne von Ihnen Abschied zu
+nehmen &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wir begaben uns zusammen in unsere Wohnung.
+Seltsam fragend betrachtete Georg den Gast, den ich
+so freudig willkommen hie&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Sie verlassen Europa?&laquo; frug ich, &raquo;und warum?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Seit meinen kriegerischen Erfahrungen im Bergwerksbezirk
+war mir nicht mehr wohl im bunten Rock &mdash;&laquo;
+antwortete er, w&auml;hrend sein Blick sekundenlang peinlich
+&uuml;berrascht zwischen Georg und mir hin und her flog &mdash; &raquo;und
+die neu er&ouml;ffnete Aussicht, gelegentlich einmal auf
+Eltern und Geschwister schie&szlig;en lassen zu m&uuml;ssen, hat
+meinen milit&auml;rischen Ehrgeiz auch nicht wesentlich steigern
+k&ouml;nnen. &mdash; &mdash; Ich habe einen Bruder in Java, &mdash; dorthin
+will ich. Eigentlich auch kein erstrebenswertes Ziel!
+Aber &mdash; was soll man tun &mdash;, wenn man den Mut nicht
+aufbringt, unter die Roten zu gehen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann ist Ihre Wahl sicherlich die beste,&laquo; sagte Georg
+<a name="Page_649" id="Page_649"></a>mit feindseliger Sch&auml;rfe. Rote Flecken brannten ihm
+&uuml;ber den Backenknochen.</p>
+
+<p>Sichtlich verletzt, erhob sich Hessenstein. In dem Wunsch,
+gut machen zu wollen, was Georg verfehlt hatte, war
+ich doppelt herzlich.</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht treffen sich unsere Wege doch einmal wieder!
+M&ouml;chten Sie recht, recht gl&uuml;cklich werden&laquo; &mdash; damit
+reichte ich ihm beide H&auml;nde. Er senkte tief den Kopf
+darauf. &raquo;Ich danke Ihnen!&laquo; fl&uuml;sterte er bewegt.</p>
+
+<p>Kaum war er fort, als Georg mich zu sich rief. Sein
+Kopf gl&uuml;hte &mdash; seine H&auml;nde waren hei&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Du fieberst!&laquo; rief ich erschrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Mir war schon diese Nacht nicht recht wohl, &mdash; ich wollte
+nur heute die Universit&auml;t nicht vers&auml;umen &mdash;&laquo; ein harter
+Husten lie&szlig; ihn verstummen. &raquo;Aber es ist nichts, Kindchen,
+nichts, &mdash; ein Katarrh vielleicht!&laquo; Wieder eine
+Pause. &mdash; &raquo;Komm einmal her zu mir, Liebling, &mdash; ganz
+nah &mdash;&laquo; ich kniete neben ihm &mdash; sein rascher, hei&szlig;er
+Atem ber&uuml;hrte mein Gesicht &mdash; &raquo;du &mdash; du &mdash; liebtest
+wohl jenen Hessenstein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Georg!!&laquo; Mir stieg das Blut in die Schl&auml;fen.
+&raquo;Wie kommst du darauf?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihr &mdash; ihr saht euch an &mdash; wie &mdash; wie Menschen,
+die zusammen geh&ouml;ren!&laquo;</p>
+
+<p>L&auml;chelnd dr&uuml;ckte ich meine Wange an seine schmalen
+H&auml;nde. &raquo;Nie &mdash; Georg, &mdash; nie &mdash; geh&ouml;rten wir zusammen!&laquo;
+meine Augen richteten sich klar auf ihn. &raquo;Und
+wenn es gewesen w&auml;re, &mdash; bin ich heute nicht dein &mdash; nur
+dein?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;O du &mdash; du!&laquo; st&ouml;hnte er; seine Arme pre&szlig;ten sich
+sich um meine Schultern, &mdash; in meinen Haaren vergrub
+<a name="Page_650" id="Page_650"></a>er sein Gesicht, &mdash; gegen meine Brust pochte sein Herz
+in wilden Schl&auml;gen.</p>
+
+<p>Er hatte keine Ruhe mehr vor dem Schreibtisch, ich
+mu&szlig;te ihn auf und ab fahren; der Husten nahm zu, und
+jedesmal, wenn er den armen K&ouml;rper sch&uuml;ttelte, verzogen
+sich schmerzhaft die Z&uuml;ge. Ich schickte zum Arzt. Er untersuchte
+ihn und l&auml;chelte beruhigend, als Georgs Blick in
+angstvoller Frage den seinen suchte.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Erk&auml;ltung. Halten Sie sich h&uuml;bsch ruhig, &mdash; dann
+ists bald vorbei.&laquo;</p>
+
+<p>In der Nacht stieg das Fieber. Er lie&szlig; meine Hand
+nicht los. Von Zeit zu Zeit sah er mich flehend an,
+und fl&uuml;sterte kaum h&ouml;rbar: &raquo;K&uuml;sse mich!&laquo;</p>
+
+<p>Ich wich nicht von seiner Seite, drei Tage und drei
+N&auml;chte lang.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen Hilfe haben,&laquo; &mdash; sagte schlie&szlig;lich der
+Arzt. Ich sch&uuml;ttelte nur den Kopf. Am Nachmittag des
+vierten Tages schien <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'des'">das</ins> Fieber zu sinken. Die Augen
+wurden wieder klar.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe mit dir zu sprechen, meine Alix,&laquo; begann
+der Kranke mit ruhiger, fester Stimme. &raquo;Es geht zu
+Ende mit mir, &mdash; weine nicht, Kindchen, &mdash; bitte, weine
+nicht! &mdash; Ich habe, glaube ich, meine Schuldigkeit getan &mdash;;
+was ich ungetan lie&szlig;, &mdash; du, du wirst es vollenden! &mdash; &mdash; Du
+wirst mir treu sein, &mdash; im h&ouml;chsten
+Sinne treu &mdash;&laquo; fassungslos brach ich neben ihm zusammen &mdash; seine
+H&auml;nde lagen auf meinem Kopf &mdash; &raquo;&uuml;ber
+alles in der Welt habe ich dich geliebt &mdash;.&laquo;
+Nur wie ein Hauch kamen die Worte &uuml;ber seine Lippen &mdash; &raquo;zum
+Paradiese hast du mir das Leben gemacht, &mdash; hab
+Dank, &mdash; Dank &mdash;.&laquo; Ich verlor die Besinnung &mdash;</p>
+
+<p><a name="Page_651" id="Page_651"></a>Auf meinem Bett fand ich mich wieder; es war tief
+in der Nacht, nur ein Licht brannte im Zimmer, die
+Mutter war neben mir, &mdash; so sanft und gut und leise,
+wie immer, wenn sie Kranke pflegte.</p>
+
+<p>&raquo;Alix &mdash;&laquo; klang es tonlos aus dem Nebenzimmer.
+Ich st&uuml;rzte hinein. Aufrecht auf seinem Stuhl sa&szlig; Georg.
+Ich schlang den Arm um seine Schulter.</p>
+
+<p>&raquo;Warum &mdash; warum l&auml;&szlig;t du mich sterben?!&laquo; fl&uuml;sterte
+es vor meinem Ohr. Sein Kopf sank an meine Schl&auml;fe.
+Tiefe, r&ouml;chelnde Atemz&uuml;ge kamen aus seiner Brust.</p>
+
+<p>Wie lange ich regungslos sa&szlig;, &mdash; ich wei&szlig; es nicht. &mdash; Fahl
+d&auml;mmerte der Tag durch die Scheiben. Der
+Arzt trat ein und umfa&szlig;te die wachsbleiche Hand &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Es ist vor&uuml;ber &mdash;&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_652" id="Page_652"></a></p>
+<h2><a name="Einundzwanzigstes_Kapitel" id="Einundzwanzigstes_Kapitel"></a>Einundzwanzigstes Kapitel.</h2>
+
+
+<p>Ein hei&szlig;er Sommertag. Auf den Wiesen Grainaus
+brannte die Sonne. In &uuml;ppiger Farbenpracht
+gl&auml;nzten die bunten Blumen, ein spr&uuml;hender
+Perlenregen war der Bach. Die Zugspitze spiegelte
+ihre leuchtenden Schneefelder im Rosensee. Schw&uuml;l
+duftete um das Haus der Jasmin.</p>
+
+<p>Ich lag in Decken geh&uuml;llt auf der Altane, &mdash; ich sah
+das alles, und doch sah ichs nicht. Tante Klotilde ging
+ab und zu. Sie war in Berlin eines Tages in mein
+Zimmer getreten, hatte mich tr&auml;nen&uuml;berstr&ouml;mt in die
+Arme geschlossen und immer wieder die zwei Worte
+wiederholt: verzeih mir! Ich hatte ihr versprechen m&uuml;ssen,
+im Sommer zu ihr zu kommen.</p>
+
+<p>Und nun war ich hier, &mdash; zu einer letzten, stillen Rast.
+Ich wu&szlig;te, was ich zu tun hatte, wenn ich ihm, der
+unter gr&uuml;nem Epheu und roten Rosen lag, treu sein
+wollte. Mein Entschlu&szlig; war gefa&szlig;t. In meinem
+Schreibtisch lag mein Abschiedswort an die Leser der
+Zeitschrift, die wir miteinander geleitet hatten, &mdash; und
+der Brief an meine Eltern, von dem ich wu&szlig;te, da&szlig; er
+sie schmerzen w&uuml;rde, wie nichts vorher. &raquo;Sie werden
+es &uuml;berwinden &mdash;&laquo; dachte ich in meinen schlaflosen<a name="Page_653" id="Page_653"></a>
+N&auml;chten, &mdash; &raquo;ich werde ihnen von da an eine Gestorbene
+sein!&laquo;</p>
+
+<p>All das war mir nicht einmal schwer geworden, solange
+ich zu Hause in meinen einsamen R&auml;umen war.
+Losgel&ouml;st f&uuml;hlte ich mich schon von aller Vergangenheit:
+Zu den Eltern zur&uuml;ckkehren sollte ich, hatten Vater und
+Mutter in sorgender Liebe gemeint, &mdash; so wenig wu&szlig;ten
+sie von mir! Gro&szlig;mamas Heim im Schlo&szlig; von Pirgallen
+hatte mir Onkel Walter als Ruhesitz angeboten, &mdash; so
+wenig ahnten sie, da&szlig; ich nicht ruhen durfte!</p>
+
+<p>Nur Martha Bartels hatte mich verstehen gelernt,
+w&auml;hrend sie mir in den schwersten Tagen der ersten
+Einsamkeit viele Arbeitsstunden opferte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden uns eine liebe Genossin sein &mdash;&laquo; hatte
+sie gesagt.</p>
+
+<p>Eine Genossin! &mdash; Keines Menschen Geliebte, keines
+Kindes Mutter, &mdash; eine Gef&auml;hrtin nur der Elenden und
+der Verfolgten. Es war fast ein Gef&uuml;hl von Freude
+gewesen, mit dem ich Abschied genommen hatte.</p>
+
+<p>Und nun wurde es mir auf einmal so bitter schwer!</p>
+
+<p>O du Sommertag &uuml;ber den Bergen, wie wundersch&ouml;n
+bist du!</p>
+
+<p>Es liegt in der Luft wie eine gro&szlig;e Sehnsucht, &mdash; und
+jubelnde Erf&uuml;llung zwitschern die V&ouml;gel und duften die
+Blumen. In den Sonnenstrahlen gl&uuml;ht jedes Blatt wie
+Gold, blutrot f&auml;rben sich zur Abendstunde die grauen
+Felsen. Und ein ganzer, gro&szlig;er Korb bl&uuml;hender Alpenrosen
+steht vor mir. &mdash; Ich will die Augen schlie&szlig;en,
+will das prangende Leben nicht sehen, &mdash; aber dann schleicht
+auf unh&ouml;rbar linden Sohlen die Erinnerung in meine
+Tr&auml;ume ... Hier begegnete mir vor Zeiten das Gl&uuml;ck ...</p>
+
+<p><a name="Page_654" id="Page_654"></a>In der Morgenfr&uuml;he gleitet mein Kahn &uuml;ber den
+Badersee. Tief, tief bis zum Grund kann ich sehen, wo
+um samaragdne Moose glitzernd die Forellen streichen
+und versteinerte Baumriesen schlafen. Langsam schlepp
+ich meine m&uuml;den F&uuml;&szlig;e heimw&auml;rts durch den Wald, wo
+die Orchideen bl&uuml;hen.</p>
+
+<p>Dr&uuml;ben beim B&auml;renbauern herrscht jetzt der Sepp als
+Hausherr. Sein junges blondes Weib tr&auml;gt den ersten
+Buben an der Brust. Verlegen, die M&uuml;tze zwischen den
+H&auml;nden drehend, hatte er die alte Spielgef&auml;hrtin begr&uuml;&szlig;t.
+Sie wu&szlig;ten im Dorf von mir: da&szlig; ich die &raquo;heilige
+Kirche&laquo; bek&auml;mpfte und es mit den Freidenkern hielt!
+Warum schmerzt mich das alles so sehr? Was konnten
+die Wenigen mir sein, da ich den Vielen geh&ouml;rte?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;&Uuml;bermorgen mu&szlig; ich fort,&laquo; sagte ich entschlossen
+zu meiner Tante, &mdash; &raquo;du wei&szlig;t, die Arbeit
+wartet nicht, und ich bedarf ihrer &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bleib noch, mein Kind, bleib noch, &mdash; du bist noch
+so schwach &mdash;&laquo; bat sie.</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde dir morgen beweisen, da&szlig; ich stark bin &mdash;&laquo;
+l&auml;chelte ich ...</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es l&auml;utete gerade zur Fr&uuml;hmesse, als ich aus dem
+Gartentor trat. Einen Atemzug lang stand ich
+still, die H&auml;nde auf dem pochenden Herzen.
+Mir war, als h&auml;tte ich dr&uuml;ben, zwischen den B&auml;umen
+einen Menschen gesehen, &mdash; eine Erscheinung aus ferner,
+ferner Vergangenheit.</p>
+
+<p><a name="Page_655" id="Page_655"></a>Dann ging ich festen Schrittes weiter und warf
+ohne Besinnen meine Briefe in den blauen Kasten an
+der Post. H&ouml;rte ich nicht einen Schritt? &mdash; Es war
+wohl nur das Klopfen und Rauschen meines eigenen
+Blutes in den Ohren.</p>
+
+<p>Auf den Stock gest&uuml;tzt, schritt ich langsam bergauf.
+Wie doch die B&auml;ume gewachsen waren auf der Schonung!
+Fr&uuml;her reiften hier in der Sonne die s&uuml;&szlig;esten roten
+Beeren. Und weiter droben war ein neuer Schlag, &mdash; kleinwinzige
+Tannenpfl&auml;nzchen guckten schon neugierig
+zwischen Grasb&uuml;scheln und alten Wurzeln hervor.</p>
+
+<p>&Uuml;ber die Steinhalde lief ich sonst, &mdash; heute wurde
+mir das Atmen recht schwer!</p>
+
+<p>Nun gings durch den Wald &uuml;ber Sturzb&auml;che, h&ouml;her
+und h&ouml;her, bis der Weg nur als schmales Band an der
+schroffen Felsenwand des Waxensteins entlang f&uuml;hrt.
+Tief unten braust und sch&auml;umt der H&ouml;llentalbach.</p>
+
+<p>O, ich kenne noch keinen Schwindel, &mdash; findet meine
+Sohle nur einen Fu&szlig; breit Erde, so stehe ich sicher!</p>
+
+<p>Wie frei weht die Luft hier oben, &mdash; wie leicht l&auml;&szlig;t
+es sich atmen! &Uuml;ber himmelhohem Abgrund schwingt
+sich die eiserne Br&uuml;cke von Berg zu Berg, und jenseits
+f&uuml;hren Leitern wieder empor. Auf weichem Moos unter
+einer Tanne, die ihre Wurzeln keck um einen Felsvorsprung
+klammert, halte ich Rast. Im Halbkreis
+schieben sich hier die Berge aneinander, ein Zirkus, von
+Riesen gebaut, bestimmt f&uuml;r die Spiele unsterblicher G&ouml;tter.</p>
+
+<p>Da h&ouml;r' ich Schritte, &mdash; Nagelschuhe auf Felsstufen, &mdash; ein
+Wilddieb vielleicht, oder ein Bergf&uuml;hrer,
+der &uuml;ber die Knappenh&auml;user zur Hochalm will. Ich
+stehe auf &mdash; die Hand fest um den Stock &mdash;, hier gibt
+<a name="Page_656" id="Page_656"></a>es kein Ausweichen. Und schon sehe ich ihn vor mir,
+den einsamen Wanderer, die Spielhahnfeder am gr&uuml;nen
+Hut, ein gebr&auml;untes Antlitz darunter, mit Augen &mdash; &mdash;!
+Ein Zittern durchl&auml;uft meinen K&ouml;rper &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Warum erschrickst du vor mir, Alix, &mdash; ich bin ja
+nur ein Gespenst unserer Jugend &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich raffe mich zusammen und seh ihm gerad' ins
+Gesicht. Wie hart sind die weichen Z&uuml;ge geworden,
+denke ich. Das Blut str&ouml;mt mir wieder zum Herzen.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; mich vor&uuml;ber, &mdash; ich glaube nicht an Gespenster,&laquo;
+sag' ich, den Ton meiner Stimme zur K&auml;lte zwingend.</p>
+
+<p>&raquo;Du gingst denselben Weg, wie ich: hinauf!&laquo; gibt
+er leise zur&uuml;ck und r&uuml;hrt sich nicht von der Stelle.</p>
+
+<p>&raquo;Denselben Weg?! Nein, &mdash; unsere Wege sind l&auml;ngst
+auseinandergegangen, &mdash; und da&szlig; der deine emporf&uuml;hrt, &mdash; daran
+erlaubst du mir wohl, zu zweifeln!&laquo; antworte
+ich h&ouml;hnisch, &mdash; meine eigenen Worte stechen mich
+wie lauter Nadeln.</p>
+
+<p>&raquo;Ich suchte dich, Alix, &mdash; seit Wochen, &mdash; kein Zufall
+ists, da&szlig; ich hier bin &mdash;;&laquo; aus seinen Augen dringt ein
+blaues Blitzen &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Du &mdash; mich?!&laquo; Ich lache, da&szlig; es vom Felsen
+wiederklingt, &mdash; aber in meinem Herzen weint es.</p>
+
+<p>&raquo;Ich liebe dich,&laquo; fl&uuml;stert er &mdash; &raquo;ich habe geglaubt,
+ich k&ouml;nnte dich vergessen, &mdash; aber meine Sehnsucht bliebst
+du, &mdash; mein ganzes Leben war ein einziges Warten auf
+dich. Endlich hab' ich dich gefunden! Alix, mein
+Lieb, &mdash; verla&szlig; mich nicht wieder!&laquo; Und flehend, wie
+ein Hungernder, streckt er die ge&ouml;ffneten H&auml;nde mir
+entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;An eine Nacht denke ich, Hellmut, in der ich vor
+<a name="Page_657" id="Page_657"></a>dir stand und dir schenken wollte, was du heut' begehrst; &mdash; jetzt
+hab' ich nichts mehr, bin bettelarm! &mdash; Ich
+liebe nur noch die Erinnerung, &mdash; nicht dich; &mdash; du
+bist ein fremder Mann f&uuml;r mich, &mdash; an dem ich vor&uuml;ber
+mu&szlig; &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>In meinem Herzen zuckt es, wie ein verborgenes
+Leben, das mit dem Tode ringt &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Ich will um dich werben, Alix, &mdash; dem&uuml;tig &mdash; geduldig, &mdash; an
+meiner Liebe wirst du Kalte wieder
+warm werden &mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich sch&uuml;ttle den Kopf. &raquo;Nein!&laquo; sagt eine harte
+Stimme. War das die meine?!</p>
+
+<p>Er richtet sich auf, sein Blick erstarrt, &mdash; er tritt
+zur&uuml;ck, und ohne aufzusehen, schreite ich an ihm vorbei, &mdash; sehr
+langsam, schwer atmend, auf den Stock gest&uuml;tzt.</p>
+
+<p>Hoch oben, wo auf gr&uuml;ner Halde um die Ruinen der
+Knappenh&auml;user in dichten B&uuml;schen dunkelblaue Vergi&szlig;meinnicht
+bl&uuml;hen, sah ich noch einmal hinab: auf dem
+Wege zu Tal steht eine graue Gestalt, vom Dunst der
+Tiefe halb verwischt: meine Jugend.</p>
+
+<p>Und der steile Steg, den ich gehen will, wohin
+f&uuml;hrt er?</p>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
+
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+
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
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+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
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+
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